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Leseprobe

 

 

 

 

RONALD JOHNSTON

 

 

Sturm über dem Pazifik

 

Roman

 

 

 

 

Apex Adventure, Band 1

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

STURM ÜBER DEM PAZIFIK 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Es scheint, als wollte der Ozean dem Hochmut der Menschen trotzen: Bei der Jungfernfahrt des größten Schiffes aller Zeiten – des Supertankers Emperor – droht eine ungeheure Flutwelle den schwimmenden Giganten zu verschlingen...

 

Mit dem Roman Sturm über dem Pazifik von Ronald Johnston (erstmals im Jahr 1968 veröffentlicht) startet der Apex-Verlag seine Reihe APEX ADVENTURE, in welcher Klassiker der Abenteuer-Literatur neu aufgelegt werden. 

   STURM ÜBER DEM PAZIFIK

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Es war gewaltig. Es war so groß, dass es fast an eine Herausforderung grenzte. Jetzt verbarg sich seine Größe in der Nacht, zerfloss in den Lichterschatten der Schiffswerft und den Spiegelungen des Wassers. Das Schiff schien nur ein Teil dieser Szene zu sein; seine Umrisse verloren sich in der Gesamtkomposition eines verwirrenden Musters von Kränen und Schuppen, Docks und Kranaufbauten, noch unverkleideten Rippen und gigantischen Fertigteilen. Nur im Tageslicht konnte das menschliche Auge seine ungeheure Größe abtasten. Das größte Schiff, das die Welt je gesehen hatte. Dazu bestimmt, eine halbe Million Tonnen Rohöl aufzunehmen, über die Ozeane zu befördern und es in die durstigen Rachen ferner Ölraffinerien zu speien.

Aus ökonomischer Sicht rentabel - das war das Argument, das die Planer benutzt hatten, um den Bau dieses Schiffes zu rechtfertigen. Die investierte Geldsumme war so hoch und so eng mit dem geschäftlichen Erfolg verbunden, dass der Bau eines solchen Riesentankers einfach gerechtfertigt sein musste.

Doch Argument und Planung sagten John Lang nicht viel. Für ihn war dieses Schiff eine Herausforderung - wahrscheinlich die letzte Herausforderung, bevor er sich in wenigen Monaten, dann wurde er sechzig, in den Ruhestand zurückzog. Aber es war eine Herausforderung, die er mehr fürchtete als alles, womit er bisher konfrontiert worden war. Eine Herausforderung, die er nicht hätte anzunehmen brauchen. Aber er hatte sie selbst für sich heraufbeschworen.

Das war nun einmal seine Art: Nicht vor den Dingen davonlaufen, die einen erschrecken. Stelle dich ihnen entgegen und besiege sie! So war er erzogen worden, so hatte er sein Leben geführt. Der strikte Ehrenkodex, die Disziplin, der Triumph des Geistes über die Materie. Hier in Japan hatten ihn, bis vor kurzem, Erinnerungen geplagt; aber sie waren von der Drohung dieses in der Werft liegenden Monstrums verscheucht worden. So sah John Lang dieses Schiff. Ein Monstrum. Gewaltig in seinen Ausmaßen, hässlich, erschreckend.

Er stützte sich auf die steinerne Balustrade. Von diesem Berg aus hatte man einen guten Überblick. Er kam fast an jedem Abend hierher. Dann hatte er das Gefühl, auf einer Schiffsbrücke zu stehen. Die restliche Welt existierte zwar, optisch und akustisch, aber entrückt. Seit über vierzig Jahren betrachtete er die Dinge aus dieser Perspektive. Unter ihm breitete sich Shinoto aus; die Werft, das Walzwerk, die hübschen Häuserreihen, die Wohnblocks, das Krankenhaus, die Schulen, die Läden, Hotels, öffentlichen Bäder und Bordelle. Shinoto, eines der Wunderwerke des Nachkriegsjapans. Es war einmal eine Kleinstadt gewesen, ein größeres Dorf, dessen Bewohner überwiegend Fischer waren. Dann übernahmen die amerikanischen Besatzungsmächte diese ideal gelegene Bucht mit dem natürlichen Hafen. Das Wasser war tief genug; die Amerikaner machten innerhalb kurzer Zeit einen richtigen Hafen daraus. Ankerplätze, Wellenbrecher, Piers für die Hochseeschiffe, es fehlte nichts. Straßen und Unterkünfte wurden gebaut, ein Flugplatz wurde angelegt. Man sagte, Mr. Yashawa sei früher einmal im Schrottgeschäft beheimatet gewesen und habe in diesem amerikanischen Stützpunkt ein Geschäft auf lange Sicht gewittert. Schon damals nannte man ihn Old Yashawa. Niemand kannte sein Alter, niemand wusste etwas Näheres über ihn.

