PHYLLIS COCKER
Im Zeichen des Krebses
Vier Horror-Romane in einem Band
Apex Horror, Band 49
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
1. UNHEIL IM ZEICHEN DES KREBSES
2. DAS VAMPIRWEIB
3. DER SEELENBANNER VON BINGHAM CASTLE
4. SATANSNÄCHTE AUF SUMMERFIELD
Das Buch
»Unheil wird über euch kommen, wenn die Sonne ins Zeichen des Krebses taucht. Das Verhängnis ereilt dann deinen Liebsten. Er wird leben und doch tot sein. Eine leere Hülle, ein Haus, in dem andere wohnen.«
Betroffen und erschauernd hörte Helen Miller diesen Spruch der Sibylle. Aber bald schon lachte sie nur noch darüber. Doch dann erfüllte sich die Prophezeiung auf entsetzliche Weise...
In der Umgebung sterben Menschen eines unerklärlichen Todes. An den Leichen finden sich grausige Male. Woher rühren sie? Von dem gespenstischen Wesen, das wie ein Verhängnis mit der Dunkelheit kommt?
Jene, die es wussten, sind für immer stumm. Denn der Kuss des Vampirweibes war tödlich...
»Fliegendes Skelett, mit blutendem Arm, über Gräbern und Kreuzen, in grünfahler Nacht.«
Das irre Gestammel eines Sterbenden mit furchtbarer Kopfwunde, dessen Gehirn nicht mehr normal funktioniert – oder mehr?
Mathew Knight scheint seinen Gästen auf Schloss Summerfield nicht zu viel versprochen zu haben. Das denkt Lady McIntosh, als sie plötzlich vor dem Mann steht, aus dessen Händen Feuer lodert. Eine Sekunde später ist sie tot – verkohlt und verstümmelt...
Im Zeichen des Krebses von Phyllis Cocker enthält vier Klassiker des deutschen Pulp-Horrors: Unheil im Zeichen des Krebses (1976), Das Vampirweib (1975), Der Seelenbanner von Bingham Castle (1976) und Satansnächte auf Summerfield (1974).
Dieser Sammelband erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe APEX Horror.
1. UNHEIL IM ZEICHEN DES KREBSES
Als sich das große Schiff mit den grauen Segeln der wildzerklüfteten Küste näherte, bäumten sich die Wogen vor dem Bug auf, türmten sich haushoch, schlugen krachend auf die Planken, dass sie barsten, und vom Meer her rasten Wellen heran, die das Schiff gegen die Felsen schleuderten.
Es war, als wollten die tobenden Elemente verhindern, dass er an Land ging.
Der Sturm peitschte ihm Gischt ins Gesicht, die Fluten droschen den Schiffsleib gegen die Felsen, hackten ihn in Stücke, und die Böen krallten sich in die Segel, zerfetzten sie, bogen die Mastbäume, bis sie mit lautem Knallen brachen.
Die Wasser wirbelten Wrackteile empor, der Sturm packte und schleuderte sie nach ihm.
Aber hohnlachend bewegte sich Tymurro durch die ihm feindlichen Elemente, teilte die Flut mit langen dürren Armen, erhob sich in die Lüfte, setzte die Füße auf die bizarren Felsen, zog mit bloßen Händen die Glut der Erde an, ließ das Meer dampfen und kochen und - sprang auf den steinigen Strand der großen Insel.
»Du hast mich gerettet, großer Lygra!«, schrie Tymurro und übertönte noch das Donnern der Brandung. »Zum Dank werde ich dir einen Tempel errichten und die Menschen dieser Insel zu deinen Anhängern machen.«
Noch am Tag seiner Ankunft erreichte er das Hochland, fand ein fruchtbares Tal mit einem silberhellen Fluss und trug die ersten Steine des Lygra-Tempels zusammen, ehe die Sonne unterging.
»Vergiss die Bedingung nicht!«, hörte Tymurro die mahnende Stimme Lygras in sich. »Ein Tempel und Diener aus Fleisch und Blut genügen mir nicht. Der Keim meines Geistes muss in ihnen reifen und wachsen, sie aufzehren und verwandeln, wenn sie dereinst stark genug sein sollen, gegen Olos und seine Scharen anzutreten. Olos aber wird nicht schlafen. So verborgen dein Tun auch sein mag, er wird dich aufspüren und bekämpfen.«
»Bin ich nicht unverletzlich, da du mich zum unsterblichen Geist machtest?«
»Wer sich zu stark fühlt, wird leichtfertig. Sei auf der Hut! Du hast viel Zeit, Olos zu erforschen. Er kann vernichten, was ich erschaffe. Wozu brauchte ich sonst einen Sämann?«
Das waren Lygras letzte Worte gewesen.
Seitdem war die Sonne Hunderte von Malen im Zeichen des Krebses erschienen. Gehorsam hatte Tymurro gekämpft und gesät. Und noch immer wartete er auf das Zeichen dessen, der ihm mit Gluthauch neues Leben verliehen hatte.
*
Mo Cunning spürte, wie ihre Hände eisig wurden und Schauer über ihren Rücken liefen, als bliese kalter Wind in ihren Nacken. Sie zog den grauen Wollschal über ihr rabenschwarzes Haar, das sie ordentlich gescheitelt, geflochten und zu einem Nest aufgesteckt trug. Gerade wollte sie die Tür öffnen, da schlang er seine unsichtbaren Fesseln um sie, der sich Olos nannte.
Wie gelähmt stand sie da und lauschte der Stimme, die in einem seltsamen Dialekt zu ihr sprach.
»Zwei junge Menschen werden eintreten und verlangen, dass du ihnen ihre Zukunft offenbarst. Du musst sie warnen. Schon hat sie der böse Feind umgarnt.«
Ruckartig ließ die Umklammerung nach. Mo Cunning taumelte und stieß mit der Stirn gegen die Tür, die im nächsten Augenblick aufgerissen wurde.
Ein junger Mann stand vor dem kleinen Haus, Arm in Arm mit einer blonden Frau. Beide waren gut gekleidet, er in einem fliederfarbenen Mantel, wie man ihn im schottischen Hochland selten sah, mit hellgrauem Zylinder und weißer Hose, sie mit einem Reisecape aus blau-schwarz kariertem Stoff. Auf dem Kopf trug sie einen großen Hut mit Seidenschleife. Das blonde Haar kringelte sich in Locken unter der breiten Krempe hervor.
Das Paar lächelte, als Mo Cunning einen ehrerbietigen Knicks machte. Mit stummer Geste bat sie die beiden, einzutreten. Während sie die Tür schloss, schnaubten die zwei Rappen vor der schwarzen Kutsche, die in einiger Entfernung wartete.
Die alte Frau half den beiden aus ihren Umhängen, die so neu waren, dass sie eigens für diese Reise geschneidert schienen. Sie stülpte den Zylinder über den Haken an der Wand.
»Sie standen an der Tür, als wir kamen, Mrs. Cunning«, begann der junge Mann, als er Platz genommen hatte. »Sahen Sie uns auf der Straße herankommen, oder verriet Ihnen ein Blick in Ihre Kristallkugel unseren Besuch?«
»Weder noch«, antwortete Mo Cunning und stellte den Teekessel auf den Herd. »In besonderen Fällen erhalte ich eine Vorwarnung.«
»Ach, Geisterstimmen?«, fragte Helen Miller und rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. »Wie aufregend!«
Die alte Wahrsagerin ging nicht auf die Frage ein. Sie stellte nur fest: »Es ist nicht immer angenehm.«
»Hat der Geist uns auch schon vorgestellt?«, fragte der junge Mann und beobachtete, wie die hochgewachsene Alte mit der Adlernase Kräuter in eine Kanne warf.
»Nein«, war die lakonische Antwort.
»Dann darf ich es nachholen. Ich bin Frank Henderson, und dies ist meine Braut Helen Miller. Wir sind unterwegs nach Helensburgh, um dort zu heiraten«, erklärte er lachend. »Obwohl meine Braut fast so betucht ist wie meine ehrenwerte Familie, gehört ihr das Städtchen natürlich nicht. Wir suchten lediglich einen Vorwand, ohne riesige Festtafeln zu heiraten, ganz unter uns, die wir unbedingt nötig sind zu einer Trauung. Außerdem wollen wir zeitlebens eine romantische Erinnerung haben, und so wählten wir Helensburgh.«
»Ein schönes Städtchen, und wenn Sie sich nach meiner Weisung richten, werden Sie es vielleicht auch erreichen«, sagte Mo Cunning leise.
Zum ersten Mal, seit sie in der niedrigen Stube saß, wurde Helen Millers Gesicht ernst. Befremdet sah sie ihren Geliebten an, aber der winkte ab und schüttelte den Kopf.
»Sicher nur eine kleine Marotte von Mrs. Cunning«, beschwichtigte Frank und fasste mit breitem Grinsen in die Tasche seiner hellgrauen Tuchjacke. Er legte einige Goldstücke auf den blankgescheuerten Holztisch, bei deren Anblick die Wahrsagerin fast die Kanne hätte fallen lassen.
»Genügt das, um Sie zu veranlassen, uns etwas Angenehmes zu sagen?«, wollte er wissen.
Zu seinem Erstaunen antwortete Mo Cunning nicht. Und er wunderte sich noch mehr, als sie Tassen hinstellte und aus einer Blechdose Gebäck holte.
»Ist der Tee etwa zum Trinken da?«, fragte er, und als er noch immer keine Antwort erhielt, sprach er weiter. »Ich dachte, Sie lesen die Zukunft vielleicht aus Teeblättern?«
Nach einer langen Pause nickte die Wahrsagerin und goss den dampfenden Tee in die dicken irdenen Tassen. »Wenn Sie es so haben wollen, gut.«
Mit leiser, aber eindringlicher Stimme sprach die Alte.
»Sie liegen in einem Vier-Pfosten-Bett zwischen hellgrünen Laken. Ihr rosafarbenes Spitzennachthemd ist nassgeschwitzt, denn seit einiger Zeit laufen Sie im Traum vor einem Mann davon, den Sie noch nie gesehen haben. Er ist sehr groß, so dünn, dass es aussieht, als spanne sich die wettergegerbte Haut über die Knochen, und seine Augen sind so hell, dass sie fast weiß wirken. Er wird Sie einholen. Er lässt sich Zeit, denn er weiß, wieviel stärker und ausdauernder er ist als Sie. Plötzlich stolpern Sie über eine Wurzel, fallen, fühlen sich von den Knochenhänden gepackt, doch da hüllt Sie eine wärmende Wolke ein. Sie hören eine Stimme, die Ihnen rät, zu Mo Cunning zu gehen, wenn Sie gerettet werden wollen.«
Mit wachsendem Unbehagen hatte Frank Henderson beobachtet, wie Helen blass wurde, wie ihre Hände zu zittern begannen, wie sie die Augen in panischer Angst weit aufriss, die Rechte zur Faust ballte und sie in den geöffneten Mund schob, als müsste sie einen Schrei unterdrücken. Nun, da die Alte schwieg, rannen Helen Tränen über die gepuderten Wangen.
»Schluss jetzt mit diesem Unfug!«, rief Frank aufgebracht. »Sehen Sie nicht, wie das meine Braut aufregt?«
Die Alte mit der Adlernase zuckte zusammen und schien ihre Besucher erst nach einigen Sekunden wieder wahrzunehmen.
»Das war kein Unfug«, widersprach Helen bedrückt und tupfte sich mit einem weißen Spitzentaschentuch die Tränen von den Wangen. »Genau so habe ich es geträumt.«
Frank Henderson machte eine abrupte Handbewegung, als wollte er alle trüben Gedanken wegwischen. »Nun holen Sie schon Ihr Handwerkszeug, Mrs. Cunning, sagen Sie uns eine glückliche Zukunft voraus, dass wir zehn Kinder haben und sehr alte Leute werden, und dann haben Sie sich Ihr Geld ehrlich verdient.«
Die Alte holte eine Kristallkugel aus einem Schrank, legte sie auf ein mit Samt ausgeschlagenes Gestell, das in der Mitte eine Vertiefung hatte, und hielt die Hände mit gespreizten Fingern über die Kugel, ohne sie zu berühren.
»Vorhin sagten Sie, auch aus Teeblättern könnten Sie die Zukunft lesen. Wozu dann jetzt diese Kugel?«, fragte der Mann.
»Stör sie nicht!«, mahnte Helen, denn sie sah, dass Mrs. Cunnings Gesicht wieder den starren Ausdruck angenommen hatte wie zuvor.
Nun hob Mo Cunning die Hände in beschwörender Geste in die Höhe, verschränkte sie dann vor der Brust, schloss die Augen und sagte: »Unheil wird über euch kommen, wenn die Sonne ins Zeichen des Krebses taucht. Das Verhängnis ereilt dann deinen Liebsten. Er wird leben und doch tot sein. Eine leere Hülle, ein Haus, in dem andere wohnen.«
Während die alte Frau diese Worte sprach und ihre Stimme klang, als schmerzte es sie, diese düstere Prognose geben zu müssen, blickte Helen in die Kristallkugel.
Und was sie da sah, ließ sie erschrecken.
Zwei winzige Gestalten schlenderten durch ein grünes Tal, indem silberhell ein Fluss plätscherte. Die eitle Gestalt trug einen fliederfarbenen Mantel, die andere ein kariertes Cape. Die beiden gingen Hand in Hand, und Helen wusste, dass sie und Frank es waren.
Deshalb wunderte sie sich nicht, als die beiden näher kamen und sie die Gesichter erkennen konnte. Ihr Spiegelbild lächelte und winkte ihr zu und bewegte sich dann rückwärtsgehend fort, wurde kleiner, verschwamm.
Mo Cunning blinzelte, öffnete die Augen, hielt die Hände wieder über die Kristallkugel, in der es jetzt dunkel war, und raunte: »Olos, Feind aller bösen Geister, da du sie retten willst. Denn sie glauben mir nicht. Sie werden blindlings in ihr Verderben rennen, wenn ich sie nicht überzeuge.«
Als Mo Cunning die Hände von der Kugel nahm, sahen Helen und Frank ein merkwürdiges Gebäude, das aussah wie ein aus Steinen geformter Hügel.
»Haltet euch fern vom Tempel des Lygra!«, tönte eine Männerstimme durch den Raum, dann wurde es in der Kristallkugel wieder dunkel.
Frank Henderson hatte Mo Cunning beobachtet und gesehen, dass ihre Lippen sich nicht bewegten, als die Männerstimme erklang.
»Sind Sie jetzt fertig mit Ihrer Unkerei?«, fragte er barsch, und die Alte zuckte wieder zusammen. Dann kehrte ihr Blick wie aus weiten Fernen in die Gegenwart zurück. Fröstelnd rieb sie sich die Oberarme, goss sich Tee aus der Kanne ein und trank ihn langsam aus.
»Ich habe es nicht verdient, dass Sie mich anschreien.«
»Los, legen Sie uns die Karten, stellen Sie uns ein Horoskop, schauen Sie in unsere Hände oder Pupillen! Sie sind offenbar in allen Sätteln gewandt. Es gehört doch einige Intelligenz dazu, Menschen hinters Licht zu führen, ihnen weiszumachen, dass es den Blick in die Zukunft gibt. Also müssten Sie mich doch längst verstanden haben. Aber Sie wollen offenbar nicht. Meine Braut glaubt Ihnen, ich nicht. Aber ich zahle dafür, dass Sie unser Glück sehen. Polieren Sie die Kugel! Ihr Handwerkszeug ist schmutzig und zeigt noch, was Sie dem Pärchen prophezeiten, das vor uns dran war.«
Mo Cunning sah den jungen Mann stumm und mit traurigem Blick an.
