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Leseprobe

 

 

 

 

J. B. O'SULLIVAN

 

 

Der seltsame Erpresser

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 35

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER SELTSAME ERPRESSER 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

Der sehr ehrenwerte Mr. Grapeworth stöhnte auf. »Wo soll das hinführen? Zuerst zwanzigtausend, dann zehntausend...«

»Und jetzt wieder zehntausend!« John Kane blieb unbeeindruckt. »Sie bezahlen einen sehr niedrigen Preis. Wenn Sie bedenken, dass Sie meine Frau umgebracht haben...«

 

Der Roman Der seltsame Erpresser des irischen Bestseller-Autors J. B. O'Sullivan - nach Zweites Bett im Zimmer der zweite Roman um dem Privat-Detektiv Steve Silk -   erschien erstmals im Jahr 1953; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im Jahr 1960. 

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   DER SELTSAME ERPRESSER

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Grapeworth Pelzwarenhandel konnte man auf der Milchglasscheibe lesen. War das schon das Ende? Oder war das erst der Beginn einer langen Reise ins düstere Unbekannte?

Der kleine, schmächtige Mann in dem rehbraunen Trenchcoat atmete einmal tief ein und setzte seinen kleinen schwarzen Handkoffer ab, um auf die Türklinke zu drücken. In der anderen Hand hielt er seinen Hut. Er griff wieder nach dem Koffer und trat in das Büro ein. Dann schloss er die Tür, indem er sich mit dem Rücken gegen die Füllung lehnte. Er ging auf den Schreibtisch in der Ecke zu, hinter dem eine kleine, schon welk aussehende Frau saß.

Er hinkte ein wenig beim Gehen. Wieder setzte er seinen Koffer ab und brachte eine Visitenkarte zum Vorschein.

Als er eintrat, hatte die Frau »Guten Morgen« gemurmelt, aber er war ihr die Antwort schuldig geblieben: Er ging sparsam mit seinen Worten um.

Sie nahm die Karte wie einen zerbrechlichen Gegenstand zwischen Daumen und Zeigefinger und las den Text. Ihr Gesicht erhellte sich eine Spur.

»Ah, Mr. Kane. Mr. Grapeworth erwartet Sie bereits.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte Kane mit einem Schuss Ironie, die ihre Ohren aber nicht aufzunehmen imstande waren.

Sie führte ihn auf eine Tür zu, an der in silbernen Lettern der Name George N. Grapeworth zu lesen war. Dann meldete sie den Besucher an, schloss die Tür, nachdem Kane eingetreten war, und zog sich wieder zurück.

Es war ein großer Raum, der eine rein zweckmäßige Aufgabe zu erfüllen hatte. Stahlschränke für die Akten, Schreibtisch, Wasserkühler, Hutständer, Drehsessel und zwei Stühle. Keinerlei Ziergegenstände, nichts Nebensächliches, nichts Stilvolles. Nur ein Büro für einen Geschäftsführer mit einem verhältnismäßig großen Arbeitsbereich.

Kane nickte, so als sei es genau das, was er erwartet hatte. Dann nickte er George N. Grapeworth zu, der hinter dem Schreibtisch hervorkam und ihm die Hand entgegenstreckte. Kane hielt seinen Hut in der einen, den Koffer in der anderen Hand; er war also völlig ausgelastet und konnte schon allein deshalb nicht auf diese Geste eingehen.

Grapeworth zog seine Hand zurück, betrachtete sie kurz, rückte einen der beiden Stühle vor den Schreibtisch und lud seinen Besucher mit betont herzlichen Worten zum Platznehmen ein.

Kane legte den Handkoffer behutsam auf eine freie Schreibtischecke und setzte sich.

»Ich weiß nicht, was man bei einer derartigen Gelegenheit zu sagen pflegt«, eröffnete Grapeworth die Unterhaltung. Er hatte wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen und schob ein silbernes Zigarettenkästchen in Richtung seines Besuchers, der mit einem Kopfschütteln ablehnte.

»Dann sollte man am besten zuhören.«

Grapeworths gekünsteltes Lächeln erstarrte ein wenig. »Hm?«, machte er, nahm eine Zigarette und bemühte sich, ein großes Tischfeuerzeug in Tätigkeit zu setzen. Dann lächelte er wieder in gewohnter Weise. Er war ein großer Mann mit großen, weißen Zähnen - wohlgerüstet für ein Lächeln, für ein einnehmendes, geschäftsmäßiges Lächeln. Er hatte dunkles, welliges Haar, hohe Backenknochen und eine hohe Stirn. Er erinnerte Kane an jemanden - er wusste nur nicht, an wen. »Ich meinte«, sagte Grapeworth, als wolle er die falsche Einleitung überspielen und noch einmal von vorn anfangen, »dass ich im Augenblick noch nicht weiß, ob wir uns verstehen werden. Ich nehme doch an, dass es den Versicherungsgesellschaften nicht gerade leicht fällt, ihren Mitgliedern Geld auszuzahlen.« Er lächelte stärker, um zu zeigen, dass er witzig sein konnte.

»So ist es«, entgegnete Kane, den Hut auf seinen Knien drehend. »In gewissen Fällen...«

»Aber dieser Fall ist natürlich keiner davon«, sagte Grapeworth Beifall heischend.

Kane enttäuschte ihn. Er zog ein Notizbuch aus der Rocktasche und blätterte darin.