Damals schrien die japanischen Stahlwerke nach Schrott. Es gelang Old Yashawa, ein Landungsboot zu ergattern. Weil er den Hafen nicht benutzen durfte, tätigte er seine Geschäfte im Tiefwasser vor der Küste und hatte vor dem Beginn des Frühjahrs einen beachtlichen Profit eingestrichen. Da waren die überflüssig gewordenen Lastwagen. Einige ließ er zwecks Weiterverwendung reparieren, andere schlachtete er aus und verkaufte den Rest als Schrott. Dann legte er sich ein altes Frachtschiff zu, setzte es auf Grund und verdiente auch daran mit Hilfe der Versicherung nicht schlecht. Nun, es gab auch eine Menge überflüssiger Schiffe, Panzer und Flugzeuge. Die Yashawa Metallprodukte waren im Geschäft. Aber die Schrotthaufen wurden immer größer, denn auch andere Unternehmer hatten den Stahlwerken Angebote zu machen. Trotzdem gab es keinen Grund zur Verzweiflung. Old Yashawa passte sich den neuen Gegebenheiten an und plante den Bau eines Stahlwerks direkt in Shinoto. Das erforderliche Geld zu bekommen, war nicht allzu schwierig. Die Besatzungsmacht war gerade dabei, das alte Zaibatsu-Kartell zu zerschlagen. Vielleicht war man einer beginnenden Konkurrenz freundlich gesonnen. Konkurrenz - sie liebten dieses Wort. Sie sahen in der Konkurrenz ein Allheilmittel. Kurz und gut, Yashawa bekam das Geld und Shinoto sein Stahlwerk. Es war zunächst klein, doch gleich zu Beginn sehr modern, sehr leistungsfähig und mit den neuen elektronischen Wunderwerken ausgestattet, so dass die Leute schneller und besser arbeiten konnten und das Werk billiger produzierte. Dann kam der Korea-Krieg und mit ihm ein wirtschaftlicher Aufschwung.

Und dann kam die große Flaute. Die Amerikaner zogen sich aus Shinoto zurück. Der Hafen war leer, die Baracken waren leer, die Klubs, Bars und Bordelle waren leer. Es gab noch Feierlichkeiten, Paraden, Ansprachen und Militärmusik. Old Yashawa nahm nicht daran teil. Er kaufte Optionen auf alles, was die Amerikaner zurückließen.

Er hatte Stahl und im Hafen ein Trockendock. Die Fischer brauchten neue Boote. Warum in dem Trockendock nicht Boote bauen? Um sie vom Stapel laufen zu lassen, brauchte man nur zu fluten. Auf diese Weise baute er sechs Fischerboote. Dann sagte jemand, dass die Ölgesellschaften an den Bau von Supertankern dächten, große Schiffe von 25.000 oder gar 30.000 Tonnen. Seine Ingenieure sagten, das sei möglich, und sein Tanker war der erste dieser neuen Schiffsgattung. Yashawa Stahl- und Schiffsbau war im Geschäft. Seit jener Zeit war das Unternehmen führend beim Bau immer größerer Schiffe. Interessenten aus der ganzen Welt erteilten Aufträge; Interessenten aus Ländern, die wegen ihres Schiffsbaus berühmt waren. Sie bestellten, weil sie weder mit der Bauzeit noch mit den Kosten konkurrieren konnten. Die Werft blühte auf und Shinoto blühte mit. Yashawa war ein Neuerer, doch die Stadt wuchs in altjapanischer Manier. Er baute Häuser für seine Arbeiter, Schulen, ein Krankenhaus, ein Technikum, Läden und ein Sportstadion. Später, als das Land knapp wurde, baute er Mietshäuser. Shinoto war Mr. Yashawas Stadt, sie war es bis zum letzten Balken und zur letzten Fußmatte.

Jetzt wartete das neueste Wunderwerk auf den Stapellauf - Langs Monstrum. Zwanzigmal größer als der erste Supertanker vor fünfzehn Jahren. Zwanzigmal so groß wie die Ausmaße, die skeptische westliche Ingenieure schon als gefährlich groß bezeichnet hatten.

John Lang fröstelte unwillkürlich, als er auf die verschwommenen Umrisse seines neuen Werkes hinunterblickte. Er brauchte es nicht deutlich zu sehen, um sich an jede Einzelheit zu erinnern. Er hatte mit diesem Schiff gelebt, seit es auf dem Zeichenbrett entstanden war. Er war stolz auf dieses Schiff - auf seine Größe, seine Energie, seine ungeheure Komplexität. Er war stolz auf sein Kommandorecht. Aber es war auch ein beunruhigendes Gefühl. Beunruhigend deshalb, weil er sich nicht mehr jung, stark und beweglich genug fühlte, um auf der Kommandobrücke zu stehen und seinen neuen wohlklingenden Dienstgrad zu verteidigen, zumal auf diesem neuen Schiff.

Kommodore Lang... Das klang gut. Er sah auch auf seine Art gut aus. Der Titel eines Kommodores unterstrich nur, was ohnehin eine Tatsache war. Er war der dienstälteste Kapitän der Inoco-Flotte, und dem dienstältesten Kapitän pflegte man immer den Ehrentitel eines Geschwaderkapitäns zu verleihen. Doch Lang war der erste Mann, der sich Kommodore nennen durfte. Aber deshalb zählte er nicht zu einer besonderen Gattung von Schiffsherrn. Er fragte sich, ob dieser Titel ihn zu einem Kapitän machte, der kein Kapitän war; denn er wurde Kommodore Lang genannt, um ihn von jenem anderen Schiffsherrn, Kapitän Stock, zu unterscheiden. Stock war Mitte Dreißig, einer der neuen Männer, die von Bruce in London einen Kommandoposten bekommen hatten. Das waren Theoretiker, die mit der Stoppuhr in der Hand glücklicher waren als mit einem Marlspieker.

Lang richtete sich auf, räusperte sich und spie aus. Stock vermittelte ihm diesen Eindruck. Sie waren alters- und einstellungsmäßig Welten voneinander entfernt. Lang hatte sich stets für einen toleranten Menschen gehalten. Er hatte strenge Auffassungen, machte sie aber nur geltend, wenn es seine beruflichen Pflichten erforderten. Doch was Michael Stock betraf, so gab es vieles, das bewirkte, dass er seine Abneigung gegen ihn nie ganz verbergen konnte. Er war korrekt genug, sich daran zu erinnern, dass er selbst diese Situation geschaffen hatte; dass sein Stolz und seine Entschlossenheit, eine Tradition zu wahren, ihm dieses Schiff und Stock beschert hatten. Lang war sicher, im Recht zu sein. Er musste im Recht sein, sonst hätte sein ganzes Leben keine Bedeutung gehabt. Er hatte nach den Vorschriften gelebt, und das höhere Dienstalter spielte eine sehr große Rolle.