»Aber Frank!«, rief Helen. »Was verlangst du denn von ihr? Sie soll lügen? Wenn unser Schicksal dunkel ist, kann sie kein Glück Voraussagen.«
Frank Henderson winkte ab. »Mo Cunning und ich wissen, dass man die Zukunft eines Menschen weder aus dem Kaffeesatz noch aus den Linien seiner Hände Vorhersagen kann. Wäre ich doch bloß nicht mit dir hergekommen.«
»Es stimmt«, sagte die Alte leise, »der Tag eurer Geburt, die Linien eurer Hände, die Reihenfolge, in der die Karten lägen, das alles ist für mich unwichtig. Einzig meine Gabe ist entscheidend, meine Intuition, mit der ich euer Geschick erahne. Ich habe die Kugel gewählt, damit ihr mit eigenen Augen seht, vor welchem Ort ihr euch hüten müsst.«
»Gut, angenommen, wir hüten uns vor diesem Ort, wir gehen niemals hin. Dann könntest du uns doch nicht dort sehen, und die Kugel würde es nicht zeigen.«
Mo Cunning wollte sprechen, aber Frank Henderson ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Und angenommen, wir gehen zu diesem Ort des Unheils, welchen Sinn hätte dann deine Warnung? Warnungen von Wahrsagern sind also absolut. Und die zweite Möglichkeit wäre, ein Angehöriger meiner Familie, der gegen die Verbindung ist, hat dich bestochen.«
Mo Cunning rutschte von ihrem Stuhl, kniete auf dem Boden, faltete die Hände und betete laut.
»Olos, Feind aller bösen Geister, erleuchte sie! Wenn du nicht willst, dass es so geschieht, wie es die Kugel zeigte, schenk ihnen Glauben!«
Heftig zitternd saß Helen auf ihrem Stuhl und rührte sich nicht, obwohl Frank sie mit Gesten energisch aufforderte, aufzustehen.
Wieder erklang die Männerstimme, und auch diesmal beobachtete Frank Henderson die Wahrsagerin scharf. Sie bewegte die Lippen nicht. Aber er hatte von Artisten gehört, die fremdartigen Stimmen aus dem Bauch hervorzaubern konnten. Vielleicht beherrschte die bösartige Alte auch diese Kunst?
»Der Mensch ist frei, zu wählen zwischen Gut und Böse, Glück und Unglück, Rettung und Verdammnis.«
Mit Gewalt zog Frank die heftig zitternde Helen vom Stuhl, half ihr in ihr Cape, warf sich seinen Mantel um und schob seine Braut zur Tür.
»Sie haben Ihr Geld nicht verdient, aber behalten Sie es!«, rief er zornig, stieß die Tür auf und zog seine Braut hinaus. »Und gehen Sie mit Ihrem Gewissen zu Rate, ob Sie verantworten können, was Sie anrichten! Es mag immerhin Tölpel genug geben, die sich von Ihnen schrecken lassen.«
Er versetzte der Tür einen Fußtritt, dass sie krachend zuschlug.
*
Bei einem Juwelier in Dunoon kaufte Henderson eine Brosche aus blutroten Rubinen und erkundigte sich wie beiläufig nach einem Tal mit klarem Fluss, in dessen Nähe eine Sehenswürdigkeit sein sollte, ein merkwürdiges Bauwerk.
»Sie werden kaum einen aus der Umgebung treffen, der Sie hinbringt«, erklärte der Juwelier arglos. Obwohl der Ort klein war und der Fremdenstrom in diesem Sommer spärlich floss, hatte er noch nichts von Hendersons Besuch bei der alten Wahrsagerin gehört.
»Wir haben schon bemerkt, wie abergläubisch die Leute hier sind. Aber da es nur wenige Sehenswürdigkeiten gibt, möchte ich dort hin.«
Der Juwelier riet ihm, sich mit einer Kutsche zum Loch Eck bringen zu lassen und von dort aus ins Ecktal zu wandern.
»Wer gut zu Fuß ist, schafft es zum Quell des Eck in zwei Stunden, und von dort aus ist es nicht mehr weit zum Lygra-Tempel.«
Als Helen und Frank den Laden verließen, hängte sich das Mädchen bei ihrem Geliebten ein. »Männer sind schrecklich!«, stöhnte sie. »Was willst du mir beweisen? Dass du Mut hast? Ich liebe dich auch so. Bitte, lass uns noch heute weiterfahren!«
»Dir beweisen, dass ich Mut habe?« Frank lachte schallend, bis sich einige der Passanten umdrehten. »Nein, Darling. Ich will nur diesen Käsefressern, Dudelsackbläsern und Whiskysäufern zeigen, was ein unerschrockener Brite ist.«
»Ich flehe dich an, bei deiner Liebe, Frank, begib dich nicht in diese Gefahr! Ich werde mit dir gehen, wie es die Kugel zeigte. Vielleicht werde ich mit dir sterben. Aber ich muss dich verachten, wenn du mich dazu zwingst, diese Ängste auszustehen.«
Sie hatten das Hotel erreicht, in dem sie wohnten, und er blieb stehen. Mit festem Griff packte er sie an beiden Oberarmen und sah ihr in die Augen. »Du würdest nie mehr ruhig werden, Darling. Die Kassandrarufe der alten Vettel würden über dir schweben wie das Damoklesschwert. Ich aber verschaffe uns Klarheit.«
»Also tust du es nicht nur wegen der Käsefresser, sondern auch meinetwegen?«
Frank Henderson nickte lächelnd. »Ich hätte nicht erwartet, dass es dich so mitnimmt. Ein Mädchen wie du, das sich über alle Vorurteile seiner Familie hinwegsetzt, mit einem fremden Mann auf und davon fährt und Schimpf und Schande riskiert, lässt sich von einer Alten schrecken, die nicht mehr richtig ist im Kopf. Und nun, da ich den Schaden beheben will, drohst du mir noch mit Verachtung. Mir, dem Mann, den du heiraten willst.«
»Verzeih mir, Liebster«, hauchte sie und wankte in das Hotel.
Auch in dieser Nacht erschien Helen wieder der Hagere mit den fast weißen Augen. Er lachte bösartig und drohte mit einer Hand aus Haut und Knochen.
»Versuche nicht länger, mir den Fisch zu rauben, der fast schon in meinem Netz zappelt. Groß ist die Macht des Lygra und seiner Diener. Größer als die des Olos - verflucht sei sein Name! Wenn du dich weiterhin widersetzest, werde ich dich mit deinem Liebsten verderben. Wenn nicht, so sei dir ein weiteres Wandeln gewährt.«
Die hagere Gestalt verschwand in dem Steinhügel, und Helen fühlte sich zu dem Loch in der Kuppel hingezogen. Gleichzeitig aber hielt sie die Angst zurück.
Mit einem Aufschrei fuhr sie im Bett hoch.
Wieder war sie nassgeschwitzt, und ihr Herz klopfte zum Zerspringen.
Obwohl die perlenbestickten Pantöffelchen vor ihrem Bett standen, lief sie barfüßig zur Tür, über den Flur, klopfte an Franks Zimmer und rief verzweifelt seinen Namen.
»Kind, Kind!«, sagte er kopfschüttelnd, führte sie zu einem Sessel und legte ihr seinen Mantel um. »Du trittst leichtsinnig deinen Ruf mit Füßen. Wenn dich jemand gehört oder gesehen hat...«
»Es ist gleichgültig. Wir sterben - beide, wenn wir zu diesem Tempel gehen. Er - hat mir - gedroht. Wenn ich dich noch einmal warne, will er mich mitverderben. Und trotzdem, ein Leben ohne dich-oh, Frank!« Siestammelte noch wirre Sätze, bis er ihr warmen Tee einflößte, von dem er eine Kanne auf dem Ofen stehen hatte.
Er streichelte ihr blondes Haar und sprach ihr leise Mut zu, bis sie erschöpft einschlief.
Dann trug Frank sie auf sein Bett und deckte sie zu.
Nun, da er wieder allein war, kam die seltsame Stimmung abermals über ihn, und er schrieb den letzten Brief zu Ende. Obwohl er wusste, dass alles Humbug und Bauernfängerei war, kam er sich vor wie ein Duellant am Abend vor dem Morgen der Entscheidung. Er hatte an seine Familie geschrieben und gebeten, für den Fall, dass ihm etwas Menschliches zustieße, bevor er mit Helen getraut worden sei, sie dennoch wie seine Witwe zu behandeln. Genau hatte er seine Erlebnisse an diesem Tag niedergeschrieben, einmal in dem Brief an seinen Vater, zum anderen in einem, zweiten, den er an den Pfarrer von Dunoon adressierte.
Der letzte Satz dieses Schreibens lautete:
Und sollte die Prognose dieser Frau aus dem Hochland in Erfüllung gehen, so mag sie einen Orden und größte Beachtung verdient haben, welch letztere Sie, Ehrwürden, allerdings nach Kräften zu verhindern wissen werden, denn an sie glauben, hieße den bösen Mächten Tür und Tor öffnen.
Als das Kratzen seiner Feder verstummte, graute im Osten der Morgen, und die Sonne tauchte empor.
Frank Henderson nickte in seinem Sessel ein, beruhigt, denn tiefe Atemzüge Helens verrieten ihm, dass sie von Träumen nicht mehr gequält wurde.
Im Halbschlaf hörte nun Frank Henderson noch einmal die Worte der Wahrsagerin: »Unheil wird über euch kommen, wenn die Sonne ins Zeichen des Krebses taucht.«
Er schrak auf und sah, dass Helen mit vor Angst geweiteten Augen in seinem Bett saß.
Wie gut, dachte er, dass ich ihr nicht sagte, was ich weiß.
Mit einem Lächeln erhob er sich, streckte die steifen Glieder, ging auf das Mädchen zu, küsste es zärtlich und fragte: »Nun, alle Nachtgespenster vertrieben, Liebste?«
Seufzend fasste sie seinen Kopf. »Sag mir, dass wir nicht gehen, Frank. Ich flehe dich an! Ich werde nie wieder von dieser Prophezeiung sprechen und auch versuchen, nie mehr daran zu denken.«
»Und eben das wird dir nie gelingen Deshalb machen wir uns jetzt sofort auf den Weg.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er die Briefe vom Sekretär in der Ecke und ging zur Tür. »Ich sorge dafür, dass man uns ein gutes Frühstück bereitet, lasse Proviant einpacken, und wir bleiben den ganzen Tag draußen in der herrlichen Natur. Und schon morgen reisen wir nach Helensburgh.«
Sie wandte das Gesicht zum Fenster, denn er sollte ihre Tränen nicht sehen.
»Verstehst du was von Astrologie?«, fragte sie, als er die Tür öffnen wollte.
»Nein, mein Schatz«, log Frank, um sie zu schonen. »Wir Hendersons waren nie Himmelsgucker. Sonst hätten wir es wohl kaum so weit gebracht.«
»Ich habe ein wenig darüber gelesen, in alten Büchern meiner Mutter. Wir schreiben heute den fünften Juli. Die Sonne steht im Krebs.«
Es traf ihn wie ein Schlag. Gut, dass sie mich nicht ansieht, dachte Frank. Weshalb sagt sie erst jetzt, dass sie es weiß?
»So?«, fragte er leichthin. »Das hat die alte Hexe bestimmt auch gewusst. Natürlich, nur deshalb hat sie es in ihrem Orakelspruch erwähnt. Sie will dich ängstigen. Aber ich zeige dir, dass ich dich in allen Lebenslagen zu schützen vermag. Sogar gegen solche verrückten Hexen.«
*
Tymurro sah sie kommen. Er roch, schmeckte und spürte sie auch. Gern hätte er sich an ihnen gelabt, aber sie waren einem anderen Zweck geweiht.
Lygra musste geholfen haben, den Richtigen zu finden. Denn nicht einmal das Eingreifen des Feindes Olos hielt diesen Stutzer zurück.
Nun blieb er stehen - mitten auf der Wiese, Hand in Hand mit ihr, die bis zuletzt versucht hatte, ihn umzustimmen.
Er lachte, sah sich siegessicher um, nahm den grauen Zylinder ab und grüßte höhnisch die verwitterten Brocken des Tempels.
Bald sollte ihm das Lachen in der Kehle gefrieren.
Nur noch wenige Schritte trennten ihn von seinem Verhängnis.
Er musste den Ring von Ebereschen durchbrechen.
Tymurro streckte die Arme aus, spreizte die Finger, als könnte er die beiden wie mit Magneten anziehen.
Aber der Ring aus Bäumen, Sträuchern und Wurzeln hemmte seine Kräfte.
Lygra hüf! dachte Tymurro verzweifelt.
*
Helens Beine waren steif vor Angst, aber ihre Kniegelenke fühlte sich an wie aus Gummi. Stumm ging sie hinter Frank her, dessen fliederfarbener Mantel im leichten Sommerwind flatterte.
»Ist es nicht himmlisch hier?«, fragte er und machte eine weit ausholende Bewegung mit einem Arm. Am anderen trug er den Korb mit dem Proviant. »Wir müssen der alten Sybille dankbar sein, dass sie uns an einen solchen Ort schickte.«
»Sie hat uns nicht geschickt«, wehrte Helen matt ab. Sie überlegte sich in den letzten Stunden immer wieder, ob es richtig war, diesen Mann zu heiraten. Zwar hatte sie wirklich ihren guten Ruf mit Füßen getreten und war ihm nun fast ausgeliefert. Aber warteten in einer Ehe mit diesem Rücksichtslosen nicht größere Schrecken auf sie als die Blamage in der Gesellschaft?
»Warum so ernst, Darling? Drücken deine Schuhe? Wir sind am Ziel. Siehst du den Steinhaufen dort hinter dem Ring aus Ebereschen? Das muss der Lygra-Tempel sein. Ein armseliges Ding, wenn ich an die Bauten denke, die ich auf Zeichnungen sah.« Frank nahm Helen in die Arme. »Wir werden sie alle gemeinsam anschauen auf unserer Weltreise. Habe ich dir schon erzählt, wie lange wir England den Rücken kehren werden?«
»Du bist grausam«, sagte sie leise, und ihre Augen verdunkelten sich vor Zorn.
»Grausam? Kind, du schutzbedürftiges, zartes Wesen. Ich heile dich von deinem Aberglauben. Das mag dir im Augenblick grausam Vorkommen, aber du wirst mir dankbar sein.«
»Nie!«, schrie Helen. »Nie kann ich vergessen, was du mir jetzt antust.«
Er packte sie am Handgelenk und zerrte sie weiter auf die Wiese zwischen Bach und Tempel. Dort stellte er den Korb ab, nahm den Zylinder vom Kopf und verbeugte sich in Richtung Tempel.
»Ich grüße dich, armseliger Lygra, ich verhöhne dich, und ich werde in deinen Tempel spucken. Gleich komme ich, bereite dich vor, empfang mich mit allen Ehren, die einem wackeren Briten zustehen!«
Helen baute sich mit ausgebreiteten Armen vor ihm auf. »Keinen Schritt weiter, Frank!«, rief sie schrill. »Die Einwohner wussten, was sie taten, als sie die Ebereschen pflanzten. Unheil geht von diesem Hügel aus, und wir haben es weit genug getrieben.«
Sie packte und rüttelte ihn, während er lachte.
»Es muss ja kein Spuk sein. Die Alte ist abergläubisch, wahrscheinlich hat sie Tricks angewandt, um uns zu täuschen. Aber die Furcht der Leute, die hier wohnen, muss einen Grund haben. Ich weiß aus Büchern, dass es Orte gibt, an denen giftige Dämpfe aus der Erde steigen. Oder vielleicht hausen Giftschlangen in dem alten Gemäuer.«
»Wir werden sehen«, sagte Frank. »Du glaubst doch nicht, dass ich so kurz vor dem Ziel aufgebe?«
Damit schob er seine Verlobte beiseite und betrat den Ring aus Ebereschen.
