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Leseprobe

 

 

 

 

GÜNTER TESKE

 

 

Telepatis

 

 

KOSMOLOGIEN – SCIENCE FICTION AUS DER DDR, Band 5

 

 

 

Gesammelte Erzählungen

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

Telepatis 

Meisterschaftsspannung 

Die Mächtige Maus 

Der Vierfache 

Nackebays großer Start 

Ein talentierter Mittelstürmer 

Ende einer Karriere 

Der tausendste Versuch 

Der kleine und der große Joe 

Der große Sprung 

Aktion Kamerlan 

Die verschwundene Mumie 

Der doppelte Sturm 

Eheglück aus dem Computer 

Tizellis Reportage 

Der zweite Tod 

Das gelbe Trikot 

Des Teufels Suppe 

 

 

Das Buch

Günter Teske, 1933 in Berlin geboren, erlernte den Beruf eines Bautischlers. Von 1954 bis 1958 war er Mitglied der Straßenradsport-Nationalmannschaft der DDR. 1954 nahm er an der Weltmeisterschaft teil. Später arbeitete Günter Teske als freiberuflicher Sport-Journalist und ab 1967 als freischaffender Schriftsteller. 

Telepatis enthält – erstmals zusammengefasst in einem Band – seine gesammelten Science-Fiction-Erzählungen: In mehreren dieser Erzählungen Teskes wird seine langjährige Erfahrung als Sportler und Sportreporter spürbar, etwa wenn er in der Erzählung Ein talentierter Mittelstürmer den menschlichen Ehrgeiz gewöhnlicher Fußballer auf einen Roboter in Menschengestalt stoßen lässt, der mit seinem hundertprozentig fairen Spiel alle Sportler zur Verzweiflung treibt, oder einen Betrugsversuch der besonderen Art schildert, wenn in Der Vierfache ein Eiskunstläufer aus dem Jahr 2190 in die Zeit zurückreist, um 1985 endlich einmal ein Championat zu gewinnen. 

Telepatis von Günter Teske erscheint als Band 5 der Reihe Kosmologien – Science Fiction aus der DDR im Apex-Verlag. 

  Telepatis

 

 

Der Mann, der von dem großen Plakat über dem Kinoeingang herablächelte, sah sympathisch aus. Henryk Belote blieb stehen und betrachtete sein eigenes Bild. Langes dichtes Haar umrahmte das schmale Gesicht, machte es weich und irgendwie verträumt. Jetzt trug man das Haar vorwiegend kurz geschnitten, das sah energischer aus. Die geschwungenen Lippen bekräftigten noch den Eindruck, dass es sich bei diesem Henryk Belote eher um einen Filmstar als um einen Raumfahrer handelte. Nur wer genau hinsah, entdeckte im Ausdruck seiner Augen und in den Linien, die sich um seine Mundwinkel zogen, jene Zeichen von Energie und Härte, die man von solch einem Mann erwartete.

Henryk Belotes Porträt schwebte über der Felsenlandschaft eines toten Planeten, und unten, in gezackten Buchstaben über den zerklüfteten Boden gemalt, stand der Titel des Films: Abenteuer Phoebe. Und dann, darunter und etwas kleiner: Mit Raumschiffpilot Henryk Belote. Zwei Filmleute hatten die Expedition zur Phoebe begleitet, zum kleinsten und interessantesten Mond des Saturns, der den Riesenplaneten im Gegensatz zu den anderen Satelliten in entgegengesetzter Richtung umkreist. Natürlich kannte Henryk die Filmreportage, denn er war sozusagen der Hauptdarsteller des Streifens geworden. Aber was hatten der Regisseur, die Kameraleute und die Cutterin aus der nüchternen, harten, oft gefährlichen, aber niemals besonders aufregenden Arbeit gemacht?

Es war eine unterhaltsame Reportage auch für ihn geworden, denn nun sah er eigene Verhaltensweisen plötzlich in einem anderen Licht, gewöhnliche Situationen wirkten hochdramatisch, wenn sie in Bezug zu ihrem Forschungsobjekt und der ständigen Gefahr im Weltraum gebracht wurden. Auch die Routinearbeit und der Rhythmus des Bordlebens waren so verdichtet worden, dass sie selbst einen nur mäßig an der Raumfahrt interessierten Besucher fesselten. Den Höhepunkt aber bildeten die Szenen von der schwierigen Landung auf Phoebe, den Flügen mit dem Erkundungsschweber über den bizarren Kratern und jene Irrfahrt mit dem Rover durch Methangassümpfe, über Trümmerebenen und Bodenrisse.

Dazwischen dann die Einblendungen seines Gesichts, konzentriert und manchmal schweißbedeckt, mit harten Linien um die Mundwinkel und auch mit erkennbarem Erschrecken in den Augen. Emotionen, deren er sich erst bewusst wurde, als er den Film sah. Von diesem Moment an war jenes eigenartige Gefühl der Verwunderung und des Stolzes in ihm, das Menschen immer dann ergreift, wenn ihnen später die Großartigkeit und die Vorbild Wirkung ihrer vollbrachten Leistung bestätigt werden.

Gleich nach dem überraschenden Erfolg auf dem Bildschirm wurde der Film auch in Kinos gezeigt. Der Name Henryk Belote geisterte durch die Köpfe von Millionen Jungen, die ihm einmal nacheifern wollten. Belotes Poster zählte neben den Konterfeis von Schlagersängern und Filmstars zum Wandschmuck unzähliger Mädchenzimmer. Das alles war so unerwartet für ihn gekommen, dass er sich auch jetzt, fünf Monate nach Rückkehr der Phoebe-Expedition, noch nicht ganz an diese Situation gewöhnt hatte. Dabei war er keineswegs ein Mensch, der sich aus verklemmter Bescheidenheit gegen jede Art von Popularität wehrte. Öffentliche Anteilnahme und ein bisschen Publicity gehörten eben zum Lebensstil der modernen Zeit. Doch er spürte auch den Nachteil seines Ruhms. Überall, wo er sich zeigte, stand er im Mittelpunkt, musste er Fragen beantworten, wurde eingeladen. Wahrscheinlich würde es auch diesmal nicht anders sein, wenn er ins Tanzkino ging, um sich den Film auf Facettenleinwand und im Drei-D-Format anzusehen.

Aber warum sich darüber aufregen, dachte Henryk Belote, der Ruhm fordert eben seinen Tribut. Er hätte ja ablehnen können, als die Kameraleute sich gerade ihn unter den zweiundvierzig Besatzungsmitgliedern aussuchten. Nun bekam er die Quittung.

Belote warf einen Blick auf sein Bild und schaute auf die Uhr. In wenigen Minuten begann die Neunzehnuhrvorstellung. Wie in den großen Clubkinos üblich, wurde der Film nur einmal am Abend vorgeführt. Anschließend konnte man im großen Saal bis nach Mitternacht tanzen oder sich in einen Nebenraum zurückziehen, Schach, Billard, Skat oder Galaxis spielen, diskutieren oder lesen.

Er ging zum Automaten, steckte ein Geldstück in den Schlitz für »Filmabend« und zog die Karte heraus. Als er das Billett in den Entwerter schob, fühlte er einen Blick. Die Verkäuferin am Programm- und Zeitschriftenstand betrachtete ihn, und Belote spürte, wie es in ihrem Kopf arbeitete. So sahen ihn die meisten Leute an, ehe dann ein erlösendes Lächeln über ihr Gesicht glitt und sie ihn ansprachen.

»Sie sind doch der Kosmonaut Belote?«, fragte die Frau. »Ich bin’s, aber es bleibt unter uns«, erwiderte er.

Die Frau nickte mit Verschwörermiene. »Ich sag nichts, aber nur, wenn Sie mir ein Autogramm geben.« Sie hielt ihm ein Programmheft hin, von dessen Titelblatt ihn wieder Henryk Belote anlächelte.

Er kritzelte seinen Namenszug quer über die Nase. »Beeilen Sie sich, der Film fängt gleich an«, riet sie ihm. »Fast alle Plätze sind besetzt.«

Die ihm entgegengebrachte Hochachtung kribbelte Belote so angenehm wie eine Massagedusche über die Haut. Er versuchte vergeblich, dagegen anzukämpfen, und begann zu verstehen, dass manchen Menschen der Ruhm sogar zu Kopf steigt.

Im Filmsaal umfing ihn Dunkelheit. Noch bevor sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, fasste ihn eine angenehm feste Hand und führte ihn zu einer Sesselgruppe. Undeutlich erkannte er zwei Plätze, anscheinend die einzigen, die noch frei waren. Gerade lief der Vorspann des Films mit der eigenartigen Weltraummusik. Auch Belote konnte sich der Wirkung dieser Melodie nicht entziehen, die in wechselndem Arrangement den Streifen begleitete. Sie war auf so beispiellose Art entstanden, dass sie hervorragend zum Phoebe-Film passte. Professor Kamakaidse hatte mit seinem 2012 in Betrieb genommenen riesigen Radioteleskop kosmische Signale aufgenommen, deren Intervalle auf vernunftbegabte Wesen als Absender schließen ließen. Erfolgskomponist Griffith war dann auf die Idee gekommen, die Impulse mittels eines komplizierten Verfahrens in musikalische Töne umzusetzen. Die ungewöhnliche, aber eingängige Melodie stand schon kurz nach Aufführung des Phoebe- Films an der Spitze der populärsten Schlager.

Die ersten Szenen begannen mit dem Meteoritenalarm kurz vor dem Landemanöver. Das Schrillen der Alarmglocken, der wilde Tanz der Zeiger und die flackernden, Gefahr ankündigenden Signallampen in der Kommandozentrale gaben dieser Situation Rasanz. Dazwischen immer wieder sekundenlang der unendliche Kosmos mit seinen Millionen glitzernder Lichter und die aus einer Entfernung von anderthalb Milliarden Kilometern blass leuchtende Sonne. Die Szenen wechselten schneller. Man sah einen auf das Raumschiff zurasenden Meteoriten, eine Erschütterung ging durch die Phoebe II, eine Großaufnahme zeigte zwei Hände, die festgekrallt um bebende Lehnen lagen, das Licht ging aus. Nur für einen Augenblick. Dann erfasste die Kamera das kopfgroße Loch in der Außenhaut des Schiffs.

Belote wusste, dass diese Aufnahme erst nach der Landung auf Phoebe gemacht worden war, aber hier in der richtig zusammengestellten Szenenfolge wirkte alles viel gefährlicher und dramatischer, als sie es damals empfunden hatten. Und da machte es auch nichts aus, dass den Filmschöpfern die kurze Sekunde Dunkelheit erst nachträglich eingefallen war. Im Moment des Aufpralls und danach hatten alle Lichtquellen jedenfalls unerschütterlich ihren Dienst getan. Vielleicht waren sie im Raumschiff auch nur so ruhig gewesen, weil niemand so recht an einen Zusammenstoß geglaubt hatte - die Möglichkeit, getroffen zu werden, stand theoretisch eins zu zehn Millionen.

Nun gut, entsprechend der mathematischen Wahrscheinlichkeit würden dafür die nächsten zehn Millionen irdischen Raumschiffe das Weltall ohne Zusammenstoß durcheilen. Für die Phoebe II hätte dieser faustgroße Eisenbrocken allerdings eine Katastrophe heraufbeschwören können, wenn seine Geschwindigkeit größer gewesen und er dazu noch in das Triebwerk geschlagen wäre.

Henryk Belote spürte die Spannung der Zuschauer fast körperlich. Er lächelte geschmeichelt und versuchte die Gesichter seiner beiden Nachbarinnen zu erkennen. Er sah nur ihre glänzenden Augen und die Haare: lang und dunkel bei der einen und blondes Kurzhaar bei der anderen. Dann wandte er sich wieder der Filmwand zu und folgte beeindruckt der Handlung.

Die Zeit schien in kosmischem Tempo vergangen zu sein, als das Licht langsam den Saal erhellte. Er musterte die beiden jungen Frauen.

»Ich träum wohl noch«, sagte die Dunkelhaarige. Sie starrte 8elote ungläubig an und knuffte ihre Freundin. »Bin ich jetzt auf Phoebe, oder sind wir im Kino?«

»Das ist eine kluge Frage«, sagte Henryk Belote. Jetzt ging es wieder los: ob er der Raumschiffpilot Belote sei, wie man am besten solche Gefahren meistern und ob er nicht etwas erzählen könne.

Stimmengewirr setzte ein. Viele Zuschauer erhoben sich und suchten die Nebenräume auf. An Henryks Tisch herrschte Schweigen. Er wollte einem ersten Impuls nachgeben und gehen, doch ein erneuter Blick auf die beiden jungen Frauen hielt ihn zurück. Beide waren bildhübsch.

»Ich glaube, er ist es«, stimmte die Blonde der Freundin zu. »Was meinen Sie damit?«, fragte Henryk.

»Na, Belote.« Aus dem Gesicht der Dunkelhaarigen war das anfängliche Erstaunen gewichen, nun spürte Henryk, wie ein starkes Gefühl von Zuneigung und Bewunderung von ihr ausging.

»Das haben schon viele gesagt, seit der Film gezeigt wird«, sagte er. »Es ist nur die Ähnlichkeit mit dem Piloten.«

»Unglaublich.« Ihre Bewunderung ließ merklich nach.

So stark wie heute hatte er noch nie Stimmungen und Gefühle anderer Menschen gespürt, es war fast, als seien es die eigenen Empfindungen.

»Solch eine Ähnlichkeit gibt’s ja gar nicht«, meinte die Dunkelhaarige.

»Und warum nicht?«, fragte Henryk.

»Weil... irgendwo müssen doch Unterschiede sein.«

»Was redet ihr denn da?«, fragte die Blonde. Sie betrachtete ihre Freundin, dann sah sie unsicher zu Henryk.

Die Dunkelhaarige zuckte die Schultern. »Was wir reden? Du hast es doch gehört. Er hat mich gefragt, warum es diese Ähnlichkeit nicht geben soll. Wie heißen Sie denn überhaupt?«

»Henryk...« Belote stockte und lächelte die beiden amüsiert an. »Nein, nicht Belote, Henryk Bergader. Und Sie?«

Die Frauen kicherten leise. »Das möchten Sie wissen. Raten Sie mal!«

»Das ist nicht schwer.« Er zeigte auf die Dunkelhaarige und nannte den ersten besten Namen, der ihm einfiel. »Sie sind Lisa Malborg. Und Ihre Freundin heißt Kristina Bolen. Kristina mit K.«

Die beiden Frauen sahen sich verwundert an. Henryk war es im selben Moment, als lasse jemand kaltes Wasser auf seinen Rücken tropfen.

»Wie kommen Sie auf unsere Namen?«, fragte die Blonde und dachte anscheinend angestrengt nach. »Ich kenne Sie bestimmt, ich weiß nur noch nicht, woher.«

»Aus dem Film eben«, schlug Henryk ironisch vor. Er konnte nicht glauben, dass er die richtigen Namen genannt hatte. »Quatsch, Sie kennen mich und Lisa, also müssen wir uns schon irgendwo begegnet sein. Aber wo?«

Henryk spürte immer noch Zweifel, doch langsam wurden sie von einem Gefühl der Ratlosigkeit verdrängt. Die Namen schienen wirklich zu stimmen. Aber woher wusste er sie? »Reden wir von etwas anderem. Was möchten Sie trinken?«, fragte er.

Kristina wollte Cola mit Kognak, Lisa Sekt, sie äußerten sich aber nicht.

»Also gut, einmal Sekt, einmal Cola mit Kognak - und einmal Blutige Mary für mich«, stellte Henryk fest.

»Langsam werden Sie mir unheimlich«, sagte die blonde Kristina. Ihr Gesichtsausdruck ließ jedoch darauf schließen, dass sie es eher amüsant fand. »Sie können wohl Gedanken lesen. Aber dann wissen Sie alles, was wir...« Sie brach ab.

Henryk fühlte deutlich jenen angenehm-grauslichen Schauer, der Kristina erfasst hatte. »Schön wäre es ja«, sagte er, »doch die Erklärung ist ganz einfach.« Er machte eine Pause, und die beiden Frauen sahen ihn gespannt an. So einfach war die Erklärung nicht, ihm fiel nichts Vernünftiges ein. »Ja, ich denke mir, die meisten Frauen trinken Sekt und Cola mit Kognak. Wenn man das anbietet, stimmt es meistens.«

»Sie müssen große Erfahrungen mit Frauen haben«, meinte Lisa und sah ihm vielsagend in die Augen.

»Na, es geht.« Henryk fühlte sich geschmeichelt. Als erfahrener Mann zu gelten konnte niemals schaden. Dass ihm weder die Bücher an Bord des Raumschiffes noch die Automaten oder der Anabioseschlaf derartige Erfahrungen hatten vermitteln können, das brauchten die beiden nicht zu wissen. Er winkte dem Kellner und bestellte.

»Wenn Sie so viel von uns wissen, dann kennen Sie vielleicht auch unser Alter«, sagte Lisa.