Es hatte vor einem Jahr begonnen, als bekannt wurde, dass Inoco beschlossen hatte, die atemberaubenden 500.000-t-Tanker zu bauen. Nein, das stimmte nicht ganz, es hatte vielmehr vor drei, vier Jahren begonnen, als James Bruce, der jüngste Kapitän der Flotte mit weniger als einem Jahr auf Kommando, an Land gegangen war, um dort Einsatzleiter zu werden. Das war der erste Bruch mit der Tradition. Nicht dass für solche Posten immer nur ältere Kapitäne herangezogen wurden, doch immer hatte es sich bisher um wirklich erfahrene Männer gehandelt. Wenige Monate vor Bruces Ernennung war John Lang Kommodore geworden. Er hatte vierzig Jahre gearbeitet und gewartet, nur um dann vor der Tatsache zu stehen, dass viele seiner beruflichen Ideale zerstört worden waren. Bruce hatte keine Zeit verschwendet und bewiesen, dass die Gerüchte, die in der Flotte über seine Person im Umlauf waren, der Wahrheit entsprachen. Er hatte keine Zeit für romantische Traditionen; Schilfe waren Industriefaktoren und unterlagen den gleichen Bedingungen wie sie in Tanklagern, Raffinerien oder Forschungszentren herrschten. Inoco zahlte hohe Gehälter und erwartete als Gegenleistung mehr als handgewebte Teppiche, Modellschilfe und Seemannsgeschichten. Und das dichtete man jenen Kapitänen der alten Schule an, die auf ihren Ozeanfahrten angeblich nicht wussten, wie sie ihre Zeit totschlagen sollten. Bruce befand sich in einer starken Position. Das Ölgeschäft stagnierte zurzeit, und es war schwierig, bei einer anderen Gesellschaft ein neues Kommando zu bekommen. Und dann musste man immer die großzügige Pension berücksichtigen...

So forderte Bruce von seinen Kapitänen Leistungen. Er wollte Berichte sehen - nicht nur Routineberichte, sondern Berichte über die Organisation an Bord, Verbesserungs-Vorschläge, Kostensenkungen, Ausrüstungen, Umgruppierungen und dergleichen mehr. Die Kapitäne nahmen ihre Arbeit in Angriff und überraschten sich selbst. Ihre Gehirne knisterten, und ihre Berichte bewiesen, dass sie sich selbst und ihre Schiffe mit neuen Augen sahen. Sie schrieben ihre Berichte, gaben sie ab, seufzten erleichtert und nahmen an, dass der sprichwörtliche neue Besen seine erste Vorstellung gegeben hatte. Doch ihre Berichte verrieten, dass sie sich lediglich in den traditionellen Bahnen bewegt hatten. Sie hatten Bruce genau das Material geliefert, das er haben wollte: dass eine eingehende Überprüfung unbedingt erforderlich war.

Als die Kapitäne sich die Augen rieben, wimmelten auf ihren Schiffen Experten - Organisationsleute, Zeitnehmer und Arbeitsvorbereiter. Nicht nur in den Häfen, sondern auch auf hoher See. Diese Leute waren Landratten und hatten noch nicht einmal den Golf von Biscaya gesehen, bevor sie sich in alle Schiffsräume ergossen. Aber ihre Entdeckungen, die sich in schriftlicher Form im Londoner Büro der Inoco stapelten, stellten eine Diagnose der Krankheit. Sie war chronisch und verlangte eine radikale Operation. Das brauchte eine gewisse Zeit.

Neue Methoden wurden ausprobiert, abgeändert, perfektioniert und durch noch neuere Methoden ersetzt. Schiffe und Besatzungen waren einer ständigen Beobachtung unterworfen, aber die vorausgesagten revolutionären Veränderungen traten nicht ein. Alle atmeten wieder ein wenig leichter und nahmen an, dass Bruce entweder die Luft ausgegangen oder er von den großen Tieren in London und New York in seine Grenzen verwiesen worden war. Den 50.000-Tonnern folgten die 90.000-Tonner. Die neuen Schiffe waren größer, doch im Prinzip - abgesehen von ihren Maßen - die gleichen. Bruce redete noch immer eine Menge. Lang ertappte sich dabei, dass er ihm, gegen seinen eigenen Willen, aufmerksam zuhörte. Denn Bruce redete nicht nur, er war auch ein fesselnder Redner.

Kommen Sie mir nicht mit dem selbstherrlichen Schiffsgewaltigen, Kapitän Lang. Das rollt von mir ab wie Wassertropfen auf einer Ölhaut. Sie sprechen von Tradition. Ich werde auf die Tradition zurückkommen, nicht Sie. Ihre sogenannte Tradition ist zu blass, zu alt, zu verkümmert. Ich brauche nicht nur Kapitäne, es müssen auch Kaufleute, Unternehmer, Denker und Betriebsleiter sein. Im Augenblick sind die Kapitäne nicht mehr als Busschaffner und überbezahlt. Ja, ja, ich weiß, es ist das System. Ich weiß auch, dass dieses System geändert werden muss. Die Schiffe der Zukunft brauchen neue Führungskräfte. Wir brauchen Männer, die wissen, was hinter den Druckknöpfen vorgeht; Männer, die mit der Materie vertraut sind; Männer, die man wegen ihres Wissens respektiert, nicht wegen ihrer goldenen Tressen und ihrer silbergrauen Haare.