Helen stand mit angehaltenem Atem da. Trotz der Wärme war ihr eiskalt geworden. Die Vögel ringsum schienen verstummt zu sein, selbst das Plätschern des Baches hörte sie nicht mehr. Nur noch das Rauschen des eigenen Blutes in ihren Ohren.
Siegessicher schritt Frank Henderson auf den Tempel zu, berührte die bemoosten Steine, winkte zu Helen zurück und kletterte zum gewölbten Dach.
»Ein Loch in der Decke!«, rief er ihr zu. »Sieht aus, als hätte jemand mit großer Gewalt draufgeschlagen. Und da unten ist es stockfinster. Könnte schon sein, dass es da Giftschlangen gibt. Nun, ich will es nicht ergründen. Ein böser Geist, der mich auf den Tempel steigen lässt, den alle Menschen meiden, hat wohl für dich jeglichen Schrecken verloren?«
»Komm - schnell - zurück!«, stieß Helen atemlos hervor, denn sie sah den Hageren mit den fast weißen Augen hinter Frank Henderson emporwachsen.
Das Lachen Hendersons mischte sich mit dem des Hageren Es hallte, dröhnte mit der Macht eines Orkans über die sommerliche Wiese.
Henderson streckte die Arme nach Helen aus. Er riss den Mund auf, als erstickte er. Seine Augen wurden starr, und dann verdrehte er sie so, dass Helen nur noch das Weiße sah.
Sie schrie schrill und anhaltend.
Dann war ihr, als hüllte sie eine warme Wolke ein. Das unsichtbare Gebilde zog an ihr, wollte sie fortzerren.
Aber Helen widersetzte sich.
»Lygra - Geister - Tempel - Unsinn!«, stieß sie heiser und wie in geistiger Umnachtung hervor. »Frank ist gestürzt. Ich muss ihn retten.«
»Es ist vorbei«, raunte ihr dieselbe Stimme zu, die sie bei der alten Wahrsagerin gehört hatte. »Du begibst dich unnötig in Gefahr. Er ist in der Gewalt des Bösen, und nichts kann ihn retten, auch ich nicht. Er lebt noch, doch beginnt er schon, tot zu sein. Eine leere Hülle. Ein Haus, indem andere wohnen.«
Er lebt noch!
Nur diese Worte hafteten in Helens Hirn, als sie durch die Ebereschensträucher drängte, deren Zweige sie zurückzuhalten schienen.
Weder der Hagere noch Frank waren zu sehen.
Aber oben auf dem Tempeldach lag der graue Zylinder.
Auf allen vieren kroch Helen über die bemoosten Steine, und es fiel ihr seltsam leicht, so als schöben die Felsbrocken helfende Hände unter ihren Körper.
Und dann starrte sie in das Loch.
Frank hatte sich geirrt. Es war nicht finster dort unten. Sie konnte ihn genau erkennen.
Von gleißendem weißem Licht angestrahlt, lag er auf einem steinernen Tisch.
Reglos und mit aufgerissenen Augen, von denen auch jetzt nur das Weiße zu sehen war.
Mantel, Jacke und Hemd waren über der Brust geöffnet.
Der Hagere kniete in einer Ecke vor einem Gefäß, das rot wie Rubinglas leuchtete.
Und obwohl niemand und nichts Frank Henderson berührte, klaffte plötzlich eine Wunde in seiner Brust.
Entsetzt streckte Helen die Hände aus, verlor das Gleichgewicht, rutschte und stürzte vom Tempeldach.
Man fand sie Tage später an der Mündung des Eck in den See, dessen Namen er trug. Sie saß an der Stelle, an der sie mit Frank Henderson aus der Kutsche gestiegen war, um in das Ecktal zu wandern.
Ihre Kleider waren zerrissen, die Haare hingen ihr wirr um den Kopf, sie blutete aus vielen Schürf- und Schnittwunden.
Ein Fischer brachte sie nach Dunoon zum Arzt, und nach wochenlanger Pflege wurde ihr Körper geheilt.
Ihr Geist jedoch blieb umnachtet.
Als Frank Hendersons Vater aus London kam, um Helen heimzuholen, weigerte sie sich, Dunoon zu verlassen. Wenn man sie nach Frank fragte, schwor sie, ein Dämon habe ihn im Tempel getötet.
Auch der Pfarrer von Dunoon versuchte vergeblich, Helen Miller zur Heimkehr zu bewegen. Und selbst die Eltern des Mädchens konnten es nicht überreden, mit ihnen abzureisen.
Beide Familien besuchten Mo Cunning, baten sie, Helen bei sich aufzunehmen. Und die Wahrsagerin erfüllte den Wunsch der Leidgeprüften.
Als sich der Tag jährte, an dem Frank Henderson verschwunden war, machte sich Helen Miller noch vor Tagesanbruch heimlich aus dem Haus der Wahrsagerin davon - und kehrte nie zurück.
*
»Das Ungeheuer vom Loch Eck hat wieder zugeschlagen«, sagte Lord Pattingulf mit ironischem Lächeln und schüttelte den Mixer. Drinks zu mixen war sein zweites Hobby.
Dieselben Menschen, die ihn wegen seines ersten Hobbys schätzten, fürchteten ihn wegen dieser Leidenschaft, eigene Rezepte an Gästen auszuprobieren, denn sie waren über das Alter hinaus, in dem der Magen klaglos ein Durcheinander von scharf, süß, bitter und sauer hinnimmt.
Der zierliche Abel Fletcher faltete die sehnigen Hände vor der Brust und runzelte die Stirn. Seine buschigen weißen Brauen, die ohnehin schon zusammenstießen, kamen mal wieder ins Gedränge miteinander, und der Wissenschaftler erinnerte mit den braunen Knopfaugen und den struppigen Brauen an einen uralten Igel. Er warf seinem Freund und langjährigen Mitarbeiter David Brinel einen hilfesuchenden Blick zu.
Brinel bleckte die Zähne, zeigte sein Pferdegebiss und zuckte die Achseln.
Lord Pattingulf, der Gönner dieser beiden alten Archäologen, hatte schon so manche Expedition für sie finanziert, immer ein offenes Ohr für ihre verwegensten Ideen, und so duldeten sie seine Angriffe auf ihre Mägen. Allerdings nicht ohne jegliche Gegenmaßnahmen.
Als der Lord den Rücken wandte, ließ Brinel in sein und Abels Glas je eine Tablette fallen, von der erhoffte, dass sie das Schlimmste verhüten würde.
»Aber Dave, Sie beleidigen mich ja«, tadelte der Lord, der in den Spiegel hinter der Bar gesehen hatte. »Zwei alte Haudegen wie Sie werden doch einen köstlichen Pattingulf-Spezial nicht ausschlagen.«
»Wie könnten wir. Aber einschlagen in gestählte Magensäfte dürfen wir ihn doch, indem wir ein basisch wirkendes Medikament zur Neutralisierung der Säure hinzufügen.«
»Sie hätten lieber anständig essen sollen, Brinel.«
Brinel rieb sich die Region, in der Männer seines Alters zuweilen einen Bauch hatten, und stöhnte: »An einem Frühstück, wie ich es vorhin verfügt habe, knabbere ich sonst eine Woche.«
»Bei Ihren Ausgrabungen hat sich der Staub der Jahrtausende auf die Geschmacksgrübchen gesetzt.« Der beleibte Lord öffnete den Mixbecher und goss eine Flüssigkeit in drei Gläser, die gefährlich grün aussah und roch wie ein Kräutergarten, den eine alte Giftmischerin angepflanzt hatte.
Mit gequältem Lächeln lauschten die Gäste dem Trinkspruch.
»Auf die wundervollen Fruchtbarkeitsgöttinnen, die Sie jüngst aus Mexiko heimbrachten, und die im Britischen Museum Ihre und meinen Namen auf ewig aneinander ketten werden. Und auf die nächste Expedition, von der ich noch nicht weiß, wohin sie Sie führen wird. Mögen Sie alle damit verbundenen Gefahren gesund überstehen.«
»Wenn wir es überleben, diesen Drink zu verdauen, haben wir eherne Schutzengel«, brummte Abel Fletcher und goss die grüne Flüssigkeit mit geschlossenen Augen in sich hinein.
»Hervorragend!«, rief Brinel, als er wieder zu Atem gekommen war, und das rote Gesicht des Lords strahlte in breitem Grinsen.
Als Brinel weitersprach, wurde es jedoch lang und länger, was Lord Pattingulf mit seinem Mondgesicht nur bewerkstelligen konnte, wenn er den Unterkiefer abklappte, bis sein Mund sperrangelweit offen stand.
»Hervorragend geeignet für Forschungszwecke am eigenen Körper, denn bei diesem Drink spürt man, wie die Speiseröhre im Körper verläuft und in den Magen mündet.«
»Banausen, Gesindel«, brummte der Lord, goss sich einen zweiten grünen Drink ein und rollte ihn genüsslich auf der Zunge.
»Ich möchte noch einmal darauf zurückkommen...«, begann Abel Fletcher.
»Aha, auf den Geschmack gekommen?«, unterbrach ihn der Lord und hob den Mixbecher.
Abel spreizte die Hände in Abwehrstellung. »Der erste war Körperverletzung, der zweite wäre ein Mordversuch, und ich müsste ihn als Bedrohung ansehen«, brummte er. »Nein, das Verschwinden dieses Fischers interessiert mich. Seit wann gibt es diese Legende über das Ungeheuer vom Loch Eck?«
Lord Pattingulf schmatzte die Reste seines Drinks und stellte das Glas weit von sich. »Sie dürften und wollen nicht, ich möchte, aber mehr hat mir der Arzt verboten. Diese Legende gibt es nicht. Es ist meine Version des Ammenmärchens, dass alljährlich ein Mensch verschwindet, wenn die Sonne im Zeichen des Krebses steht. Ich habe die Statistiken nicht geprüft, aber sollte es stimmen, so findet sich dafür eine einfache Erklärung. Zu dieser Jahreszeit kommen die meisten Touristen her. Und obwohl das Baden hier ungefährlich ist, sowohl am Strand als auch in den Seen, gibt es doch immer wieder leichtsinnige Nichtschwimmer, die für ihre Waghalsigkeit mit dem Leben büßen müssen.«
»Und wieso tauchen die Leichen der Ertrunkenen nicht auf?«, fragte Brinel.
»Man müsste Strömungsexperte sein. Vielleicht gibt es Strudel, die Tote in die Tiefe reißen und in Unterwasserhöhlen spülen.«
»Findet sich denn in dem Ammenmärchen keine Erklärung? Oft ist ein wahrer Kern in solchen Geschichten. Wir sind schon durch so manche Legende auf Altertümer gestoßen.«
Fletcher bestätigte durch eifriges Nicken Brinels Behauptung.
»Der Kern ist phantastischer Blödsinn, der vermutlich in den Gehirnen der Hochländer entstand, die in den langen Winternächten in ihren Kneipen zu viel Whisky und Bier tankten und dann auf dem Heimweg in jedem Nebelstreif einen Dämon sahen. Im Ecktal gibt es einen Hügel, den ein Ebereschengehölz und Strauchwerk umwuchert. Den nannten sie früher den Totentempel. Vor mehr als hundert Jahren hat sich da mal eine Liebestragödie abgespielt. Ein Pärchen, das aus London gekommen war, um in Helensburgh zu heiraten, machte einen Ausflug ins Ecktal. Der junge Mann verschwand spurlos.«
Der Lord grinste vielsagend. »Wahrscheinlich packte ihn die Reue, und er ist verduftet. Das Mädchen trieb sich noch ein Jahr lang herum, hauste bei einer Sybille, die viel Ansehen genoss, und verschwand dann ebenfalls. Der Dämon vom Ecktal habe ihr die Sinne verwirrt, heißt es. Ich glaube vielmehr, dass der junge Mann merkte, wen zu heiraten er da im Begriff war: eine Verrückte. Und die Wahrsagerin hatte sicher auch nicht alle Tassen im Schrank.«
Abel und David sahen sich an, dann bleckte David sein Pferdegebiss, und Abel fuhr sich mit allen zehn Fingern durch seinen weißen Haarwust. Dabei leuchteten die braunen Knopfaugen.
»Der Hügel reizt euch?«, fragte Lord Pattingulf gespannt.
»Warum haben Sie uns nicht schon früher davon erzählt?«
»Weil ich mir überhaupt nichts davon verspreche. Argyllshire ist voll von Hügeln. Und ich möchte zwei Koryphäen wie Sie nicht auf eine falsche Fährte hetzen. Schließlich habe ich ja etwas teil an Ihrem Ruhm, wenn ich meine paar Pfund beisteuere. Aber hier ist wirklich nichts zu holen.«
»Sehen wir doch mal nach«, sagte Abel zu David, »und betrachten wir es als Erholungsaufenthalt in gemäßigtem Klima, bevor wir nach Afrika gehen.«
»Afrika?« Das ist doch allenfalls so ergiebig wie der Sandkasten auf einem Kinderspielplatz und mindestens genauso durchgesiebt.«
»Nicht da, wo wir hin wollen.«
Abwechselnd schilderten Abel Fletcher und David Brinel, welche neue Theorie sie über den Verbleib der Sumenchen hatten, jenes hellhäutigen Stammes, der in alten Schriften erwähnt wurde, von dem aber noch nie Beweisstücke seiner Existenz zutage gefördert worden waren.
Die drei Männer redeten sich die Köpfe heiß, bis der Gong zum Mittagessen rief.
»An Ihrer Stelle«, sagte der Lord bei der Suppe, »würde ich diese Afrika-Reise so rasch wie möglich antreten. Da könnte mich ein läppischer Lygra-Tempel nicht zurückhalten.«
»Lygra-Tempel?«, fragten Abel und David wie aus einem Munde.
»So ungefähr nannte man das Ding wohl früher. Alles lokaler Blödsinn. Offensichtlich ein Anagramm von Argyllshire, verstümmelt noch dazu.«
»Natürlich, ein Anagramm. Fragt sich nur, was zuerst da war. Wenn die Gegend ursprünglich Lygra genannt wurde, kann sich Argyll daraus entwickelt haben, wodurch man den Dämon, den man fürchtet, zwar ehrt, indem man ein Gebiet nach ihm benennt, den Namen aber ändert, um den bösen Geist nicht unbeabsichtigt herbeizurufen.«
Brinel sah Fletcher an. »Haben wir jemals etwas von einem Lygra gehört?«
Abel schüttelte den Kopf. »Und der Name Argyllshire ist ja nicht erst vor hundert Jahren entstanden, als dieses Liebespaar verschwand. Aber gerade solche Unstimmigkeiten sind interessant.«
»Die Legende geht ja viel weiter zurück«, erklärte Lord Pattingulf finster. »Hätte ich doch bloß nicht davon angefangen. Sie verschwenden hier Ihre Zeit und verzögern den Tag, an dem wir drei weltberühmt werden.«
Als sie später im Rauchsalon saßen und schweigend drei Brasil anzündeten, sah der Lord seinen beiden Freunden an, dass sie völlig geistesabwesend waren.
»Na schön«, sagte er grantig. »Dann tobt euch im Ecktal aus. Wie lange wird das - leider - dauern?«
»Von uns aus kann es morgen losgehen, wenn wir bis dahin ein paar kräftige Männer gefunden haben, die uns helfen. Wie sieht’s mit der Genehmigung aus?«
»Keine Chance.« Lord Pattingulf schüttelte den Kopf.