»Ihre Forderung für das in der Nacht vom dreißigsten Juni durch Feuer zerstörte Lagerhaus in der Beacon Street beträgt einhundertfünfzigtausend Dollar.«

»Ja.« In diesem Wort schwang eine leichte Besorgnis mit. Dann war das Lächeln wieder da - diesmal wirkte es nicht sehr überzeugend. »In Wirklichkeit hatte es für mich einen noch größeren Wert. Die Preise für Rauchwaren sind seit meinem Versicherungsabschluss beachtlich gestiegen.«

»Sie haben im Januar dieses Jahres abgeschlossen?«

»Ja.«

»Es war also günstiger, dass es jetzt abbrannte, statt in - sagen wir zwei Jahren. Erstens hätten Sie dann mehr Prämien einzahlen müssen, und zweitens wären die Preise für Pelze noch mehr gestiegen.«

Grapeworth sagte diesmal nicht ja, sein Mund formte ein erstauntes O. Er betrachtete seinen Besucher sorgfältig. Langes Schweigen. Kane blickte nicht von seinem Notizbuch auf.

Schließlich raffte Grapeworth sich zu der zögernden Frage auf: »Ist alles - in Ordnung?« Jetzt blickte Kane auf, und seine grauen Augen schienen Grapeworths Unsicherheit zu steigern. »Ich meine, Sie haben doch meinen Scheck dabei?«

Kane blickte Grapeworth unverwandt an, schob seine Hand in die Seitentasche des Trenchcoats und zog ein geschwärztes, kegelförmiges Stück Metall heraus, das er vorsichtig auf den Schreibtisch stellte. Es war ungefähr dreiundzwanzig Zentimeter hoch und schaukelte einen Moment auf seinem unebenen Sockel. Dann verstummte das Wackelgeräusch und es war lange Zeit still.

Grapeworth griff plötzlich nach der nächsten Zigarette, obwohl die erste, kaum angeraucht, im Aschenbecher lag. Er ließ das Tischfeuerzeug schnippen und blies eine dicke Rauchwolke über die Schreibtischfläche.

Kane hustete.

»Was - was ist denn das?«, fragte Grapeworth gepresst.

»Eine Art Bombe«, erklärte Kane freundlich. »Eine Brandbombe, kann man sagen.«

»Warum haben Sie dieses Ding mitgebracht? Weshalb zeigen Sie es mir?«

Kane bemühte sich, herauszufinden, an wen Grapeworth ihn erinnerte. Wahrscheinlich an irgendeinen Filmstar - oder einen Politiker. Dann verwarf er diesen Gedanken.

»Ich habe es mitgebracht, um Ihnen zu demonstrieren, womit eine Versicherungsgesellschaft es zu tun hat.«

»Wollen Sie vielleicht behaupten, dass...?«

»Ich behaupte, dass man für Brandstiftungen an Liegenschaften, die einem selbst gehören, bis zu fünf Jahren bekommen kann...«

Grapeworth war aufgestanden. Seine Finger umklammerten die Schreibtischkante, und er starrte seinen Besucher finster an.

»Was wollen Sie? Soll das eine Anspielung sein? Ich werde dafür sorgen, dass man Ihnen das Fell über die Ohren zieht!«

Kane schüttelte den Kopf und sah ihn lächelnd an.

»Nicht so theatralisch, Mr. Grapeworth. Sie werden noch so sanft wie ein Lamm sein - wenn die Zeit gekommen ist.«

»Ich werde Sie verklagen, Verdammt noch mal! Ich werde gegen die Versicherung einen Prozess anstrengen!«

»Können Sie beweisen, dass Sie Ihr eigenes Lagerhaus nicht in Brand gesetzt haben?«

»Natürlich kann ich das! Ja, zum Teufel...«

»Haben Sie ein Alibi?«

»Jawohl. Ich war...«

»Sie spielten mit Freunden Bridge? Mit den Baileys und Richter Hackett?«

Grapeworth öffnete seinen Mund. Er ließ ihn offen, doch seine Augen wurden kleiner, während er gespannt abwartete.

»Und ihre Freunde werden schwören, dass Sie den ganzen Abend des dreißigsten Juni mit Ihnen zusammen waren?«, erkundigte sich Kane. »Natürlich, natürlich...«

»Ich war den ganzen Tag nicht in der Nähe des Lagerhauses«, sagte Grapeworth rasch. »Ich war nämlich auch im Golfclub - ebenfalls mit Richter Hackett!«

»Natürlich«, wiederholte Kane noch einmal, streckte eine Hand aus und berührte den auf dem Schreibtisch stehenden Metallkegel. Er wackelte einige Male hin und her und stand dann wieder ruhig. Grapeworth beobachtete ihn fasziniert und setzte sich langsam.

»Ich habe einen Sohn«, sprach Kane weiter und lächelte mild bei dem Gedanken an seinen Jungen. »Er heißt Bobby und ist ein Genie auf dem Gebiet der Elektrochemie. Dabei ist er erst siebzehn. Er hat eine blendende Zukunft vor sich. Eines Tages sagte er zu mir: Papa, ich habe etwas Neues gebastelt; das solltest du dir einmal ansehen. Er nahm mich mit ins Wohnzimmer und zeigte mir eine unter dem Telefon angebrachte kleine Zinkwanne. Im Bad war eine Vorrichtung, die Ähnlichkeit mit diesem Kegel auf ihrem Schreibtisch hatte. Allerdings war sie nicht aus Metall und schien aus Plastik oder dergleichen zu sein. Ein Magnesiumdraht führte von dem schmalen Ende dieser Vorrichtung zur Telefonklingel. Nun gut, Bobby sagte: Ich gehe mal nach nebenan und wähle unsere Nummer. Pass auf, was dann passiert. Er ging also. Einige Minuten später klingelte das Telefon - klingelte nur einmal. Ein Blitz zuckte den Draht entlang, und das Plastikding im Bad brannte plötzlich. Und was in seiner Nähe war, brannte auch. Bobby kam zurückgerannt und löschte das Feuer. Er sah mich grinsend an und sagte: Ich dachte nur, du solltest über so etwas informiert sein, Papa.«

Kane hatte seine Ausführungen beendet und sah Grapeworth an, der offenbar das Atmen vergessen hatte.