Nun wurden Bruces Träume Wirklichkeit. Für Kommodore Lang waren sie ein einziger Alptraum.

Als es sich herumsprach, dass Inoco alle Zwischengrößen übersprang und den Bau von 500.000-Tonnern in Angriff nahm, wurde jedem klar, dass Bruce der Dampf keineswegs ausgegangen war. Er hatte nur in aller Stille die Kessel aufgeheizt. Seine Entscheidung betraf nicht nur ein Schiff, sondern eine ganze Serie davon. Sie umfasste neue Termine, neue Häfen, neue Routen und Neuerungen auf allen Gebieten. John Lang sah darin einen Versuch, ihn des einzigen Privilegs zu berauben, auf das er wirklich großen Wert legte: das Recht eines Kommodores, das Kommando jeden neuen Schiffs zu übernehmen, das die Werft verließ.

Bis jetzt hatte Lang das neue Regime überlebt, was man von anderen Kapitänen nicht behaupten konnte. Einige fuhren kleinere Schiffe im Mittelmeer, im Karibischen Meer und an der westafrikanischen Küste. Dort konnten sie in Ruhe auf ihre Pensionierung warten, während die jüngeren Leute die Supertanker befehligten. Andere hatten sich mit der gleichen Pension, die sie normalerweise erst mit sechzig Jahren bekommen hätten, frühzeitig in den Ruhestand locken lassen. Und einige, John Lang an der Spitze, waren hartnäckig bei der Stange geblieben. Sie drückten wieder die Schulbank, um sich mit der Elektronik, den Computern, der Automation überhaupt und den Geschäftspraktiken vertraut zu machen. Das war eine harte Nuss. Seit zwanzig oder gar dreißig Jahren hatten sie keine Fachbücher mehr gelesen. John Lang hasste jeden Kursus, an dem er teilnahm. Aber er war entschlossen, sich nicht abschieben zu lassen, lernte intensiv und bestand alle Prüfungen, die Bruce ihm auferlegte. Er brachte den Inoco Prince hinaus, den ersten 90.000Tonner, dann die Princess. Damals hörte er während eines Urlaubs von dem neuen Mammutschiff, dessen Größe ihn erschreckte. Doch paradoxerweise hoffte er, dass es noch vor seiner Pensionierung vom Stapel laufen möge.

Er erkundigte sich nach dem Zeitpunkt.

»In ungefähr einem Jahr«, antwortete Bruce. »Sie arbeiten schnell, diese Japaner. Und in einem Jahr ist Ihre Zeit noch nicht um - nicht wahr?«

»Nein, nein, ich habe noch über ein Jahr. Das ist gut. Wann werde ich nach Japan reisen?«

»Ich glaube, das ist nicht nötig, Kapitän.«

»Aber Sie sagten, dieses Schiff sei revolutionär. Sie können doch nicht Männer hinausschicken, die das Schiff an Ort und Stelle übernehmen. Das kann nicht Ihr Ernst sein. Beim Stapellauf sollte wenigstens einer der dienstältesten Kapitäne zugegen sein.«

»Die ganze Mannschaft wird das Schiff übernehmen, Kapitän.«

»Das verstehe ich nicht. Was soll denn die Mannschaft ohne den Kapitän?«

»Der Kapitän wird dabei sein.«

Lang starrte ihn an. »Wollen Sie damit sagen, dass ich das Schiff nicht bekomme?«

Bruce lächelte. »Sie machen ja gleich eine Katastrophe daraus, Kapitän. Glauben Sie mir, im Grunde wollen Sie das Schiff überhaupt nicht haben. Es ist wirklich neu. Nein, es ist einfach für jüngere Leute bestimmt.«

»Es ist mein Schiff, Bruce.« Seine Stimme zitterte vor Ärger. »Ich bin der Kommodore dieser Flotte, und weil ich das bin, bekomme ich jedes Schiff, das ich haben möchte. Und ich möchte dieses Schiff.«

»Tut mir leid, Kapitän; die Würfel sind gefallen. Michael Stock bekommt das Schiff. Hören Sie auf mich. Ich weiß sehr gut, was ich tue.«

»Ich weiß es auch!«

»Das hört sich nach einer Kampfansage an, Kapitän Lang.«

»Es ist eine Kampfansage. Und ich werde kämpfen, bis ich das Schiff bekommen habe. Sie mögen ein großer Mann sein, aber in New York gibt es noch größere Leute. Ich setze mich über Sie hinweg, Bruce.«

Bruce spreizte die Hände. »Das steht Ihnen frei. Viel Glück.«

Lang war schon an der Tür, als er Bruce sagen hörte: »In Ihrer Akte befindet sich eine Notiz, Kapitän. Der zufolge haben Sie etwas gegen Schiffe, die japanische Häfen anlaufen. Warum haben Sie Ihre diesbezügliche Ansicht geändert?«

»Das steht doch alles in dieser - dieser Geheimakte. Während des Krieges war ich drei Jahre in japanischer Gefangenschaft. Damals trugen Sie noch kurze Hosen.«

»Ah ja. Ich erinnere mich. Die Süßigkeiten waren rationiert... Aber Sie haben noch nicht meine Frage beantwortet, Kapitän. Was hat Ihre Ansicht geändert?«

»Der Stolz«, antwortete Lang gepresst.