»Keine Genehmigung? Wem gehört denn das Gebiet?«
»Der Gemeinde von Olosville, und die wären sicher froh, wenn da gebuddelt würde, um mit dem alten Aberglauben vom verfluchten Hügel aufzuräumen. Aber es besteht keine Chance, Männer zu finden, die da buddeln.«
»Was? Jetzt im zwanzigsten Jahrhundert?«, rief Abel, und seine Knopfaugen drohten aus den Höhlen zu quellen.
»Und jetzt schon gar nicht, da der Fischer verschwunden ist. Ein Einheimischer, der nicht im See Eck, sondern oben im Fluss fischte, ganz in der Nähe vom sogenannten Tempel, wo sich sonst nur Touristen hinwagen, Unbelehrbare, die dann auch hin und wieder verschwinden.«
Abel rieb sich die sehnigen Hände. »Das große Abenteuer liegt vor Ihrer Haustür, Lord Frederic! Und in welchem Umkreis treffen wir auf furchtsame Seelen?«
»Wenn Sie wild entschlossen sind zu graben, und das sind Sie ja, besorge ich Ihnen Männer aus Glasgow.«
»Hmhm!«, staunte David Brinel. »Nicht aus der Welt, aber ein hübsches Stückchen Weg für eine Legende, sich auszubreiten.«
»Sie hatte Hunderte von Jahren Zeit, meine Freunde. Wie ich Sie kenne, möchten Sie den Tatort noch heute besichtigen.«
»Sie kennen uns«, versicherte Abel und malträtierte schon wieder seinen weißen Haarwust mit beiden Händen.
David Brinel sah auf seine Armbanduhr. »Da könnten wir vielleicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Rose und Colwyn kommen mit dem Zwei-Uhr-Zug. Wenn wir sie mit dem Wagen abholen, können sie sich gleich mit uns die Beine vertreten. Nach der langen Reise wird uns das junge Volk dankbar sein für diese Idee.«
»Die sind doch hoffentlich kein Liebespaar?«, fragte der Lord und fing die Asche seiner Zigarre auf. Die innere Ruhe war ihm genommen durch die Erregung seiner beiden Freunde. Da lag seit Jahrhunderten ein sagenumwobener, von Unkraut überwucherter Steinhügel im Ecktal, und nun rissen sich zwei anerkannte Archäologen die Beine aus, möglichst schnell dort hinzukommen. Bloß weil er seine Witze über das Ungeheuer vom Loch Eck gerissen hatte.
Abel lachte. »Die kennen sich erst seit heute. Meine Nichte studiert in London, und wenn ich schon mal nach Hause komme, geht unser Famulus seine eigenen Wege. Diesmal allerdings musste er die Ergebnisse der Laboruntersuchungen abwarten und sollte sie herbringen, damit Sie sehen, dass alles seine Ordnung hat. Und Rose will einige Tage mit mir Urlaub machen. Verdient haben wir’s beide. Sie ist ein fleißiges Mädchen. Da dachte ich, besser sie reist mit ihm, weil ich weiß, dass sie in guten Händen ist. Wie kommen Sie auf Liebespaar, Lord Frederic?«
»Der verfluchte Tempel oder Steinhaufen - oder was immer es sein mag - ist der letzte Ort, wo ein Pärchen aus der Umgebung hingehen würde«, brummte der Lord und warf seine Zigarre in den suppentellerförmigen Kupferascher.
»Tut uns leid, wenn wir Ihnen die Ruhe nehmen«, entschuldigte sich Brinel.
»Die Ruhe genommen haben! Wählen Sie das richte Tempus, mein Freund.« An der Tür wandte sich der beleibte Lord um, und nun grinste er wieder. »Ich werfe mich in mein Jagdgewand, und Sie sollten sich auch umziehen. Der Weg zum Tempel ist steinig und voller Dornengestrüpp. Und der Pfad endet etwa drei Meilen vor dem Hügel.«
Die Archäologen begleiteten den Lord in die Halle, und er rief in den Garten hinaus: »James, ich brauche den Landrover in einer Viertelstunde!«
Dann ließ er die Tür ins Schloss knallen. »Hat einer von euch noch ein Reserve-Amulett? Ich möchte auf meine alten Tage nämlich nicht von Dämon Lygra verspeist werden.«
Brinel bleckte seine Pferdezähne. »Das würde dem Dämon schlecht bekommen. Immerhin haben Sie zwei Ihrer grünen Drinks genossen. Die machen Ihr Blut auch für abgefeimte böse Geister ungenießbar.«
*
Rose Fletcher umarmte ihren Onkel so herzlich, als wäre er gerade erst von einer seiner langen Reisen zurückgekehrt. Tatsächlich aber hatten sich die beiden erst vor zwei Tagen in London verabschiedet. Sie liebte den kleinen alten Mann, der ihre ganze Familie darstellte. Abels Bruder William war mit seiner Frau bei einer Bergtour in den französischen Alpen ums Leben gekommen und hatte nur eine Tochter, Rose, zurückgelassen.
Aber sie hing nicht nur an ihm, weil er ihr letzter Verwandter war, sie mit Geschenken verwöhnte, ihr das Studium ermöglichte und aus den fernsten Winkeln der Erde regelmäßig an sie schrieb. Sie fand, jeder müsse den zierlichen, intelligenten Mann verehren, der so viel Güte und Weisheit ausstrahlte.
»Na, meine Liebe, wie hat unser Famulus dich betreut? Hat er dafür gesorgt, dass ihr die Anschlüsse ohne Hetzerei schafftet?«
Das Mädchen blickte zu Colwyn hin, und der junge Mann schnitt eine Grimasse.
»Ich gebe es offen zu, Sir, Miss Fletcher hat auf mich aufgepasst, und wenn sie mich nicht in den richtigen Zug gestoßen hätte, wären wir jetzt in Edinburgh.«
Brinel drückte dem Mädchen fest die Hand und zeigte sein Pferdegebiss. »Sonst ist er ein hervorragender Reiseleiter. Aber ich billige ihm mildernde Umstände zu. Eine bildhübsche Reisebegleiterin wie Sie, Rose, würde mich auch total verwirren.«
Die vier gingen zu dem Wagen, in dem der Lord und sein Chauffeur warteten. Frederic Pattingulfs bewundernden Blicken sah man an, dass ihn Rose beeindruckte. »Wie kommt ein schmächtiger Bursche wie Sie, Abel, zu einer solchen Nichte?«, fragte er augenzwinkernd.
Rose war einssiebzig groß, sehr schlank, hatte grüne Augen und trug ihr honigblondes glattes Haar schulterlang.
»Die Schönheit liegt bei uns in der Familie«, erklärte Abel und stieg in den Landrover. »Ich habe leider wenig davon mitbekommen, dafür mein Bruder William umso mehr, und zum Glück hat er es Rose vererbt.«
»Es kann losgehen, James. Ist das Gepäck an Bord?«, rief der Lord.
»Aye, Sir!«, rief Colwyn Dawly, und dann rollte der Geländewagen vom Parkplatz vor dem kleinen Bahnhof.
Während der Fahrt erklärte Abel seiner Nichte, weshalb sie noch nicht nach Pattingulf House fuhren, sondern einen Ausflug ins Ecktal machten.
Als Rose vom Lygra-Tempel hörte, schüttelte sie lachend den Kopf. »Die Adligen von Argyll würden auf die Barrikaden steigen, wenn jemand behauptete, ihr Name habe etwas mit Dämonen zu tun. Und die Gälen auch, nach denen Argyll benannt ist.«
»Vermutlich.« Abel grinste in sich hinein. »Es ist ja auch nur eine Legende. Und da wir nicht an Geister und Dämonen glauben, gibt es nur einen Schluss: Zuerst war Argyll da, und später wurde der Name umgedreht und einem Dämon verpasst. Vielleicht von anderen keltischen Clans, die etwas gegen Gälen hatten.«
»Oder ein gälischer Geisterseher erfand den Dämon selbst«, brummte der Lord. »Viele Menschen brauchen böse Geister, um sich zu entschuldigen. Wenn sie dem Whisky verfallen, ist der Dämon dran schuld.«
Schon bald nach der Einmündung des Flusses Eck in den Loch Eck wurde der Pfad holprig und schmal. Die Insassen des Landrover wurden tüchtig durcheinandergeschüttelt, aber den beiden alten Archäologen, Rose und dem Famulus machte das nichts aus. James bewies, dass er ein guter Fahrer war.
»Danke, James!«, sagte Frederic Pattingulf, als der Landrover am Ende des Pfades hielt. »Es war mir zwar kein Vergnügen, wie mein Hinterteil massiert wurde, aber Sie haben Ihr Bestes getan.«
Grinsend half der Chauffeur den anderen aus dem Wagen.
»Möchten Sie uns begleiten oder auf den Wagen achten?«
»Wenn Sie mich vor die Wahl stellen, Sir, dann bleibe ich lieber hier.«
Als die fünf außer Hörweite waren, brummte der Lord: »Da haben Sie’s. Sogar mein guter James, der nicht gerade zu den Hinterwäldlern gehört, meidet den verfluchten Hügel.«
»Dämon oder nicht«, sagte Rose und atmete die frische Luft tief ein, »ich finde es herrlich hier.«
Abel und David, die lange Fußmärsche gewohnt waren, schritten rüstig aus. Der Famulus hielt sich in ihrer Nähe, und Lord Pattingulf blieb bald schnaufend zurück, obwohl der Weg nur mäßig bergan führte.
Rose Fletcher leistete ihm Gesellschaft und plauderte munter von ihren Zukunftsplänen.
*
Abel, David und Colwyn hatten das Gestrüpp erreicht, das sich um den verfemten Hügel zog. Sie sahen sich um und lachten, denn ganz in der Ferne rasteten Lord Frederic und Rose.
»Solche Ebereschen habe ich überhaupt noch nicht gesehen«, sagte der junge Colwyn verwundert. »Die sind ja uralt.«
David, der schon weiter vorgedrungen war, rief: »Und hier drin steht ein Ring von Stämmen, die noch älter sind.«
Unmittelbar am Fuß des Hügels fanden sie einen Ring morscher Stämme, die kein Laub mehr trugen.
»Eigenartig«, sagte Colwyn, »es sieht so aus, als hätten sie hier seit mehr als hundert Jahren nicht mehr durchgeforstet, sondern immer neue Ringe von Ebereschen angepflanzt. Verstehen Sie das?« wandte er sich an seine beiden Lehrmeister.
»Alter Aberglaube«, erklärte Abel Fletcher. »Ebereschen sollen Geister bannen.«
Und David Brinel zitierte: »Pflanze ein Ebereschenbäumchen auf das Grab des bösen Menschen, und er wird als Geist dir nicht erscheinen können.«
Colwyn lachte schallend.
Die ganze Zeit über war es völlig windstill gewesen, und vom klaren blauen Himmel strahlte die Sonne.
Plötzlich fuhr ein Windstoß durch die Wipfel und bog sie um wie Schilf.
»Der Dämon hat geniest!«, rief Colwyn und pfiff durch die Zähne.
Abel drückte ihm den Spaten in die Hand, mit dem David eine geeignete Stelle am Fuß des Hügels ausgesucht hatte, und sofort machte sich der Famulus an die Arbeit. Nachdem er auf einem Quadratmeter Pflanzen, Wurzelwerk und Erdreich weggeschaufelt hatte, stieß er auf Stein.
»Ein großer Brocken«, murmelte Abel, als Colwyn eine Fläche von fast zwei Quadratmetern freigelegt hatte und noch immer keine Spalte zu sehen war.
Die drei arbeiteten eifrig weiter, Abel und David rissen Büschel von Unkraut weg, Colwyn schaufelte schwitzend, und dann stieß er einen Freudenschrei aus.
In andächtigem Staunen standen die drei Männer vor der Fuge zwischen dem großen Brocken und dem nächsten Stein.
Abel zog einen Hohlbeitel aus der Tasche, kratzte vorsichtig an der Rinne herum und nickte dann.
»Das ist kein Bauwerk, sondern ein Wunderwerk«, flüsterte er, und David Brinel nickte.
»Na, ihr Maulwürfe«, tönte da Lord Frederics Stimme aus dem Ebereschendickicht hervor, »habt ihr den Dämon schon ausgegraben?«
Colwyn zuckte zusammen, und David flüsterte: »Vorläufig kein Wort zu irgendjemandem!«
Abel ging Rose und dem Lord entgegen, um die Zweige auseinanderzuhalten.
»Leider hat er uns noch keine Audienz gegeben. Aber wir sind uns einig, dass es sich hier lohnt, ein wenig zu forschen. Ein Umlaufberg ist es jedenfalls nicht.«
»Allerdings. Davon, dass der Hügel herumläuft, habe ich noch nichts gehört. Obwohl man ihm ja eine Menge von faulem Zauber nachsagt.«
Während sich Colwyn grinsend auf seinen Spaten stützte, erklärten die beiden alten Archäologen ihrem Gönner, was sie meinten.
»Ach so! Es ist also ausgeschlossen, dass der Fluss einen Bogen um diesen Hügel machte, als der Eck noch ein reißender Strom war.«
»Kein reißender Strom, aber ein größerer Fluss als jetzt. Ja, wir haben uns verstanden, Lord Frederic. Es sieht so aus, als sei der Kern des Hügels weder massiver Fels noch eine Ansammlung von Gesteinsbrocken, sondern ein Bauwerk.«
»Und aus welcher Zeit? Wisst ihr das auch schon?«
Abel wies auf das verhältnismäßig kleine Stück, das Colwyn freigelegt hatte. »Das können wir jetzt noch nicht beantworten.«
»Aha! Also seid ihr fest entschlossen, weiterzumachen?«
»Sobald wir die Leute und die Genehmigung haben.« David Brinel strahlte.
»Na schön, dann soll James heute noch in Glasgow ein paar Männer anheuern, die morgen früh hier antanzen. Und wegen der Genehmigung fahren wir am besten gleich nach Olosville. Da sehe ich keine Schwierigkeiten.«
Die fünf traten den Rückmarsch an, wobei Colwyn den Spaten wie ein Gewehr schulterte und mit der Rechten versuchte, die Zweige der Dornenhecken festzuhalten, bis Rose Fletcher vorbei war.
Plötzlich sah das Mädchen aus den Augenwinkeln eine Bewegung schräg über sich. Rose wandte den Kopf und wunderte sich darüber, dass hier jemand eine Vogelscheuche in die Bäume gehängt haben sollte, da es doch weit und breit kein Saatgut oder Obst zu schützen gab.
Doch dann erkannte sie, was da oben baumelte, und stieß einen kleinen Schrei aus.
Abel, der hinter Rose ging, blieb abrupt stehen, entdeckte den Erhängten, packte Rose am Arm und schob sie weiter.
»Sieh nicht mehr hin, Kind!«, rief er. »Colwyn, bring meine Nichte zum Fluss!«
Der junge Mann war ebenfalls Roses Blickrichtung gefolgt und blass geworden. Er hätte schwören können, dass sie denselben Weg gekommen waren. Aber er hatte sich gründlich umgesehen, die Ebereschen auf ihr Alter taxiert und keine Leiche entdeckt.
Und dass der Mann dort Selbstmord begangen hatte, während sie am Hügel gruben, war ausgeschlossen, denn selbst Colwyn Dawly, der wenig Erfahrung mit Leichen hatte, sah, dass der Tote schon mehrere Tage dort hängen musste.
Unwillkürlich legte er den Arm um Roses Schultern und zog sie mit sich fort. Dass sie den scheußlichen Anblick ertrug, ohne zusammenzubrechen, verdiente Bewunderung.
Er merkte, dass Rose sich schüttelte und ließ sie einen Augenblick los, aber nur, um seine Wildlederjacke auszuziehen und ihr umzulegen.
