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Leseprobe

 

 

 

 

PETER SAXON

 

 

DAS NEUE GESICHT

- 13 SHADOWS, Band 38 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DAS NEUE GESICHT 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

 

Das Buch

Ihr Gesicht war so weiß wie Papier, und die Vorderseite ihres Rollkragenpullovers war von Erbrochenem befleckt. Ihre Hände zitterten, sie ging wie in Trance, mit kleinen zuckenden Schritten.

»Es is' 'n Kopf!« würgte sie hervor. »In der Küche!«

»Ein Kopf?«, wiederholte Georgie stupid.

Sie machte eine wilde Geste, sie drückte ihr Gesicht an Riks Brust, sie hielt ihn zitternd fest. Ihre Stimme war kaum hörbar.

»Er war - im Kühlschrank. In einem Beutel. Oh, Gott, es is' schrecklich - schrecklich!«

Groper und Georgie liefen an ihnen vorbei in die Küche.

Einen Augenblick lang herrschte Stille - eine fast spürbare Stille -, dann kamen sie wieder zurück. Sie stürzten durch den Flur, ihre Gesichter waren so grün wie Sandys Gesicht weiß war.

 

DAS NEUE GESICHT von Peter Saxon ist die Roman-Fassung des Films Die Bestie mit dem Skalpell (GB 1968 – OT: Corruption – Regie: Robert Hartford-David), in den Hauptrollen: Peter Cushing und Sue Lloyd.

Der Roman wurde in Deutschland erstmals im Jahr 1972 als Band 23 der Reihe HORROR EXPERT veröffentlicht.

DAS NEUE GESICHT erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  DAS NEUE GESICHT

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Das schattenlose, strahlende Licht im Operationssaal strahlte von den weiß getünchten Wänden, lag über den weiß gekleideten, maskierten Gestalten, die um den Operationstisch standen, funkelte auf den chirurgischen Instrumenten, die nebeneinander in einer Porzellanschale lagen; der Narkose-Arzt beobachtete ruhig den Patienten. Nur seine Augen bewegten sich, wenn sie auf die schwarzen Zeiger schauten, die über die Skalen neben seinen Fingerspitzen zuckten.

Der weiß bekleidete Patient atmete ruhig, er war in einer Welt absoluter Dunkelheit und spürte nichts von dem, was um ihn herum vorging. Der einzige Laut im OP war das Summen und Knistern des Laserstrahls; sonst war wirkliche Stille, absolute Stille.

In dem weißen Mantel und seiner Maske beugte sich Sir John Rowan über die ruhige Gestalt auf dem Tisch; er arbeitete mit intensiver Konzentration. Seine Finger waren lang, empfindsam, und es gab Leute, die sagten, dass die bloße Berührung jeden Schmerz dämpfen würde. Die Augen hinter der Maske waren wachsam, sie beobachteten scharf; nichts entging ihnen, sie waren genauso klar wie Stunden zuvor, als Sir John das Operationszimmer betreten hatte.

Die Müdigkeit, das leichte Glänzen, als ob ein Film sich vor die Augen gelegt hätte, würden später kommen, dann, wenn die Spannung verflogen war, und der Patient bequem im Krankenzimmer lag.

Nur dann, in der Einsamkeit seines Arbeitszimmers würde sich Sir John entspannen, und er würde versuchen, die Energie wiederzubekommen, die von seinem Gehirn in die Finger geflossen war; die er verbraucht hatte - bis zur Erschöpfung; bis sein Körper nur ein leeres Gehäuse gewesen war.

Einmal richtete er sich einen Augenblick lang auf und drehte sich der Operationsschwester zu. Sie wischte den Schweiß von seiner Stirn, sie sah nichts von dem Gesicht unter seiner Maske, nur die hellen harten Augen. Sie wusste, dass Sir John ein freundlicher Mann war, der zu viel Leid gesehen hatte und der nur dafür lebte, anderen zu helfen; doch jetzt waren seine Augen nicht freundlich. Sie waren ernst, fast unbarmherzig.

Er warf einen Blick auf den Narkose-Arzt, der beruhigend nickte.

Die weiß bekleideten, maskierten Gestalten beobachteten jede Bewegung Sir Johns. Sie bewunderten und beneideten ihn, und einige von ihnen wussten, dass er außerhalb des Hospitals ein warmherzig lächelnder Mann war, der ruhig, fast leise, sprach, und der Kinder liebte.