»Das ist eine noble Gefühlsregung.«

John Lang wusste, wo die Fäden der Macht zusammenliefen. Er schrieb nach New York, nicht nur an die Stammfirma, sondern an Eugene North, den verantwortlichen Direktor aller europäischen Tochtergesellschaften, persönlich. Die Antwort traf postwendend ein; sie war freundlich, aber unverbindlich, überlassen Sie das nur mir, John, schrieb Eugene North mit der entwaffnenden Leutseligkeit der Amerikaner. Drei Wochen später traf der nächste Brief ein. Lang betrachtete minutenlang den Luftpostumschlag, bis er sich endlich aufraffte und ihn öffnete. Er las ihn, las ihn noch einmal und tanzte vor Freude in seiner Wohnung herum. Er hatte gewonnen. Der Emperor gehörte ihm.

Er wartete im Hauptbüro auf Bruce und begrüßte ihn mit den Worten: »Haben Sie etwas von New York gehört?«

»Was?«

»Das hier«, sagte John Lang und legte triumphierend den Brief auf den Schreibtisch.

»Nehmen Sie Platz, Kapitän.« Bruce griff nach dem Brief und las ihn.

Lang nahm, irgendwie sprungbereit, auf der Sesselkante Platz und sah Bruce gespannt an. Doch dessen kühler, nüchterner Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.

Bruce ließ den Brief sinken. »Ja, ich habe davon gehört...« Er lächelte plötzlich und schien schlagartig ein völlig anderer Mensch zu sein. »Meinen herzlichen Glückwunsch, Kapitän.«

Es war nicht das, was Lang erwartet hatte. »Nun - eh - ich danke Ihnen.« Dann entschuldigend: »Tut mir leid, dass ich Sie übergangen habe. Das ist normalerweise nicht meine Art.«

»Nicht der Rede wert, Kapitän. Sie haben bekommen, was Sie haben wollten. Und genau im richtigen Augenblick. In der nächsten Woche beginnen wir mit der Einweisung. Das wird sehr sorgfältig vor sich gehen und wahrscheinlich drei Wochen in Anspruch nehmen. Dann haben alle Leute bis zur Reise nach Japan vierzehn Tage Ruhe. Mein Sekretär wird Sie mit den Einzelheiten bekanntmachen.«

»Vielen Dank, Mr. Bruce. Entschuldigen Sie, ich sollte wohl lieber Kapitän Bruce sagen.«

»Mister tut es auch. Titel interessieren mich nicht.«

»Auf Wiedersehen«, sagte Lang. »Ich nehme an, Sie werden bei der Instruktion zugegen sein.«

»Nicht in jedem Fall, doch bei einigen. Apropos Dienstrang - da möchte ich Ihnen noch etwas sagen. Wir haben beschlossen, dass man Sie eher mit Kommodore als mit Kapitän anreden sollte.«

Lang sagte nichts, nickte nur, doch in seinem Gesicht spiegelten sich Verwunderung und Genugtuung.

»Auf diese Weise gibt es, was Ihren Kommandierenden Kapitän betrifft, keine Verwechslungen.«

»Meinen - was?«

»Ihren Kommandierenden Kapitän. Wir haben Stock ernannt. Er war einverstanden. Wir gewannen den Eindruck, dass ein Schiff dieser Größe und Kompliziertheit noch einen zweiten Kommandooffizier braucht, zumal Sie ja die Verantwortung für das ganze Schiff haben. Sie und Stock sollten sich großartig ergänzen.«

Du Heuchler!, dachte Lang. Du durchtriebener Heuchler! Es dauerte eine Minute, ehe er endlich zu sprechen wagte. »Ich werde die Fahrt nicht nur als Galionsfigur mitmachen, Bruce. Ich habe dieses Schiff bekommen und werde es auch kommandieren!«

»Das haben wir erwartet. Schiffe mit Galionsfiguren fuhren mit Segeln. Guten Tag, Kommodore.«

Das alles lag fast ein Jahr zurück. Die Instruktionen wurden im Verwaltungscollege der Gesellschaft abgehalten, landeinwärts und fünfzig Meilen von London entfernt. Hier kamen Lang bezüglich seines neuen Ranges und seiner Verantwortung die ersten Gewissensbisse. Der Emperor war tatsächlich ein technisches Wunderwerk, obwohl er sich äußerlich kaum von einem anderen Großtanker unterschied.

Drei Wochen lang hörten, sprachen und lernten sie. Dann ein kurzer Urlaub, und anschließend nach Japan, um weiterzulernen. Jedes Stück der technischen Ausrüstung des Emperor befand sich in doppelter Ausführung in jenem großen Schuppen in der Hafenanlage. Alles war mit einem Computer verbunden, der jede Situation simulieren konnte, jeden Fehler, jeden Alarm. Sie waren auf alle Möglichkeiten vorbereitet worden. Übermorgen sollte das Schiff auslaufen.

Lang schloss die Augen. Jetzt wurde alles Wirklichkeit. Es gab kein Zurück mehr. Er machte kehrt und ging den Berghang hinunter. Er sah das Hotel aus der Stadt herausragen. Das Hotel war Mr. Yashawas Stolz und Freude. Sein japanischer Name lautete: Der Treffpunkt von Ost und West, doch alle nannten es einfach Das Hotel. Ein phantastischer, aber praktischer Bau. Es hatte vierzehn Stockwerke und auf allen vier Seiten Gebäudeflügel mit nur zwei Etagen. Der ganze Komplex war eine Mischung aus Ost und West und symbolisierte auf seine Weise den Treffpunkt zweier Kulturen. Auf dem Dach des vierzehnten Stockwerks stand Mr. Yashawas Penthouse. Es hatte keine modernen Beton- und Glaswände, sondern entsprach in jeder Hinsicht der traditionellen japanischen Architektur. Von dort aus konnte man jeden Quadratmeter der Stadt überblicken.