Henryk starrte sie durchdringend an. »Ich spüre ganz deutlich: Sie sind zwei lautere Charaktere, nett, hilfsbereit, liebevoll. Und so jung.«

Die Frauen lachten und schüttelten fröhlich die Köpfe. »Keine Ausreden, Sie Hellseher. Wie alt sind wir? Aber bitte mit Geburtsdatum.« Kristina drohte ihm scherzhaft mit dem Finger und sah ihm übertrieben streng in die Augen.

»Nun gut, ihr Frauenzimmer, ihr sollt euren Willen haben«, sagte Henryk mit tiefer Stimme, »aber stört mich jetzt nicht, denn ich sehe sonst nicht, dass unsere dunkelhaarige Lisa am vierzehnten Juli einundzwanzig Jahre alt wird und die blonde Kristina erst am neunten Januar das Alter von zwanzig Jahren erreichte.«

»Das gibt es doch nicht.« Lisa riss die Augen auf, als hätte Henryk ihr eben verkündet, sie sei die richtige Frau für ihn und er schlage als Hochzeitstermin den morgigen Tag vor. »Habe ich Sie vielleicht schon auf der Bühne gesehen, als Gedächtniskünstler oder so etwas Ähnliches?«

Henryk lächelte verwirrt. Die Gedanken, die erschreckend deutlich auf ihn einstürmten, begannen ihn zu beunruhigen. Woher wusste er Namen, gewünschte Getränke und nun sogar die Geburtstage? Waren es eigene oder fremde Überlegungen, die in seinem Kopf saßen, oder war die Ausstrahlungskraft dieser beiden so stark, dass sie auf ihn telepathisch wirkten?

Der Kellner brachte die Getränke, Musik setzte ein. Die ersten Paare strebten der Tanzfläche zu. Kristina fordert mich zum Tanzen auf, dachte er. Sieh an, die Jüngere ist hier die Kessere.

»Ich kann aber nicht gut tanzen«, sagte Henryk und erhob sich.

»Eine ulkige Art, jemanden aufzufordern«, meinte Kristina.

»Und wen meinen Sie denn überhaupt, Henryk, mich oder Lisa?« Sie erhob sich und sah ihn so an, als gebe es darauf nur eine Antwort.

Unsicher trottete er hinter ihr her. Ihm fiel ein, dass er schon oft Fragen oder Antworten anderer Menschen gehört hatte, noch ehe sie den Mund aufmachten.

Auf der überfüllten Tanzfläche blieb kein Raum für die platzfordernden Gambos, Holla-Crazys und Brakes. Henryk war es auch lieber so, denn seine Kenntnis der modernen Tänze befand sich auf einem Stand, der vier Jahre zurücklag. Sie drehten sich fast auf der Stelle.

Henryk zog Kristina sanft an sich und merkte, dass sie ihn sympathisch fand. Als er sie noch enger an sich drücken wollte, setzte sie ihm Widerstand entgegen. Sofort lockerte er seinen Griff. Er spürte ein leises Gefühl der Enttäuschung, wusste aber nicht, ob es von Kristina kam oder in ihm hochstieg. Sei doch keine Mimose, sagte sie. Verblüfft betrachtete er ihren geschlossenen Mund. Vernahm er schon wieder ihre Gedanken? Warum hatte sie sich aber dann gesträubt? Langsam zog er sie wieder dichter an sich. Sie kam ihm willig entgegen.

Lisa erwartete sie nach dem Tanz am Tisch. »Ich weiß, woher wir uns kennen. Vom Schachclub.«

»Ich war in Ihrem Schachclub?«, fragte Henryk überrascht. »Da haben wir’s.« Lisa klatschte zufrieden in die Hände. »Nun haben Sie sich verraten. Woher sollten Sie sonst wissen, dass wir zusammen in einem Schachclub waren.«

Ja, woher? Er hatte es bis zu dieser Sekunde nicht gewusst und seiner Meinung nach auch nichts anderes geäußert. Aber Lisas Logik schien eigenen Gesetzen zu folgen. »Ich kann mal gerade die Figuren richtig stellen - und dann in einem Schachclub«, protestierte Henryk.

Doch auch für Kristina schien damit das Geheimnis geklärt zu sein. »Komm, wir gehen tanzen«, sagte sie.

Henryk hatte sich nach dem Kellner umgesehen und reagierte nicht; denn wahrscheinlich hatte sie ihn nur in Gedanken auf gefordert.

»Also, dann nicht.« Kristina, halb erhoben, setzte sich schmollend wieder hin.

»Entschuldige.« Henryk war verwirrt. »Ich weiß nicht... Ich wollte noch schnell etwas bestellen. Aber das können wir auch später.« Er stand unsicher auf. Ihm war, als träume er alles. Gedanken und Worte vermischten sich und raubten ihm die Übersicht über das, was gewünscht, und das, was gesagt wurde. Und das war nicht immer dasselbe.

Kristina erhob sich sofort. Sie war nicht nachtragend. »Sieh nur, sogar rot wird er«, sagte sie zu Lisa.

Es gelang Henryk im Laufe des Abends nicht, die beiden Frauen davon zu überzeugen, dass er niemals einem Schachclub angehört hatte.

»Das möchte ich zu gern selbst überprüfen«, sagte Kristina.

Henryk gab nach. »Von mir aus können wir es gleich probieren.« Er fühlte sich erschöpft von der ständigen Spannung, die richtigen Worte zu wählen, und er fühlte sich auch ermattet vom Tanzen, denn Kristina ließ keine Runde aus. Seine Kondition war nach dem Raumflug noch nicht die beste.

Im Schachraum herrschte jenes angespannte Schweigen, das Henryk an die verhassten Klausurarbeiten erinnerte. Mehr als ein Dutzend Männer und vier Frauen saßen sich einander gegenüber, die Köpfe in die Hände gestützt und tiefsinnig die Figuren auf dem Schachbrett betrachtend. Nur hin und wieder wurde die Stille durch ein Räuspern oder die leisen Worte »Schach!« oder »Gardez!« unterbrochen. Zuschauer standen herum und sahen den Spielern schweigend zu. Kristina wandte sich an einen älteren Mann, der an der Stirnseite des Raums allein an einem kleinen Tisch saß und, zurückgelehnt in einen gemütlichen Clubsessel, ein Buch las. »Können Sie uns ein Schachspiel geben?«, fragte sie.

Der Mann sah von seiner Lektüre auf und nickte. »Dazu bin ich doch da, Fräulein Bolen.« Er erhob sich, ging an eine Schrankwand und reichte ihr ein Brett sowie den Kasten mit den Figuren.

»Woher kennen Sie mich?«, fragte Kristina.

Der Mann schmunzelte. »Sie gehörten doch lange Zeit zu unseren Stammgästen.«

»Das liegt aber einige Jahre zurück.«

»Ich habe Sie trotzdem erkannt. Ihre kesse Stupsnase, das hellblonde Haar - eine hübsche Frau sind Sie geworden.«

Kristinas Gesicht wurde von einem zarten Rot überhaucht. »An welchem Tisch sollen wir spielen?«, fragte sie schnell. »Tisch neun, und viel Spaß! Ich freue mich, dass Sie dem Schachspiel treu geblieben sind und nicht nur an das Galaxis denken.«

»Was ist denn Galaxis?«, fragte Henryk, als sie zum Tisch gingen.

Kristina sah ihn groß an. »Sag bloß, du kennst es nicht?« Henryk schüttelte den Kopf. Das Spiel musste während der Jahre ihrer Phoebe-Expedition in Mode gekommen sein. »Es ist ein Spiel, bei dem man Sterne entdecken kann und fremdes Leben kennenlernt, man muss Gefahrensituationen meistern und beispielsweise bei Raumschiffhavarien die richtigen Entscheidungen treffen«, erklärte Lisa. »Ich finde es wahnsinnig spannend.«

Sie wählten die Steine, Kristina bekam Weiß. Sie begann mit dem Schäferzug, den Henryk ohne Mühe stoppte. Doch dann musste er auf der Hut sein. Kristina hatte anscheinend seine Reaktion vorausgesehen, denn sie baute unbeirrt einen Angriff auf. Henryk merkte, dass sie seine Dame auf ein bestimmtes Feld locken wollte, um dann mit dem Springer in einen ungedeckten Raum vorzustoßen. Als Henryk nicht auf ihre Pläne einging, bot sie ihm ein Läuferopfer an. Er verschmähte es, denn zu deutlich verrieten ihm' ihre Gedanken, dass er in eine Falle gelockt werden sollte. Im Laufe der Jahre hatte er zwar bestimmte Standardzüge vergessen, doch allmählich erinnerte er sich immer besser an die Grundregeln. Das Spiel begann ihm Spaß zu machen, denn allzu viel konnte ihm nicht passieren; Kristinas Kombinationen waren für ihn leicht zu durchschauen. Er konzentrierte sich darauf, ihre Pläne zu durchkreuzen und auf einen Fehler von ihr zu warten.

Schließlich übersah sie einen Läufer, und Henryk spürte fast körperlich, wie der Schreck sie nach diesem Zug durchzuckte. Hoffentlich merkt er nicht, dass er mir den Turm schlagen und meine Deckung hinten aufreißen kann, dachte sie.

Henryk schmunzelte vor sich hin. Er nahm den Turm und kam sofort in eine vorteilhafte Position, die er ausbaute. Kristina gab auf. »Von wegen, du kannst nicht spielen«, sagte Lisa. »Kristina war Sektionsmeisterin, und du hast sie ganz schön geschafft.«

Kristina blickte schweigend auf das Brett und ging die letzten Züge in Gedanken noch einmal durch. »Gibst du mir Revanche?«, fragte sie.

Henryk nickte. »Gern.« Diese Art Schach war ein Kinderspiel. Wenn man jede Falle, jede Kombination und Verteidigungsvariante des Gegners erkannte, dann waren Gegenzüge nur eine logische Handlung, die nicht allzu viel schachsportliches Können verlangte. Je konzentrierter und angestrengter Kristina nachdachte, umso deutlicher hörte er ihre Gedanken. Ja, es war ein Hören, klar und verständlich. Er hatte den Eindruck, sie erläutere ihm wie ein Schachlehrer einem Schüler ihre Überlegungen, um ihn zu selbständigen Schlussfolgerungen und Gegenmaßnahmen anzuregen.

Das zweite Spiel dauerte nicht so lange. Kristina war unsicher geworden, machte zwei schwere Fehler hintereinander und wurde von Henryk mit einer schönen Kombination matt gesetzt. So ein Ärger, da habe ich mich aber reinlegen lassen, dachte sie. Henryk musste wieder lächeln.

»Lach nicht so gemein«, sagte Kristina, »das kann ich nicht leiden.« Henryk spürte deutlich ihren Missmut, anscheinend verlor sie nicht gern. »Du musst ein guter Spieler gewesen sein, das heißt, du bist es noch. Wir werden ein andermal richtig spielen.«

»Sehr gern, doch ich habe schon jetzt richtig gespielt. Besser kann ich nicht.«

»Haha, sehr witzig.« Kristina zog die Mundwinkel ruckartig nach oben. »Bringst du mich nach Hause?«

»Ja, sehr gern.«

»Sehr variabel bist du aber nicht in deinen Antworten.«

»Legst du solchen Wert auf Worte?«

Kristina legte wohl mehr Wert auf Taten. Vor der Haustür blieb sie stehen, schlang ihre Arme um seinen Hals und sah ihm zärtlich in die Augen. Henryk küsste sie, und sie seufzte leise. Mit nie gekannter Erregung und auch mit leisem Erschrecken merkte Henryk, wie sich ihr ganzer Körper heftig an ihn drängte.

»Wir können doch zu mir hochgehen«, flüsterte sie.

»Ja, gern«, sagte Henryk wieder.

Kristina lachte auf. »Du machst wohl alles gern.« Sie ging vor ihm die Stufen hoch. Ihre schmale Taille, die frauliche Rundung der Hüften unter dem dünnen Sommerkleid und die wohlgeformten Beine dicht vor seinem Gesicht drängten ihn dazu, sie zu berühren. Oder waren es Kristinas Wünsche? Henryk spürte den unwiderstehlichen Drang, ihr einen liebevollen Klaps auf den Popo zu geben. Er tat es.

Kristina blieb ruckartig stehen. Sie drehte sich langsam um. »Was ist denn mit dir los?«, fragte sie ärgerlich. »Bin ich ein Pferd?«

»Ich weiß nicht... entschuldige!« Henryk schämte sich, denn die Gefühle, die ihm entgegenschlugen, ließen sich auch beim besten Willen nicht in die Kategorie Zärtlichkeit einordnen. Dabei hätte er schwören mögen, Kristina habe eine körperliche Berührung gewünscht. Nun wusste er, dass es keineswegs das Verlangen nach diesem Klaps war. Er sah zerknirscht zu Boden. Das Wissen um fremde Gedanken nutzte einem nur wenig, wenn die notwendigen Erfahrungen fehlten.

»Vielleicht ist es besser, du gehst«, sagte Kristina. Er nickte. Ihm fiel nichts ein, um die peinliche Situation zu beenden. »Na denn«, sagte er. Er drehte sich um und registrierte erfreut, dass Kristina ihre Worte schon bereute. Er zögerte einen kurzen Moment, doch sie sagte nichts. Nur ihre Gedanken drangen auf ihn ein, und da war ihm, als nenne sie ihn »einen netten, schüchternen Jungen, der nicht gleich eingeschnappt sein solle.«

Er ging langsam die Stufen hinunter, wandte sich um und sagte: »Ich melde mich bei dir, Kristina. Du willst doch noch Schach gegen mich spielen.«

Sie sprach immer noch nicht. Henryk wurde von einer starken Enttäuschung gepackt. Nun wusste er gar nicht mehr zwischen seinen und Kristinas Gefühlen zu unterscheiden. Sollte einer schlau werden aus diesen Frauen, sie wünschten sich das eine und taten das andere.

Entschlossen ging er die Stufen zum Eingang hinunter und warf die Tür hinter sich zu.

 

Kristina war überraschend freundlich gewesen am Telefon, als sei nichts vorgefallen. Henryk hatte die Revanchepartien

Überlegen gewonnen und sich gefreut, dass sie die Niederlagen recht gelassen hinnahm. Der Heimweg und die Zärtlichkeiten vor der Haustür - das alles war wie beim ersten Mal gewesen. Und da Henryk diesmal seinen Wunsch nach einem freundschaftlichen Klaps unterdrückt hatte, war die Nacht anders, aber seinen Vorstellungen entsprechend verlaufen. Nein, eigentlich stimmte das nicht, denn seine Phantasie hatte sich gegenüber der Wirklichkeit als viel zu dürftig erwiesen.

In letzter Zeit war Kristinas Laune ausgezeichnet. Ihre glänzende Stimmung wurde von seinen ständigen Siegen gegen einige bekannte Spieler noch gehoben. Jedes Mal sammelte sich an seinem Tisch eine Gruppe interessierter Zuschauer, die alle Züge aufmerksam verfolgten. Sein Ruf war auch zu einigen bekannten Spielern der Stadt gedrungen, die ebenfalls gegen ihn angetreten waren. Ihm bereitete es keine große Schwierigkeiten, sie mit Hilfe ihrer eigenen Überlegungen zu bezwingen.

Eines Abends war ein großer, hagerer Mann aufgetaucht, hatte ihn mit stechendem Blick beobachtet und nach dem erfolgreich beendeten Spiel leise angesprochen. »Sportfreund Bergader, ich möchte Sie für unseren Schachclub werben.«

»Und wer sind Sie?«, fragte Henryk.

Leicht gekränkt verkündete der Mann: »In Schachkreisen kennt mich jeder, ich bin Julius Sultan, Vorsitzender des Schachvorstandes unserer Stadt. Sie haben nicht von mir gehört?«

»Nein, ich spiele ja nur zum Vergnügen Schach.«

»Schach ist mehr als ein Vergnügen, es ist ein Kampf unterschiedlicher Temperamente und Anschauungen, verschiedener Charaktere und geistiger Potenzen.«

»So habe ich es noch nie betrachtet«, bemerkte Henryk trocken.

»Sie sind ja auch noch lange kein ausgereifter Spieler.« Vielleicht begreifst du die Größe des Schachspiels nie, dachte Sultan. Und deine Erfolge sind nur das Resultat irgendwelcher glücklichen Umstände.

Henryk wurde erst später klar, dass ihn die abfälligen Gedanken tief getroffen und zum Eintritt in den Schachclub Königsbauer bewegt hatten. »Und was sind dann meine Gegner, die ich bezwungen habe?«

Sultan machte eine Handbewegung, die seine Geringschätzung ausdrückte. »Gegen richtige Könner haben Sie noch nie gespielt. In einem großen Saal, vor Fernsehkameras und Hunderten von Zuschauern, da sieht es anders aus.« Langsam begann Henryk sich zu ärgern. »Ich war bisher ganz zufrieden. Und außerdem möchte ich nicht in einem großen Turnier starten.«

»Aha, Sie kneifen. Na ja, ich kann Sie schon verstehen.«

»Gar nichts verstehen Sie.«

Sultan grinste. Ein Feigling, habe ich mir gedacht, ging es ihm durch den Kopf. Viel Gerede um diesen Burschen und nichts dahinter.