Rose klang ein hässliches Lachen in den Ohren. Und gleichzeitig spürte sie einen eisigen Windhauch, der sie frösteln ließ.
Dreh bloß nicht durch! mahnte sie sich in Gedanken. Jemand war lebensmüde, und weil er wusste, dass hier selten jemand hinkommt, wählte er diesen Ort, um seinem Dasein ein Ende zu machen. Das Lachen, das du zu hören glaubst, ist der Wind, der durch die Blätter weht. Durch die Blätter und - an ihm vorbei. Bei der Erinnerung an den scheußlichen Anblick wurde ihr übel und schwindlig zugleich. Sie war Colwyn dankbar, der sie stützte.
Männer sind eben doch besser verpackt, dachte Rose. Sie konnte nicht wissen, dass der junge Mann ebenfalls mit dem Brechreiz zu kämpfen hatte.
*
James hatte auf Lord Pattingulfs Anweisung hin beim Polizeiposten in Dunoon Meldung gemacht und dann Colwyn und Rose in Pattingulf House abgesetzt.
Die beiden Archäologen und der Lord fuhren weiter nach Olosville.
Der Bürgermeister des Dorfes, das keine hundert Einwohnerzählte, begrüßte die Besucherin seiner Gaststube, denn er war auch Wirt, Ratsschreiber, Standesbeamter und Friseur seiner Gemeinde.
»Genehmigung zum Graben am Totenhügel?«, wiederholte er langsam, als der Lord seine Bitte vorgetragen hatte.
Die sieben Männer am Stammtisch, die gespannt gelauscht hatten, duckten sich und steckten die Köpfe zusammen.
»Das glaube ich nicht. Wir haben genug Ärger mit dem verfluchten Hügel. Wenn was passiert, kann das keiner von uns verantworten.«
»Lenboth«, sagte der Lord eindringlich, »die Gemeinde kann ein paar Pfund brauchen. Ihr kennt mich doch, ich bin nicht knausrig. Meine Freunde hier sind berühmte Archäologen, Leute, die alte Städte und Gräber freilegen. Sie interessieren sich für den Hügel. Wenn die feststellen, dass es da keine Dämonen gibt, ist den Verleumdern das Maul gestopft. Sie können das doch auch gar nicht allein entscheiden. Müssen Sie nicht den Gemeinderat einberufen? Oder wie handhabt ihr das hier?«
Lenboth deutete mit dem Daumen auf die Männer am
Stammtisch. »Da sitzen sie. Wie die abstimmen, ist doch klar.«
Die Männer hoben die Köpfe und senkten die Daumen.
»Was anderes wäre, wenn uns einer den Hügel abkauft!«, rief einer vom Stammtisch. »Dann wären wir den verfluchten Hügel los. Und Geld kann die Gemeinde wirklich brauchen. Da haben Sie recht, Lord Pattingulf. Aber kaufen wollen Sie ihn auch nicht, bloß aufbuddeln. Und wenn dann der Zauber losgeht, die Schafe auf den Weiden krepieren, Tote im Meer angeschwemmt werden und die Touristen reihenweise verschwinden, dann sind wir schuld.«
Lord Frederics rotes Gesicht drückte Verblüffung aus. Er blickte von Abel zu David, sah in ihren Augen Zustimmung und sagte: »Tja, ähm.«
Da erst drehten sich alle sieben Männer zu den Besuchern um, rückten sogar die Stühle so, dass sie den Lord gut sehen konnten.
»Tja, wenn es kein Vermögen kosten soll, wäre ich unter Umständen bereit.«
Rasch wurden die Männer von Olosville und Lord Pattingulf einig, und der Lord rundete ihre Forderung sogar noch nach oben ab.
Der Wirt holte sein Schreibzeug herbei und setzte den Kaufvertrag auf.
»Aber was ist«, fragte Lord Frederic, »wenn meine Freunde Gold oder Erdöl finden? Dann heißt es, der alte Pattingulf hat uns übers Ohr gehauen.«
Während sie die von Pattingulf gestiftete Flasche kreisen ließen, lachten die Männer laut. »Ihr werdet allenfalls die bösen Geister entfesseln. Aber dann haftet ihr für alle Schäden in der Umgebung, Lord Frederic.«
»Da vertraue ich meinen Freunden. Und wenn wirklich ein Dämon im Hügel steckt, wird er ausgetrieben. Unverständlich, dass sich die Eiterbeule so lange hat halten können, dass sich keiner fand, der das Geschwür aufschnitt.«
Nachdem der Vertrag unterzeichnet war, schickte Lord Frederic seinen Fahrer nach Glasgow. Einer der Gemeinderäte erklärte sich bereit, den Lord und seine Freunde nach Pattingulf House zurückzubringen.
»Da mir der Hügel jetzt gehört, hätte ich gern sämtliche Unterlagen über seine Geschichte.«
Lenboth verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Die Besitzurkunde habe ich euch ja gegeben. Und mehr ist da nicht.«
Lord Frederic hatte das vergilbte Papier an Abel Fletcher weitergereicht, der es gemeinsam mit David Brinel studierte.
»Der Eck-Quell-Hügel, wie er offiziell heißt«, sagte nun Abel, und seine Knopfaugen blickten von einem zum anderen am Stammtisch, »kam durch einen Tausch im Jahr achtzehnvierzig an Olosville. Galt der Hügel damals schon als - nun, sagen wir - mit einem Spuk behaftet?«
Gemurmel wurde laut, und einige Männer hieben mit den Fäusten auf den Tisch.
»Ich höre da Zustimmung heraus.« Der Wissenschaftler wartete auf weitere Erklärungen. Er musste an Expeditionen in fernen Ländern denken, bei denen er sich gewünscht hatte, die Sprache der Eingeborenen besser zu kennen, um rascher zu den Orten zu kommen, an denen er mit David graben wollte. Hier jedoch verstand er und wurde verstanden, und dennoch klaffte ein Abgrund zwischen ihm und den Männern.
Endlich bequemte sich Lenboth für die anderen zu sprechen. »Das war eine ziemliche Schweinerei damals. Klar war der Hügel schon verflucht. Irgendein Federfuchser aus Plairs drehte den Lenboths, meinen Vorfahren, den Hügel an, und Plairs kriegte dafür die fruchtbare Eck-Mündung. Ob sie damals meinen Ur-Ur-Großvater hypnotisierten, besoffen machten oder verprügelten, dass er unterschrieb, weiß keiner mehr. Man hat sogar vermutet, der Dämon hätte die Hand im Spiel gehabt. Jedenfalls stimmte Edward Henry Lenboth dem Tausch zu, und die Sache war besiegelt.«
»Aber es muss doch irgendwelche Aufzeichnungen über die Spukgeschichten geben, die sich auf dem Hügel zugetragen haben sollen«, warf David ein.
»Gab es. Der Federfuchser aus Plairs ließ sie in einer Kiste anfahren. Wie hieß der Kerl noch?«
»Rufton«, sagte einer der Männer. »Bei uns hier hielten ihn alle für verrückt. Religiöser Wahn!« Er tippte sich mit der schwieligen Hand an die Stirn. »Kam ab und zu predigen, wir wären von Olos auserwählt, den Dämon im Berg unschädlich zu machen. Der alte Lenboth, der Ur-Ur-Großvater von Edward hier«, er deutete mit dem Daumen auf den Bürgermeister, »muss auf sein Gequatsche reingefallen sein. Egal, ob da nun mit Whisky, Fäusten oder faulem Zauber nachgeholfen wurde.«
»Wer ist Olos?«, fragte David Brinel. Im nächsten Augenblick hätte er die Frage gern zurückgenommen.
Plötzlich herrschte Grabesstille in der Gaststube. Die Männer rührten sich nicht, ließen sogar ihre Gläser stehen.
Lord Pattingulf verstand, weshalb die Männer eisern schwiegen. Bisher hatte er seine Freunde die Unterhaltung führen lassen, nun griff er ein.
»Olos war in grauen Zeiten so eine Art Schutzpatron der Heiden in dieser Gegend. Und der Lenboth-Clan verehrte Olos sogar noch, als das gefährlich war, so gefährlich, dass man als Ketzer verbrannt wurde. Der Name Olosville ist allerdings jüngeren Datums. Für eine solche Heiden Verehrung hätte man die Lenboths sonst ausgerottet.«
Der Bann war gebrochen, die Männer wagten wieder, ihre Gläser zu heben, und der Wirt lachte sogar, wenn auch verhalten. »Steckt uns noch in den Knochen, dass damals so viele von uns brennen mussten. Ist uns eingebläut worden, dass man zu Fremden nicht von Olos spricht.«
Jetzt haben wir also zum Dämon noch einen verbotenen Gott und einen Seher, dachte Abel, der prophezeit hat, dass die Einwohner von Olosville auserwählt seien, den Dämon zu vernichten. Er musste lachen. Vielleicht tun sie das indirekt, indem sie dem Lord den Hügel verkaufen und uns die Chance geben, die alten Mären zu entkräften.
David Brinel warf ihm einen warnenden Blick zu, und Abel verstand. Die Männer durften nicht den Eindruck haben, dass man sich über sie lustig machte. »Mir ist auch so mancher Unsinn eingebläut worden«, beeilte er sich, sein Lachen zu erklären. »Und sogar noch auf der Universität. Es irrt der Mensch, und im Namen Gottes wurde viel gesündigt.«
»Und wird noch! Da brauchen wir gar nicht weit zu reisen, um haarsträubende Beispiele zu sehen!«, rief der Bürgermeister.
Rasch lenkte David Brinel vom Thema ab. »Und was wurde aus der Kiste, die dieser Rufton aus Plairs herschaffen ließ?«
»Sie wurde verbrannt, auf einem großen Scheiterhaufen.«
Der Wissenschaftler seufzte unterdrückt. Wieder einmal hatten Angst und Aberglaube wertvolle Zeitdokumente vernichtet.
Lord Frederic ließ die nächste Flasche Whisky für die Gemeinderäte bringen. Und da sie alle kräftig mithielten, auch der Mann, der sie hatte heimfahren wollen, sah er verstohlen auf die Uhr. Sein Magen meldete sich, aber in Pattingulf House warteten zum Abendessen Wildpastete und Fasanencremesuppe, für die er sich den Appetit aufheben wollte.
Beherrsch dich, Freddy, sprach er sich Haltung zu. Deine Genusssucht darf der Wissenschaft nicht im Wege stehen. So schön locker, wie sie jetzt sind, werden die Olosviller morgen nicht mehr sein. Die Freude über das Geschäft, die Befreiung vom Toten-Tempel und der Umtrunk lösen ihnen die Zungen.
Während er grübelnd dem Rauch seiner Zigarre nachsah und sich in dem niedrigen Raum mit dem uralten verräucherten Balken immer behaglicher fühlte, bohrten Abel und David geschickt, aber unbeirrt weiter.
»Nehmen wir nur ein Beispiel all der Gräueltaten, die diesem - erfundenen, wie ich meine - Dämon zugeschrieben werden. Da war das Liebespärchen, das vor mehr als hundert Jahren hier verschwand. Zuerst der Mann und ein Jahr später das Mädchen, wird erzählt. Stimmt das?«
»Stimmt, wird erzählt«, antwortete einer ausweichend.
»Hat man denn damals keine Suchtrupps ausgeschickt?«, fragte David Brinel.
Allgemeines Gelächter wurde laut.
»Vielleicht war meine Frage komisch«, sagte der Archäologe. »Ich würde gern mitlachen.«
»Die Frage war schon in Ordnung.« Der Bürgermeister wischte sich die Tränen aus den Augen. »Aber es gab ja Rettungstrupps. Bloß haben die sich seitlich in die Büsche geschlagen, ein paar Stunden abgewartet und sind dann scheinbar erschöpft zurückgekommen. Broomswicks Urgroßvater soll die glorreiche Idee gehabt haben, seine Männer aus der Schusslinie des bösen Geistes zu halten.«
»Lüge! Infame verleumderische Lüge!«, schrie einer der Räte, sprang auf, dass sein Stuhl zurückfiel, und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Sie waren drin im Hügel, aber sie fanden bloß vermodertes Laub und Schlamm.«
»Demnach gab es damals einen Zugang zum Hügel?«, fragte David laut, um den Tumult zu übertönen.
Der Mann, der seinen Urgroßvater rehabilitieren wollte, kam auf David Brinel zu, baute sich vor ihm auf und hob die Rechte wie zum Schwur. »Mein Urgroßvater war ein anständiger Mensch. Er war im Berg. Er hat’s geschworen, und seitdem schwören wir an seiner Stelle, seine Söhne, Enkel und ich.«
»Ich verstehe Ihre Erregung, Mr. Broomswick«, versicherte David ernst. »Aber ich würde einen Mann nicht tadeln, der seine Leute in Sicherheit bringt, wenn er weiß, dass er gegen Mächte ankämpft, denen er nicht gewachsen ist. Mich würde nur interessieren, wie er ins Innere des Hügels gelangte. Gab es da ein Tor oder ein Loch am Fuß?«
»Oben auf der Kuppe«, sagte Broomswick ruhiger und warf den anderen verächtliche Blicke zu. »Sie werden’s ja sehen, wenn Sie das Unkraut fortgeschafft haben. Ich bin als kleiner Junge dagewesen, weil ich sehen wollte, ob etwas dran ist. Da war ein Loch, wie wenn Sie einen Stein durch eine Scheibe werfen. Ganz oben auf der Kuppe.«
David nickte und winkte den Mann näher zu sich heran. Während die anderen noch lachten und über das lange zurückliegende Ereignis diskutierten, sagte Brinel leise: »Und das Gestein war schwarz mit weißen Streifen?«
Broomswick riss die Augen auf. »Genau! Woher wissen Sie das? Solche Steine gibt es hier nirgends.«
»Wenn Sie wollen, und wenn Sie morgen nichts Besseres zu tun haben, kommen Sie pünktlich um sieben nach Pattingulf House. Wir brauchen kräftige, unerschrockene Männer und zahlen gut. Und für Sie steht ja noch mehr auf dem Spiel.« Brinel bleckte sein Pferdegebiss, drückte ein Auge zu, und dann sah er bedeutungsvoll zu den anderen am Stammtisch.
»Ich komme«, versprach Broomswick. »Mir hat der Geist damals nichts getan, und mein Urgroßvater war auch gegen den bösen Zauber gefeit.«
Brinel reichte dem Mann die Hand, und Broomswick schlug ein.
In diesem Augenblick trat Lady Liz in die Gaststube. Die Männer hatten sich so laut unterhalten, dass der Motorenlärm im allgemeinen Gebrüll untergegangen war.
»Gut, dass du kommst, meine Liebe!«, rief Lord Frederic freudig. Dann fragte er seine Freunde: »Wollt ihr hier noch ein wenig plaudern? Ich kann euch Colwyn mit dem Landrover schicken, denn James hat den Ford genommen.«
Abel und David entschlossen sich, noch zu bleiben.
»Wie geht es Rose?«, fragte Abel besorgt, als der Lord die Zeche bezahlte.
»Sie ist ein sehr tapferes Mädchen«, beruhigte ihn Lady Liz. »Ich habe ihr einen Sherry und eine Tablette auf gedrängt, und dann legte sie sich hin. Wenn Sie kommen, wird sie wieder munter und fidel sein.«
»Morgen regeln wir das Finanzielle in der Bank«, sagte Lord Frederic zu Lenboth. »Und legt euch endlich ein Telefon zu!«
»Die Alten sagen, das wäre Teufelszeug«, grinste der Wirt, der auch schon leicht angeheitert war. »Und hier bei uns, wo die Jungen in die Städte auswandern, gilt noch, was die Alten anordnen.«
Frederic Pattingulf winkte ab. »Die werden den Fortschritt auch nicht mehr lange sabotieren. Baut euch ein Gemeindezentrum und stellt einen Fernseher rein!«
»Machen wir, Lord Frederic. Wenn Sie im Eck-Quell-Hügel Gold oder Erdöl finden und uns fairerweise am Gewinn beteiligen.«
Lachend verließen der Lord und seine Frau die Gaststube.