Unter denen, die ihn beobachteten, war Dr. Steve Harris; auf dem Gesicht unter der antiseptischen Maske lag reinste Bewunderung. Hingabe - das war das Wort, mit dem man die Arbeit Sir Johns am besten beschrieb. Es war für die anderen Ärzte und für die Schwestern nicht leicht, diesen Mann zu verstehen; die Patienten brachten ihm eine ehrfürchtige Scheu entgegen - bis er lächelte, und bis sie wussten, dass sie ihm vertrauen konnten; bis es ihnen klar war, dass er alles tun würde, damit sie keine Schmerzen hatten.

Seine Augen stellten fest, seine Finger berührten zärtlich. Er sagte ein paar beruhigende Worte und verließ dann das weiß getünchte Krankenzimmer; groß, hoch aufgerichtet, ruhig, mit der Schwester plaudernd.

Er war ein Mann, dem nichts entging. Er blieb beim nächsten Patienten stehen, er stellte ihm eine oder zwei Fragen, er sprach mit ihm über die Neuigkeiten des Tages, über ein Rundfunkprogramm, er nahm das Buch hoch, in dem der Patient gelesen hatte und sprach mit ihm darüber.

Manchmal fragte er, ob er sich eine Traube aus der Schüssel auf dem Nachttisch neben dem Bett nehmen dürfe, und der Patient fühlte sich geehrt, als ob man ihn zum Ritter geschlagen hätte.

Steve hatte ihn das alles tun sehen und wusste, dass er in Wirklichkeit einer der größten Chirurgen war, die jemals die Schwelle dieses Hospitals überschritten hatten.

Doch nun beobachtete er ihn mit einer gewissen Sorge. Er wusste, dass Sir John müde war, dass er dringend Ruhe brauchte, obwohl es nicht leicht sein würde, ihn davon zu überzeugen, endlich einmal ein paar Tage Urlaub zu machen...

»Brillant...« Der Student neben Steve hatte es gesagt, es war ein scheues, respektvolles Flüstern gewesen.

Steve fuhr fort, die geschickten Hände zu beobachten. »Brillant ist das einzig richtige Wort«, murmelte er.

Der Student starrte fasziniert auf Sir John. »Fünf ganze Stunden und keine Pause. Wie macht er das?«

Steve Harris flüsterte: »Man braucht die Zähigkeit eines Elefanten und einen Verstand wie ein Computer - man muss ein Genie sein. Dann ist es ganz einfach.«

John Rowan bewegte sich leicht und runzelte die Stirn; es war eine wohlbekannte Tatsache, dass bei seinen Operationen nicht gesprochen werden durfte, höchstens dann, wenn es unumgänglich war und sich auf das bezog, was geschah.

Er richtete sich wieder auf; seine Augen starrten in höchster Konzentration auf den Körper, dann nickte er der Operationsschwester wieder zu.

Ihre Hand hatte sich kurz bewegt und das Summen des Laserstrahls verstummte.

John richtete sich noch höher auf, es war, als ob er eine fast unerträgliche Last von sich werfen wolle. Er spürte, wie die Spannung ihn verließ, denn was jetzt noch übrig blieb, war reine Routinearbeit bei dieser Operation.

Er trat zurück, er nickte wieder, und ein anderer Chirurg nahm seinen Platz ein.

Es war vorbei. Er hatte seine ganze Geschicklichkeit und sein ganzes Wissen gebrauchen müssen; er hatte mit aller Kraft versucht, den Körper vor ihm am Leben zu erhalten - und er wusste, dass es ihm gelungen war.

Die Studenten traten respektvoll zur Seite, als der große, würdevoll aussehende Chirurg den Operationsaal verließ und ins Vorzimmer ging. Auch hier war alles erfüllt von strahlendem Licht, es beleuchtete die Instrumentenkarren mit den gläsernen Gefäßen, es blitzte auf den chirurgischen Instrumenten, es machte die weißen Regale noch weißer. Und auch hier war der Geruch von Äther.

Der junge breitschultrige Arzt ging hinter ihm.