»Warum sollte ich Angst haben«, fuhr Henryk mit erhobener Stimme fort. »Wenn Sie etwas für sich behalten können, würde ich Ihnen den Grund nennen.«

»Selbstverständlich kann ich das.«

»Ich möchte nicht öffentlich spielen, weil ich Henryk Belote und nicht Bergader heiße.«

»Nein«, sagte Sultan überrascht. Dann wurde seine Stimme gleichgültig. »Aber das macht doch nichts, ob Bergader oder Belote, das bleibt sich gleich.« Er tut gerade, als müsse jeder diesen Weltraumfahrer kennen, dachte er. »Und warum haben Sie Ihren richtigen Namen verschwiegen?«

»Private Gründe.«

»Schade.« Sultan verzog säuerlich sein Gesicht. Dieser Bursche verkohlt mich doch. Wenn es stimmt, dann wäre es eine große Sache: Weltraumfahrer Belote vom Club Königsbauer gegen Großmeister Thinnin zum Beispiel. Kristina trat zu ihnen und nickte Sultan zu. »Oh, der Schachchef der Stadt persönlich.«

»So ist es, Schachfreundin.« Henryk spürte das Gefühl des Stolzes in Sultans Brust. Da musste er ihn vorhin tief getroffen haben, weil er ihn nicht kannte. »Es wäre sehr schade, wenn solch ein Talent wie Ihr Freund Belote nicht in unserem Club spielen würde, schöne Frau.«

»Was - Belote?«, fragte sie und sah Henryk überrascht an.

Er nickte.

»Du bist also doch Belote. Ich habe es mir fast gedacht. O du Schuft.« Sie lachte. Auf Henryk griff ein starkes Gefühl der Bewunderung und Hochachtung über. Es kam nicht von Sultan. »Bilde dir nur nicht ein, dass ich dir nun auch meinen richtigen Namen sage. Da kannst du lange warten.«

»Vielleicht vier, fünf Monate, schätze ich«, sagte Sultan mit leicht anzüglichem Lächeln. »Länger werden Sie es ihm wohl nicht verheimlichen können, Frau Belote.«

Henryks Kopf zuckte erschrocken herum. »Was meint er, Kristina? Ist irgendetwas...«

»Es sollte wohl ein Scherz sein«, sagte sie verstimmt. Doch dann glitt ein verschmitztes Lächeln über ihr Gesicht. »Aber wie schnell wird aus einem Spaß bitterer Ernst.«

»Wie meinst du das? Bist du dir denn sicher, ich meine...«

»Wer weiß - alles brauchst du schließlich nicht zu wissen.«

Sollten ihm solch wichtige Gedanken entgangen sein? Henryk versuchte zu erkennen, was sie nicht aussprach. Aber außer einer fast schmerzhaften und liebevollen Zuneigung spürte er bei Kristina nur Freude und Spaß. Doch dann war da auch ein starkes mütterliches Gefühl... War es erst Wunsch oder schon Wirklichkeit?

 

Henryk war Mitglied des Clubs Königsbauer geworden, hatte zwei Meister und einen Internationalen Meister bezwungen. Die Erfolge waren hauptsächlich das Ergebnis seiner telepathischen Fähigkeiten. Henryk wusste das. Doch dieses Talent bereitete ihm auch Schwierigkeiten. Gedanken seiner Konkurrenten, ihre Kombinationen und die Ideen ausgeklügelter Fallen stürmten ebenso auf ihn ein wie Überlegungen oder heftige Gefühle anderer, die in seiner Nähe standen. Er kannte kaum noch den Reiz der vielen kleinen Geheimnisse, und manchmal sehnte er sich danach zurück. Überdies hatte ihm Kristina erzählt, dass die Andeutung seiner Vaterschaft nur ein Scherz gewesen sei, und er fühlte sich etwas enttäuscht.

Jetzt saß er zur zweiten Routineuntersuchung im Kosmonauten-Zentrum. Noch im Vorzimmer der Psychologen war er sich nicht schlüssig, ob er über seine eigenartigen Fähigkeiten sprechen sollte. Zu sehr verlockte ihn der Gedanke an weitere Schacherfolge, er fühlte sich geschmeichelt durch Kristinas Bewunderung und war stolz auf die anerkennenden Berichte in den Zeitungen, die sein Talent mitunter enthusiastisch feierten. Es hatte sich eine neue Belote-Taktik herausgebildet, die von Schachexperten analysiert wurde. Henryk selbst war am meisten davon überrascht, dass einige Analytiker nach dem Studium seiner Partien ein neues Spielsystem entwickelten, das viele Anhänger fand.

Was würde geschehen, wenn er nun die Wahrheit sagte? Sein echtes Können reichte vielleicht aus, um Kristina matt zu setzen - wenn er einen guten Tag hatte.

Eine Krankenschwester riss ihn aus seinen Überlegungen. »Bitte, Kosmonaut Belote«, sagte sie und öffnete die Tür zum Arztzimmer.

Er trat ein und begrüßte Doktor Wuschkow. Der Psychologe hatte zur Ärztekommission gehört, die vor Beginn der Phoebe-Expedition für die Auswahl der Besatzung verantwortlich gewesen war. Auch nach der Rückkehr betreute er sie nun.

»Wie geht’s, Henryk?«, fragte er und deutete auf die bequemen Ledersessel, die um einen runden Tisch gruppiert waren.

Henryk kannte die Zeremonie und schmunzelte amüsiert, als Doktor Wuschkow einen Ordner auf schlug und kurz darin blätterte.

»Ihre Werte könnten gar nicht besser sein. Sie sind ein kräftiger, kerngesunder Mann, jedenfalls was die psychischen Funktionen und Parameter angeht. Ich bin sehr zufrieden.«

»Ich kann auch nicht klagen«, sagte Henryk und sah dann zu Boden. Jetzt war der Augenblick gekommen, Doktor Wuschkow alles zu berichten. Sie waren darüber belehrt worden, dass sogar solche simpel erscheinenden Reaktionen wie Schreckhaftigkeit, Unsicherheit ohne ersichtlichen Grund ebenso wie Schlaflosigkeit, Nervosität, großer Appetit auf bestimmte Speisen oder ausgefallene sexuelle Wünsche mitzuteilen seien. Um wie vieles wichtiger musste da erst seine telepathische Fähigkeit sein. Doch er konnte sich nicht zu einem Geständnis durchringen.

»Wie geht es mit dem Lernprogramm weiter?«, begann der Doktor.

»Normal, nur die Grundlagen der neuen Sensorsteuergeräte wollen mir nicht richtig in den Kopf. Vielleicht begreife ich die Sache in den praktischen Seminaren besser.«

Doktor Wuschkow nickte. Er erkundigte sich, ob er in anderer Beziehung bisher nicht gekannte Schwierigkeiten habe, fragte nach persönlichen Veränderungen, wie ihm seine Lieblingsspeisen schmeckten, ob er noch immer Kriminalromane allen anderen Büchern vorziehe, und kam auf seine Hobbys zu sprechen. »Ich nehme an, für die Rover-Crossrennen ist die Zeit jetzt etwas knapp geworden.«

»Das stimmt, dafür spiele ich oft Schach«, sagte Henryk. »Das habe ich schon gehört. Und sehr gut.« Ob seine Erfolge auch mit dieser eigenartigen Telepatis Zusammenhängen? fragte sich Doktor Wuschkow.

Henryk hatte Mühe, seinen Schreck zu verbergen. Anscheinend hatte der Arzt nichts gemerkt, denn er betrachtete nachdenklich seine Unterlagen. Sollte ich nicht der einzige Kosmonaut mit telepathischen Fähigkeiten sein, dachte Henryk und sagte: »Ich glaube, ich besitze dafür Talent. Vorher wusste ich es nur noch nicht.«

»Wann vorher?«

»Vor der Expedition zur Phoebe. Ich habe damals allerdings nur selten Schach gespielt.«

»Und nun? Stellen Sie irgendeinen Unterschied zu früher fest?« Doktor Wuschkow blickte ihn aufmerksam an. Alles deutet darauf hin, als sei auch bei ihm diese Veränderung eingetreten, argwöhnte er.

Henryk hatte in den letzten Wochen gelernt, seine Worte genau zu überdenken, bevor er sie aussprach. Und trotzdem hätte er den Arzt fast gefragt: Wem geht es denn ebenso? Er schluckte und atmete tief durch. Er hatte kein Recht, seinen Zustand zu verheimlichen. Im eigenen Interesse, denn die bisher positiven Auswirkungen konnten ihn psychisch gefährden oder sogar ins Negative Umschlägen. »Ja, es gibt einen großen Unterschied«, sagte Henryk zögernd, »wie Sie es schon vermuten.«

Doktor Wuschkow war nicht überrascht. Er nickte ihm freundlich zu. »Ich habe es geahnt und freue mich, dass Sie es mir ebenfalls sagen.« Damit scheint erwiesen, dass die chemische Substanzveränderung im Gehirn etwas damit zu tun hat, fügte er in Gedanken hinzu.

»Das Gehirn ist verändert?«

Doktor Wuschkows Augen weiteten sich ungläubig. »Woher wissen Sie, Henryk?« Er lachte unsicher. »Natürlich, ich vergaß... Sie können fremde Gedanken lesen. Aber so deutlich?«

Henryk nickte.

Doktor Wuschkow erhob sich, lief um den Tisch herum, rieb die Hände, als freue er sich über einen geglückten Streich, legte sie dann ruckartig auf den Rücken, räusperte sich und setzte sich wieder. Er konnte seine Erregung nicht unterdrücken. Eine Sturzflut von Gedanken ging ihm durch den Kopf, von denen Henryk nur Bruchstücke erkennen konnte.

»Was ist mit meinem Gehirn?«, fragte er wieder.

»Es ist nicht schlimm, ich hätte eher darauf kommen sollen.« Doktor Wuschkow blätterte mit schlanken Fingern eilig in dem Ordner. »Bekanntlich gibt es in jungen und alten Hirnen gravierende Unterschiede im Säurehaushalt. Bei Ihnen sind in der Untersuchung Werte ermittelt worden, die auf ein ungewöhnlich junges Gehirn schließen lassen. Zumindest was die Säuren und vor allem die Zahl und das Verhalten der Tigroidschollen betrifft.«

»Ist das schlimm?«

»Schlimm - nein. Doch das müssen Sie und die anderen am besten selbst einschätzen.« Zumindest ist es ungewöhnlich. Bei Kannin, Schikolski, Domay und Lecattre sind die Werte jedenfalls nicht so extrem, dachte er.

»Also alle, die mit mir die Erkundungsflüge über die Methangassümpfe unternommen haben«, sagte Henryk.

Ein überraschter Blick des Arztes traf ihn, dann lächelte Doktor Wuschkow etwas gequält. »Man muss sich wirklich erst daran gewöhnen, dass Sie Gedanken lesen. Ja, es sind alle, die mit Ihnen über den Sümpfen im Einsatz waren. Aber so stark wie bei Ihnen ist es bei keinem anderen ausgeprägt.« Er sprang wieder auf, holte eine andere Mappe vom Schreibtisch, zog ein Diagramm heraus und vertiefte sich darin. Es stimmt, Henryk hat die meisten Einsatzstunden, dachte er.

»Meinen Sie, dass es davon ist?«, fragte Henryk.

Doktor Wuschkow zuckte die Achseln. »Bei Ihnen traut man sich ja gar nicht, überhaupt etwas zu denken. Also, genau weiß es noch keiner, aber es ist naheliegend.« Er rechnete einen Moment und fuhr dann fort: »Hier haben wir es. Sie sind mit zweihundertzehn Stunden Spitzenreiter, danach folgt Schikolski mit einhunderteinundsiebzig. Ja, es könnte der Grund sein.« Er klappte die Mappe zu und sah ihn ernst an. »Erzählen Sie mir alles, jedes Wort, jede Beobachtung ist wichtig. Wir werden alles auf Tonspeicher aufnehmen.« Henryk erzählte, was er seit der ersten Untersuchung erlebt hatte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass bei ihm das Gedankenlesen sich erst langsam entwickelt und nun anscheinend den Höhepunkt erreicht hatte.

»Haben Sie jetzt irgendwelche Beschwerden?«, fragte Doktor Wuschkow.

»Beschwerden - keine. Nicht dass ich wüsste. Es macht natürlich Spaß, die Gedanken anderer zu erkennen, manchmal aber auch nicht.«

»Erkennen Sie alles ganz deutlich, also im Zusammenhang, oder nur bruchstückhaft?«

»Das ist unterschiedlich. Ein Mensch mit festen Meinungen denkt auch klarer, deshalb muss nicht immer richtig sein, was er denkt. Dabei ist es, als spreche jemand ganze Sätze zu mir. Dann wieder höre ich nur Wörter... Hier muss man natürlich kombinieren, doch das ist nicht allzu  schwer nach dem vorangegangenen Gespräch. Eine andere Form sind die Gefühlsäußerungen, also wenn man Selbstüberschätzung, Verachtung, Wut, Freude und vor allem Liebe...« Er stockte und wusste nicht, wie er das Thema wechseln sollte.

»Das ist interessant, besonders im Intimbereich!« Doktor Wuschkow forderte ihn lebhaft zum Weitersprechen auf. »Wie ist es mit Ihrer Freundin?«

Henryk wurde rot. Gerade darüber wollte er nicht reden. »Muss das sein?« Im selben Moment ärgerte er sich. Er zierte sich wie ein verklemmter Jüngling, dabei wusste er genau, welch wichtige Aufschlüsse seine Erlebnisse den Ärzten geben konnten. »Entschuldigen Sie. Ja, die Gefühle und Gedanken von Kristina spüre ich besonders stark. Wenn sie mit mir schlafen will zum Beispiel.«

»Also, die Gedanken Ihrer Freundin fließen in die eigenen ein?«

»Ja, sie stimulieren sozusagen. Ist sie guter Laune oder sehr zärtlich, werde ich dadurch animiert. Umgekehrt ist es genauso.« Henryk schwieg und räusperte sich dann. Die Worte fielen ihm schwer, es erschien ihm wie Verrat, die gemeinsamen Stunden zärtlicher Liebe, schöner Gefühle und höchster Glücksempfindung einem anderen detailliert zu erzählen. Aber es musste wohl sein. »Ist sie abgelenkt, gleichgültig oder vielleicht sogar ärgerlich, überträgt sich das auch auf mich. Es dämpft sozusagen meine Lust, und manchmal, wenn diese Gefühle sehr stark sind, werde ich dann auch ärgerlich, meine Stimmung wird schlechter.«

»Ich verstehe - ich verstehe. Und wie ist es, wenn Sie Ihre Freundin umstimmen wollen?«

»Natürlich mache ich das auch, mit den üblichen Mitteln. Zärtlichkeit, Musik, etwas trinken, auf sie eingehen - das muss ich Ihnen doch nicht alles erzählen.«

»Nein, nein, aber wie reagiert sie?«

»Sicherlich wie jede Frau, die liebt. Der Wunsch nach Zärtlichkeit wird bei ihr stärker, ich fühle das ganz genau, in gleichem Maße hebt sich meine Stimmung, wir harmonieren sehr gut.«

Doktor Wuschkow kratzte sich etwas verlegen sein Ohrläppchen. »Wie ist es beim Verkehr, haben Sie da Probleme?« Henryk war die Frage unangenehm. Er zögerte.

»Ja, ich muss schon so direkt fragen. Vielleicht hängt von Ihren Erfahrungen das Glück in zahlreichen Ehen ab«, sagte er eindringlich. Er breitete die Hände aus und fuhr beschwörend fort: »Sie wissen sicherlich, dass ein hoher Prozentsatz aller verheirateten Frauen auf sexuellem Gebiet nicht zufrieden sind. Hier böte sich für die Medizin eine phantastische Möglichkeit, der Menschheit Glück zu bringen auf einem sehr wichtigen Gebiet.«

»Ich weiß nicht, bei uns klappt es prima«, sagte Henryk. »Sehen Sie, sehen Sie«, rief Doktor Wuschkow begeistert. Er beruhigte sich wieder. »Oder Sie sind beide von Natur aus ein ideales Paar.«

»Ich weiß nicht, Kristina war meine erste Frau.«

»Was? Erstaunlich!« Doktor Wuschkow rieb sich wieder das Ohrläppchen. »Das müsste man natürlich genau wissen, vier, fünf Frauen würden genügen.«

»Soll ich vielleicht als Versuchstier eingesetzt werden.« Henryk war ehrlich empört. Nicht einmal in seinen erotischsten Träumen hatte er sich mehr sinnliche Freuden vorgestellt, als er sie jetzt mit Kristina genoss.