Lang beobachtete den weichen Lichtschein der Laternen im Penthouse, während er den steilen Weg hinunterging. Er fragte sich, was dieser geheimnisumwitterte alte Mann jetzt tun mochte. Beobachtete er gerade in diesem Augenblick seine Werke? Wie sah er eigentlich aus? Glich er vielleicht jenen verhutzelten Kino-Originalen im Kimono, die weise und unergründliche Gesichter hatten? Niemand konnte ihm das sagen. Alle redeten über den alten Yashawa, doch niemand konnte von sich behaupten, ihm schon einmal begegnet zu sein, die charmante Miss Odinoku ausgenommen. Sie sah Yashawa tagtäglich. Sie war seine Kontaktperson zur Außenwelt. Aber sie konnte Langs Fragen nicht beantworten. Oder wollte sie nicht beantworten. Sie behauptete, nichts über das Leben des Alten zu wissen, bevor er nach dem Krieg in Shinoto aufgetaucht war. Vielleicht sagte sie die Wahrheit.

Vielleicht, dachte der Kommodore, existiert das Geheimnis um Mr. Yashawa nur in meiner Phantasie. Schuld daran sind wohl meine unterschwelligen Hassgefühle, und seit meiner Gefangenschaft sind immerhin fast fünfundzwanzig Jahre vergangen. Ich habe Yashawa nie zu Gesicht bekommen, weiß auch nicht genau, ob Major Kuro in jener Bombennacht ums Leben kam. Vielleicht erinnert Miss Odinoku mich nur an jene andere Japanerin... Vielleicht liegt es nur daran, weil ich über sie und Stock informiert bin. Oder ich bin ein wirrköpfiger alter Mann, der für dieses Ungeheuer von einem Schiff zu klein ist - und zu einsam, um etwas anderes als Hass und Misstrauen zu empfinden.

Lang blieb stehen und schloss die Augen. Er ballte die Fäuste und drückte seine verstümmelten Finger, die ihn seinen letzten Aufenthalt in Japan nie lange vergessen ließen. Denke nicht mehr daran! Du tust dir nur selber leid. Bald bist du wieder auf dem Ozean und hast dieses Land hinter dir. Nur noch zwei Tage. Übermorgen treffen Eugene North und seine Frau ein. Er ist der Mann, der dir dieses Schiff gegeben hat. Er ist ein Freund. Nun gut, dann wirst du tun, was dieser Public-Relations-Mann, Grosset, von dir verlangt. Du wirst dich in Positur werfen und die Fragen der Horde Presse- und Fernsehleute beantworten. Kann nicht sehr lange dauern. Vielleicht ist alles so simpel, wie Grosset behauptet: Absolut kein Problem, Kommodore. Geben Sie sich ganz natürlich - wie Mike Stock. Ihm wird das großartig gefallen.

Natürlich würde es Stock gefallen, natürlich. Im Augenblick war er mit Grosset oder einigen Zeitungsleuten da unten im Amüsierviertel, trank oder hurte herum oder machte beides. Lieber Gott, mache es uns schwer auf dieser ersten Fahrt! Dann wollen wir doch einmal sehen, was der große Kapitän Stock machen wird, wenn ihm die Hosen flattern...

Der Himmel färbte sich plötzlich rot. Lang blickte zu den Stahlwerken hinüber. Dort wurde gerade ein Schmelzofen angestochen. Ein blutroter Lichtschein breitete sich über der ganzen Stadt aus. Formen und Schatten veränderten sich. Der Turm des Hotels schien wie eine große, rote Talgkerze zu leuchten; das Meer jenseits des Hafens sah sekundenlang aus wie ein wogendes Mohnfeld. Ehe das Licht verschwand, sah der Kommodore noch einmal sein Schiff im Dock liegen, sah diesen ungeheuren Koloß in seiner ganzen atemberaubenden Größe.

Zweitausend Meilen entfernt, mitten im Pazifik, war der Himmel ebenfalls rot. Diese Röte stammte von einer Glut, die aus den Tiefen der Erde drang. Eine Insel wuchs aus dem Meer. Dieser Prozess war schon seit Monaten im Gange und war kein neues Phänomen. Er wiederholte sich alljährlich irgendwo in der Welt. Manchmal ragte eine Insel aus dem Ozean, schäumte, dampfte, spie Lava und Asche und verschwand wieder unter der Oberfläche. Manchmal, beispielsweise in diesem Fall, wuchs die Insel weiter. Asche und Lava kochten über, wälzten sich über den Kraterrand, kühlten ab und verwandelten sich in eine kompakte Masse, die man als Land bezeichnen konnte. Dieses war eine besondere neue Insel, und zwar wegen ihrer strategisch günstigen Position. Sie konnte einmal ein neues Bindeglied in dem Außenring amerikanischer Militärbasen werden, der sich von Australien im Süden bis nach Alaska im Norden zog. Hätten die Planer im Pentagon zu bestimmen gehabt, so würden sie für diese Insel kaum eine günstigere Position gefunden haben.