»Wieder ein voller Erfolg«, lächelte Steve ein paar Minuten später, als sie nebeneinander den Flur entlang gingen. Unter den schmalen Brauen leuchteten seine Augen fast fanatisch und sein kurzgeschnittenes, aber immer irgendwie zerzaustes Haar, war immer noch feucht von der Hitze der Lampen im OP. Er ging im Gegensatz zu seinem Begleiter leicht, seine Bewegungen waren lebhaft, während Sir Johns Schritte von großer Müdigkeit zeugten.

John Rowan zuckte mit den Schultern. Er lächelte nicht und in seinen tiefliegenden Augen waren keine Zeichen von Zufriedenheit.

»Das Ungeheuer besänftigt«, sagte er kurz.

Eine Krankenschwester näherte sich ihnen und gab John ein Glas, das eine milchige Flüssigkeit enthielt. Er nahm es und eine Sekunde lang war Dankbarkeit in seinen Augen.

Aber Steve war einen Augenblick lang verstört. »Ungeheuer?«, wiederholte er.

»Der Erfolg ist ein Ungeheuer. Sie werden es schon noch merken.« John lächelte leicht. »Je größer der Erfolg ist, desto größer ist auch die Angst vor einem Misserfolg.«

Er hob das Glas an die Lippen, und Steve sah ihn neugierig an.

»Was trinken Sie denn da?«

»Ein kleines Stärkungsmittel.«

Steve runzelte die Stirn. »Die beste Stärkung für Sie wäre, wenn Sie eine Nacht einmal sehr gut schlafen würden«, erklärte er.

Sir John nickte abwesend. Er öffnete die Lippen, aber er schloss sie wieder, als ob er eine scharfe Antwort hätte geben wollen und es sich dann doch anders überlegt hätte. Und so war es auch.

Er mochte den jungen Arzt und wusste, dass er Recht hatte; er musste etwas gegen seine Nervosität tun. Er war seit einiger Zeit wirklich sehr gereizt.

Kleine Dinge ärgerten ihn; wahrhaft stupide Dinge, zum Beispiel Blumen aus dem Garten, die man in sein Arbeitszimmer gebracht hatte, statt in eine Blumenvase auf den Flur zu stellen. Aber es waren Rosen, seine Lieblingsblumen gewesen, und man hatte ihm nur eine kleine Freude machen wollen.

Die Erinnerung daran störte ihn, aber er durfte an solche Dinge einfach nicht denken, es gab zu viel anderes zu tun. Er strich sich übers Kinn und warf einen Blick auf Steve.

»Ich bin heute Abend zu Hause«, sagte er plötzlich. »Wenn es irgendwelche Komplikationen geben sollte, rufen Sie mich dort an...« Er nickte und ging hinaus. Steve sah ihm nach, dann drehte er sich um und hob das Glas hoch, das Sir John aufs Fensterbrett gestellt hatte.

Er schnüffelte daran, einen Augenblick lang zog er die Augen zusammen, und dann war der Ausdruck auf seinem Gesicht nicht mehr nachdenklich - er war irgendwie irritiert.

 

John Rowan war froh, zu Hause zu sein. Er saß bequem in dem breiten Sessel neben dem Kamin in seinem Arbeitszimmer, das ein Teil des nicht sehr alten Gebäudes war, das ein wenig von der Straße entfernt auf seinem eigenen Grund und Boden stand.

Es war ein langer Tag gewesen, und Körper und Geist spürten die Anstrengung immer noch.

Dieses Gefühl äußerster Erschöpfung, so, als ob die Energie aus ihm herausgeflossen wäre, wurde in der letzten Zeit immer häufiger. Er erwachte morgens so müde als ob er keine Stunde geschlafen hätte, und er wusste ganz genau, dass er viel zu viel arbeitete. Es war Zeit, einmal auszuspannen, Urlaub zu nehmen. Urlaub, das war es, was er brauchte; einfach einen Tapetenwechsel. Nichts mehr sehen und nichts mehr hören. Faul irgendwo am Strand liegen und sich von der Sonne bescheinen lassen.