»Nein, nein, regen Sie sich nicht auf. Niemand wird Sie zwingen, es war nur eine Überlegung. Erzählen Sie weiter.«

Henryk sah ärgerlich zu Boden. Vielleicht hätte er doch lieber schweigen sollen. Wer weiß, was jetzt auf ihn zukam. »Also, ich spüre genau, wenn Kristina... wenn sie also gern dabei ist. Ich meine, auch wenn es zum Höhepunkt kommt. Dann ist es bei mir ebenso. Ja, eigentlich klappt es erst dadurch, denn ihre Empfindungen spüre ich ja zur selben Zeit. Und wenn sie keinen Spaß dabei hat, vergeht auch mir die Lust. Das ist alles, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Ich verstehe. Großartig, wenn das stimmt.«

»Natürlich stimmt das«, sagte Henryk erbost und etwas verschämt.

»Nein, das meine ich nicht. Ich meine, wenn es durch die Telepathie zu dieser schönen Übereinstimmung kommt, dann wäre es ein großer Schritt zu absolutem körperlichem Glück.«

»Denken Sie auch an die Nachteile?«, fragte Henryk. »Niemand kann seine Gedanken völlig verbergen, man wird ständig von Stimmungen beeinflusst...«

»Das ist richtig, aber darüber müssen höchste Ärztekommissionen entscheiden. Woran ich denke, ist eine Art Liebestrank, der diese telepathische Fähigkeit verleiht. Er braucht nur für begrenzte Zeit wirksam zu sein, als Garantie für vollkommene sexuelle Partnerschaft.«

Henryk war es plötzlich, als sehe er eine schwarzhaarige, schlanke junge Frau, die etwas gelangweilt im Bett lag und ihn spöttisch anlächelte.

»Ist Ihre Frau dunkelhaarig und schlank?«, fragte Henryk. »Ja, wie kommen Sie jetzt darauf?« Doktor Wuschkow wurde plötzlich rot. »Man kann Ihnen ja nichts vormachen, ja, ich habe auch an meine Ehe gedacht. Vielleicht etwas egoistisch, aber glauben Sie mir, es ist ein Problem.«

»Und wie geht es nun weiter?«

Doktor Wuschkow musste sich einen Moment konzentrieren.

Henryk merkte, wie sehr ihn dieses persönliche Engagement verwirrt hatte. Und die Tatsache, dass Henryk seine tief verborgene Absicht erkannt hatte, machte ihn unsicher. »Ich kann das nicht allein entscheiden. Ich denke aber, wir werden keine Experimente anstellen, Sie nur beobachten. Später könnte eine Expedition auf der Phoebe gezielte Versuche unternehmen und das Rätsel lösen.«

»Ich kann also vorläufig weiter Gedanken lesen?«

»Was sollen wir machen, Sie einsperren? Natürlich werden Sie unter ständiger Kontrolle stehen, jeder Ihrer Schritte und jede Ihrer Handlungen muss beobachtet werden, Sie sollten uns jede Ihrer Erfahrungen und alle Ihre Gedanken mitteilen.«

»Auch mit Kristina?« unterbrach ihn Henryk.

Doktor Wuschkow sah ihn einen Augenblick verständnislos an, dann lächelte er. »Natürlich auch mit Kristina. Aber wir brauchen dabei nicht ins Detail zu gehen.«

 

Die Ärzte hatten eine Wertskale der telepathischen Kraft aufgestellt, die von eins bis zehn reichte. Domay, ein ruhiger und ausgeglichener Typ, kam auf fünf, Schikolski, der Lustigste und Temperamentvollste der Phoebe-Besatzung, schaffte es sogar bis zur Sieben. Nur Henryk erreichte als einziger die Zehn. Dieser Zustand war seit Wochen konstant, und obwohl Henryk sich darauf eingestellt hatte, begann ihn eine unerklärliche Nervosität zu beunruhigen. Er war sogar mehrmals entschlossen, Kristina die Wahrheit zu sagen, doch die Furcht, sie damit zu verunsichern oder misstrauisch zu machen, hielt ihn davon ab. Was auch nützte ihr dieses Wissen?                                                             

Die Telepatis, wie Doktor Wuschkow sein eigenartiges Talent bezeichnete, belastete Henryk psychisch sehr stark. Er fühlte sich oft morgens schon müde, war häufig nervös, und reagierte gereizt in Situationen, die er früher mit Humor und Gleichmut gemeistert hatte. An seinen Kräften zehrten nicht nur die unfreundlichen,  geringschätzigen und manchmal beleidigenden Gedanken einiger Gesprächspartner, er durfte sich ihnen gegenüber auch nicht das Geringste anmerken lassen. Er hatte sich so gut in der Gewalt, dass er anscheinend gelassen nur, auf die gesprochenen Worte reagierte, die mitunter so gar nicht mit der wahren Meinung übereinstimmten.

Doch die ständige Konzentration strapazierte seine Nerven und ließ ihn immer häufiger die Gesellschaft anderer Menschen fliehen. Dabei hegte der größte Teil aller Männer und Frauen durchaus freundliche und gute Gedanken. Aber er wurde auch von fremden Stimmungen und Gefühlen beeinflusst. Ärger und Sorgen anderer bedrückten ihn in oft unerträglicher Weise. Sogar Mattigkeit und Enttäuschung, Zahnschmerz und Trauer legten sich über seine Empfindungen, töteten die eigene Fröhlichkeit und umhüllten ihn wie ein trüber, regnerischer Novembertag einen einsamen Spaziergänger. Ihm fehlte die Gleichgültigkeit des Phlegmatikers, jene dicke Haut, wie er sie vor allem bei denen entdeckte, die mit glatten, runden Gesichtern fröhlich in die Welt schauten. Auch Kristina gehörte zu jenen Zufriedenen. Was ihn aber dabei versöhnte, war die Tatsache, dass sie seine Gedanken nicht so durcheinanderbringen konnte wie ein sensibler, nervöser Typ.

Ab und an nützte er seine Fähigkeit, um die eigene Stimmung aufzubessern. Das hielt zwar nie lange an, gab ihm aber die Gewissheit, dass sein Talent auch angenehme Seiten hatte. Wie jeder anständige Mensch musste er vor Anwendung seiner Methode erst einige Hemmungen überwinden - aber wie zum Beispiel sollte er sonst jemals in den Besitz verschiedener, stets gefragter Bücher kommen? Auch der neue Roman von Kenneth Wollner war angeblich bereits restlos vergriffen.

»Leider alles ausverkauft«, behauptete die Verkäuferin der Zentrum-Buchhandlung. Sie sah ihn einen Moment lang abschätzend an und wandte sich dann ebenso uninteressiert ab wie bereits drei Kolleginnen vor ihr in den anderen Buchläden.

Henryk merkte, dass sie ihn anlog. Doch bei ihr ließ sich nicht ein leiser Hauch jenes Schuldgefühls erkennen, das er immer bei anderen Gesprächspartnern verspürte, wenn sie bewusst die Unwahrheit sagten. Er versuchte es erneut. »Dabei ist mir gesagt worden, ich soll heute noch einmal vorbeikommen.«

»Die Lieferung ist schon gestern gekommen, und die fünfundzwanzig Exemplare waren bis heute Vormittag vergriffen.«

Henryk sah fast plastisch die zehn Wollner-Exemplare, die in einem Regal des Nebenraumes ständen. »Wenn Sie nebenan in den Lagerraum gehen und sich einmal das vierte Fach im Regal ansehen, dann finden Sie noch einen Band für mich.«

Ein Schreck durchzuckte die bisher gelangweilt wirkende Verkäuferin. Woher weiß er das? fragte sie sich. »Aber die sind leider alle bestellt«, stotterte sie. Einem Mann, der so genau Bescheid wusste, musste man wohl mit der halben Wahrheit entgegenkommen.

»Eben, das meine ich ja. Ihre Kollegin in der Gehaltsabteilung wollte eins zurücklegen lassen. Hat sie noch nicht angerufen?«

Von der Gehaltsabteilung? Frau Werfel? Die ist auch gut, schickt mir einfach jemanden her. Oder Sonja? Aber die arbeitet in der Buchhaltung.

»Ich glaube, Gehaltsabteilung war nicht ganz korrekt, ich meinte die Buchhaltung. Es war Sonja aus der Buchhaltung. Sie sagte, ich solle mich an die hübsche junge Verkäuferin wenden, dann gehe schon alles in Ordnung.«

Ein fast körperlich spürbares Gefühl der Freude sprang auf Henryk über, in das sich Verlegenheit mischte. Die Buchhändlerin machte sich über ihr Aussehen keine Illusionen. Trotzdem zog über ihr hageres Gesicht ein Lächeln. Plötzlich jedoch musterte sie ihn misstrauisch. Der nimmt mich auf den Arm, das hätte Sonja nie gesagt. Und dann müsste er auch meinen Namen kennen, nicht Marlies, aber den Nachnamen Keibell.

»Nein, sie hat nicht angerufen«, sagte sie kurz.

»Aber Sie sind doch Fräulein Keibell, Marlies Keibell, oder?«

Die Verkäuferin nickte jetzt freundlich und sagte: »Dann geht es schon in Ordnung.«

Henryk verließ die Buchhandlung mit dem neuen Roman von Kenneth Wollner unter dem Arm und dem Gefühl, nicht völlig korrekt gehandelt zu haben. Und er freute sich über beides.

Einmal hatte er sogar in einem Kaufhaus einen Taschendieb gestellt, noch ehe die bestohlene Frau den Verlust ihres Portemonnaies bemerkt hatte. Manchmal überlegte er, ob er seine Dienste der Polizei anbieten sollte, denn was ein Täter aussagte und was in seinem Kopf vorging, waren fast immer zweierlei Dinge. So mancherlei spielte sich unabhängig von gesprochenen Worten oder von überzeugender Mimik unter der Schädeldecke ab. Und dort würde er ohne Mühe die Wahrheit herausfinden, Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen feststellen, Namen von Komplicen erfahren, den Verbleib von Tatwerkzeugen ermitteln und den Tathergang rekonstruieren. Das wäre sicherlich eine interessante Tätigkeit. Doch darüber hatten auch die Ärzte und die Raumbehörde zu entscheiden.

Im Moment war die Lösung einer anderen Aufgabe für ihn viel wichtiger. Er hatte Julius Sultans Drängen nachgegeben und musste gegen den Großmeister antreten. Der Gedanke an diese Begegnung bedrückte ihn. Auch jetzt, kurz vor dem Aufeinandertreffen, beschäftigte er sich noch mit Eröffnungsvarianten. Er blätterte lustlos in einem Schachlehrbuch, kam aber immer wieder auf eine raffinierte Falle zurück, die er sich aus einer Sammlung von vierhundertneunundneunzig anderen herausgesucht hatte. Er musste sich vor allem auf ein Spiel mit den weißen Figuren vorbereiten, denn seine Methode war auf die Zerstörung gegnerischer Angriffe gerichtet; die schwarzen Figuren kamen seiner Spielweise entgegen. Henryk schrak auf, als die Tür ins Schloss fiel. Kristina kam hereingestürzt und umarmte ihn. »Bin ich aufgeregt«, sagte sie. »Überall spricht man von dem Match.«

»Ich würde mich gern noch etwas ausruhen«, brummte er. »Ja, entschuldige.« Sie schwieg einen Moment, sah auf die Uhr. »Jetzt ausruhen? In gut einer halben Stunde geht es los. Hast du Nerven!«

Ja, Nerven hatte er. Aber zum Glück besaßen andere noch viel schlechtere.

 

In der Theatergarderobe hielt er sein Gesicht vor den Spiegel. Er blickte drein, als hätte er das Spiel schon verloren. Aber soweit war es noch nicht. Aus dem Lautsprecher krächzte eine aufgeregte Stimme, der Großmeister Joseph Brenner und der Kosmonaut Henryk Belote möchten sofort in die Kulissen kommen. Ihm blieb keine Zeit mehr, eine freundliche Miene einzuüben. Also würde er sich so geben, wie ihm zumute war. Worauf hatte er sich da nur eingelassen. Er drehte den Kopf zu Kristina, die plötzlich losprustete. »Siehst du zerknittert aus, wie dein eigener Urgroßvater.« Sie schlug sich wenig damenhaft auf die Schenkel und lachte. Henryk wollte ärgerlich reagieren, doch da sprang der Funke Fröhlichkeit auf ihn über. Automatisch zogen sich seine Mundwinkel in die Breite. Kristinas Welt war Freundlichkeit und Liebe. Was wollte er mehr. Er nahm das Mädchen in die Arme, strich ihr zärtlich über den Rücken und tätschelte auffordernd ihren Popo.

»Du suchst dir dafür aber eine sehr ungünstige Zeit aus«, sagte sie und lachte. Man musste solche Klapse nur zur richtigen Zeit geben.

Der große Theatersaal war für dieses Match speziell hergerichtet worden. Auf einer erhöhten Fläche vor der Bühne standen der Spieltisch mit zwei großen Namensschildern und die beiden Stühle der Kontrahenten. Die Hälfte der Bühne nahm ein Diagramm mit magnetisch befestigten Figuren ein, auf ihm wurden für die Zuschauer im Saal und die Fernsehübertragung alle Züge demonstriert. Sechshundert Schachfreunde starrten zur Bühne, und für Tausende an den Fernsehgeräten wurde vom Regionalprogramm jeder Zug, von zwei Experten kommentiert, ins Haus geliefert. Applaus empfing die beiden Spieler. Sie gingen zum Tisch. Bei der Nennung seines Namens neigte Brenner selbstbewusst den Kopf, Henryk verbeugte sich unbeholfen. Der Sprecher stellte das Kampfgericht vor und erläuterte die wichtigsten Regeln des Kampfes. Dann trat der Hauptschiedsrichter zu den Kontrahenten und ließ sie die Farbe losen. Henryk zog Weiß. Ein Raunen ging durch den Saal. Das ist gut für mich, drangen Brenners Gedanken zu ihm, mit Weiß hat er immer Schwierigkeiten. Wahrscheinlich wird er wieder ein Gambit-Spiel machen und mit dem Damebauern eröffnen.

Sieh an, dachte Henryk, der Meister hat mich aber genau studiert. Sie gaben sich die Hand und setzten sich.

»Sind Sie bereit?«, fragte der Hauptschiedsrichter. Beide nickten. »Dann eröffne ich hiermit den Schaukampf.« Henryk überlegte nicht lange und zog den Bauern von d2 auf d4. Brenner wusste sofort, wie er antworten würde, doch er ließ sich Zeit. Eine Taktik aller guten Schachspieler, die auch den harmlosesten Zug erst dreimal überprüften. Dann setzte er den Bauern von d7 nach d5. Henryk musste lächeln. Er zog den nächsten Bauern von c2 nach c4 und war gespannt, was Brenner tun würde. Schlug er den Bauern auf c4, dann konnte er die Falle ausbauen. Brenner warf ihm einen kurzen Blick zu und vertiefte sich in die Stellung. Schließlich schlug er Henryks Bauern.

Ohne lange nachzudenken, setzte Henryk seinen Springer auf f3. Wieder sah Brenner kurz zu ihm her, durch den Saal lief ein Gemurmel. Sichere ich jetzt den Bauern c4 ab, oder baue ich meine Position weiter aus? überlegte Brenner. Henryk konzentrierte sich auf seinen Gegenspieler und versuchte dessen Angriffsgedanken zu loben. Brenners Überlegungen endeten damit, dass er der Verlockung nach einer guten Angriffsstellung nicht widerstand und seinen Bauern auf a6 stellte. Bis jetzt lief alles nach Lehrbuch. Henryk zog von e2 nach e3.

Ist das nun eine Kombination oder eine Falle? Ganz deutlich vernahm Henryk Brenners Frage. Diese Eröffnung kommt mir bekannt, vor. Hat Belote die Position schon genau analysiert? Die Gedanken schwirrten durch den Kopf des Großmeisters, er suchte intensiv nach einer Antwort. Doch mit der langjährigen Erfahrung und einer für gutes Schachspiel unerlässlichen scharfen Logik setzte Brenner die Partie mit dem Bauernzug b1 auf b5 fort. Noch hatte Brenner nicht durchschaut, dass es sich um eine Falle handelte.

Henryk ging von a2 auf a4. Nach langer Überlegungspause schob Brenner seinen Läufer von c8 auf b7. Nun konnte Henryk angreifen. Er zog mit dem Bauern von a4 auf b5. Brenner wollte sofort mit dem Gegenschlag a6 auf b5 antworten, doch er zwang sich zur Ruhe. Was hat er vor? fragte sich der Großmeister, und Henryk dachte nur stereotyp den einen Satz: Schlag den Bauern, schlag den Bauern! In Brenners Kopf tauchten verschiedene Varianten auf, wurden geprüft und ebenso schnell verworfen. Henryk hatte einen Moment den Eindruck, ein Computer führe ihm ein Planspiel vor, Schachfiguren bewegten sich, hüpften von einem Feld aufs andere, standen plötzlich wieder auf ihren Ausgangspositionen und schoben sich abermals lautlos über das Schachbrett. Wie viele Möglichkeiten boten sich allein in dieser Stellung, und wie viele Gegenzüge gab es! Langsam ordnete sich das Durcheinander, und Brenner schlug den weißen Bauern auf b5. Die Feindseligkeiten waren nun offiziell eröffnet.