»Das zerstört Ihr Alibi - nicht wahr, Mr. Grapeworth? Nur ein Telefonanruf, das ist alles. Sagen wir, Sie riefen fünf nach elf in Ihrem Lagerhaus an - ungefähr eine Stunde vor der Entdeckung des Brandes. Richter Hackett wohnt außerhalb der Stadt. Für seinen Telefonanschluss ist eine andere Vermittlungsstelle zuständig, selbstverständlich auch für die Anschlüsse der näheren Umgebung. Und so haben wir es schwarz auf weiß, dass Sie fünf nach elf anriefen.«

Kane betrachtete wieder das kegelförmige Stück Metall auf dem Schreibtisch. »Allerdings war die Erfindung meines Sohnes wesentlich besser... Eine brennbare Plastikmasse, die sowohl sich selbst zerstört als auch das Objekt, das sie zerstören soll. Tja, Mr. Grapeworth, wenn Sie einen Plastik- oder Zelluloidbehälter benutzt hätten...«

Grapeworth hatte sein geschäftsmäßiges Lächeln aufgegeben. Seine Lippen Waren trocken und schon ein wenig weiß geworden. Letzteres galt auch für sein Gesicht. In seinen Augen flackerte die Furcht, auf seiner hohen Stirn glitzerten Schweißtröpfchen.

»Wer - wer weiß etwas davon?«

»Nur ich - bis jetzt.«

»Können wir nicht...« Grapeworth schluckte heftig. »...etwas tun?« Seine Stimme hatte ihre Klangfülle verloren, klang nun schrill und fast hysterisch.

Wenn Kane ihn sich jetzt betrachtete, musste er gestehen, dass Grapeworth keinerlei Ähnlichkeit mit einem bestimmten Menschentyp hatte, sondern höchstens mit einem gehetzten, verängstigten Tier.

»Zum Beispiel?«, fragte Kane sanft.

»Ich würde Sie bezahlen - würde Sie sehr gut bezahlen...«

Kane sah Grapeworth an, aber er sah ihn nicht. Das ist die Grenzlinie, dachte er. Ich habe sie noch nicht überschritten, kann noch immer zurück. Ein ganzes Leben auf dieser Seite der Grenze. Es war ein gutes und verhältnismäßig nützliches Leben. Aber viel war nicht davon übriggeblieben. Und da war auch Jacky.

Er sagte noch immer nichts, sah Grapeworth nur an und fühlte sich ein wenig elend. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals; er hörte es sogar, ein ungewohnter Laut voller Drohungen und Gewissenskonflikte.

»Sie wollen mich bestechen, wie?« Die Worte kamen plötzlich und schroff.

Grapeworth feuchtete mit der Zungenspitze seine trockenen Lippen an, ohne die gewünschte Wirkung zu erzielen. »Um Himmels willen, trinken wir erst mal einen Whisky!« Er bückte sich, öffnete das untere Schreibtischfach und brachte eine halbvolle

Whiskyflasche nebst Glas zum Vorschein. »Ich besorge Ihnen einen Pappbecher.«

Kane hob eine Hand.

»Ich trinke nicht. Das kann ich mir nicht leisten.«

Grapeworth goss gierig Whisky in sein Glas und trank es mit zwei raschen Schlucken leer. »Ich hatte eine Menge Sorgen«, sagte er. »Meine Frau ist krank, und ein Junge liegt im Krankenhaus.«

»Sie haben keine Kinder, Mr. Grapeworth. Und Ihrer Frau geht es gut - so gut, wie sie es in dem Leben, das Sie mit ihr führen, nur haben kann. Sie scheinen sich noch nicht darüber im Klaren zu sein, dass ich mich sorgfältig mit Ihren Privatverhältnissen befasst habe.«

Grapeworth knallte sein Glas auf die Schreibtischplatte. »Was verlangen Sie?«, fragte er mit einem bösartigen Wispern.

»Dann wollen Sie mich also bestechen«, murmelte Kane, und diesmal war es eine Feststellung.

»Fünftausend Dollar! Wollen Sie fünftausend Dollar annehmen und Ihren verdammten Schnabel halten? Was haben Sie davon, wenn Sie mich anzeigen?«

Kane seufzte. Das Hämmern in seinen Schläfen hatte aufgehört. Jetzt war es soweit; er hatte die Grenzlinie überschritten; das Tor war hinter ihm zugefallen. Und er war - wie seltsam - vollkommen ruhig geworden.

»Alles hat seinen Preis«, sagte er sanft. »Auch ich habe meinen Preis, aber fünftausend Dollar treffen bei mir nicht zu. Sehen Sie, das ist der Ärger mit Bestechungsgeldern. Bietet man zu wenig, fühlt der andere sich beleidigt. Bietet man ihm zu viel, dann jagt man ihm womöglich einen Schreck ein. Ich habe mich noch nie bestechen lassen, Mr. Grapeworth, aber ich glaube, dass ich vor zwanzigtausend Dollar kaum Angst haben würde.«

»Aha!« In diesem Ausruf schwangen Triumph und Resignation zugleich mit. Grapeworth lachte rau. »Wenn Sie diese Summe verlangen, werden Sie warten müssen, bis die Versicherung gezahlt hat. Denn hätte ich die zwanzigtausend Dollar, würde ich niemals das Feuer gelegt haben!«

»Soso, dann haben Sie die Pelze wohl noch nicht verkauft?«

»Welche Pelze?«

»Die Pelze, die Sie in Sicherheit brachten, bevor das Feuer ausbrach. Nach der Untersuchung der Aschenreste zu urteilen, kann ich mir nicht vorstellen, dass das Feuer alle Pelze vernichtet haben soll.«

Grapeworth füllte sein Glas nach. Der Flaschenhals stieß an den Glasrand. Ein leises Klingeln ertönte - der kleine Metallkegel auf dem Schreibtisch schien leicht zu wackeln, als wolle er damit seine Sympathie bekunden, »Ich nehme an, dass Sie ihre zwanzigtausend Dollar wert sind«, sagte Grapeworth schließlich und ohne seinen Besucher anzublicken. »Aber rechnen Sie nicht mit dem Geld, bevor ich es habe.« Er hob den Kopf, musterte Kane mit zusammengekniffenen Augen und einem schiefen Lächeln. »Wenn ich Ihnen das Geld schon jetzt gebe, könnten Sie mich am Ende noch betrügen.«

Kane sah ihn lange und nachdrücklich an.