Ein Flugzeug hatte sie zuerst entdeckt, und Schiffe der US- Marine waren sofort zur Stelle gewesen. Von einem Hubschrauber aus wurde eine Fahne in die weiche, heiße Asche geworfen und somit symbolisch angedeutet, dass man von der Insel Besitz ergriffen hatte. Natürlich verbrannte die Fahne beim nächsten Lavaausbruch, wurde aber sofort wieder ersetzt. Ein paar Fahnen waren ein kleiner Preis, wenn es darauf ankam, den Ring um China zu schließen. Wochen später war ein russisches Vermessungsschiff am Schauplatz der Handlung aufgetaucht. Sein Interesse war jedoch rein wissenschaftlicher Natur. Es beobachtete die Amerikaner, die darauf warteten, dass sich die Insel abkühle. Phoenix Island, wie die Amerikaner diese Insel getauft hatten, hatte es nicht eilig, zur Ruhe zu kommen. In jener Nacht war dieser kleine Vesuv kräftig im Gange; er brodelte, rumorte und fabrizierte ein aufregendes Feuerwerk.

  Zweites Kapitel

 

 

Was Michael Stocks gegenwärtigen Aufenthalt betraf, so hatte der Kommodore recht. Er hielt sich mit Grosset und einer Gruppe Journalisten in einem Bordell auf. Es war ihre letzte Nacht in der Stadt. Morgen Abend würde im Hotel noch eine große Party stattfinden. Michael Stock war der erklärte Liebling der Reporter. Er war ein guter Gesellschafter, dem immer wieder etwas Neues einfiel. Er kannte das neue Schiff in- und auswendig und besaß die Fähigkeit, die technischen Einzelheiten erklären zu können, ohne dabei in technischen Jargon zu verfallen. Er verfügte außerdem über einen unerschöpflichen Vorrat von scharfen Witzen.

Sie hatten nach dem Abendessen im Hotel angefangen, aber die Bars versprachen nicht die Art von Unterhaltung, auf die sie es abgesehen hatten. Die Prostitution in Shinoto hatte zwei Gesichter: das traditionelle Gesicht mit dickaufgetragenem weißem Make-up, geschwärzten Zähnen, hochgestecktem Haar mit Clips und Spangen, farbenfreudigen Kimonos und flachen Sandalen; dann das andere Gesicht - eine Erinnerung an die Besatzungszeit - mit Lippenstift, Lidschatten, Dauerwellen, hautengen Pullovern, Miniröcken und Stöckelschuhen. Jedes Gesicht hatte seinen Platz; den traditionellen in den Holz- und Pergamenthäusern des Amüsierviertels und den modernen in den Nachtklubs im Stadtzentrum.

Die acht Männer beehrten eines der traditionellen Häuser mit ihrem Besuch. Die Party lief nicht besonders gut an. Die Madam hatte sich verrechnet. Sie hatte geglaubt, eine Striptease-Show würde der Laune der Gäste nur förderlich sein. Aber der Anblick einer Frau, die sich ihrer alt japanischen Kleidungsstücke entledigte, hatte etwas seltsam Obszönes an sich. Das spürte jeder. Die Männer, die auf dem Fußboden einen Kreis gebildet hatten, wurden nervös, tranken ihre Gläser leer und fummelten nach den Zigarettenpackungen. Die Frauen - für jeden Mann war eine da -  setzten sich auf ihre Absätze und blickten verstohlen herum. Die Party wurde dann doch von einem uneingeladenen Gast gerettet.

Er kam hereinstolziert und warf sich in Pose. Ein Japaner, Anfang zwanzig ungefähr. Er war mit einer Weste und einer Unterhose bekleidet, hatte schon reichlich Sake getrunken und schwenkte jetzt eine Flasche japanischen Whisky über dem Kopf. Er sprang in dem Raum herum, deutete auf die Mädchen, rief anfeuernd: »Banzai!« und grinste von einem Ohr zum anderen. Dann goss er Whisky in die leeren Gläser. Anschließend hielt er die leere Flasche hoch und schrie: »Banzai!« Das verstanden alle. Sie tranken wieder die Gläser leer. Jemand rief nach Whisky. Geplapper und Gelächter. Die Madam sorgte für Nachschub. Sie konnte aufatmen. Es hatte schon trostlos ausgesehen. Der Whisky kam. Es war das gleiche Gebräu wie vorhin, aber er befand sich in originalen Scotch-Flaschen. Auch Mike Stock war erleichtert. Eine tote Party hätte er nicht im Stich gelassen, doch als sich die Dinge normalisiert hatten, sah er sich nach einem Notausgang um.

Wenn er ein Bordell aufsuchte, dann nur, um etwas zu sehen und als Angehöriger einer Gruppe. Ansonsten hatten solche Orte für ihn etwas Deprimierendes an sich. Sie waren gut, wenn man einmal lachen wollte, das war alles. Doch seine Einstellung war tieferer Natur; Stock liebte es, seiner Umgebung verschiedene Gesichter zu zeigen, und sein schmutziges Gesicht hatte sich seiner Umgebung am besten eingeprägt. Und dieses Gesicht war es, woran Lang glaubte. Dirnenjäger und Säufer - nichts von beiden traf zu.

Mike trank gern ein Glas, konnte sich aber nicht an den Kater mit all seinen Begleiterscheinungen gewöhnen. Er kannte die Gedanken der Leute, kannte die lächerliche Angewohnheit, ein Glas nach dem anderen zu trinken. Er wusste, dass man den Leuten ihre Illusionen nicht zerstören durfte. So trank er Glas um Glas - oder tat zumindest so. Er war ein Experte, wenn es darauf ankam, seinen Alkoholismus zu verbergen. Im Übrigen brauchte er gar keinen Alkohol um lustig, witzig plaudern zu können. Das flog ihm auf natürlichem Wege zu. Aber weil er gern geselligen Umgang pflegte und das war, was man unter einer Betriebsnudel verstand, war ihm der Ruf beschieden, ein schwerer Trinker zu sein, der sich rühmen durfte, nie von einem Kater geplagt zu werden.