Der Turm war an der Reihe. Henryk musste sich minutenlang konzentrieren. Folgte er Brenners Kombinationen, oder gehörte der Turmzug zu seinem eigenen Schlachtplan? Mit Mühe gelang es ihm, alle fremden Einflüsse zurückzudrängen. Ja, der Turm musste von al auf a8. Diesmal überlegte der Großmeister seinen Gegenzug nicht lange. Der lag auf der Hand: Mit dem Läufer b7 nahm er den weißen Turm.

Und wie ging es nun weiter? Wieder schoben sich Brenners Gedanken, seine Züge und Gegenzüge drängend und deutlich in Henryks Vorstellungen. Dazwischen immer klarer andere Überlegungen: Die Zuschauer im Saal dachten mit, kombinierten, prüften, probierten und entschieden. Ein Labyrinth von Vorschlägen entstand vor seinen Augen. Bauern, Springer, Läufer, Turm und Dame rückten hin und her, zogen kreuz und quer über die Felder oder verschwanden ganz. Seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Nur unter Aufbietung aller Kräfte konnte er sich an den nächsten Zug seiner Falle erinnern: b2 auf b3.

Schlagartig umgab ihn tiefe Ruhe. Sowohl Brenner als auch die sechshundert Leute im Saal registrierten seine Entscheidung. Was dann folgte, war ein Karussell von durcheinanderwirbelnden Figuren und ständig neuen Konstellationen. Brenner schien das alles nicht zu stören, er zog von e7 auf e6 und wartete auf den Gegenzug b3 auf c4. Jawohl, er wartete darauf, Henryk spürte es ganz deutlich. Wie unter Zwang schlug er den schwarzen Bauern. Er Wusste nicht mehr, ob er die Falle richtig ausbaute oder ob er einfach die Schlussfolgerungen seines Gegners in die Tat umsetzte.

Aus dem Saal drang ein bestimmter Gegenzug zu ihm, nahm von ihm Besitz wie eine eingängige, ständig wiederkehrende Melodie. Er verspürte den Druck fast körperlich und konnte sich nicht dagegen wehren. Er sah das Schachbrett in der Tiefe versinken wie ein riesiges Fußballstadion unter einem langsam aufsteigenden Helikopter. Die Figuren wuchsen mit den schwarzweißen Quadraten in die Breite und wurden monumentalhaft groß. Eine riesige Hand senkte sich herab, nahm einen weit entfernten, mächtigen schwarzen Bauern und schob mit ihm die eigene Figur vom Feld c4.

In Henryk kehrte wieder etwas Ruhe ein. So müsste es bleiben. Wie schön wäre es, sich unbeeinflusst von fremden Gedanken zu konzentrieren, in Ruhe zu überlegen und eigene Ideen zu haben.

Aber das Gedankengewirr setzte erneut ein, prasselte in seinem Kopf wie ein Stakkato. Unmöglich, dabei eine durchdachte Entscheidung zu treffen. Erbittert presste er die Hände auf die Ohren, doch es nutzte nichts. All das, was er als amüsant empfunden, was er mit heimlichem Vergnügen belauscht und manchmal sogar gegen seinen Willen erfahren hatte, das wurde nun zum Alptraum. Kategorisch und fragend, deutlich und unklar, überzeugt und zögernd verlangten diese Gedanken von ihm, er solle diesen oder jenen Zug tun. Das alles drang gleichzeitig auf ihn ein, übertönte und verdeckte sich und wurde zu bruchstückhaftem Gestammel, als höre er dieselbe Stimme aus zwanzig, dreißig verschiedenen Mündern ebenso viele verschiedene Meinungen äußern. Ruckartig erhob er sich, streckte den Körper und entfernte sich drei, vier Schritte vom Tisch. Er kehrte zurück, setzte sich und warf einen Blick auf das große Diagramm. Die beiden Kommentatoren in ihren schalldichten Kabinen redeten, wahrscheinlich erläuterten sie den Fernsehzuschauern einige der möglichen Züge des Kosmonauten. Wenn er das selbst nur wüsste. In dem Gewirr der monotonen Stimmen ließ sich die Antwort unmöglich finden. Der wievielte Zug folgte jetzt? Henryk zählte noch einmal, es war der zehnte. Nun kam der Springer an die Reihe, von f3 auf... Er wusste es nicht mehr. Doch es blieben nur zwei Möglichkeiten - nein, eine gute Möglichkeit. Also auf e5. Wenn dann Brenners Antwort c7 auf c5 lautete, lief alles nach Plan. Er setzte schnell.

Diese Ruhe, dieser herrliche, kurze Moment eigenen Willens. Die Stille währte nur Sekunden, dann kamen die fremden Gedanken wieder. Wie ein Schwarm aufgescheuchter Hornissen drangen sie auf ihn ein und umhüllten ihn mit unwirklichem Gesumm. Das war nicht auszuhalten. Er biss die Zähne aufeinander und dachte an Kristina. Wo war sie? Er drehte sich um und musterte die erste Reihe. Dort hinten saß sie. Ihre Gedanken drangen nicht bis zu ihm, doch er sah sie lächeln. Bei ihr brauchte er nicht dieses verdammte Talent; was sie dachte, das wusste er.

Auf c5, nun auf c5, konzentrierte er sich, wünschte und befahl es. Brenner zog auf c5. Jetzt musste er Schach bieten. Die Dame auf a4, mal sehen, wie Brenner reagierte. Endlich ein kraftvoller Zug. Henryk wusste nicht genau, ob er richtig war, doch er verschaffte ihm eine kleine Ruhepause. Sie währte nur Augenblicke. Das Stimmengewirr wurde immer unerträglicher.

Zögernd drehte er sich um und musterte die Menschen. Sie saßen da, stumm und konzentriert, verfolgten die Partie auf dem großen Bühnendiagramm oder vertieften sich in kleine Magnetschachbretter, die sie auf den Knien hielten. Keiner von ihnen bewegte die Lippen, sie schwiegen.

Brenner zog: Henryk bemerkte es an der plötzlichen Stille. Den Läufer von a8 auf c6. Natürlich, sonst würde Brenner verlieren. Das war für Henryk die große Chance, die Vorentscheidung bahnte sich an. Wie eine Riesenwoge schlug die Aufforderung aus dem Saal über ihm zusammen: Mit dem Springer von e5 den Läufer schlagen, mit dem Springer von e5 den Läufer...

Halt, halt. Wenn das nun von Brenner einkalkuliert war und er ihm seinerseits eine Falle stellte. Den Springer auf c6, schlage den Läufer von c6. Moment, was gibt es noch für Möglichkeiten? Also, meine Dame ist gefährdet... Schlage den Läufer, schlage den Läufer. Dieser Gedanke übertönte alles in seinem Kopf. Henryk zog den Springer. Ein Aufatmen ging durch den Saal, er fühlte sich befreit und gleichzeitig bedrückt.

Brenner saß mit undurchdringlichem Gesicht vor ihm, er strahlte Enttäuschung und Ärger aus. Was in anderen Köpfen vorgeht, soll mich nicht interessieren, ich will mich nicht stören lassen, ich bin ich, mein Wille gehört mir, ich denke jetzt - Henryk ballte die Fäuste unter dem Tisch und hämmerte sich immer wieder diese Sätze ein, nur dieser Gedanke sollte in seinem Kopf Platz finden.

Im Saal wurde es unruhig. Die Niedergeschlagenheit seines Kontrahenten, die Erregung der Zuschauer, Freude, Spannung, Enttäuschung und Erleichterung, das alles drang auf ihn ein und wälzte sich auf den letzten Rest eigener Empfindungen. Konnte er überhaupt noch einen eigenen Gedanken fassen? Drang er mit seinen Wünschen und seinem Willen in das Empfinden anderer ein und drängte sie in eine Richtung, die er wollte? Henryk wusste es nicht, sein Verstand sagte ihm nur, er solle sich freuen, die Stellung sei ausgezeichnet.

Brenner setzte die Dame von d8 auf d7. Henryk stützte den Kopf in die Hände und sammelte sich. Jetzt nur.an diese Stellung denken, sich nicht beeinflussen lassen, denke nur an die Stellung! Also, meine Dame von a4 auf a8, das wär gut. Die Dame von a4 auf a8.

Lange saß er so da. Gründlich überlegte er einige Gegenzüge, prüfte ihre Wirksamkeit, versuchte andere Varianten. Ein herrliches Gefühl. Er lauschte verwundert, fast ängstlich in sich hinein; keine fremden Stimmen, keine anderen Meinungen. Langsam begriff er. Ihn erfasste ein Glücksgefühl, wie er es sonst nur in Kristinas Armen verspürte. Nein, das war jetzt etwas ganz anderes. Kristina, saß sie noch dort? Er drehte sich zu ihr um. Sie winkte ihm zu und streckte ihm die Faust entgegen, den Daumen von den Fingern umschlossen. Alles war still und ruhig, fast feierlich. Nur den eigenen Überlegungen zu folgen, selbst zu denken und Entscheidungen zu fällen, das machte Henryk plötzlich unsicher. Er wusste, dass ihm eine Umstellung schwerfallen würde, und doch hoffte er, wieder so zu werden wie der Henryk Belote vor dem Start. Ihm war es gleichgültig, ob die übermäßige Konzentration die telepathische Fähigkeit zerstört oder die Natur im Moment der höchsten Belastung seiner Psyche eine Schutzsperre errichtet hatte. Er wusste nur, dass er diese Stimmen, die fremden Gedanken niemals mehr hören wollte.

Henryk könnte jetzt die Dame auf a8 setzen, dann wäre die Partie entschieden. Er stand auf und sah in den Saal, umfasste mit einem Blick die still verharrenden Zuschauer. Dann wandte er sich an Brenner und bot ihm ein Remis an. Der Großmeister schaute ihn verblüfft an. Henryk ahnte und wusste zugleich, was Brenner dachte. Dafür brauchte er keine Telepatis.

»Ich nehme gern an«, sagte Brenner und fügte dann nach einem leisen Seufzer hinzu: »Aber haben Sie sich die Entscheidung auch gründlich überlegt?«

»Sehr gründlich«, erwiderte Henryk. »Ich würde mich über eine kleine private Partie bei mir zu Hause aber sehr freuen.«

Brenner nickte erfreut. »Sehr gern.«

Der Hauptschiedsrichter kam zögernd zu ihnen.

»Wäre es Ihnen morgen recht?«, fragte Henryk.

»Sehr gern«, sagte Brenner und streckte ihm die Hand hin. Besonders originell ist er ja nicht mit seinen Antworten, dachte Henryk. Und dann musste er schmunzeln.

 

 

 

 

  Meisterschaftsspannung

 

 

Die Kommissionsmitglieder waren mit ihren Luftgleitern so leise herangeschwebt, dass Trainer Ektasch sie erst bemerkte, als das Wispern der Bäume in der angenehm lauen Frühlingsluft von tiefem Schmatzen übertönt wurde. Es kam von den dicken Kabinentüren, die aus ihrer hermetischen Verrieglung ausrasteten und aufschwangen. Ektasch machte Mannschaftskapitän Birtalon ein Zeichen und ging dann dem dicken, schnaufenden Vorsitzenden entgegen. Selbst für globische Verhältnisse war der Mann außergewöhnlich fett und ungelenk. Er mochte gut vier Zentner wiegen, doch schien seine Kraft nur auszureichen, höchstens die Hälfte davon ohne Mühe fortzubewegen. Und so erweckte er gegenüber den anderen gleichfalls ächzenden und alles andere als sportlich wirkenden Kommissionsmitgliedern den Eindruck, als wälze er seine Fettmassen eher gleitend als gehend voran.

»Wie steht’s, Ektasch?«, fragte der Kommissionsvorsitzende keuchend. Er besaß nicht einmal die Energie, ihm die Hand waagerecht entgegenzustrecken; sie zeigte, wie von einem Gewicht gezogen, schräg zum Boden.

»Ich fühle mich gar nicht mehr so gesund wie früher«, erwiderte Ektasch und ergriff die Hand, die wirklich erstaunlich schwer war. Trotz dieser Behauptung fühlte er sich natürlich ausgezeichnet. Er wog nur knapp zweieinhalb Zentner, für seine Größe von einem Meter sechzig ein passables Gewicht. So vermessen war er nicht, sich mit seinen Spielern, diesen Luftikussen von hundertachtzig bis zweihundertzwanzig Pfund, zu vergleichen. Seine Organe funktionierten noch ausgezeichnet, und er war recht gut in Form; nach Möglichkeit absolvierte er die leichteren Übungen immer zusammen mit seinen Schützlingen. »Äußerlich scheint zwar alles in Ordnung zu sein«, fuhr er mit einer Stimme fort, die von scheinbarem Kummer durchdrungen war, »doch eine schlanke Figur ist nicht gleichbedeutend mit körperlichem Wohlergehen.«

»Wie wahr, mein lieber Ektasch, wie wahr.« Der Vorsitzende schnaufte beruhigt, und über sein Gesicht zog der Abglanz eines Lächelns. Er drehte sich zu seinen Kommissionsmitgliedern um. »Man soll sich nie von Äußerlichkeiten blenden lassen, Kompagnons. Merkt euch das.«

Die acht dicken Männer seiner Kommission nickten zustimmend, und Ektasch war mit sich zufrieden. Dicken und tollpatschigen Männern konnte man keinen größeren Gefallen tun, als ihnen Argumente zu liefern, wie krank und gebrechlich auch sportlich-schlanke Männer sein können.

Von den Luftgleitern waren sechs Roboter herangeeilt. Sie bauten Tische auf und stellten dann Stühle hin, in die sich der Vorsitzende und seine Kompagnons wohlig grunzend fallen ließen.

»Wie sind Ihre Dünnlinge in Form?«, erkundigte sich der Vorsitzende gutgelaunt.

Ektasch drehte sich um. Die sechzehn Spieler seiner Mannschaft standen in Reih und Glied vor dem großen Tisch der Kommission. »Ich denke, sehr gut. Alle schnell und geschmeidig, technisch perfekt und gesund.«

»Na, das werden wir ja sehen.« Der Vorsitzende deutete auf den zweitfettesten Mann der Kommission. »Fangen Sie an, Kompagnon Mullesahn.« Während der Angesprochene einen Kasten öffnete, von dessen Deckel ein eingravierter stilisierter Wuchter blinkte, griff er selbst in die Seitentasche seiner Schürze und holte eine glänzende braune Zuckerstange hervor. Er steckte sie in den Mund und lutschte mit entrücktem Gesichtsausdruck an ihr herum.

Mullesahn konzentrierte sich ganz auf seinen Kasten. Unmerklich hatte sich seine Miene verändert, ein Zug von Herrschsucht ließ ihn plötzlich hart und unnahbar erscheinen. Von der Wichtigkeit seiner Person und der Bedeutung seiner Mission überzeugt, entwickelte er eine Spur von Energie, die sich sogar auf seinen wabbligen Wangen zeigte. »Jessek«, rief er, ohne den Kopf zu heben.

»Ja, hier.« Der Flügelmann der Spielerreihe meldete sich. »Vorige Woche standen die einhundert Meter mit neunzehn Komma fünfundsechzig Sekunden zu Buche. Neue Übung.«

Während Jessek zur Rasenbahn ging, sich am Tisch des Roboters meldete und sich auf die Übung vorbereitete, rief Mullesahn den nächsten auf. »Sie haben eine rückläufige Tendenz, Turro«, tadelte er mit lauter Stimme. »Beim Schlangenlauf vor drei Wochen vierundzwanzig Komma fünfundfünfzig Sekunden, dann vierundzwanzig Komma zweiundsechzig und vor einer Woche nur noch fünfundzwanzig Komma dreiunddreißig Sekunden. Das deutet auf ein Formtief hin. Fühlen Sie sich nicht wohl?«

Turro zuckte die Schultern. »Doch. Beim Ballfummling halte ich die Spitzenzeit. Es geht nicht immer gleich gut.«

»Wem sagen Sie das.« Mullesahn lachte glucksend. »Na, wir werden sehen. Es wäre auch äußerst langweilig, wenn jeder jede Woche nur die besten Ergebnisse erzielte. Wo bliebe da der Reiz des Spiels? Sie gehen auf Bahn zwei. Der nächste: Plascha. Schusskraft hundertfünfunddreißig Kilopond, Weite zweiundneunzig Komma Sechsundsechzig Meter. Sie melden sich auf Station vier.«

Der Vorsitzende beobachtete einige Zeit seinen Kompagnon, der voller Eifer einen Spieler nach dem anderen zu den Teststationen schickte. Dann wandte er sich wieder Ektasch zu. »Ihre Spielerreihe steht an dritter Stelle der Tabelle, noch haben Sie Meisterschaftschancen.«

Ektasch kannte die Position seiner Wuchter ganz genau, doch er zeigte sich von dieser Mitteilung angenehm überrascht. »Das ist eine gute Stellung, vielleicht können wir es endlich packen. Am letzten Sonntag sind wir schon bis auf zwei Punkte an die Brüller herangekommen.«

»Ich weiß, ich weiß, aber vergessen Sie die Hüpflinge nicht«, sagte der Vorsitzende leutselig. »Die sind zwar noch an vierter Stelle, aber...« Er schob sich eine neue Zuckerstange in den Mund.