*
Rose Fletcher stocherte ohne Appetit auf ihrem Teller herum, obwohl die Wildpastete köstlich geraten und hervorragend gewürzt war. Zwar vermieden die Pattingulfs und Colwyn Dawly geflissentlich jegliche Erwähnung des Toten vom Ecktal, dennoch drängte sich Rose ständig das Bild des Erhängten auf.
Die Fenster des Speisesaals standen offen, und der Lord hob den Kopf, als er Motorengeräusch hörte. Er brummte: »Das hätten die beiden nicht tun sollen. Alle Olosviller waren angetrunken, als wir gingen, Liz. Und die Straße mit den vielen Serpentinen erfordert einen nüchternen Fahrer.«
»Zum Glück scheint ihnen nichts passiert zu sein«, sagte Lady Liz und trat ans Fenster. Erstaunt rief sie: »Aber das sind sie ja gar nicht. Es ist Constable McErks.«
»Wie ärgerlich! Beim Essen!«, schimpfte der Lord, legte sein Besteck hin und betupfte mit seiner riesigen weißen Serviette die Lippen. Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Soll reinkommen und einen Happen mitessen«, sagte er zu dem Mädchen, das servierte.
Dann stellte er den verlegen seine Mütze drehenden Beamten höchst unkonventionell vor, indem er mit dem Messer auf ihn wies. »Constable McErks, Miss Fletcher, Mr. Dawly. Nehmen Sie Platz, Mac! Gedeck kommt gleich. Essen Sie mit!«
»Danke verbindlichst, Sir, aber ich habe schon...«, setzte der Polizist an.
»So was haben Sie nicht«, unterbrach Lord Frederic. »Sie wollen uns doch nicht die Ruhe nehmen? Also, hingesetzt!«
Der beleibte Constable schlürfte die Fasanencremesuppe mit sichtlichem Behagen. Hin und wieder sahen sich der Lord und der Polizist an, grinsten, nickten und leckten sich die Lippen.
Als McErks auf den Hauptgang wartete, mit dem die anderen schon fertig waren, murmelte er: »Es ist wegen der Leiche, Sir.«
Mit lautem Räuspern und Stirnrunzeln sah der Lord auf Lady Liz und Rose Fletcher und tadelte: »Es sind Damen anwesend, und wir sitzen bei Tisch, Mac! Man sollte euch in der Polizeischule auch Manieren beibringen, denn ihr kommt doch hin und wieder zu angesehenen Familien.«
McErks steckte den Verweis schweigend ein und tröstete sich mit der Wildpastete. Nachdem auch der Beamte mit dem Dessert fertig war, stand Lord Frederic auf. »Ihr entschuldigt uns, Liz und Rose. Kommen Sie, Dawly!«, forderte er den jungen Mann auf.
Im Salon ging der Lord zur Bar und goss einige Flüssigkeiten in den Mixbecher. »Also, schießen Sie los!«
»Die Leiche ist verschwunden«, berichtete der Constable bedrückt. »Vorausgesetzt, es war eine da.«
Frederic Pattingulf fuhr herum und schwappte Kognak auf den Teppich. »Wollen Sie mir unterstellen, dass ich die Behörden irreführe?«, donnerte er und wurde krebsrot.
»Sir, das käme mir nie in den Sinn!«, rief McErks entsetzt und strich sich über das fettige rotblonde Kraushaar. »Es muss ein Irrtum gewesen sein. Wir haben das ganze Wäldchen durchsucht, aber von einem Erhängten keine Spur.«
»Wer - wir?«, fragte Lord Frederic und drehte sich wieder zur Bar um. Dabei behielt er den Constable, der mit flehenden Blicken Hilfe bei Dawly suchte, scharf im Auge.
»Ilja und ich.«
»Aha! Sonst niemand?«
»Nein. Und ich bin auch ganz froh, dass ich keine Verstärkung angefordert habe. Wie stünde ich jetzt da?«
»Und was sagte Ilja, als er keine Leiche fand? Wau!«
»Sir, der Hund ist zuverlässig. Wenn in dem Wäldchen eine Leiche wäre, hätte er sie gefunden.«
»Meine Augen sind auch zuverlässig. Außerdem habe ich vier Zeugen für meine Behauptung. Wir alle sahen den Mann. Er war sicher schon eine Zeitlang tot. Ich dachte gleich an den verschwundenen Fischer. Aber so ein aufgedunsenes Gesicht, blaurot angelaufen, heraushängende Zunge und dann noch zwölf Fuß hoch im Baum, da bin ich mir nicht sicher. Besonders weil ich den Mann auch höchstens ein-, zweimal lebend sah, als er hier Fische anlieferte.«
Constable McErks schwieg und seufzte. Er trank den von Lord Frederic kredenzten Drink ohne Widerrede, obwohl er sonst im Dienst keinen Alkohol zu sich nahm. Aber seine Lage war unangenehm genug, und er wollte sie nicht noch durch eine Weigerung verschlimmern
»Es stimmt«, sagte nun Colwyn Dawly. »Wir alle sahen diesen Toten. Ein fürchterlicher Anblick. Ich könnte mir vorstellen, dass sich jemand einen makabren Scherz erlaubt und den Toten weggeschafft hat. Jemand, der ein Interesse daran hat, dass diese Legende vom Dämon neue Nahrung bekommt.«
»Achso.« McErks kratzte sich im Kraushaar. »Ein interessanter Aspekt. Was halten Sie davon, Lord Frederic?«
»Wäre eine Möglichkeit. Diesem Spuk und den Gerüchten wird ja nun bald ein Riegel vorgeschoben, Mac. Ich habe den Hügel nämlich gekauft. Und morgen früh kommen Männer aus Glasgow, die meinen Freunden beim Graben helfen.«
»Sie glauben, die Leiche wäre vergraben, Sir?«
Lord Frederic sah den Constable finster an. Er überlegte sich wirklich, ob er noch einen zweiten Drink an ihn verschwenden sollte. Der Bursche hatte den ersten gekippt, ohne zu merken, was er da vorgesetzt bekam. Aber der Stolz des Hobby-Mixers siegte, und er groß McErks noch einmal sein Glas voll.
»Sie haben auch bloß Leichen im Kopf, Mac«, brummte der Lord. »Meine Freunde sind hier, die beiden Archäologen, die ich manchmal unterstütze. Das muss sich doch längst bis zu Ihnen rumgesprochen haben. Und die meinen, in dem Hügel wäre wirklich ein Tempel oder ein Hünengrab - oder was weiß ich. Jedenfalls wird da morgen gerodet und gegraben, und vielleicht finden wir dann auch Ihre Leiche.«
»Meine? Es war doch Ihre, Sir.«
»Finden Sie sich morgen früh am Eck-Quell ein, Sie Scherzbold! Übrigens, merken Sie eigentlich, dass Sie da uralten Scotch in sich reingießen, wie ihn Ihr Großvater möglicherweise noch geschmuggelt hat?«
»Unbedingt, Sir, es ist der unverwechselbare Geschmack. Aber in unserer Familie...«
»...gab es nie Schmuggler, ich weiß. Und reingefallen sind Sie auch. Was Sie da kippen, ist französischer Kognak, russischer Wodka und italienischer Campari mit allerlei Zutaten. Nur, Scotch ist nicht dabei. Ihnen fehlen nicht nur die Manieren, Mac, Sie haben auch keine Spur von Geschmack.«
Stumm spülte der Constable die bittere Pille mit dem bitteren Drink hinunter.
*
Am nächsten Morgen startete Colwyn Dawly den Landrover pünktlich um halb acht. Außer Abel und David waren nur noch die beiden Broomswicks im Wagen. Der Mann aus Olosville hatte seinen Sohn mitgebracht und den Archäologen grinsend erklärt: »So’n kleinen Nebenverdienst können wir beide brauchen. Und ich dachte, wenn mein Urgroßvater und ich gefeit sind, wird’s wohl in der Familie liegen, und Mike hier kann auch keinen Schaden nehmen.«
Der umsichtige James hatte für die von einem Vermittler zusammengetrommelten Arbeiter einen Laster gemietet, der nun dem Landrover folgte.
Als sie an dem langgestreckten Loch Eck entlang in Richtung Flussmündung fuhren, zwitscherten die Vögel ringsum, und die Sonne strahlte vom blauen Himmel.
»Ein Tag, wie geschaffen, jedem den Glauben an Dämonen auszutreiben, was, Mr. Broomswick?«, fragte David, zeigte sein Pferdegebiss und schlug dem Landwirt aufs Knie.
»Nennen Sie mich ruhig Marc.« Broomswick deutete auf seinen Sohn, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war. »Und der ist Mike für Sie. Wir Broomswicks gehören ja nicht zu den Spinnern wie die Lenboths. Und deshalb hängen die uns auch an, dass mein Urgroßvater sich feige im Wald rumgedrückt hätte. Die können nicht verstehen, dass die Geister bloß erfunden und die Gräueltaten Zufälle sind, die sich hier in der Umgebung abspielten. Sie sollten sich mal mit dem Pfarrer in Dunoon unterhalten. Der muss noch Briefe von einem seiner Vorgänger haben. Und er hat mir gesagt, dass die Olos-Anhänger all den Kram erfunden haben, um die Kirche zu schädigen. Weil die ja behauptet, es gibt keine bösen Geister.«
»Der hat Briefe?«, fragte der Archäologe, während er auf dem harten Sitz hochgeschnellt wurde.
»Ja, ich glaube von dem jungen Mann, der da vor mehr als hundert Jahren verschwunden ist. Fragen Sie mal nach. Genaues hat er mir nicht erzählt. Bloß, dass er beweisen könnte, alles wäre mit rechten Dingen zugegangen.«
»Warum tat er das dann nicht? Und sein Vorgänger unterschlug diese Informationen auch?«
»Da wären sonst irgendwelche Familien blamiert worden. Ich weiß nicht genau.«
Der Landrover hielt abrupt, und die Männer sahen den Wagen des Constables, der langsam vor ihnen in den Pfad einscherte. Ein Schäferhund beobachtete die Männer im Landrover vom Rücksitz aus aufmerksam.
Colwyn winkte dem Beamten, der nur Jeans und ein durchgeschwitztes dunkelblaues Hemd trug.
»Frühstückspause!«, rief Abel Fletcher den Männern auf dem Laster zu, als die drei Fahrzeuge hintereinander am Ende des Pfades hielten.
Gemeinsam mit dem Constable und den Broomswicks gingen die drei Archäologen zum Wäldchen.
Colwyn zeigte dem Beamten, wo der Tote gehängt hatte. Die Leiche war tatsächlich verschwunden.
»Dann brauchen Sie hier wohl keine Spuren zu sichern?«, fragte Abel.
McErks betrachtete die zahlreichen Fußspuren, die durch den weichen Boden in Richtung Hügel und zurückführten, und schüttelte traurig den Kopf. »Sehe keinen Grund.«
»Gut, dann können wir anfangen.« Abel wandte sich an Colwyn, der leise mit dem Hund sprach. »Du bleibst hier und weist die Männer an, eine Gasse durch das Gestrüpp zu hauen. Aus den Ästen und Stämmen sollen sie einen Knüppeldamm legen, damit der Laster bis hierher fahren kann. Und dann brauchen wir noch einen Platz zum Wenden. Wenn die jeden Morgen drei Meilen zu Fuß antraben sollen, versäumen wir zu viel Zeit. Holz ist ja genug da, und Lord Frederic ist einverstanden.«
McErks, der seinen leise japsenden Hund kurzgeschnallt hielt, kratzte sich im fettigen Kraushaar. »Sie wollen hier abholzen? Da können Sie aber ’ne Menge Ärger mit den Leuten aus der Umgebung kriegen.«
Der kleine Abel winkte ab und reckte sich. »Sind wir gewohnt. Uns hat schon so mancher Medizinmann mit einem Zaubertrank vergiften wollen, weil wir Tempel schändeten. Da schrecken uns ein paar zivilisierte abergläubische Hochländer wenig.«
»Leisten Sie uns noch etwas Gesellschaft?«, fragte David Brinel und zeigte freundlich grinsend sein Pferdegebiss. »Wir machen jetzt eine kleine Besteigung des Hügels, und da oben soll ja ein Zugang ins Innere sein. Vielleicht kann Ihr treuer Begleiter einen Fuchs ergattern.«
»Ich mache zuerst mal eine Runde um das Wäldchen«, sagte McErks, »und komme später nach.«
Als sie die Stelle erreichten, an der die drei Archäologen am Tag zuvor Gestein freigelegt hatten, blieben sie wie vom Donner gerührt stehen.
»Mein Gott!«, stöhnte Mike Broomswick und sah zu seinem Vater, dessen Gesicht aschfahl geworden war.
»Colwyn!«, rief Abel dem jungen Mann zu, den sie zum Rand des Wäldchens zurückgeschickt hatten.
»Ja, Sir?«
»Der Constable soll herkommen! Hier ist seine Leiche. Bring ihn zu der Stelle, an der wir gestern gegraben haben!«, rief Abel.
»Und das da, war das gestern noch nicht hier?«, fragte Broomswick senior leise.
Die Archäologen schüttelten die Köpfe und starrten den Toten an, von dem nur der Kopf zu sehen war. »Jemand hat ihn genau da eingepflanzt, wo wir freigeschaufelt hatten. Gestern hing er dahinten am Baum.«
David Brinel deutete mit dem Daumen über die Schulter.
»Ach deshalb«, brummte der Landwirt, und die Archäologen wussten, was er meinte.
Wie eine bösartige Teufelsfratze streckte der Tote den Betrachtern die Zunge heraus. Aus der Nähe war der Anblick noch erschreckender als aus der Froschperspektive.
Plötzlich jaulte der Hund dicht hinter den Männern auf und zerrte den Constable hinter sich her.
»Heiliger Himmel!«, knirschte der Beamte. »Aber der war gestern nicht hier. Ich bin kreuz und quer durch das Dickicht gelaufen. Ilja hätte das gewittert.«
»Tun Sie jetzt Ihre Pflicht!« trieb Abel Fletcher den Beamten zur Eile an. »Der Sachverhalt ist ja ziemlich klar. Ein Mann hat sich erhängt, und ein anderer- oder waren es mehrere? - trieb Unfug mit der Leiche. Haben Sie etwas dagegen, wenn wir unsere Besteigung von einer anderen Stelle aus machen?«
McErks schüttelte den Kopf. »Sie haben starke Nerven, wie?« Er starrte noch immer auf den Kopf im Boden. »Wer fasst denn so was an, wenn er nicht muss?«
Niemand antwortete ihm.
Abel bat Colwyn leise, zum Rand des Wäldchens zurückzugehen, den Arbeitern zu sagen, dass ein Selbstmörder gefunden worden sei, und dann dafür zu sorgen, dass mit der Arbeit begonnen wurde.
Die beiden Broomswicks hielten sich dicht hinter Fletcher und Brinel, als sie am Fuß des Hügels entlanggingen und eine Stelle suchten, die einen unbeschwerlichen Weg zur Kuppe versprach.
»Wenn sich das erst mal rumspricht, wird’s wieder heißen, der Dämon will seinen Tempel verteidigen«, murmelte Mike, und sein Vater nickte.