Vielleicht irgendwohin fahren, wo man gelegentlich auf Lachsfang gehen konnte. Dorthin, wo ihn niemand kannte. Seine Vergnügen waren immer einfach - ein Bier in einem ländlichen Gasthaus, mit den Bauern reden, ein wenig malen -, es war die beste Art sich zu entspannen und zu erholen. Er mochte nichts lieber als eine Fahrt auf einer ruhigen Landstraße, er liebte es, dort zu bleiben, wo es ihm gefiel, zu malen oder zu zeichnen, was seine Augen sahen. Oder irgendwie neben einem still dahinfließenden Bach oder Fluss im Gras zu liegen und hinaufzustarren in den blauen Himmel.

Das war es, was er am liebsten tat. Es war das, was er am liebsten tun würde, denn während der letzten paar Jahre hatte er viel zu wenig Zeit gehabt, um es tun zu können.

Ja, Urlaub...

Er war es sich selbst gegenüber schuldig, vielleicht sogar auch in einer gewissen Weise denen gegenüber, die mit ihm arbeiteten, vielleicht sogar seinen Patienten gegenüber. Ein müder Mensch ist ein nervöser Mensch, Vielleicht konnte Lynn mitfahren; sie hatte in der letzten Zeit sehr viel gearbeitet, und sie waren miteinander sehr glücklich gewesen.

In gewisser Beziehung war ihre Arbeit genauso anstrengend wie die seine, aber sie hatten so viel gemeinsam - sie liebten das Land, sie machten gern lange Spaziergänge durch die Moore und durch die Heide oder durch die Wälder; sie liebten es, sogar im Regen spazieren zu gehen.

Auch einen Besuch irgendwo am Meer -, selbst wenn alles jetzt so kommerzialisiert war - in einem Ort wie Newbay, wo das Wasser stieg und fiel, wo man Ebbe und Flut beobachten und das Meer die Felsen überspülen sehen konnte... Liebste Lynn, dachte er, du hast mich so glücklich gemacht, und ich liebe dich so sehr...

Sie hatte Sonne in sein Leben gebracht, sie hatte es erreicht, dass alle trüben Gedanken aus seinem Kopf verflogen waren - auf die gleiche Weise, wie bei unzähligen anderen Männern auf dem Weg zu ihren Büros in großen gläsernen Gebäuden oder den riesigen Wolkenkratzern, die wie gewaltige Stalagmiten London beherrschten. Wie viele Menschen betrachteten die Plakate an den hölzernen Anschlagwänden entlang den U-Bahntreppen, entlang den Bahnsteigen, wie viele lächelten, wenn sie das süße, glückliche Gesicht von Lynn Nolan sahen?

Klar wie in einem Kristall sah er noch jeden Augenblick jenes ersten Tages ihrer Begegnung vor sich. Er hatte sich ein paar Tage freigenommen und war durch Irland gefahren; er war allein; er fuhr die Westküste entlang, der Wind strich über seine Wangen, er bewunderte die Schönheit der Landschaft, die majestätischen grünen Hügel, die korkenzieherartig gewundenen Straßen, er erlebte die Freude des Seins, das entspannte Fahren, vielleicht, weil er wusste, dass er viele Kilometer weit keinem anderen Fahrzeug begegnen würde.

Er war über eine kleine hölzerne Brücke, dann einen schmalen Weg entlang gefahren, der sich um einen See wand. Das Wasser war so still, so klar, so besänftigend gewesen, er hatte angehalten und sich über den Frieden und die Ruhe der Landschaft gefreut. Dann hatte er sich eine Zigarette angesteckt und übers Wasser geschaut, er hatte auf das Murmeln der leichten Wellen gelauscht, die gegen das Ufer schlugen.

So weit sein Auge sehen konnte, waren Hügel; und irgendwo eine winzige Hütte aus grauen Steinen auf einem Abhang, schwarzer Rauch stieg aus dem niedrigen Schornstein.

Ein Esel hatte fordernd seinen Kopf durch die offene Wagentür gestreckt; er hatte ihm den Rest seines Sandwiches gegeben, und schließlich, fast widerstrebend, weil das gute Futter verschwunden war, war das kleine Tier den Hügel hinaufgelaufen.

Er wollte gerade wieder weiterfahren, als Lynn in einer Kurve der engen Straße auftauchte. Als sie ihn sah, ging sie schneller, ihr schönes Gesicht zeigte irgendwie Erleichterung.