»Sie sagten: noch an vierter. Waren Sie schon bei ihnen? Wollen Sie damit andeuten, die wären besser geworden?« Der Vorsitzende saugte mit Inbrunst. »Meine Lieblingslutschelei«, sagte er versonnen. »Sie stellen aber auch Fragen, Trainer Ektasch. Ich darf Ihnen doch nichts verraten. Hätte die Arbeit unserer Kommission sonst einen Sinn?«

Ektasch nickte. Der Vorsitzende hatte selbstverständlich Recht, trotzdem versuchte der Trainer es immer wieder, ihm einige Informationen zu entlocken. In völliger Ungewissheit

ließ sich die Spannung der sonntäglichen Meisterschaftsvergleiche kaum ertragen.

Der Vorsitzende schnitt ein anderes Thema an. »In den letzten zwei Wochen haben sich neun Mann für die Vorderreihen gemeldet, das war höchste Zeit.«

»Neun - dann bekommen wir diesmal wohl keinen.«

»Nein, es sind schließlich vierzehn Mannschaften. Sie haben doch erst vor einem halben Jahr einen Spieler erhalten, und damals gab es nur sechs Neuzugänge. Wir können Ihnen frühestens aus der nächsten Talente-Gruppe wieder einen zuteilen.«

Ektasch seufzte. »Es wird immer dringlicher. Kollos ist schon zweiunddreißig und mit zweihundertzehn Pfund der Zweitschwerste. Nicht dass seine Gesundheit darunter litte«, fügte er mit einem schnellen Blick auf den dicken Vorsitzenden hinzu, »im Gegenteil, er fühlt sich wohler als früher, und Essen und Trinken schmecken ihm vortrefflich. Aber es lässt sich nicht verheimlichen: Er wird immer langsamer, das bedeutet für uns ständige Minusrisiken.«

»Ja, mit dem Nachwuchs ist das so eine Sache, obwohl Woche für Woche aufgerufen wird, in Spielermannschaften mitzumachen. Früher sollen Männliche und Weibliche in Scharen zum Sport gekommen sein, ohne große Motivation, ohne Talente-Suchkommandos. Nur der Ehre wegen. Es ist kaum zu glauben.«

»Darüber wundere ich mich auch, Herr Vorsitzender. Ich komme nicht dahinter, wo der Haken ist. Man darf einen Heranwachsenden vielleicht nicht gleich in einen Delikatessladen setzen und dort sich selbst überlassen, wenn ich diesen Vergleich wählen darf.« Ektasch überlegte einen Moment, ob er dem Vorsitzenden seine wahre Meinung sagen sollte; heimlich hatte er sich schon oft Gedanken über dieses Problem gemacht. »Vielleicht müsste man neue Gesetze erlassen. Zum Beispiel: Bis zum zwölften Lebensjahr darf nicht geraucht, bis zum dreizehnten Lebensjahr kein Rauschwasser eingenommen werden, erst ab vierzehn erhält man die Lenkungsgenehmigung für Fluggleiter; Lauf, Spiel, Schwimmen müssten zur ständigen Ausbildung gehören und mit Prämien bewertet werden.« Ektasch war in Fahrt gekommen und zählte weiter auf: »Die Heranwachsenden dürften nicht so viel essen, nur das, was auch früher erlaubt war und was ihre Gesundheit nicht schädigt..

»Na, na, na«, brummte der Vorsitzende. »Essen - ich weiß nicht, ob Sie da zu weit gehen.«

»Essen, nein, nicht unbedingt, nur in gewissem Maße... ich meine auch, ohne Wunschunterdrückung...«, stotterte Ektasch. Hilfesuchend drehte er sich zu den anderen Kommissionsmitgliedern herum, doch von dort durchbohrten ihn Blicke mit der Schärfe von Bajonettspitzen. Er sah verlegen zu Boden.

»Sie wollen doch nicht wieder alles abschaffen, was Generationen vor uns erkämpft haben«, sagte ein Kommissionsmitglied drohend. Es war der dünnste und kleinste Mann. Ektasch hatte den Eindruck, dieses Kommissionsmitglied fürchte schon morgen die Verwirklichung seiner Ideen und damit auch Verbot all jener Dinge, die ihn so dick, umfangreich und achtunggebietend wie den Vorsitzenden machen könnten.

Ehe der Trainer erklären konnte, dass er alles ganz anders gemeint habe, kamen die ersten Spieler zurück. Sie hatten inzwischen alle Teststationen absolviert und nahmen wieder Aufstellung vor dem langen Tisch der Kommission. Die Roboter eilten heran, reichten einem Kommissionsmitglied kleine Plastquadrate, die in den Schlitz eines tragbaren Computers geschoben wurden. »Beginnen wir mit der zweiten Serie«, ordnete der Vorsitzende an.

Andere Roboter hatten Torlaufstrecken, Hürden und Trainingsbiomaten aus Weichmaterial aufgestellt. Die Spieler mussten mit und ohne Ball zwischen Stangen und Gassen hindurchlaufen, aus unterschiedlichen Entfernungen auf ein Tor schießen und werfen, allein, zu zweit, mit und ohne Ball die nach einem bestimmten System geordneten Trainingsbiomaten umspielen, sich Bälle zu köpfen und vorgeschriebene Tricks mit dem Ball vorführen. Schließlich nahmen alle sechzehn Spieler Aufstellung, stürmten auf Kommando mit den acht Bällen auf zwölf vor dem Tor aufgestellte Biomaten zu, versuchten, den Ball in dem großen Gehäuse unterzubringen, und wiederholten das Manöver mehrmals. Die Kommissionsmitglieder sahen aufmerksam zu. Ektasch hatte sich ein Stückchen vom Tisch entfernt, um seine Spieler besser beobachten zu können. Es fiel ihm schwer, sich ruhig zu verhalten. Ärgerlich stöhnte er auf, wenn die Biomaten den Angriff stoppten, rieb sich aufgeregt die Hände, wenn dagegen eine Kombination gelang, und sprang vor Freude hoch, als der Ball schließlich ins Tor rollte.

Ein lauter Gong ertönte. Die Spieler liefen zu sechzehn am Spielfeldrand aufgestellten Medikabinen. Schwer atmend setzten sie sich in kleine Sessel, sofort von automatisch heranschwebenden Kabeln, Schläuchen, Bändern, Elektroden und Tastern berührt und umschlungen. Nach zehn Minuten durften sie die Kabinen verlassen. Kollos schnaufte immer hoch heftig, als er mit den anderen Aufstellung nahm. Lange macht der das nicht mehr mit, dachte Ektasch. Ich brauche unbedingt bald einen neuen Spieler.

»Die Überprüfung ist beendet«, begann der Vorsitzende mit tiefer, gurgelnder Stimme. Er erhob sich mühevoll, und die Reihe seiner Kompagnons folgte seinem Beispiel mit unterdrücktem Gestöhne. »Ich kann sagen, dass ich mit dem Gesamteindruck zufrieden bin. So wünsche ich Ihnen, heldenhafte Vorreihenspieler, für den sonntäglichen Meisterschaftsvergleich viel Erfolg. Spaß und Gesundheit!«

»Spaß und Gesundheit!«, schallte es aus sechzehn Kehlen zurück.

Ektasch hing seinen Gedanken nach. Meinte der Vorsitzende seine Worte ehrlich, nahm er ihm seine fast ketzerische Rede vorhin nicht übel? Dann konnte er sich wirklich einige Hoffnungen auf den Sieg in der kommenden Begegnung machen. Oder war es nur die übliche Höflichkeitsfloskel gegenüber allen Mannschaften? Vielleicht aber war der Vorsitzende immer noch freundlich gestimmt durch Ektaschs Worte bei der Begrüßung.

»Also bis zur nächsten Woche«, rief ihm der Vorsitzende zu. Er wälzte sich dem Fluggleiter entgegen. Die Roboter rannten eilfertig mit Kabinen, Tischen und Stühlen zum Fahrzeug. Ektasch winkte dem Vorsitzenden freundlich nach und verbeugte sich devot. Doch der dicke Mann hielt den Kopf tief gesenkt. Es ließ sich nicht erkennen, ob das unter der Last einer auf ihm liegenden riesengroßen Verantwortung oder der auf seinen gewaltigen Körper wirkenden Schwerkraft geschah.

Ektasch wartete, bis sich die Türen mit einem satten Zischen schlossen und der Fluggleiter lautlos davongeschwebt war. Dann wandte er sich den Spielern zu, von denen sich einige vor Erschöpfung auf den Boden gesetzt hatten. »Wie waren eure Ergebnisse diesmal?«, fragte er.

Die Spieler berichteten. Der Trainer machte sich Notizen, fragte nach Details und Zahlen. Im Großen und Ganzen konnte er zufrieden sein, denn es waren bessere Werte als vor einer Woche erzielt worden.

Sie gingen ins Clubhaus, wo er sich mit den Spielern im Bedienungsraum zur Auswertung zusammensetzte. Gemeinsam gingen sie alle taktischen Varianten durch, überlegten, welche Spieler auf welchen Positionen am wirksamsten waren und was es bis zur nächsten Überprüfung zu verändern gab. Dann endlich herrschte Klarheit, wer sein Joker war. Er bestellte das fünfte große Rauschwasser und lächelte vor sich hin. »Ich glaube, wir haben gute Chancen«, sagte er. »Wer hat erst vier Rauschwasser?« Bis auf Kollos meldeten sich alle. Ektasch winkte dem Service-Automaten und bestellte trotzdem noch siebzehn Glas. »Ein Wasser mehr oder weniger macht doch nichts aus, nicht wahr, Spieler Kollos?«

Kollos nickte. »Ich trage mich sowieso mit dem Gedanken, endgültig aufzuhören. Meine Rente reicht mir, und die ständigen Anstrengungen sollen nach letzten medizinischen Forschungen gar nicht so gut für den Körper sein.«

»Aber, aber, Sie sind noch sehr gut in Form«, schmeichelte ihm Ektasch. »Wenigstens als Alternierer bleiben Sie doch bei uns. Nicht wahr, Wuchter, ihr seid alle der Meinung?«

»Ja, Kollos muss bleiben!«, schrien die Spieler.

Kollos drehte sich verschämt zur Seite. »Wann würden Sie denn Ersatz bekommen, Trainer?«

»Der Vorsitzende hat mir keine großen Hoffnungen gemacht. Es dauert mindestens noch ein halbes Jahr.«

Kollos stöhnte. Er stürzte das Rauschwasser, das der Service-Automat vor ihm abgesetzt hatte, mit einem langen Zug hinunter. »Noch eins!«

Ektasch ging noch einmal alle Positionen in Gedanken durch. Wahrscheinlich hatten sie die beste Lösung gefunden. Wenn ihm doch noch eine wirkungsvollere Variante einfallen sollte, dann konnte er sich alles bis zum nächsten Tag überlegen. Erst am folgenden Abend musste er der Spielkommission seine Mannschaftsaufstellung mitteilen.

Er ließ sich ein neues Wasser kommen.

 

Trainer Ektasch konnte das Sonntag-Nachmittags-Programm im Fernsehen kaum erwarten. Er wusste, dass in fast allen Ländern des Globu zweiundachtzig Prozent der Altlinge und sogar einundneunzig Prozent der Heranwachsenden diesen Übertragungen entgegenfieberten. Meisterschaftsspiele interessierten Männliche wie Weibliche gleichermaßen. Nichts war spannender im Fernsehen, nichts überraschender und somit lebensechter als spielerische Wettbewerbe. Da kamen selbst die ausgeklügeltsten Fernsehspiele und die gruseligsten Kriminalstücke nicht mit. Bei Spielersendungen wusste man nie, wer zum Schluss der Sendung als Sieger gekürt werden konnte, hier gab es packende Kämpfe um Spitzenpositionen und um den Abstieg aus der Meisterklasse. Selbst wenn man mit der Spielerei so eng verbunden war wie Ektasch, konnte man beim besten Willen kein Resultat sicher Voraussagen. Ektasch schaute auf das Bild der Buntflimmerscheibe. Gleich musste die Spielersendung beginnen. Als erster Vergleich war das Treffen seiner Wuchter gegen die Dickhäuter angekündigt. Die Dickhäuter lagen zwar an fünfter Stelle, wollten jedoch in diesem Jahr unbedingt einen der vier Medaillenränge Gold, Silber, Bronze oder Kupfer erringen. Man durfte sie also nicht unterschätzen. Für Ektasch und seine Wuchter ging es heute darum, diesen Konkurrenten auf allen Wertungsebenen zu bezwingen. Nur dann blieb die Chance erhalten, in den beiden letzten Meisterschaftsvergleichen auf die Spitzenposition vorzustoßen.

»Ich begrüße Säe sehr herzlich zu unserer heutigen Spielersendung«, sprach der Moderator die Fernsehzuschauer an. »Drei Tage vor dem Meisterschaftsende - und noch ist keine Entscheidung gefallen. Doch am heutigen drittletzten Spieltag sollen die Weichen in Richtung Medaillengewinn oder sogar Titelgewinn gestellt werden. Das wurde von allen Trainern der Spitzenmannschaften versichert. Ein spannender Nachmittag erwartet uns also. Und gleich ein Knaller zum Auftakt: die Wuchter gegen die Dickhäuter. Ich schalte um zur Computerzentrale. Ich rufe unseren Reporter Halli Schuzze. Hallo, Halli Schuzze, bitte melden!«

Ektasch rutschte unruhig in seinem Sessel hin und her. Mechanisch griff er zum Rauschwasser, ließ die halbe Buddel in den Hals gluckern und verschluckte sich vor Aufregung. Nachdem er den Erstickungsanfall glücklich überstanden hatte, schob er sich einige der auf dem ganzen Globu so beliebten Schokokoletten in den Mund. Er hielt es vor Spannung kaum noch aus.

Endlich erschien das Gesicht des bekannten Reporters. Er wiederholte mit anderen Worten, was der erste Sprecher angekündigt hatte, und wies dann mit generöser Handbewegung auf den Hintergrund. Die Kamera schwenkte durchs Studio und blieb auf dem Bild der Wuchtermannschaft stehen. »Das sind die Athleten, die muskulösen, durchtrainierten Dünnlinge, die heute den Widersachern aus der Mannschaft der starken, bulligen und ausdauernden Dickhäuter gegenüberstehen«, erklärte Reporter Schuzze.

Nun erschien das Bild der Dickhäuter. Dann schwenkte die Kamera weiter, und Ektasch wäre vor Spannung fast aus seinem Sessel gerutscht. Die große, unbestechliche, entscheidende und nervenzerrende Leuchtbildwand erschien auf der Buntflimmerscheibe.

»Rufen wir uns die Situation ins Gedächtnis«, sagte Halli Schuzze aufgeregt. Er war immer aufgeregt, wenn er vor Millionen Zuschauern sprach.

Die Tabelle der Meisterklasse leuchtete auf. Die Wuchter lagen nur einen Komplexpunkt hinter den Flinkern, zwei hinter den Brüllern, doch zwei vor den Hüpflingen. Nur in den Wertungen Kondition und Gesundheit strahlten bei den Wuchtern und den Hüpflingen die gleichen Ziffern. Aber die Wuchter lagen wiederum einen taktischen Zähler hinter den Flinkern, während die Brüller bis auf die Reaktionstests in allen Kategorien vorn lagen. Spannend, spannend. Ektasch vergaß fast zu atmen.

»Das also ist der Ausgangspunkt.« Schuzze wies noch einmal auf die Tafel. »Und nun beginnt das Spiel, viel Spaß und Spannung!«

Auf der Tafel erschienen die Namen der Spieler und dahinter die Einzelwerte. Torwart Cobel von den Wuchtern gegen Torwart Hulleruß von den Dickhäutern. Reaktionsergebnisse, Gesundheitswerte, Laufzeiten, Wurfleistungen, Kraftresultate, medizinische Werte - alle diese Daten reihten sich blitzschnell untereinander. Es war eindrucksvoll: der Name Cobel in der traditionellen dunkelbraunen Farbe der Wuchter, demgegenüber das etwas triste Grau der Dickhäuter. Es folgten Spieler und Gegenspieler in spannendem Rhythmus. Die Differenz der einzelnen Werte flammte in leuchtendem Rot auf. Schließlich erschienen in Schwarz die Pluspunkte.

Bis jetzt hatten die Wuchter vier Zähler. Ektasch seufzte leise. Soweit war er sehr zufrieden. Doch die beiden entscheidenden Überprüfungen folgten erst: Durchschlagskraft einschließlich Spielharmonie und dann die taktische Einstellung zuzüglich des Intelligenzquotienten. Hier hoffte er vor allem auf seinen Joker Birtalon, den er extra für diesen Wettkampf geschont hatte. In den anderen Überprüfungen hätte er ihm kaum Pluspunkte gebracht, doch gerade hier war er mit seinem Können, der Routine und Übersicht noch absolute Spitzenklasse.