»Wenn der Constable geschickt ist, wird sich nicht viel rumsprechen.« Abel drehte sich um und musterte die baumlangen Broomswicks von unten herauf durchdringend. »Und auf Sie ist doch Verlass, oder?«
»Wir halten die Klappe«, versicherte Marc und schlug seinem Sohn auf die Schulter.
*
Lady Liz hatte Rose Fletcher eine Schlaftablette gegeben und sie gebeten, nicht vor neun zum Frühstück zu kommen. »Ich fahre Sie dann später zum Ecktal, Rose. Mein Mann ist kein Frühaufsteher, aber er möchte auf Ihre Gesellschaft nicht verzichten, also müssen Sie einfachausschlafen.«
Trotz der dämpfenden Wirkung der Pille war Rose mehrmals in der Nacht auf gewacht, und jedes Mal hatte sie das unangenehme Gefühl gehabt, nicht allein in ihrem Zimmer gewesen zu sein. Aber sobald sie das Licht eingeschaltet hatte, war die Beklemmung verflogen.
Sie glaubte gerade erst eingeschlafen zu sein, als sie Motorenlärm weckte.
Sofort lief sie ans Fenster und sah zur Auffahrt hinunter. Dort standen der Landrover und ein Laster, und Colwyn schwang sich hinters Lenkrad des Geländewagens. Sie hatte an dem großen schlanken Burschen mit dem schmalen Kopf und dem kühnen Gesicht, das von langem welligem Haar eingerahmt wurde, nur eins auszusetzen: er sah viel zu gut aus.
Rose lächelte in sich hinein. Hatte dieser schmale Kopf nicht Ähnlichkeit mit einem Windhund? Pfui, schimpfte sie mit sich, warum mäkelst du an ihm herum? Musst du dich vor ihm in Acht nehmen? Hat er dich mit seinem naiven und doch strahlenden Siegerlächeln erobert?
Nachdem die Wagen abgefahren waren, legte Rose sich noch einmal ins Bett. Wenn sie nicht unhöflich sein wollte, durfte sie vor neun nicht im Speisesaal aufkreuzen. Und sie fühlte sich von der unruhigen Nacht wirklich noch müde genug, um wieder einzuschlafen.
Mit bleischweren Lidern lag sie da, als plötzlich eine Flüsterstimme den Raum füllte.
»Rose Fletcher, hörst du mich?«
Ein Traum, dachte sie.
»Kein Traum. Eine Tote will dich warnen.«
Ohne dass Rose die Lider heben konnte, wurde es hell vor ihren Augen.
Rose stöhnte leise und murmelte mit schwerer Zunge: »Wenn du tot bist, geh zurück in dein Grab und lass mich schlafen!«
»Die ganze Nacht über habe ich versucht, mit dir zu sprechen. Aber du warst betäubt und hast mich nicht gehört. Bald wirst du ihn lieben, wie ich meinen Frank liebte. Ich wollte ihn retten, aber er hat mir nicht geglaubt. Geh fort mit ihm, noch heute! Er ist so stark wie vor Tausenden von Jahren. Sie haben eben den Erhängten gefunden. Dort, wo dein Colwyn gestern den Tempel freilegte. Es ist eine Warnung Tymurros. Aber dein Onkel frevelt weiter. Er wird umkommen, genau wie David Brinel. Überrede deinen Colwyn, mit dir zu flüchten, sonst wird auch er leben und doch tot sein! Eine Hülle, ein Haus, in dem andere wohnen.«
»Ich träume«, murmelte Rose wie gelähmt. »Sie haben bis spät in die Nacht von dir und deinem Geliebten erzählt. Deshalb träume ich jetzt von dir. Ich liebe Colwyn nicht. Und wenn dich ein Dämon in den Klauen hätte, könntest du mich nicht warnen.«
»Sieh mich an! Ich stehe hier am Fenster! Nimm deine ganze Willenskraft zusammen, um mich anzusehen!«
Rose Fletcher gelang es, die Augen zu öffnen. Oder träumte sie es nur? Sie sah ein blondes Mädchen mit weit aufgerissenen Augen. Das Haar hing wirr um das abgehärmte Gesicht.
»Ich sehe dich«, murmelte Rose wie unter Zwang. »Aber ich kann deinen Rat nicht befolgen. Nie würde ich Onkel Abel im Stich lassen. Wenn du helfen willst, dann sage mir, wie wir den Dämon auslöschen können.«
Das Mädchen am Fenster lachte, aber es klang eher wie ein Schluchzen. »Es wäre sinnlos. Er hat seine Abgesandten. Dir und Colwyn hüft nur die Flucht. Dass die Ebereschen gerodet werden, kann Tymurro nur recht sein. Bald wird es hier überall von lebenden Toten wimmeln, und ihr werdet sie nicht einmal erkennen. Sie wirken so wie du aus Fleisch und Blut, sind kein nebelhafter Schemen wie ich.«
Rose fühlte sich zwar wie ans Bett gefesselt, aber sie glaubte, logisch zu denken. »Dieser Tymurro ist übermächtig. Und doch kannst du, eine Tote, herkommen und mich in aller Ruhe warnen? Ich glaube eher, du bist seine Abgesandte, und weil er befürchtet, dass er bald vertrieben wird, sollst du mich zur Flucht bewegen.«
»Olos gibt mir Kraft, dass ich dir erscheine«, hauchte die Gestalt am Fenster. »Tymurro lauert im Tempel, beobachtet deinen Onkel, der ihn vom Bann befreien wird, ohne es zu wollen. Aber schon... Da, ich spüre seine bösen Gedanken Sag deinem Onkel, was du von mir erfahren hast!« Das Geistwesen stieß die Worte hastig hervor. »Er wird dir glauben, wenn du den Erhängten nicht vergisst. Eingegraben, dort, wo Colwyn ein Stück vom Tempel freilegte. Ich komme wieder, wenn Olos mir Kraft gibt. Hüte dich! Tymurro naht!« Es klang wie ein Aufschrei und doch kaum hörbar. Unsägliche Angst war in der Stimme, bevor die Gestalt verschwand.
Stöhnend stand Rose auf, ging zum Waschbecken und kühlte ihr Gesicht. Dann öffnete sie die Tür zum Balkon und trat hinaus.
Muss von den Medikamenten kommen, dachte sie, die bin ich nicht gewohnt. Sie spürte ein leichtes Ziehen im Hinterkopf und einen Druck in der Schläfengegend.
So ein verrückter Traum, dachte sie. Ohne jede Logik. Dabei hatte sie kurz zuvor alles für logisch und überzeugend gehalten. Na ja, wie das im Traum so ist, sagte sie sich. Trotzdem, ich werde Onkel Abel fragen, ob sie den Erhängten genau dort gefunden haben.
Weiter kam Rose nicht mit ihren Überlegungen.
Sie hörte ein merkwürdiges Geräusch unmittelbar hinter sich, eine Mischung aus Fauchen, Schnarchen und Knurren. Bin ich jetzt wach, stehe ich auf dem Balkon, sehe die Blumenpracht des Parks da unten, den blauen Himmel, die strahlende Sonne, oder träume ich das auch noch?
Langsam drehte Rose sich um.
Etwas Fürchterliches stand hinter ihr. Das war kein Traumgebilde. Es warf einen Schatten auf die Balkontür, trat aus ihrem Zimmer.
Ein Körper. Ein Mann in schweren Gummistiefeln, die bis übers Knie reichten, so wie sie Fischer trugen. In den Stiefeln steckten schmierige schwarze Hosenbeine. Darüber sah sie einen dunklen Rollkragenpullover. Und darüber war - nichts.
Rose wich ans Geländer zurück und wollte lachen. Ein Verrückter trieb hier einen bösen Scherz mit ihr, hatte den Rollkragen über den Kopf gezogen.
»Du wirst nicht reden«, sagte eine Stimme, die merkwürdig unmenschlich klangen. »Fletcher wird reden! Du warnst ihn nicht!«
Mit einem Satz war die grauenhafte Gestalt bei ihr, packte sie und schleuderte sie über das Geländer.
Rose schrie auf und erwartete, im nächsten Augenblick aus einem Alptraum zu erwachen, vielleicht auf dem Boden neben ihrem Bett, wie ihr das als Kind zuweilen passiert war.
Aber es kam anders.
Sie fühlte sich gepackt, durch die Luft getragen und fiel in ein Gebüsch. Ihr Rücken schmerzte, die Handgelenke und das linke Bein stachen, und dennoch wachte sie nicht auf.
Also bin ich wach, dachte sie, und dieser mörderische Verrückte hat mich wirklich vom Balkon geworfen.
Plötzlich erschien dicht vor ihr das Gesicht des blonden Mädchens, durchsichtig wie ein feingewebter weißer Schleier.
»Jetzt hast du Tymurros Kraft am eigenen Leibe gespürt«, flüsterte ihr das Mädchen ins Ohr. »Olos hat mir Kraft gegeben, dich zu fangen und in das Gebüsch zu lenken. Vergiss nicht, der Erhängte! Sag deinem Onkel, sobald du mit ihm allein bist, dass du weißt, was sie gefunden haben: nur den Kopf. Der Körper liegt vor deiner Balkontür.«
Von der Treppe des Hauses her schallten aufgeregte Stimmen, und der Mädchenkopf zerflatterte.
»Rose, um Himmels willen!«, schrie Lady Liz, und der Lord brüllte Anweisungen ans Personal.
Als Rose Fletcher wenig später in einem der Salons auf dem Sofa lag und Lady Liz ihr kalte Umschläge machte, fragte Lord Frederic: »Wie konnte das passieren? Das Geländer ist doch hoch genug. Da ist noch niemand herabgestürzt.«
»Frederic, bitte, lass sie jetzt ruhen!«
»Könnte man - meinen Onkel holen?«, fragte Rose matt.
»Natürlich, den Onkel, dass wir daran nicht gedacht haben«, murmelte der Lord und wälzte seine Massen hinaus.
»James, holen Sie Mr. Fletcher auf dem schnellsten Weg her! Aber beunruhigen Sie ihn nicht.«
Als der Lord -wieder in der Tür zum Salon erschien, sagte Lady Liz: »Den Arzt! Hast du schon angerufen?«
»Nein, mach’ ich sofort.«
*
Als Abel kam, ließen die Pattingulfs ihn mit seiner Nichte allein.
»Kind, was machst du nur für Sachen? Warst du schlaftrunken? Hättest die Tabletten nicht annehmen sollen. Merk dir das für die Zukunft! Nie ohne ärztliche Verordnung Pillen aufdrängen lassen, und wenn’s von netten Leuten ist.«
»Es waren nicht die Tabletten.« Rose sprach gehetzt, »Habt ihr den Erhängten genau an der Stelle gefunden, an der Colwyn gestern einen Teil vom Gestein freilegte?«
Abel richtete sich zu seiner gar nicht imposanten Größe auf, und die Knopfaugen blickten scharf. »Allerdings. Aber das kannst du doch noch nicht erfahren haben.«
»Und steckte in der Erde nur der Kopf?«
Der alte Archäologe fuhr sich aufgeregt mit allen zehn Fingern durch die weiße Mähne. »Ja«, sagte er und schob grimmig das Kinn vor. »Du kannst es nur von dem Burschen wissen, der diese Schweinerei verübt hat.«
Rose schüttelte matt den Kopf und kämpfte gegen eine Ohnmacht an. »Ich dachte, ich hätte geträumt. Ein Mädchen hat mich gewarnt, eine Tote. Also ein Geist, so blöd das klingt, Onkel Abel.« Hilflos zuckte sie die Achseln, und ein kleines Lächeln zog sich um ihre Mundwinkel.
Er tätschelte ihre Hand. »Das alles war zu viel für dich. Du warst schon überarbeitet, als du herkamst, und dann noch das grässliche Erlebnis gestern. Ganz abgesehen von dem Geschwätz bis tief in die Nacht.«
»Ich wusste ja, dass du mir nicht glauben würdest. Aber es kommt noch viel schlimmer. Der Körper des Toten hat mich vom Balkon gestoßen. Und das Geistmädchen hat mich zu dem Gebüsch getragen, um den Fall abzuschwächen. Sie sagte, der Körper läge jetzt oben vor meiner Balkontür. Würdest du bitte nachsehen? Aber schick jemanden zu mir, ich möchte nicht allein sein. Und wenn du ihn findest, komm bitte gleich wieder her.«
Lady Liz leistete Rose während der wenigen Minuten Gesellschaft, die Abel fortblieb. Dann verließ sie wieder höflich den Raum, und der Archäologe schloss die Tür zur Halle hinter ihr.
Blass bis in die Haarwurzeln setzte er sich neben seine Nichte, tätschelte ihre Hände, knetete sie, weil sie eiskalt waren, und schüttelte immer wieder stumm den Kopf.
»Nun rede doch schon!«, drängte sie.
»Ja, da oben - genau vor deiner Tür - liegt ein Körper ohne Kopf.« Er sprang auf und rannte im Zimmer hin und her. »Aber, verdammt noch mal, es gibt keine Geister, die Tote zu ihren Werkzeugen machen können, um Lebende von Balkonen zu stoßen. Bitte, Rose, um deiner geistigen Gesundheit willen, erinnere dich doch! Du hast geträumt, dann wolltest du auf den Balkon, sahst diesen Torso und bist so erschrocken, dass du in wilder Panik nur eins dachtest: fort von hier! Du warst sekundenlang wie von Sinnen, das trifft genau auf deine Verfassung zu. Und da ist es eben passiert, du fielst über das Geländer. Vielleicht sprangst du sogar, wer weiß? Das würde auch erklären, wieso du von deiner Balkontür aus gesehen etwa fünf Yards weiter rechts im Gebüsch gelandet bist.«
Tränen liefen über Roses Wangen. »Ich habe befürchtet, dass du mir nicht glaubst. Aber es ist grässlich, so ganz allein zu sein, Onkel Abel. Ich habe mir nie träumen lassen, dass ich mal an Geister glauben würde. Und alles, was dieses Mädchen mir an Beweisen gegeben hat, widerlegst du.« Plötzlich kam ihr eine Idee, und sie richtete sich auf. »Bis auf die Tatsache, dass ihr den Kopf des Erhängten gefunden habt und den Platz, wo er eingegraben war.«
Abel Fletcher stand da wie ein gebrochener Feldherr in Miniaturausgabe. Sein Gesicht wirkte noch kleiner als sonst.
Als es an der Tür klopfte, zuckten beide zusammen. Abel fasste sich als erster.
»Ja, bitte?«, rief er lauter als nötig, denn er war wütend.
»Der Arzt«, erklärte Lady Liz hinter der geschlossenen Tür. »Ist es angenehm?«
Angenehm wohl kaum, aber leider nötig, dachte der alte Mann und öffnete.
*
Der Arzt hatte Rose ein Beruhigungsmittel gegeben und sich mit dem Archäologen unter vier Augen unterhalten, nachdem die gestauchten Handgelenke des Mädchens verbunden und das geprellte Knie eingerieben worden waren.
Als Abel Fletcher wieder zu seinem Freund David Brinel kam, verabschiedeten sich gerade die Beamten aus Glasgow. Fletcher ging mit ihnen durch die Schneise, die inzwischen bis zum Hügel vorangetrieben worden war. Dann zog er den Inspektor beiseite.
»Sie können gleich in Pattingulf House weitermachen. Dort liegt ein Körper ohne Kopf auf dem Balkon des ersten Stocks. Ich habe Anweisung gegeben, dass nichts verändert wird. Meine Nichte ist vor Schreck über den grausigen Fund vom Balkon gestürzt.«
»Schwer verletzt?«, fragte der Inspektor grimmig.