(Dieses wunderschöne, lachende Gesicht mit den blauen Augen und dem warmen roten Mund, den kleinen weißen Zähnen, dem langen Haar!)

Sie lief einfach auf ihn zu, steckte ihr Gesicht ins Fenster - fast so wie der Esel es getan hatte, dachte er amüsiert.

»Ich habe eine Panne«, sagte sie atemlos. »Können Sie mir helfen?«

Natürlich konnte er - und er tat es. Später waren sie zum nächsten Dorf gekommen und dort geblieben und hatten zusammen in dem winzigen Hotel am Ende der Kopfsteinstraße gegessen.

Sie hatte ihm von sich erzählt - von dem Zwang, manchmal vor der harten Arbeit des Modellstehens einfach fliehen zu müssen.

über der staubigen Straße draußen waren die Schatten länger geworden, und sie hatten miteinander gesprochen, als ob sie sich ihr ganzes Leben lang gekannt hätten.

Am nächsten Tag waren sie zusammen zur Galway Bay, dann nach Clifden und von dort aus nach Westport gefahren, und es wurden die schönsten Ferien, die er je erlebt hatte...

Und nun würden sie heiraten.

Sein Kopf sank auf die Brust und seine Augen schlossen sich. Im Licht des Kaminfeuers sah er älter als zweiundvierzig Jahre aus; sein glattrasiertes Gesicht zeigte Müdigkeitsfalten um den Mund und die Augen, die dunklen, zurückgekämmten Haare waren an den Schläfen schon grau.

Manchmal fragte er sich, ob er nicht zu alt für Lynn sei, aber sie hatte ihn immer wieder beruhigt.

Das Buch, in dem er gelesen hatte, fiel ihm aus den Händen und blieb auf dem Teppich liegen. Und der Klang des Aufpralls mischte sich mit dem plötzlichen Klingeln des Telefons auf dem kleinen Kaffeetisch neben ihm. Er erwachte, er blinzelte, dann nahm er den Hörer ab. Seine Stimme war plötzlich brüsk, als er sagte:

»Hier Rowan...«

Die Stimme, die aufklang, war ein wenig heiser, ein wenig amüsiert und zugleich überrascht. »Liebling, was um alles in der Welt machst du dort?«

John richtete sich auf; er versuchte seine Gedanken zu sammeln; er merkte, dass er noch nicht ganz wach war. »Hallo, Lynn, Liebling! Was meinst du... was ich hier mache?«

»Sag' bloß nicht, du hast's vergessen!«

Er blinzelte wieder. »Vergessen - was?«

»Die Party, Darling! Es ist doch Mike Ormes Party...«

»Oh, der Fotograf. Ich hatte es tatsächlich vergessen. Ich...«, er brach ab und zog eine Grimasse.

Als ob sie seinen Unmut fühlte, sagte Lynn: »Ich bestehe darauf, dass du kommst John. Du hast's mir doch versprochen.«

Sie schien ein wenig beleidigt zu sein.

»Und außerdem wird es dir gut tun - hier sind eine ganze Menge hübsche Mädchen, mich eingeschlossen natürlich...« Sie lachte: »Musik und Tanz...«

Er seufzte, er wusste, dass er sie nicht enttäuschen durfte.

 

 

In ihrer kleinen, aber gemütlich ausgestatteten Wohnung legte Lynn Nolan den Hörer auf die Gabel und seufzte. Sie saß auf der Couch, sie hatte die langen schön geformten Beine unter sich gezogen, eine kleine Falte tauchte auf ihrer Stirn auf.

Dann, als ob es ihr plötzlich einfiele, massierte sie die dünnen Linien und griff nach einer silbernen Zigarettendose neben ihrem Ellbogen.

Der gute alte John! - Irgendwie hatte die geahnt, dass er es vergessen würde, der arme Liebling.

Sie nahm eine Filterzigarette aus der Dose und griff nach dem goldenen Feuerzeug - es war ein Geschenk von John zu ihrem letzten Geburtstag -, zündete die Zigarette an und inhalierte tief, sie ließ den grauen Rauch langsam aus ihren Nasenlöchern entweichen.

Sie liebte John. Und sie wusste, dass er sie ebenfalls liebte, aber es gab Zeiten, in denen er sie manchmal irritierte. Wie jetzt zum Beispiel.