»Und wenn ich Ihre Ersatzansprüche genehmigt habe, dann könnten Sie mich betrügen...«

Grapeworth zuckte die Achseln und sah ihn durchtrieben an. »Ich denke, das Risiko werden Sie in Kauf nehmen müssen!«, sagte er.

»Das denke ich nun wieder nicht, Mr. Grapeworth.« Kane legte eine Pause ein und blickte auf seine Uhr. »Ich glaube, ich habe noch Zeit, Ihnen eine Geschichte zu erzählen. Früher war ich einmal bei der Feuerwehr. Vor einigen Jahren erlitt ich einen Unfall und wurde pensioniert. Dann bekam ich den Posten bei der Versicherung. Ich habe stets gute Detektivarbeit geleistet, habe hässliche Schiebungen aufgedeckt und Männer gesehen, die wegen des gleichen Delikts, das Sie begangen haben, ins Gefängnis wanderten. Es kostet mich Überwindung, Sie nicht auszuliefern, doch ich habe meine Gründe. Mein Sohn ist nämlich ein Krüppel. Ich muss für ihn sorgen. Er wird nie arbeiten, nie seinen eigenen Lebensunterhalt verdienen können. Es passierte vor sieben Jahren. Ich wohnte mit meiner Familie im obersten Stock eines schäbigen Mietshauses. Eines Nachts - ich hatte Dienst - ging ein Laden nebenan in Flammen auf. Das Feuer griff auf das Wohnhaus über. Meine Frau und Jacky kamen nicht mehr aus der Wohnung heraus. Der einzige Fluchtweg führte durchs Fenster. Meine Frau nahm Jacky in die Arme und wollte die Feuerleiter hinunterklettern. Sie kam nicht weit, weil das Feuer ihr von unten her den Weg versperrte. So blieb ihr nur ein Verzweiflungssprung in die Tiefe übrig - und sie sprang. Sie lebte nur noch zwei Tage. Und seit dieser Zeit ist Jacky ein Krüppel... Der Laden, der damals in Flammen aufging, war ein Scherzartikelgeschäft und gehörte einem Mann, der sich George Gaylord nannte. Meine Nachforschungen verliefen im Sand, das heißt, das Feuer schien eine natürliche Ursache zu haben. Jetzt bin ich nicht mehr so sehr davon überzeugt - nicht mehr, seit ich feststellen konnte, dass Sie diesen Scherzartikelladen unter dem Namen George Gaylord geführt haben.«

Kane streckte seine Hand nach dem Metallkegel aus und steckte ihn wieder in die Tasche seines Trenchcoats, bevor Grapeworth noch eine Bewegung gemacht hatte.

»Wenn ich dieses kleine Andenken behalte«, fuhr er fort, »bin ich sicher, dass Sie mich nicht hinters Licht führen werden. Selbst nach sieben Jahren wird man Ihnen beweisen können, dass Sie das Feuer gelegt haben, bei dem eine Frau ums Leben kam. Der Mord ist noch lange nicht verjährt, Mr. Grapeworth. Tod als Resultat eines Verbrechens ist einem vorbedachten Mord gleichzusetzen. Nein, ich glaube nicht, dass Sie es darauf ankommen lassen werden.«

Grapeworth zog ein Seidentuch aus seiner Brusttasche und tupfte sich damit den Schweiß vom Gesicht. Dann wischte er sich sorgfältig die Hände ab. Die Laufrollen des Drehsessels quietschten, als er ihn näher an den Schreibtisch heranrückte. Seine rechte Hand bewegte sich unter der Schreibtischkante verstohlen auf eine Schublade zu.

Da fasste Kane nach dem Griff seines kleinen Handkoffers und bewegte ihn einmal hin und her, wobei er sagte: »Auch das wird mich schützen, Mr. Grapeworth. Eine weitere Erfindung meines Sohnes, nämlich ein selbstgebasteltes Tonbandgerät mit Batterie. Es hat jedes Wort aufgezeichnet, das wir an diesem Morgen gesprochen haben.«

Grapeworth starrte den Koffer fasziniert an. Kane nahm den Koffer vom Schreibtisch und stellte ihn neben seine Füße.

»Aber - aber das ist doch Wahnsinn!«, entfuhr es Grapeworth. »Eine Bandaufzeichnung wie diese? Die könnten Sie niemals benutzen, ohne sich selber bloßzustellen!«

Kane lächelte nachsichtig.

»Oh, natürlich habe ich auch daran gedacht. Das spricht nur für mich. Ich kann ohne Schwierigkeiten behaupten, dass ich das alles nur gesagt habe, um Sie zu einem Geständnis zu bewegen. Sie wissen, der Zweck heiligt die Mittel.«

Grapeworths Hand hatte den Griff der Schublade erreicht. Er zerrte wie wild daran, aber Kane erteilte scharf die Warnung: »Lassen Sie das lieber bleiben!« Er hatte den Hut von seinen Knien genommen und hielt in der linken Hand den perlmuttbesetzten Kolben eines kleinen Revolvers. Der Lauf hatte während der ganzen Unterhaltung auf Grapeworth gezeigt.