»Nein, zum Glück landete sie in einem geweihförmigen Essigbaum, der den Sturz abfederte. Wenn’s da oben gebrannt hätte, hätte sie sich keine bessere Stelle zum Abspringen aussuchen können.«
»Trotzdem, der Leichenschänder hat damit Körperverletzung verursacht. Und wie leicht hätte Totschlag daraus werden können. Haben Sie etwas über das Alter der Leiche festgesellt?«
Müde schüttelte Abel den Kopf. »Darin bin ich kein Experte. Nach Tagen zu rechnen, sind wir nicht gewohnt. Bei Leichen, die wir ausgraben - wenn überhaupt-, kommt es auf hundert Jahre plus/minus nicht an.«
»Verstehe, Mumien und so.« Gien Smith grinste. Auch ihm hatte der Anblick des Kopfes mit dem fratzenhaften Gesicht zugesetzt. Aber inzwischen hatte er sich in der frischen Luft erholt.
Während seine Männer die Blechwanne in den Fond des Leichenwagens schoben, drückte er Abel Fletcher die Hand. »Hoffen wir, dass dieser Geisterhügel keine weiteren Opfer fordert.«
»Sie sind doch bestimmt nicht abergläubisch?«, forschte Abel.
»Nicht die Spur. Aber Sie als gebildeter Mensch haben doch bestimmt schon von Vollstreckungszwang gehört.« Er kaute an seiner leeren Zigarrenspitze, mit deren Hüf e er das Rauchen einschränkte. »Da wird ein Film über okkulte Dinge gedreht, Geister schleudern Fahrzeuge in Schluchten. Und bei den Dreharbeiten verunglücken Schauspieler und Leute vom technischen Personal. Waren da Geister im Spiel? Keineswegs! Die Leute wurden unsicher, fürchteten dauernd, dass etwas passieren müsste, zogen das Unheil förmlich herbei, aus lauter Nervosität.«
Abel nickte und ging mit dem Inspektor zu dessen Wagen. »Leute mit Phantasie sehen dann Gespenster, erschrecken vor ihrem eigenen Schatten und verursachen selbst Katastrophen. Und nachdem der erste durchgedreht hat, wird’s noch schlimmer. Panik steckt an. Aber zum Glück haben wir es hier mit soliden Bauarbeitern zu tun, die sich den Teufel um Dämonen scheren.«
»Trotzdem rate ich Ihnen, Mr. Fletcher, bauen Sie so viele Sicherheitsvorkehrungen ein, wie Sie nur können.« Gien Smith stieg in den Wagen. »Der Constable sucht die Umgebung nach Spuren ab. Schicken Sie ihn doch bitte nach Pattingulf House, wenn er wieder aufkreuzt. Vielleicht kann uns sein Hund weiterbringen. Der Leichenschänder wird ja nicht mit dem Körper des Selbstmörders durch die Luft geflogen sein. Was halten Sie übrigens von der Verbindung zu Pattingulf House? Hier der Kopf, dort der Körper.«
Der Archäologe zuckte die Achseln. »Den Toten kann praktisch jeder im Baum gesehen haben. Aber dass Lord Frederic den Hügel kaufte, das wussten nur die Männer aus Olosville und wir.«
Inspektor Smith ließ den Motor an. »Und James, der Olosville allein verließ, nach Glasgow fuhr, später nach Pattingulf zurückkehrte und so die Möglichkeit hatte, den Körper im Kofferraum mitzubringen.«
»James wirkt auf mich wie ein verhältnismäßig junger Mann von altem Schrot und Korn, wenn Sie das verstehen.«
»Treu ergeben, wie es heute nur noch die alten Diener sind?«
Abel Fletcher nickte.
»Ein treuer alter Diener würde vor nichts zurückschrecken, um seinen Herrn vor großem Unheil zu bewahren.« Smith grinste, schob seine Zigarrenspitze in den anderen Mundwinkel, tippte an die Schirmmütze aus abgegriffenem Wildleder und schloss den Wagenschlag.
Gedankenverloren blickte Abel dem davonfahrenden Kriminalisten nach.
*
Das sonst so stille Ecktal hallte wider von den Axtschlägen und dem Surren der Motorsäge.
Und plötzlich war da noch ein anderes Geräusch, das David Brinel aufblicken ließ.
Ein Hecheln, ein leises Knurren.
Ilja, der Hund des Constables, zog seinen Herrn förmlich den Hügel hinan und jaulte auf, wenn McErks stolperte und ihn dabei an der Leine zurückriss.
»Heißt das nun, er hat eine Spur?«, fragte der Archäologe und rieb sich das Kreuz.
McErks wollte antworten, aber in diesem Augenblick sprang Ilja so heftig an Marc Broomswick hoch, dass der Polizist den Halt verlor und bäuchlings im Unkraut landete.
»Verdammt, Ilja, zurück!«, rief er.
Broomswick stand da, die Spitzhacke in der Rechten. Man wusste nicht, ob er seine Hände in Sicherheit bringen wollte und deshalb in Schulterhöhe hob, oder ob er zuschlagen wollte.
Ilja stand auf den Hinterbeinen, von der gespannten Lederleine gehalten.
»Nehmen Sie den Hund weg!«, schrie der Landwirt.
McErks zog ruckartig an dem langen Riemen, noch immer auf dem Bauch liegend, und befahl: »Ilja, ab!«
Mit lautem Jaulen, als wäre er geschlagen worden, gehorchte der Hund, aber die Blicke seiner gelbgrünen Augen blieben auf Broomswick geheftet.
McErks rappelte sich hoch und kam heran. Dabei legte er die Leine in Schlingen und hielt sie stramm.
»Tut mir leid, Broomswick«, stieß der Constable keuchend hervor, als er neben den Männern auf der Kuppe stand. »Der arme Kerl ist völlig durcheinander. Alle trampeln hier kreuz und quer herum. Wie soll Ilja da die Spur des Leichenschänders finden?«
»Hauptsache, er beißt nicht«, brummte Broomswick. »Jetzt, wo wir hier mal ein paar Pfund extra machen können, wollen wir nämlich nicht krankfeiern. Was, Mike?«
»Klar, Dad!«, rief Broomswick junior, der mit einem Vorschlaghammer Pflöcke in den Boden trieb, an denen Colwyn ein Tau befestigte, das als Geländer zum Aufstieg dienen sollte.
Brinel, der sich noch immer sein Kreuz massierte und die Füße vertrat, sah seinen Freund Abel den Hügel heraufkommen und winkte ihm mit beiden Händen zu.
»Es gibt ein Loch, Aby, es gibt wirklich ein Loch!«, rief er begeistert. »Na, komm schon rauf, du kleine trübe Tasse!«
Abel Fletcher kämpfte sich die letzten Yards zur Hügelkuppe empor und blieb vor seinem baumlangen Freund
David stehen. »Das wissen wir doch«, sagte er atemlos. »Und? Hast du was Neues entdeckt?«
»Ja, haha, kann man wohl sagen! Da unten in dem Steinhaufen ist ein riesiger Hohlraum, eine Art Rundzimmer. Ich habe bloß reingeleuchtet, aber ich lebe noch.« David lachte. »Von Dämon also keine Spur. Und wie geht’s deiner kleinen Nichte? Was war denn los? Dieser zugeknöpfte James hat sich doch so merkwürdig ausgedrückt, dass man gar nicht wusste, woran man war.«
Colwyn war näher gekommen, und Abel lächelte ihm zu. »Ist nicht weiter schlimm«, sagte er. »Rose hat sich ein bisschen das Knie geprellt.«
»Wobei denn?«, wollte Colwyn wissen.
»Ist eben gefallen.« Abel schloss den Mund, und David begriff, dass sein Freund nicht mehr sagen wollte.
»Mach weiter, Colwyn!«, rief er. Dann ging er mit Abel davon.
Der kleine zierliche und der große hagere Archäologe setzten sich auf den Boden, von dessen eigenartiger Strukturbeschaffenheit sie wussten.
»Dich drückt was«, sagte David.
Abel nickte und berichtete dem Freund, was er von Rose erfahren und selbst gesehen hatte.
Abel schlug beide Hände vors Gesicht. »Das alles wäre nicht so schlimm. Aber ich habe mir immer erträumt, dass meine Nichte uns auf unseren Expeditionen begleiten wird. Das kann sie nicht, sie sieht schon jetzt Gespenster. Und ich hatte mich so gefreut.«
*
Rose Fletcher hatte sich geweigert, in irgendein Zimmer des ersten Stocks gebracht zu werden, und deshalb lag sie in einem zum Krankenzimmer umfunktionierten Salon des Hochparterres.
Die Pattingulfs hatten darauf bestanden, dass Rose eine Krankenschwester zur Betreuung zugewiesen wurde, und nun saß Mary in frischgestärkter Schwesterntracht im viktorianischen Sessel neben dem Bett, in dem Rose dahindämmerte.
Plötzlich vernahm Rose die Stimme des Geistwesens, das sie vor dem Tod gerettet hatte.
»Hier ist Helen. Hörst du mich? Kannst du mich sehen?«
»Ja, ich höre dich. Und ich frage mich, ob Mary dich auch hört.«
»Miss Fletcher, brauchen Sie etwas?« Mary richtete sich in dem Sessel auf.
»Nein!«, rief Rose. Aber dann fiel ihr ein, dass sie sich gern allein mit dem Geist unterhalten hätte. »Doch, Sie könnten mir einen Wunsch erfüllen. Ich mag frischen Salat, und die Schüssel muss vor dem Anrichten mit Knoblauch ausgerieben werden. Glauben Sie, dass Sie die Köchin dazu bewegen könnten?«
Die Schwester stand auf und strich die weiße Schürze glatt. »Ich versuche es, Miss Fletcher.«
»Jetzt bin ich mit dir allein, Helen«, murmelte Rose, als sich die Tür hinter Mary geschlossen hatte. Und sie dachte: Aber dich gibt’s ja nicht. Du bist nur ein Geschöpf meiner Phantasie, und insofern bin ich allein mit mir.
»Irrtum, Rose, ich bin der Geist der Helen Miller, und ich existiere«, raunte die Stimme im Raum. »Sie haben gerodet, dem Geist des Bösen eine Bresche geschlagen. Er wird über euch kommen und Verzweiflung bringen.«
Rose Fletcher betrachtete das hübsche Gesicht des Geistwesens und fühlte sich zu ihm hingezogen.
»Ich war ein Mädchen wie du«, flüsterte Helen, und Rose setzte sich in ihrem Bett auf. Ahnungen bedrängten sie. Furcht und Hoffnung zugleich.
»War es wirklich so, wie ich mich zu erinnern glaube? Hast du mich zu dem Busch getragen und mir das Leben gerettet? Und stieß mich dieses - Gespenst vom Balkon?«
»Ja, so geschah es.«
»Aber niemand glaubt mir, sogar mein guter Onkel Abel nicht.«
»Ich kenne das. Mich hielt man für verrückt. Und die alte Mrs. Cunning auch. Obwohl die Leute aus der Umgebung sie um Rat fragten, glaubten sie, Mo Cunning sei nicht ganz richtig im Kopf. Sie wollen alles logisch, realistisch erklären. Bald wird ein Inspektor kommen. Tu so, als schliefest du, sonst verhört er dich, und die Wahrheit hält er sowieso für Einbildung. Also ist es gleichgültig, ob du mit ihm sprichst oder nicht. Und du bist geschwächt und brauchst viel Ruhe.«
»Onkel Abel ist sonst so einsichtig. Wie konnte ich wissen, dass der Kopf des Erhängten dort gefunden worden war, wo Colwyn am Tag zuvor gegraben hatte? Er meint, der Leichenschänder hätte mit mir gesprochen. Und er denkt, ich wäre vom Balkon gesprungen, weil ich vor dem Toten erschrak. Ach, Helen, ich fühle mich so verlassen.«
»Ich kann dir das nachfühlen. Außer Mo Cunning hat damals auch keiner auf mich gehört. Selbst meine Eltern hielten mich für geistesgestört. Deshalb wollte ich auch nie wiederheim. Und natürlich hoffte ich, doch noch etwas für Frank tim zu können. Vielleicht gelingt mir das jetzt.«
Nach über hundert Jahren?, dachte Rose. Sie ist wirklich verrückt.
Das Geistmädchen bewegte sich wie ein Schleier im Wind. »So was solltest du nicht denken. Wenn Frank richtig tot wäre, könnte ich auch Ruhe finden. Aber du verstehst nicht.« Sie huschte zum Fenster.
»Warte!«, rief Rose. »Es tut mir leid. Gib mir Zeit, bis ich mich daran gewöhnt habe, in deinen Dimensionen zu denken. Frank ist nicht richtig tot?«
»Ich sagte dir doch, es geschah, wie Mo Cunning es voraussagte. Er lebt und ist doch tot. Eine leere Hülle, ein Haus, in dem andere wohnen.«
»Aber sein Körper muss doch längst zerfallen sein - nach hundert Jahren.«
»Ich muss fort«, flüsterte der Geist mit dem Mädchengesicht.
»Aber was soll ich tun? Flüchten mit Colwyn ist ausgeschlossen. Wir kennen uns kaum. Hüf mir doch!«
»Sollte ich dir je wieder erscheinen können, verschwende unsere Zeit nicht mit Zweifeln!« Das hübsche Mädchengesicht sah zornig aus, bevor es sich auflöste.
*
Als Constable McErks mit seinem Hund in Pattingulf House ankam, war der Tote schon in die Zinkwanne gelegt worden, und der Polizeiarzt hatte dem Inspektor versichert, es wäre der zum bereits vorhandenen Leichenkopf gehörende Körper.
»Draußen am Hügel was gefunden?«, fragte Inspektor Smith.
Der Constable schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Die vielen Arbeiter da draußen haben die Spuren längst zertrampelt.«
»Na, dann haben Sie hier vielleicht mehr Glück.« Smith deutete zum Balkon hinauf. »Da oben lag der Tote. Ich nehme an, der Überbringer - oder wie man das nennen will - hat eine der Leitern aus dem Schuppen benutzt. Nichts anfassen! Sie wissen ja, es wird noch nach Fingerabdrücken geforscht. Und dann hat der Tote ja auch noch andere Spuren hinterlassen.«
Als der Constable den Inspektor verständnislos ansah, erklärte Smith gereizt: »Na, Mann, Sekrete! Muss ich deutlicher werden?«
»Ach so, nein, ich verstehe.« McErks schnallte den Hund kurz und ging mit ihm zu dem Schuppen hinter dem Haus, das früher vom Personal bewohnt worden war und nun den Arbeitern als vorübergehende Unterkunft diente.
Die Tür zum Schuppen stand offen, ein Beamter in Uniform aus Glasgow hielt davor Wache. Er tippte an seine Mütze. »Beim drittenmal geben Sie einen aus.«
»Wieso ich?«, brummte McErks und führte Ilja in den Schuppen.
Der Hund schnüffelte herum, beroch die Leitern, zog seinen Herrn in die Ecken, winselte leise und setzte sich dann hin.
»Also, Fehlanzeige?« Ilja sah seinen Herrn von unten herauf an, als hätte er ein schlechtes Gewissen. »Na, du kannst nichts dafür.« Der Constable klopfte dem Schäferhund den Hals und ging dann hinaus.
»Was sagt denn der vierbeinige Detektiv? Hat der Leichenschänder rote Haare und eine Vorliebe für gepunktete Krawatten?« flachste der Beamte aus Glasgow.
»Nein, er haut die Leute um Runden an, wenn er sie mehrmals sieht, und ist deshalb nicht gern gesehen.«
»Sagt der Hund? Wie denn?«
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Phyllis Cocker/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 07.11.2019
ISBN: 978-3-7487-2006-5
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