Eine verwirrende Folge von Ziffern, Werten, Umrechnungsfaktoren und Vergleichsresultaten huschte über den Schirm. Kurze Zwischenbemerkungen des Reporters, Möglichkeiten, die sich andeuteten, nach wenigen Sekunden von neuen Resultaten entweder bestätigt oder verändert wurden, Hochrechnungen, Vorbilanzen und schließlich der große Moment der Endabrechnung. Nun waren alle Werte gespeichert, wurden Zahlen noch einmal gegeneinander aufgewertet, wurde multipliziert, subtrahiert und addiert. Was übrigblieb, war das Endresultat: Wuchter gegen Dickhäuter drei zu zwei.

Ein knapper Sieg nach dramatischem Kampf. Das bedeutete zwei wichtige Komplexpunkte. Doch auch die Wertungszahlen für Kondition, Gesundheit und taktische Einstellung waren bei den Wuchtern höher als bei den Dickhäutern. Ein Erfolg auf der ganzen Linie. »Ein interessanter Vergleich, der die Wuchter ihrem ersehnten Ziel ein Stück näher brachte, nämlich dem Sieg in der Meisterschaft«, resümierte Halli Schuzze. »Aber kommen wir nun zum nächsten Treffen: Mustings gegen Zottels. Hier sieht die Situation.«

Ektasch erhob sich. Er musste die Spannung der letzten halben Stunde erst einmal abschütteln. Das hielt ja kein Zuschauer aus, viel weniger noch ein Trainer. Langsam ging er einige Schritte durchs Zimmer, machte neun Kniebeugen, trabte gut dreißig Sekunden auf der Stelle und warf sich erschöpft auf die Wiege-Couch, die sofort sanft zu schaukeln begann. Die Aussichten für die Wuchter waren wirklich nicht schlecht. An den Flinkem musste man vorbei sein, und auch Spitzenreiter Brüller würde heute ohne Zweifel nicht so viele Punkte gutmachen wie die Wuchter.

Was war, wenn er mit seinen Spielern nun wirklich Meister wurde? Kollos würde die Anforderungen in der nächsten Saison nicht mehr erfüllen können. Auch Hemin, Ghu und Kowali hatten den Zenit ihres Könnens bereits überschritten. Wie sollte er sie ersetzen? Mit der Nachwuchs Werbung klappte es überhaupt nicht mehr. Ektasch spürte ein undefinierbares Unbehagen. Etwas an diesem Körperspiel-System war falsch. Er wusste nur noch nicht, was. Man musste aber unbedingt einen Ausweg aus dieser Situation finden. Vielleicht sollte man es sogar wieder mit dieser uralten primitiven Form versuchen, bei der sich die Spieler in direktem, körpernahem und hartem Wettkampf gegenüberstanden. Nein, das hieße doch, in den Urzustand globischer Entwicklung zurückzufallen, danach zu streben, schneller oder geschickter oder stärker als der andere zu sein. Diese Nerven hatte niemand mehr. Wozu auch, da man doch alles besaß und über solche vollendeten Geräte verfügte, die alles konnten.

Ektasch spürte plötzlich Stiche im Brustkorb, irgendetwas drückte ihm die Luft ab. Er schleppte sich ins Bad, holte eine Tablette aus dem Schrank und schluckte sie hastig. Verdammt, das hatte er nun von seinen Kniebeugen und dem Ehrgeiz, seinen Körper zu trainieren. Bald darauf fühlte er sich leicht und beschwingt. Er setzte sich wieder auf die Wiege-Couch und verfolgte die Fernsehübertragung weiter.

So ein Quatsch, wozu machte er sich überhaupt Gedanken. Es ging doch auch so ganz gut.

 

 

 

 

  Die Mächtige Maus

 

 

Josu Forman drehte sich noch einmal um, bevor er mit seinem Neffen Martin in die Computertaxe stieg. Er betrachtete das große, mit getönten Glasscheiben und farbigen Plastelementen versehene Gebäude, auf dessen Dach in Leuchtschrift Staatliches Zentralarchiv prangte. »Wie oft wollen wir noch herfahren?«, fragte er.

»Am liebsten würde ich mir alle alten Fernsehaufzeichnungen und Filme ansehen«, sagte sein Neffe.

»Das weiß ich. Und was hast du aus ihnen gelernt? Nichts.« Er ließ sich müde in den Sitz fallen. »Eigentlich müsste dir inzwischen klargeworden sein, wie gefährlich Boxen sein kann.«

»Es ist ein harter Sport, das stimmt. Aber gerade das reizt mich.« Martin stieg ebenfalls ein und programmierte den Autopiloten.

Josu, ein älterer Mann mit leicht angegrautem Kraushaar, glänzender brauner Haut, wuchtig und breitknochig, schüttelte den Kopf. Er trug eine moderne sandfarbene Weste, darunter ein kariertes Sporthemd. Mit einem fast zärtlichen Blick musterte er den gutgebauten, etwas hellhäutigeren jungen Mann neben sich.

Der Wagen glitt lautlos davon. »Aber das waren doch Profikämpfe, Onkel Josu. Da ging es ums Geld, Verdienst um jeden Preis, ohne Rücksicht auf Gesundheit oder Leben. Denk mal an die Hunderttausende von Amateurkämpfen, du hast doch die Aufzeichnungen von Weltmeisterschaften, Olympischen Spielen und Länderkämpfen gesehen. Ist da irgendeinmal was passiert? Todesfälle gab es fast ausschließlich bei den Berufsboxern.«

»Ja, eben.« Josu Forman schwieg einen Moment. Seit einiger Zeit fiel es ihm schwer, sofort die richtigen Worte zu finden, obwohl er genau wusste, was er wollte. Doch wenn man älter wird, lässt wohl nicht nur die Kraft der Muskeln nach. »Bei den Amateuren, da hast du recht. Die kämpften auch nur drei Runden, dann gab es diese Schutzsperren bei einem K. o., und die Ringrichter brachen Kämpfe auch viel eher ab - das war etwas anderes. Trotzdem waren manchmal schon zwanzig, dreißig Kämpfe zu viel.«

»Und warum?« Martin blickte störrisch aus dem Fenster. »Ich fühle mich ausgezeichnet in Form und habe Kraft, das hast du selbst gesagt. Und außerdem: Sieh dir die alten Filme an, wer ist denn in dieser Sportart besonders talentiert, wer waren die Besten im Boxen?« Er gab sich die Antwort selbst. »Wir Dunkelhäutigen, auch wenn meine weiße Großmutter das vielleicht etwas abgeschwächt hat.« Er lachte fröhlich und hielt dem Onkel seine nicht allzu  große, doch gut ausgeprägte und kräftige Faust unter die Nase. »Aber es ist von früher her immer noch genug Kämpferblut in mir.«

»Und warum sollen wir uns besonders gut die Köpfe einschlagen lassen können?«, fragte Josu. »Nur weil das in den über zweihundert Jahre alten Filmen so gezeigt wird?« Er schniefte aufgeregt durch die Nase, eine Angewohnheit aus jener Zeit, da er noch selbst im Ring gestanden hatte. »Hat man uns denn früher mit gleichen Chancen antreten lassen? Im Sport brauchte man uns, die Olympiasiege in der Leichtathletik, im Boxen. Und was war mit den vielen bekannten Sängern, Tänzern und Schauspielern, die hätten wohl lieber Boxer werden sollen. Nein, wir durften unser Talent nur auf ganz bestimmten Gebieten zeigen. Meinst du, ein Afroamerikaner ist ein schlechterer Raumfahrer als ein Weißer? Und wann wurde bei uns der erste hochgeschickt?!«

Martin Forman musterte seinen Onkel erstaunt. So kannte er diesen manchmal etwas brummigen, aber grundgutmütigen Bären von einem Mann gar nicht. Und das alles, weil er boxen wollte. Dabei hatte der Onkel selbst einundzwanzigmal im Ring gestanden.

»Ja, guck nicht so«, knurrte Josu Forman. Seine Stimme wurde wieder friedlicher. Er sah aus, als sei er mit sich selbst nicht einverstanden. »Mein Junge, wenn einer den Boxsport liebt, dann ist es Josu Forman. Aber deshalb muss man doch nicht selbst in den Ring steigen. Warum willst du dir deinen hübschen Kopf einschlagen lassen? So etwas hier müsste dir doch eine Warnung sein.« Er tippte mit seinem dicken Zeigefinger auf die Augenbrauen und an die Backenknochen.

Martin kannte die länglichen, bläulich schimmernden Narben und die kleinen Wülste. Er hatte sich daran gewöhnt und empfand solche Zeichen erlittener Wunden sogar ehrenhaft.

»Du kannst deine Kraft doch auch irgendwo anders ausprobieren«, fuhr Josu fort.

»Aber nicht so richtig«, beharrte Martin. »Du hast echte Kämpfe gemacht, das will ich ebenfalls.«

»Bist du stur, Junge. Das hast du wohl auch von deiner weißen Großmutter.« Josus Ärger war verflogen, er verstand seinen Neffen. »Warum diskutieren wir überhaupt. Du kennst die Gesetze, es geht sowieso nicht. Oder wie stellst du dir die Sache vor?«

Martin stellte sich gar nichts vor. Er war zufrieden, dass der Wagen sie ans Ziel gebracht hatte und er einer Antwort enthoben wurde. Schweigend stiegen sie aus, und Josu hielt die Identitätskarte an die Schließautomatik. Die Tür mit den dicken Milchglasscheiben schwang auf und gab den Blick frei auf den Vorraum.

»Ich gehe noch in die Werkstatt«, sagte Josu und verschwand im Durchgang zu den hinteren Räumen.

Martin überlegte einen Moment, ob er seinem Onkel folgen sollte, doch er verspürte keine Lust, an den Biomaten herumzubasteln. Es musste irgendeinen Weg für ihn geben, in einer öffentlichen Veranstaltung zu boxen. Sicherlich war es ein gewundener, versteckter und keineswegs sicherer Weg. Trotzdem, er musste ihn finden.

 

Josu Formans Werkstatt ähnelte einer jener Boxschulen, die es bis Ende des zwanzigsten Jahrhunderts in vielen Hinterhöfen amerikanischer Großstädte gegeben hatte. Jedenfalls stellte Martin sich das so vor, nachdem er sich mit Onkel Josu die meisten der im Archiv vorhandenen alten Filme angesehen hatte. Doch das war nur der erste, äußere Eindruck. Die oft skrupellosen Geschäfte mit der Gesundheit junger, tatendurstiger Männer gehörten einer vergangenen Epoche an.

Trotzdem - jedes Mal, wenn Martin von den Vorführungen im Staatlichen Zentralarchiv hierher zurückgekommen war, fühlte er sich in jene längst überwundene Zeit zurück versetzt: ein niedriger Raum, wenig mehr als viermal so groß wie der Ring, Maisbirne, Plattformbirne, Sandsack, Doppelendball, Punchingball, Gewichte, eine Waage, mehrere Sprungseile - alles wie früher. Nicht diese Sportgeräte, sondern jene fast schrankgroße Anlage mit Schaltern, Knöpfen, Hebeln, Skalen, Messuhren, Leuchtfenstern und Diagrammschreibern, die in der Ecke des Raumes stand und an das Schaltpult einer Computerzentrale erinnerte, schien hier fehl am Platz zu sein.

Martin holte die Kabel vom Schaltschrank und befestigte sie Schwinger II. an den Armen, am Hinterkopf und am Brustkorb. Dieser rosige, wie ein dickes, freundliches Riesenbaby wirkende Biomat war Onkel Josus bisher bestes Werk. »Bist du soweit?«, fragte Josu Forman.

»Gleich.« Martin nahm sich den in der Ringecke liegenden Kopfschutz, zerrte ihn über das volle wellige Haar und die Ohren bis zum Hals hinunter, schob das breite Dehnband unter sein Kinn und schlüpfte in die dicken Trainingshandschuhe. Das Testprogramm stand fest wie ein Gesetz: zuerst gerade Rechte, dann gerade Linke, dann Haken rechts und links, Deckung, Doppeldeckung, Ausfallschritt, Doubletten. Er kannte jede Bewegung im Schlaf. Und nun musste er damit Schwinger prüfen, bis alles richtig saß.

Es war bereits die sechste Trainingsstunde, doch Onkel Josu verbesserte die Feinabstimmung immer wieder. Erst wenn die Grundschule des Boxens fehlerlos einprogrammiert war, begann die Arbeit, die Martin Spaß machte.

Onkel Josu verdiente mit seinen künstlichen Boxern eine Menge Geld, und er bezahlte Martin gut. Nur deshalb erfüllte der Neffe diesen Teil seiner Aufgabe trotz seines Widerwillens gegen solche gleichförmigen, sturen Bewegungen korrekt und mit vollem Einsatz. Die sich später anschließenden variablen Trainingseinheiten und einige Simulationskämpfe entschädigten ihn dafür.

Martin achtete nicht auf die Zeit. Er absolvierte seine Schläge und Schritte mit der Routine eines Fließbandautomaten und dachte dabei an einen richtigen Kampf.

»Schluss«, rief Josu, »ich denke, das reicht.«

Schwinger stellte sich breitbeinig in Ruheposition und ließ die Arme herabfallen.

»Soll ich die Kabel wieder lösen?«, fragte Martin.

»Nein, lass sie noch«, antwortete Josu. »Ich muss die Reflexe etwas nachstimmen.«

Martin kletterte aus dem Ring. Er zog sich den Kopfschutz herunter und streifte die Handschuhe ab. Irgendetwas musste er jetzt tun, um seine innere Unruhe zu bekämpfen. Er ging zu den Geräten hinüber, warf seine Jacke ab und zog sich ein paar Trainingshandschuhe über.

Als er nach dem abgebrochenen Studium an der Landwirtschaftsschule zu seinem Onkel gekommen war und voller Neugier dessen Tätigkeit verfolgt hatte, da war ihm diese Beschäftigung mit den Geschöpfen aus Plast, Drähten, künstlichen Geweben, Biomasse und Elektronikelementen interessanter als die geheimnisvollsten Versuche in mittelalterlichen Alchimistenküchen vorgekommen. Hier konnte er sein technisches Wissen anwenden, und hier schien ihm auch die Möglichkeit gegeben, endlich seine strotzende Kraft einzusetzen.

Was hatte er sich nicht alles von der Landwirtschaft versprochen: Arbeit bei Wind und Wetter, handfestes Zupacken, Schwitzen, den Geruch der Erde. Und dann kamen drei Jahre Studium in Lehrkabinetten und ein Praktikum, bei dem er in geschlossenen, klimatisierten Kabinen über riesigen Feldern schwebte, den Blick auf ein Schaltpult mit Leuchtlinien gerichtet und mit keiner größeren Anstrengung belastet, als in bestimmten Momenten Korrekturtasten zu drücken oder die automatischen Erntemaschinen auf einen neuen Schlag umzudirigieren.

Aber auch bei Onkel Josu wurde die Kraft eines gesunden jungen Mannes kaum noch gebraucht. Martin nahm ein Seil in die Hand und begann zu springen. Nach kurzer Zeit wurde er warm, spürte mit Genugtuung die federnde Leichtigkeit der Beinmuskeln und die ihn elastisch hochdrückenden Fußgelenke. Er legte das Seil beiseite und tänzelte, die Fäuste vor der Brust gewinkelt, zum Sandsack hinüber. Energisch begann er den schwer herabhängenden Körper zu bearbeiten. Zuerst schlug er nur mit halber Kraft zu, einige linke Gerade, rechte und linke Haken und ein paar wuchtige Schwinger. Die Faust dröhnte, und er verspürte Schmerz in den Knöcheln. Die menschliche Hand war wohl doch nicht für solche Schläge konstruiert worden. Aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Er erhöhte die Schlagfolge, stieß zu, als hätte ihn dieser große, runde Gegenstand gereizt. Und je gleichmäßiger der Sandsack von links nach rechts, vor- und zurückschwang, umso wütender wurde Martin. Vor sich sah er einen dieser Biomaten, ohne Regung und Schmerzgefühl, kalt und gleichgültig pendelnd. Diesen Konstruktionen tat keine Rippe weh, ihnen schmerzten die Hände nicht, ihre Gesichter kannten keine blauen Flecke, und nach einem K. o. erhoben sie sich ohne Benommenheit, als ständen sie vom Mittagstisch auf. Was ihre Bewegungen verzögerte oder die elektrischen Kontakte unterbrach, war von Menschen eingebaut. Deshalb musste er nur den richtigen Punkt treffen, kalt, berechnend, computerhaft. Nur so und mit der eigenen Phantasie und Kombinationsgabe konnte er solch einem Gegner beikommen.

Martin variierte die Schläge, schlug dorthin, wo die Leber saß, versuchte die Herzspitze zu treffen, dann zielte er höher, zwei, drei harte Haken gegen das Kinn, ein mächtiger Hieb gegen die Stirn. Drei Minuten mussten vorüber sein. Schwer atmend trat er zurück. Lautes Klatschen drang zu ihm. Das Publikum jubelte, er hatte den Biomaten besiegt. Doch in diesem Moment wurde er sich bewusst, dass er nur trainierte, in einer Werkstatt leblose Geräte bearbeitete. Er drehte sich um und sah Onkel Josu und dahinter eine hübsche junge Frau. Beide spendeten Beifall.