Grapeworth erstarrte in seinem Drehsessel. Kane setzte sich mit der freien Hand den Hut auf und griff nach dem kleinen Handkoffer. Er stand auf und ging, den Revolver auf Grapeworth gerichtet, rückwärts zur Tür. Grapeworths Hände lagen jetzt auf der Schreibtischplatte.

»Enttäuschen Sie mich nicht«, sagte Kane, als er die Tür erreicht hatte.

Er ging durch das Vorzimmer und verabschiedete sich von der kleinen, welk aussehenden Frau hinter der Schreibmaschine mit einem freundlichen: »Guten Morgen.«

Sie starrte hinter ihm her, als er hinausging.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

»Sie haben noch immer gute Muskeln«, sagte anerkennend der Trainer, als er einen Moment stehengeblieben war, um den großen Mann zu beobachten, der mit der Technik eines Professionals einen Punchingball bearbeitete.

»Aber an der falschen Stelle, Charlie«, entgegnete Steve Silk grinsend. Er unterbrach seine Tätigkeit und klopfte auf die nur ganz leichte Wölbung seiner Gürtellinie. »Cassius Clay braucht sich keine Sorgen wegen einer Konkurrenz durch mich zu machen. Nun ja, immerhin habe ich noch meine Erinnerungen!«

»Kann man wohl sagen, Steve.«

Der Trainer klopfte ihm jovial auf den Rücken, ging weiter und musterte mit kritischem Blick die weniger eindrucksvoll aussehenden Mitglieder des Sportclubs, die in der Turnhalle harmlose gymnastische Übungen machten.

Steve Silk wandte sich wieder dem Punchingball zu und trommelte mit beiden Fäusten auf ihn ein.

»Mann, hat der einen Rhythmus!«, sagte ein junger Bursche, der zu dem stämmigen Steve hinüberblickte, weil sich gerade das Springseil zwischen seinen langen Beinen verheddert hatte.

»Er ist kein Amateur«, entgegnete Charlie. »Einmal wäre er beinahe Weltmeister im Schwergewicht geworden. Kurz vor dem Kampf wurde er von einem Wagen angefahren, und manche Leute behaupten, es sei kein Unfall gewesen...«

»Ach ja, das ist Steve Silk. Ich habe von ihm gehört.«

»Das will ich hoffen, Kleiner«, sagte Charlie und seufzte den glorreichen Tagen am Ring des Madison Square Garden nach. Dann rief er den anderen Clubmitgliedern zu: »Ein bisschen mehr Tempo! Ihr seid ja noch nicht mal warm!«

Steve Silk streifte endlich die Boxhandschuhe ab und suchte die Duschanlage auf. Er stellte sich unter die Brause und betrachtete seinen Körper in dem mannshohen Spiegel.

Du bist nicht mehr in Form, beschuldigte er sich, was er während der verflossenen Monate immer häufiger getan hatte. Sieh dich einmal an. Heute dreißig Jahre alt geworden. Und was hast du zu zeigen? Einen großen Reservereifen um den Bauch! Und deine Luft ist auch weniger geworden! Er fuhr mit der Hand langsam über die rechte Brusthälfte. Nein, das ist nicht fair. Es ist nicht deine Schuld, dass nur noch ein Lungenflügel funktioniert. Schuld daran hat dieser Unfall. »Na, dann alles Gute zum Geburtstag«, höhnte er laut.

Ich muss mich öfter in der Turnhalle blicken lassen, dachte er, während er mit einem Handtuch seinen Körper abrieb. Er hatte eine ausgezeichnete Figur - trotz seiner Selbstkritik, die ihm jetzt beinahe überflüssig vorkam. Er war braungebrannt und muskulös. Die Schultern waren breit, der Hals war kräftig. Das Gesicht stimmte mit seiner Figur überein. Es zeigte markante Züge. Die Nase war ein wenig flach und verbogen, aber das tat der magnetischen Anziehungskraft seines Gesichts keinen Abbruch. Die Augen verstärkten diese noch: grau, intelligent, gutmütig und geduldig. Es waren die Augen eines Mannes, der das Leben kannte und darauf vorbereitet war, es so zu nehmen, wie es kam.

Später ging er, in einem grauen Flanellanzug, das dunkle Haar sorgfältig gebürstet, die Treppe hinauf, um zu Mittag zu essen.

»Steve!«

Er drehte sich um und sah einen großen jungen Mann mit extravagant gebleichtem Blondhaar auf sich zukommen.

»Steve, alter Einsiedler, wo hattest du dich so lange versteckt?« Der junge Mann streckte ihm eine Hand entgegen.

»Hallo, Benedict!«

Dann versuchte einer dem anderen die Hand zu Brei zu drücken.

»Seit wann tummelst du dich unter den Athleten?«, fragte Steve. »Deine Sekretärinnen begannen dir wohl davonzulaufen, was?«

Garry Benedict lachte. Er war ein sehr erfolgreicher Anwalt, wusste es auch und sah danach aus. Er trug einen maßgeschneiderten marineblauen Anzug bester Stoffqualität. Er hatte ein hageres, intelligent aussehendes Gesicht und ein vorspringendes Kinn. »Nein, ich bin nur so hierhergekommen. Aber sag mal, ist das eigentlich fair? Ich sage immer Steve zu dir und du sagst Benedict, obwohl du weißt, dass ich einen Vornamen habe.«

»Oh, ich erweise damit dem Höhergestellten nur meine Reverenz. Bist du in Begleitung oder - wie üblich - einsam und allein?«

»Du sprühst ja heute mal wieder vor Geist, Steve... Ja, eigentlich bin ich nicht nur so in den Club gekommen. Ich wollte mit dir sprechen und eine zufällige Begegnung herbeiführen, um weniger Misstrauen zu erregen.«

»Wenn du mich anpumpen willst, hast du Pech gehabt.«

»Nein, nein, ich habe noch Millionen...«

»Dann kannst du mich gleich zum Essen einladen. Übrigens habe ich heute Geburtstag.«

»Wüsste ich, dass du eine Mutter hast, würde ich ihr ein Glückwunschtelegramm schicken.«

»Essen wir zunächst einmal«, schlug Steve mit einem freundlichen Stirnrunzeln vor.