Im neu angekurbelten Lärm der Party dachte er über Kim nach. Sie würde jetzt im Hotel auf ihn warten. Er hatte gern Leute um sich, war aber auch gern mit Kim allein zusammen. Er musste verschwinden und wählte eine Abschiedsart, die dem Nimbus seiner Person nicht schadete. Er stieß das neben ihm sitzende Mädchen vertraulich an und stand auf. Sie nickte und erhob sich ebenfalls. Jemand sah die beiden in Türnähe und rief etwas. Ein Chor ermutigend rufender Stimmen folgte ihnen in den Flur hinaus. Draußen drückte er dem Mädchen ein paar Geldscheine in die Hand und eilte davon. Seine Sandalen klapperten über den Holzfußboden. Das Mädchen starrte verblüfft, rief hinter ihm her; aber er rannte weiter; den Korridor entlang und die Treppe hinunter. Unten streifte er die Sandalen ab und suchte aus der Kollektion von Schuhen neben der Tür sein eigenes Paar heraus. Die Luft draußen war, nach der Hitze, dem Rauch und dem Parfümgeruch drinnen, angenehm kühl und frisch. Er atmete ein und lächelte vor sich hin. Kim würde auf ihn warten. Er richtete seine Krawatte, fuhr mit einer Hand über sein spärliches Haar und setzte sich in Richtung des Hotels in Bewegung.

Sie war in seinem Zimmer, das sich in einem der japanischen Flügel befand. Es war sein Zimmer, gewiss, aber schon seit Monaten hatten sie es unser Zimmer genannt. Es war typisch für Stock, dass er lieber hier logierte als in der Suite, die im Turmblock für ihn reserviert war. Er liebte eine exotische Umgebung und hatte eine spezielle Schwäche für japanische Zimmer. Sie vermittelten ihm das Gefühl von Raum, Licht und Ordnung.

Kim blickte auf, als er die Schiebetür zurückzog. Sie kniete auf einer großen Steppdecke in der Mitte des Fußbodens, ließ ihr Buch sinken und lächelte. »Wo bist du gewesen, Mike-San? Ich habe gewartet.«

»Entschuldige, meine Liebe. Ich musste meine Pflicht tun und Grosset und seine Kollegen bei guter Laune halten.« Er ging auf sie zu und küsste sie.

»Du hast getrunken.«

»Nicht viel. Du kennst mich doch. Aber jetzt möchte ich eine Tasse Tee.«

»Sehr gern.«

Er nahm den Kimono auf, den sie für ihn bereitgelegt hatte, und durchquerte den Raum. Er zog seine Jacke und sein Hemd aus und fröstelte leicht, als die kalte Seide seinen Rücken berührte. Aus einem Augenwinkel beobachtete er Kim. Die Holzkohlen glühten unter dem Teekessel. Kim arrangierte die Utensilien für die Teezubereitung; die beiden Schalen, die Vase mit den Teeblüten, die Teelöffel und das Sieb. Sie tat das alles mit Grazie und sparsamen Bewegungen. Diese Förmlichkeit war etwas, das sie beide genossen. Ob es die Teezubereitung war, das Kochen von Suki-yaki, eine Begrüßung, ein Abschied, diese Förmlichkeit war immer zugegen. Sie gehörte dazu, wirkte nicht kalt und gekünstelt und war ein Zeichen der Vertrautheit. Sie wartete jetzt, wartete, bis er sich umgezogen und ihr gegenüber Platz genommen hatte. Sie saß mit gesenktem Kopf da, die Hände im Schoß gefaltet, und wirkte jetzt völlig fernöstlich. Doch draußen konnte man nicht einmal mit Sicherheit sagen, dass sie eine Japanerin war. Sie trug westliche Kleidung, trug sie mit größter Selbstverständlichkeit. Ihr schwarzes Haar hatte Schulterlänge, und ihr Make-up vergrößerte die Augen, die hell glänzten. Ja, draußen wirkte sie so, wie sie war. Eine moderne, intellektuelle Karrierefrau, ein Produkt der Frauenuniversität Tokio, eine brillante Nationalökonomin, die in Yashawas Reich einen verantwortungsvollen Posten bekleidete. Mike Stock liebte sie in beiden Rollen. In ihrem gemeinsamen Zimmer liebte er sie in der Rolle der demütigen Japanerin, die nach dem Motto Dein Wunsch ist mir Befehl handelte.

Er schlug die Gürtelenden seiner Robe übereinander, blickte an sich herab und lächelte, als er seine Füße sah. Sie steckten in flachen Sandalen, waren aber noch in den hellgestreiften Socken. Kim hatte gelacht, als sie ihn erstmals in Socken und Sandalen sah. Wie lange war das her? Ein paar Monate, beinahe ein Jahr, ein Lebensalter. Die Socken waren nun eines ihrer Geheimnisse, eines der kleinen Rituale ihrer Liebe. Er setzte sich mit gekreuzten Beinen ihr gegenüber.

Der Tee war fertig. Ihre Finger berührten sich eine Sekunde lang, als er die Teeschale in Empfang nahm. Er hielt die Schale mit beiden Händen, spürte die Wärme des Porzellans, schnupperte den aromatischen Duft und wartete, bis sie

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Ronald Johnston/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/123rf.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Hans-Ulrich Nichau (OT: The Angry Ocean).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 01.10.2019
ISBN: 978-3-7487-1683-9

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