Josu schien ebenso überrascht zu sein wie er. »Was machen Sie denn hier?«, fragte er die Frau.

»Ich besuche Sie«, sagte sie unbefangen. Sie kam näher, reichte ihm die Hand und fuhr fort: »Mein Name ist Rosalie Mandrick, ich bin Mitarbeiterin im Gewerbeamt.«

»Auch das noch.« Josu machte ein abweisendes Gesicht. »Meine Bücher sind korrekt, vor zwei Monaten geprüft.«

»Das ist es nicht, Mister Forman. Sie sind doch Mister Forman, der Chef hier?«

Josu nickte.

»Es handelt sich um eine persönliche Sache. Hätten Sie etwas Zeit für mich?«, fuhr sie fort.

Josu sah zu Martin hinüber und schien keine Lust zu einem Gespräch mit einer Behördenangestellten zu haben.

»Bitte, Mister Forman, Sie würden mir sehr helfen. Es ist für meine Doktorarbeit in Soziologie. Ich würde auch gern zu einem anderen Zeitpunkt wiederkommen.« Sie neigte den Kopf zu Josu und zwinkerte ihm bittend zu.

Es war Josu schon immer schwergefallen, hübschen jungen Frauen etwas abzuschlagen. Und diese Mulattin war verdammt hübsch. »Erzählen Sie, worum es geht!«

»Das ist schnell gesagt: In meiner Arbeit untersuche ich die Gründe, warum immer noch private Werkstätten betrieben werden. Sie hätten es in einem staatlichen Betrieb doch viel besser, kürzere und regelmäßige Arbeitszeit, Urlaub, niedrigere Steuern, umfassendere soziale Leistungen...«

»Und meine Antwort ist ebenso schnell gegeben«, erwiderte Josu, der seinen etwas kümmerlichen Handwerksbetrieb nie genug rühmen konnte. Er lächelte der jungen Frau väterlich zu. »Das hier ist eine Arbeit, die individuelles Können, Einsatz und Engagement verlangt, keine Fließbandarbeit.« Er winkte ab, als die Frau ihn unterbrechen wollte. »Ich weiß, was Sie sagen wollen. Natürlich könnte ich auch in einer staatlichen Werkstatt arbeiten. Aber glauben Sie mir, wenn meine Biomaten besser boxen als die dort oder die in einer anderen Privatwerkstatt hergestellten, rechne ich mir das als persönlichen Erfolg an. Und dann ist man sein eigener Herr. Wenn ich über ein Problem nachdenke oder herumknobele, dann kann das zwei, drei Tage lang jedes Mal zwölf oder fünfzehn Stunden dauern, und es macht mir trotzdem Spaß. Dafür mache ich danach ein oder zwei Tage gar nichts, wenn ich keine Lust habe. Und dass ich außerdem noch recht gut verdiene, trotz Steuern, das werden Sie mir wohl glauben.« Josu wies mit lässiger Geste auf den Schaltschrank, den Ring, die Geräte und auf Martin, der diesem Gespräch fast unbeweglich gelauscht hatte. »Ja, schönes Fräulein Rosalie, das wäre schon alles.«

»Nein, nein«, sagte sie hastig. Sie holte ein kleines Aufnahmegerät aus der Tasche. »Dazu habe ich noch einige spezielle Fragen: Wie sind Sie gerade zu dieser Tätigkeit gekommen, woher hatten Sie das Startkapital, unter welchen Bedingungen würden Sie lieber in einem staatlichen Betrieb arbeiten, sind dies alles Ihre Konstruktionen? Auch dieser Boxer?« Sie trat auf Martin zu, der Mühe hatte, die unbewegte Miene beizubehalten.

»Hm«, brummte Josu. »Sie sind ganz schön neugierig. Aber von mir aus, schließlich können wir Handwerker uns nicht beklagen. Ja, es sind alles meine Konstruktionen.«

»Der sieht aber echt aus, wie ein richtiger Mensch«, sagte die Besucherin zweifelnd.

»Training!«, befahl Josu mit lauter Stimme.

Martin machte das Spiel mit. Er drehte sich ruckartig dem Sandsack zu und führte ein ganzes Repertoire an Schlägen vor, immer darauf bedacht, nicht allzu  locker und menschlich zu wirken. Nach etwa drei Minuten stoppte er.

Die junge Frau hatte jede seiner Bewegungen aufmerksam beobachtet. »Das ist ja toll«, sagte sie. »Er atmet und schwitzt sogar wie ein Mensch.« Sie trat dicht an Martin heran, fasste mit sichtlichem Ehrfurchtsschauer Martins Oberarm, strich sanft über seine Schultern und betastete seine Wange.

Zum Glück hatte sich Martin am Morgen gründlich rasiert, sein Kinn musste glatt sein wie ein Kinderpopo. Die Haut prickelte an jenen Stellen, die ihre Hand berührt hatte, und Martin wurde es ganz seltsam zumute. Aus den Augenwinkeln sah er den großen Blusenausschnitt, der von ihren schokoladenbraunen Brüsten erregend ausgefüllt wurde. Und da sollte er den kühlen, unbeteiligten Biomaten spielen. Er versuchte, die Augen starr auf einen imaginären Punkt in der Ecke des Raumes zu richten, doch unwillkürlich visierten sie immer wieder die junge Frau an.

»Es ist nicht zu fassen«, flüsterte sie aufgeregt. »Ich würde schwören, er ist ein Mensch. Oder verkohlen Sie mich?«

»Er ist auch meine bisher beste Konstruktion«, sagte Josu todernst. Dann dozierte er: »Der Trend geht ja immer mehr zu menschenähnlich aussehenden Biomaten. Denken Sie doch nur an die Mächtige Maus, den Schwarten Stier, den Kleinen Jean und an Schwinger.« Er wies mit der Hand auf den immer noch im Raum stehenden Schwinger II.

Rosalie sah nur kurz zu dem rosigen Riesenbaby hinüber. »Ja, es ist wirklich erstaunlich. Und wie heißt dieser hier?« Sie wandte sich wieder Martin zu.

»Hübscher Martin.«

Rosalie nickte anerkennend. »Das passt gut. Schade, dass er nicht echt ist. Er hat eine gute Figur.«

»Los jetzt, Hübscher Martin«, kommandierte Josu. »Training beenden. Verabschiede dich.«

Martin verbeugte sich zackig und drehte sich Rosalie zu, die ihn aufmerksam aus großen braunen Augen betrachtete. Er reichte ihr die Hand, und in derselben Sekunde schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, so verlockend und verrückt, dass er ihn sofort ausführte. Er winkelte den Arm an, damit die junge Frau noch dichter an ihn herantreten musste, beugte sich ruckartig vor, gab ihr schnell einen Kuss auf den verlockend dargebotenen Busen und stakte mit eiligen Schritten auf die Tür zum Nebenraum zu. Er hörte noch die fassungslose Frage: »Was war denn das?«, dann hatte er die Tür hinter sich zugedrückt. Es war auch höchste Zeit. Er begann glucksend zu lachen, fast wäre er erstickt. Dieser bestürzende Ausdruck und der erschrocken aufgerissene Mund. Es hatte ihn fast übermenschliche Anstrengung gekostet, nicht sofort loszuprusten.

War das ein herrlicher Spaß! Und doch merkte Martin, dass ihn schon jetzt so etwas wie Reue beschlich. Was dachte die junge Frau von ihnen, wie würde er dastehen, wenn er sie wiedersah? Und Wiedersehen wollte er diese Rosalie. Martin gab sich jetzt keine Rechenschaft darüber ab, ob es ihr weicher, geschwungener Mund, die warmen braunen Augen oder ihre erregende Figur war, was ihn so unruhig machte. Er vermeinte noch immer ein zartes Prickeln auf jenen Stellen seines Körpers zu spüren, die ihre zarten, streichelnden Finger berührt hatten. Was sollte er nur machen? In fliegender Hast zog er sich an, dabei fiel ihm ein kleines Oberlippenbärtchen ein, das er einmal zum Scherz mitgebracht hatte. Er fand es in einer Schublade des Garderobenschrankes und klebte es an. Über den Hinterausgang lief er zur Straße und stellte sich vor die Tür. Noch ehe er sich darüber klargeworden war, ob er hier draußen warten oder als nichtsahnender Neffe bei seinem Onkel auftauchen sollte, traten Josu und die junge Frau durch den Ausgang. »Also dann bis zum nächstenmal«, sagte Josu freundlich. »Ja, gern. Ich freue mich schon«, erwiderte Rosalie.

Martin trat heran und räusperte sich. Die junge Frau, die ihm nur einen flüchtigen Seitenblick gegönnt hatte, zuckte plötzlich zusammen. Ihre Augen weiteten sich, und wortlos zeigte sie mit der Hand auf Martin.

»Hm, ja, das ist er, ich habe Ihnen doch gesagt, genau wie Martin, aber nicht echt«, stotterte der Onkel.

»Ich bin Martin. Guten Tag.« Martin drückte fest ihre Hand. Er gab sich Mühe, im Gegensatz zu seiner Rolle als Biomat schlaksig und salopp zu wirken.

»Sie können mich doch nicht für dumm verkaufen«, rief die junge Frau ärgerlich. Ihre Augen blitzten Josu an und machten ihn noch verlegener.

»Sie werden sehen, der Boxer ist nur eine Kopie«, sagte Josu. »Es ist ungewöhnlich und für die Laien vielleicht erschreckend, aber wenn Sie am vierten August zum Trainingskampf kommen, werden Sie es glauben.«

Rosalie drehte sich wortlos um und ging davon.

Mit drei schnellen Schritten hatte Martin sie erreicht und fasste sie vorsichtig am Arm. »Ich weiß ja nicht, worum es geht«, sagte er beschwörend, »aber sicherlich sind Sie über meine Kopie erschrocken. Es ist ein etwas dummer Scherz meines Onkels.«

Rosalie schüttelte seine Hand ab und blieb stehen. »Das kann man wohl sagen.« Sie musterte ihn von oben bis unten und lächelte dann hintergründig. »Natürlich war der Boxer nicht echt, auf jeden Fall waren Sie das nicht. Wenn ich Ihre Figur mit der des Biomaten vergleiche, dann ist das ganz klar. Bei Ihnen kann man ja Männerfeind werden.« Sie ging davon, und sogar von hinten war ihr der Triumph anzusehen.

»Da hat sie es dir aber gegeben.« Onkel Josu grinste. Martin kaute ärgerlich an seiner Unterlippe und verfolgte die Frau mit den Augen, bis sie um die nächste Ecke bog. Sie hatte sich nicht einmal umgesehen.

»Geht das wirklich? Ein Biomat, der nach den Maßen meines Körpers angefertigt wird?«, fragte er Onkel Josu.

»Nichts einfacher als das«, prahlte Josu. Dann warf er Martin einen misstrauischen Blick zu. »Du möchtest doch nicht...«

»Doch.« Martin nickte bestimmt. »Sie will wiederkommen, und sie kommt wieder. Bitte, Onkel Josu, es liegt mir viel daran.«

»Aha«, Josu lächelte gutmütig, »hat es dich plötzlich erwischt.« Er überlegte. »Vielleicht geht es, schließlich ist das ein wichtiger Grund.«

Josu wusste nicht, dass Martin noch einen zweiten und viel gewichtigeren Grund hatte. Doch den konnte er seinem Onkel nicht verraten.

 

»Gleich geht’s los«, sagte Martin Forman aufgeregt.

»Noch ein paar Minuten, es ist gleich neunzehn Uhr«, erwiderte Josu.

In der Halle herrschte die gleiche erwartungsvolle Unruhe wie früher, als starke, mutige, guttrainierte und muskulöse Männer sich erbitterte Ringschlachten lieferten und in den Pausen zwischen blutenden Nasen, Niederschlägen, Beifall und Pfiffen fliegende Händler Limonade, Bonbons, Würstchen anboten. Auch heute entschieden der platzierte Schlag mit der Faust, die Geschicklichkeit, die technische Perfektion, die blitzschnelle Reaktion und die richtig eingeteilte Energie den Kampf, aber es standen sich Biomaten gegenüber. Wer als Zuschauer die Spannung noch steigern wollte, der konnte im Wandelgang seinen Totoschein abgeben. »Und du hast auf Johann den Fünften gesetzt?«, fragte Martin.

»Ja, auf die Mächtige Maus.«

»Die Mächtige Maus, ein interessanter Name.« Martin Forman blätterte in seinem Programm und las die Informationen über diesen Biomaten schon zum drittenmal. »Er boxt Halbschwergewicht, bis fünfundachtzig Kilogramm, genau mein Gewicht. Er ist einen Meter achtundsiebzig groß, fünf Zentimeter kleiner als ich. Und er ist noch nie k. o. gegangen. Bulli hat aber viel mehr Kämpfe gewonnen, ist vor allem im Nahkampf überlegen - ich weiß nicht.«

»Du weißt es wirklich nicht, du kleiner Quatschkopf«, sagte Josu mit gutmütigem Spott. »Ich glaube, langsam wird es bei dir zur fixen Idee. Du weißt genau, dass du nicht boxen darfst. Und außerdem kannst du meinem Urteil vertrauen: Wenn ich sage, die Mächtige Maus gewinnt, dann gewinnt sie auch.«

In der Boggelbay-Arena herrschte eine erwartungsvolle Stimmung. Die Zuschauer fieberten dem ersten Gong mit Spannung entgegen. Es war wie immer seit nunmehr zwanzig Jahren, denn vorher gab es weder Boxkämpfe noch die Bezeichnung Kampfpalast, wie die Boggelbay-Arena von jedermann genannt wurde. Nach über einhundertfünfzigjährigem Verbot war das Boxen, diese harte und so erbittert bekämpfte, aber auch leidenschaftlich verteidigte Sportart, wieder zugelassen worden; unter anderen Vorzeichen zwar, doch wie in alten Zeiten als Kampf mit den lederbewehrten Fäusten. Und jede Boxveranstaltung war seither ausverkauft.

Noch füllte die Stereomusik den vollbesetzten Kampfpalast bis in den höchsten Rang und übertönte alle anderen Geräusche. Die eigenartigen, halbvergessenen, aber seit einiger Zeit wieder in Mode gekommenen Operettenmelodien und Schlager aus dem zwanzigsten Jahrhundert gehörten zum sorgfältig zusammengestellten Programm. Mit diesem Zugeständnis an den nostalgischen Geschmack der Besucher wollten die Veranstalter jenes Fluidum schaffen, von dem alte Erzählungen und Filme berichteten. Und tatsächlich erzeugte dies alles eine unverwechselbare Atmosphäre, der immer noch der Atem des Verbotenen und Gefährlichen anhaftete.

Die Goldene Trompete klang aus. Das erregte Gesumm der Zwanzigtausend verlor sich wie das Geräusch einer davonsausenden Luftkissenbahn. Ein Gongschlag dröhnte durch die Halle. Der Sprecher begrüßte das Publikum und nannte die Kämpfer. In der vorletzten Begegnung trafen Johann V. und Bulli IX. aufeinander. Beifall stieg zur Kuppel auf. Einige Zuschauer riefen: »Mächtige Maus, Mächtige Maus!« Als sich der Lärm gelegt hatte, nannte der Sprecher die beiden letzten Gegner: Henryk III. und Ali VI.

»Ali hat man doch nach dem früheren Weltmeister Muhammad Ali benannt«, sagte Martin.

»Ganz richtig. Nur dass dieser Ali heute etwas anders konstruiert ist.« Josu Forman lachte glucksend.

»Aber stärker ist der heute auch nicht.«

»Nein, dann wär’s ja alles witzlos, dann könnte man doch gleich zwei Bulldozer aufeinanderhetzen.«

Der junge Mann verfolgte aufmerksam jede Bewegung der beiden Kämpfer, die etwas schwerfällig in den Ring kletterten. »Obwohl dieser Ali die sechste Konstruktion ist, der echte Ali wäre ihm bestimmt überlegen«, sagte er. »Wahrscheinlich, denn er war eine Ausnahmeerscheinung.

Und bei diesen Biomaten geht man ja immer vom Leistungsvermögen normaler, guttrainierter Männer aus. Das musstest du doch inzwischen begriffen haben.«

»Natürlich, denkst du, ich bin beschränkt? Schlagstärke, Figur, Reaktionsschnelligkeit, Ausdauer und Energiehaushalt entsprechen menschlichen Werten. Sonst gäbe es keine gleichwertigen Kämpfe.«

»Na, siehst du.« Josu Forman seufzte. »Vielleicht ist man den Biomaten überlegen - vielleicht sage ich -, wenn man ein ganz großer Boxer ist.«

Ein Schrei erschütterte die Halle. »Boschel, Boschel«, brüllten die Zuschauer.

Der kleine

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Günter Teske/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Kai Fischer.
Cover: Kai Fischer/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 24.09.2019
ISBN: 978-3-7487-1621-1

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