»Trinken wir zunächst mal etwas«, lautete Benedicts Gegenvorschlag.

»Vormittags trinke ich nie.«

»So? Seit wann denn?«

»Ich habe heute damit angefangen. Ich bin dreißig, und du bist dir doch darüber im Klaren, dass ich jetzt vorsichtig leben muss.«

Garry Benedict lachte und legte einen Arm um Steves Schulter. »Dann pass nur gut auf dich auf, Alter«, sagte er.

Sie traten in den Speisesaal des Clubs und besetzten den letzten freien Tisch. Steve gab eine luxuriöse Bestellung auf.

»Weil heute mein Geburtstag ist, Henry, wäre eine Flasche Champagner angebracht«, sagte er zu dem Ober. »Aus rein gesundheitlichen Erwägungen, versteht sich. Dann Austernsuppe mit einem Schuss Bordeaux. Lachsfilet - Gurke und Zitronenscheibe nicht vergessen. Abschließend Fasanenbraten.«

Benedict gab einen Schnauflaut von sich.

»Tut mir leid, Sir«, sagte Henry, »wir haben heute keinen Fasan.«

»Nun, dann schnappen Sie sich ein Gewehr, gehen in den Wald und schießen einen.«

»Es ist Schonzeit, Sir«, sagte Henry unbeweglichen Gesichts. »Ich würde Coq de Bruyere vorschlagen.«

»Hört sich direkt unanständig an - aber wenn der Coq de Bruyere eine Menge Geld kostet, habe ich nichts dagegen einzuwenden. Nur zu! Und sagen Sie Joe, er soll mir eine Geburtstagstorte backen - mit einundzwanzig Kerzen. Ich bin heute volljährig geworden!«

Nach dem bewundernswerten Essen, während Garry Benedict zu seiner Tasse Kaffee eine Zigarette rauchte und Steve, der Nichtraucher war, zum Ausgleich einen Likör trank, sagte der Anwalt: »Ich mache mir Sorgen - um eine Nichte von mir.«

»Du hast eine Nichte? Du siehst nicht alt genug aus, als dass du Onkel sein könntest.«

»Oh, jeder Mensch kann Onkel sein«, entgegnete Benedict bescheiden.

»Nur keine Frau!«

Benedict sah ihn frei heraus an und sagte: »Hoffentlich sind deine Antworten genauso schlagfertig, wenn ich dir von Diana erzähle - Diana Kane. So heißt meine Nichte. Ich stehe kaum noch mit der Familie in Verbindung, aber gestern suchte sie mich auf. Sie hatte etwas auf dem Herzen, war auch nervös, und das ist sie sonst nie. Sie macht sich wohl wegen ihres Vaters Sorgen. Das ist John Kane. Er war früher einmal bei der städtischen Feuerwehr. Nach einer Verletzung schied er aus dem Dienst aus. Jetzt arbeitet er für die Atlantik-Versicherungsgesellschaft-Nachforschungsabteilung für Ersatzansprüche. Er ist mehr oder weniger Versicherungsdetektiv. Vielleicht kennst du ihn?«

»Das kann ich im Augenblick noch nicht sagen, aber erzähle nur weiter.«

»Er lebt nur für seine Familie. Betty - das war meine Schwester - starb vor einigen Jahren. Sie sprang aus dem Fenster, weil das Haus brannte. Sie wollte das Baby retten - Jacky. Der Junge dürfte jetzt zwölf Jahre alt sein. Leider wird er sein Leben lang ein Krüppel bleiben. Armer Kerl... Aber er ist immer so fröhlich, dass es einem das Herz brechen kann.«

»Du hast doch überhaupt kein Herz!«, protestierte Steve und lächelte Garry Benedict wohlwollend an.

»Da ist noch ein Junge - Bobby. Er muss ungefähr siebzehn sein. Elektronik und Elektrochemie - das interessiert ihn wahnsinnig. Er macht die unwahrscheinlichsten Erfindungen und beschäftigt sich auch mit Atomphysik. Ohne Übertreibung, der Junge ist ein Genie!«

»Ich sehe es lieber, wenn Jungen nur Jungen sind.«

»Das gilt nicht für Bobby, Steve! Wenn jemand Talent hat, kann er nichts dagegen tun. Und was hat er alles für seinen jüngeren Bruder gebastelt! Beispielsweise einen Fernsehapparat mit so vielen Bedienungsvorrichtungen versehen, dass Jacky vollauf beschäftigt und glücklich ist. Leider ist Bobby noch keine Erfindung gelungen, mit deren Hilfe sein Bruder wieder gehen kann...«

Benedict zog sein Taschentuch und schnaubte sich geräuschvoll die Nase. »Warte, bis du die Kinder kennengelernt hast, Steve.«

Steve räusperte sich. Mit den Problemen anderer Leute, dem Leben anderer Leute wollte er privat nichts zu tun haben. Das Lösen von Problemen war seine Angelegenheit, gewiss, aber er wollte die nötige Distanz wahren. Er wusste noch nicht, um welche Probleme es sich handelte, doch Garry Benedict wollte ihn offensichtlich in einem Netzwerk fremder Schicksale fangen. Er runzelte die Stirn. »Komm schon zur Sache!« Seine Stimme klang unwillkürlich schroff.

Benedict hob ruckartig den Kopf, sah ihn scharf an und lächelte dann. »Würde ich dich nicht besser kennen als du selbst«, sagte er, »wäre ich mit diesem Fall gar nicht erst zu dir gekommen.«

»Bist jetzt kenne ich den Fall noch nicht«, grunzte Steve.

»Ich komme schon noch darauf zurück. Ich denke mir, es kann nur nützlich sein, wenn ich kurz den Hintergrund skizziere. Da ist also Diana, meine Nichte, ein gutaussehendes Mädchen von zweiundzwanzig. Sie ist Nachtclubsängerin und -tänzerin in der Kirschenbar. Im Übrigen ist sie ein sehr respektables Mädchen. Eine Familie mit engen Bindungen. Jeder kann sich auf den anderen verlassen, jeder weiß, woran er mit ihm ist. Nun ja, der alte Kane benimmt sich in letzter Zeit merkwürdig. Er will, dass Bobby und Diana nach Möglichkeit zu Hause bleiben. Bobby soll mit seinen Freunden Zusammensein - auch zu Hause und erst recht, wenn er mal weggeht. Diana soll ihren Job im Nachtclub aufgeben und- sich eine Stelle suchen, in der von neun bis fünf gearbeitet wird. Aber das war nur der Anfang. Und es war nie seine Art, sich in die Angelegenheiten seiner Kinder einzumischen. Keine Rede davon, dass John Kane jemals ein strenger Vater war. Schließlich ging Diana eines Tages in die Dachkammer. Sie suchte etwas in der Truhe, in der Bettys Sachen aufbewahrt wurden. Unter dem Deckel steckte hinter einem Haltegurt ein Revolver mit perlmuttbesetztem Kolben. Der war plötzlich nicht mehr da. Diana fürchtete, Bobby könne ihn möglicherweise genommen haben und irgendeine Dummheit anstellen. Doch Bobby bestritt es, desgleichen ihr Vater, der sich über den verschwundenen Revolver anscheinend keine großen Sorgen machte. Er sagte, Annie müsse ihn verlegt haben... Annie ist die Haushälterin, kostbarster Schatz der Familie seit ewigen Zeiten. Aber Annie wusste auch nichts von dem Revolver.

Eines Morgens ging Diana ins Zimmer ihres Vaters, um ihn etwas zu fragen. Er war gerade im Bad. Sie sah, dass sein Kopfkissen ein bisschen verdrückt war. Sie wollte es auf schütte ihn und entdeckte darunter den Revolver. Sie wunderte sich, verlor aber kein Wort und ging hinaus. In der Folgezeit beobachtete sie ihren Vater und stellte fest, dass er nervös und zerstreut war. Er sah blass aus, verlor Gewicht, antwortete nicht sofort, wenn die Kinder ihm Fragen stellten. Er wirkte immer geistesabwesend, seine Gedanken waren woanders. Wenn es klingelte oder auf der Straße plötzlich ein Wagen hielt, sprang er auf. So hatte Diana ihn noch nie erlebt. Sie machte sich Sorgen, wie gesagt. Selbst Bobby fiel die Veränderung im Wesen seines Vaters auf.

Dann wurde vorgestern Nacht in seiner Wohnung eingebrochen. Der Mann durchwühlte das Wohnzimmer und noch einen Nebenraum, den John Kane gelegentlich benutzt. Als sie den Einbruch gestern Morgen entdeckten, war natürlich große Aufregung. Und wieder reagierte John Kane einigermaßen merkwürdig. Er war nämlich von allen am ruhigsten. Sie konnten nicht feststellen, dass irgendetwas fehlte. Selbst das Bargeld, das sich zu diesem Zeitpunkt im Haus befand, hatte der Einbrecher nicht angerührt. Gestern Vormittag kam Diana zu mir und erzählte die ganze Geschichte, die einstweilen zu Ende ist.«

Garry Benedict schwieg und erfrischte sich mit einem Schluck Champagner.

Steve machte ein nachdenkliches Gesicht. »Und natürlich hat John Kane den Einbruch nicht der Polizei gemeldet«, murmelte er dann.

»Das stimmt«, sagte Benedict einigermaßen überrascht. »Wahrscheinlich ist das am merkwürdigsten daran.«

»Vielleicht nicht für ihn.« Steve zog die Stirn in Falten. »Sieht aus, als stecke Kane in Schwierigkeiten von der Sorte, die man nicht gern der Polizei erzählt.«

»Nun, Steve?« Der Anwalt blickte ihn erwartungsvoll an. »Ich habe im Augenblick zu viel zu tun, um mich persönlich mit dieser Angelegenheit zu befassen. Andererseits habe ich Diana versprochen, diesen Fall einem diskret und zuverlässig arbeitenden Mann zu übergeben.« Er lächelte. »Und ich wüsste niemanden, der diesen Auftrag besser ausführen könnte als du. Wie wär’s?«

Steve schien auf glühenden Kohlen zu sitzen. »Du drückst mich gegen die Wand, Garry«, sagte er, sein Körpergewicht verlagernd. »Wenn ich immer nur die Kopfschmerzen meiner Freunde - und der Freunde meiner Freunde - beseitigen müsste, wo käme ich da hin? In meiner Branche muss man ein dickes Fell haben und hart wie Eisen sein.« Er fuhr mit den Fingern über sein Haar. »Verdammt, ich wäre ja schön weich, wenn ich mich nur deshalb mit den Problemen meiner Freunde befasse, weil es sich um nette Leute handelt. Und, wie gesagt, in solchen Fällen habe ich auch nicht den nötigen Abstand.«

»Den wirst du auch gar nicht haben wollen, wenn du erst mal Diana kennengelernt hast«, sagte Benedict mit einem herausfordernden Grinsen.

»Hm? Hast du nicht eben von einem respektablen Mädchen gesprochen?«

Benedict lachte.

»Komm schon, Steve. Wird Zeit, dass du einem Freund einen Gefallen tust.«

»Und wer zahlt die Miete, hm?«

»Wenn du willst, verhandeln wir auf formeller Basis. Ich bin dein Klient, und du kannst mich mit zwanzig Dollar täglich belasten.«

Steve schnaufte verächtlich. »Für zwanzig Dollar würde ich dir nicht mal die Haare schneiden, mein Freund.« Er schüttelte den Kopf und fügte düster hinzu: »Die Sache gefällt mir nicht. Hört sich ganz und gar nicht wie ein Fall für mich an, ehrlich.« Dann lächelte er. »Es kommt mir alles zu blutarm vor - wenn du weißt, was ich meine.«

»Ich weiß, ich weiß, aber verbleiben wir doch so: Du lehnst mein Angebot nicht früher ab, bis du Diana gesehen hast. Ist das ein Vorschlag?«

Steve zögerte kurz und fragte grinsend: »Was kann ich schon verlieren?«

»Wenn jemand verliert, dann bin ich es«, prophezeite der Anwalt betrübt. »Zwanzig Dollar pro Tag - und das wahrscheinlich für den Rest meines Lebens.« Er bezahlte die Rechnung und hinterließ ein großzügiges Trinkgeld. Als sie den Club verließen, sagte er: »Ich hole dich gegen neun Uhr von deinem Hotel ab. Wir fahren dann zu jenem Nachtclub und sehen uns Diana an. Dann kannst du dich mit ihr unterhalten, wenn dir danach zumute ist. Das Abendessen geht auf meine Rechnung - mit allem Zubehör, einschließlich der Geburtstagstorte, von der du träumst. Okay?«

»Okay.«

»So, ich werde verschwinden. Ich habe den ganzen Nachmittag im Gericht zu tun.«

»Na, hoffentlich sperren sie dich gleich ein.«

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

Die Kirschenbar, einer der respektableren Nachtclubs von Tower City, lag am Brewster Highway in den Außenbezirken der Stadt.

Steve Silk und Garry Benedict waren in ihren Smokings ein stattliches Paar. Ein Ober führte sie zu einem freien Tisch in der Nähe des Podiums. Es herrschte eine ziemlich lärmerfüllte Atmosphäre. Garry Benedict führte eine ernste Unterhaltung mit dem Ober und gab die Bestellung auf. Dann sahen sie sich den ersten Teil einer Show an, die alles andere als eine Sensation war. Der Komiker war zum Weinen, der Bauchredner ein nervöser Amateur, der Sänger völlig unmusikalisch, und die sechs Ballettmädchen waren geradezu winterlich angezogen.

»Ich frage mich, wie dieser Laden überhaupt existieren kann«, seufzte Steve.

»Das Essen ist gut - und warte, bis Diana erscheint.«

Diana erschien in einem langen, tief ausgeschnittenen silbernen Abendkleid, das in dem stahlblauen Licht des Scheinwerfers glitzerte. Steve beugte sich ein wenig vor, und in seinen Augen konnte man jetzt wesentlich mehr Interesse lesen. Sie hatte langes hellblondes Haar und eine Figur, die durch das enge Kleid besonders vorteilhaft zur Geltung gebracht wurde. Das Gesicht sah auch gut aus: oval, regelmäßige Züge mit großen Augen und vollen Lippen.

Und singen konnte sie auch. Mit einer weichen, leicht heiseren, liebkosenden Stimme sang sie zwei alte Balladen, als meine sie jedes Wort ernst. Steve und die anderen Zuhörer ließen sich von der Magie ihrer Stimme umgarnen.

Dann wechselte das Tempo. Mit einer lässigen Handbewegung zog sie den Reißverschluss ihres Kleides auf und stand in einem glitzernden, sündhaft spärlichen Trikot vor dem Mikrofon. Bis auf ein paar vereinzelte schrille Pfiffe war alles mucksmäuschenstill. Sie lächelte über diesen atemlosen Empfang, griff nach dem Mikrofon und sang einen zurzeit sehr beliebten Schlager, der den Zuhörern ebenfalls unter die Haut ging. Anschließend tanzte sie einen der tempogeladenen Modetänze.

Leicht außer Atem kehrte sie wieder zum Mikrofon zurück und sang die letzte Strophe des Schlagers. Dann hob sie ihr abgelegtes Kleid auf, verbeugte sich und verließ unter ohrenbetäubendem Beifall das Podium. An eine Zugabe dachte sie offenbar nicht.

»Nun?«, fragte Garry Benedict erwartungsvoll, als die Deckenbeleuchtung aufgeflammt war.

»Nicht übel«, gab Steve widerwillig zu. »Aber von weitem sehen sie alle ganz fabelhaft aus...«

»Du Pessimist!«

»Immerhin hat sie hübsche Beine - hübsche, lange Beine und ein hübsches Lächeln.«

»Warte, bis du sie aus der Nähe betrachten kannst!«

»Hoffentlich falle ich nicht um. Und wenn du mich mit dieser schwindelerregenden Blondine verkuppeln willst, dann ist das Zeitverschwendung. Die große Liebe meines Lebens hat sich nämlich schon vor Jahren in Nebel aufgelöst. Gibt nur Ärger, wenn ich noch einmal von vorn anfange. Ich bin zu alt, Benedict, Jahrhunderte zu alt. Lass mich allein mit meinen Lavendelblütenerinnerungen und meinen zerdrückten Vergissmeinnicht.«

»Du hast das falsch aufgefasst«, protestierte Benedict. »Ich dachte nur, Diana würde dir die Sache vielleicht schmackhafter machen - vorausgesetzt, du übernimmst die Angelegenheit.«

Eine Minute

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: J. B. O'Sullivan/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Hans-Ulrich Nichau (OT: Nerve-Beat).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 30.09.2019
ISBN: 978-3-7487-1672-3

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