Warum hatte er eigentlich so schnell vergessen, dass sie zu Mikes Party gehen wollten! Sie waren doch erst am Abend vorher eingeladen worden.

Aber dann dachte sie mit einem leichten Lächeln, dass es typisch für Mike Orme war. Was Mike betraf, so passierten immer die seltsamsten und unerwarteten Dinge; aber nur, wenn es um Partys oder so etwas ging - niemals bei geschäftlichen Angelegenheiten. Das war eine ganz andere Sache. Er war hier fast ein Pedant. Ein Mann, der alles genau kalkulierte und organisierte - besser als jeder andere, den sie je gekannt hatte. Er war ein Perfektionist...

Und John hatte ein wenig gestöhnt, als sie die Einladung erwähnt hatte. Sie waren gerade mit dem Essen fertig geworden und er genoß eine Zigarre zu einem Kaffee und dem Brandy.

Eine Zigarre war alles, was er sich jetzt erlaubte - immer nach dem Essen.

Er sagte manchmal, es sei etwas, auf das er sich freue, etwas, auf das er warte.

Sie hatte sofort gefühlt, dass er nicht zu dieser Party gehen wollte. Und sie wusste auch, warum - alle die dort waren, würden wieder jünger sein als er, so alt wie sie selbst, vital, immer ein bisschen aufgedreht, Leute, die im Grunde genommen nicht zu ihm passten.

Er war einfach anders. Lag es nur an seinem Alter? Bedeuteten zweiundvierzig Lebensjahre, dass man anders sein musste?

Aber er war Mike und all den anderen noch nie begegnet, und sie wünschte, dass er sie kennenlernen sollte. Es gab mehr als einen Grund dafür.

Sie war stolz auf ihn. Er war so clever, so distinguiert, und obgleich sie genau wusste, dass es eine ganze Menge Leute gab, die behaupteten, sie sei nur an ihm interessiert, weil er ein berühmter Mann sei und einen Titel trage - nein, das war nicht wahr.

Oder vielleicht doch?

Nein, natürlich nicht. Sie liebte ihn um seinetwillen, und sie war ganz sicher, dass er die Party nicht so etwas tat er nicht; er musste immer nur an so viel andere Dinge denken. Und er dachte über die Dinge nach, während sie leichter über sie hinwegging.

Er hatte es ganz einfach vergessen, und sie wusste auch warum. Ihre wunderschönen Augen schienen sich zu umwölken.

Er musste schwer arbeiten - viel zu schwer. Sie hatte gemerkt, wie unglaublich müde er neulich ausgesehen hatte, als sie aus einem der Westend-Theater gekommen waren. Sie war sicher, dass er auf dem Platz neben ihr eingedöst gewesen war.

Sie musste versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass er Urlaub brauchte, und sie würde mit ihm fahren. Irgendwohin, wo es warm war. Es war ein langer, kalter Winter gewesen.

Und für sie würde es leicht sein, der Stadt endlich wieder einmal den Rücken zu kehren.

Mike brauchte sie für zwei weitere große Aufträge und dann, so hatte er ihr in seiner gelangweilten, lässigen Art gesagt, dann könnte sie sich für zehn Tage zum Teufel scheren. Zehn ganze Tage! Es war einfach nicht zu fassen.

Sie hoffte nur, John könnte es machen. Im Grunde genommen konnte es doch kein allzu großes Problem sein; schließlich war er ein bedeutender Mann, und bedeutende Leute konnten es managen, das zu tun, was sie wirklich tun wollten. Und ihm würde es verdammt gut tun. Er brauchte es so dringend.

Er hatte natürlich nichts zu ihr gesagt, aber sie ahnte, dass er den Stress zu fühlen begann. Es war ja schließlich nicht nur die Arbeit im Hospital, die er gerade verrichten musste - es gab in seinem Beruf noch so viele andere Dinge zu bedenken und zu tun.

Nun, wenn sie verheiratet waren, dann konnte sie darauf bestehen, dass er alles ein wenig leichter nahm. Und sie selbst wollte alles versuchen, um nicht zu viele Aufträge übernehmen zu müssen - sie wollte zu Hause bleiben und ihn umsorgen.

Wenn er wollte, dass sie ihre Freunde nicht mehr wiedersah, nun gut, es machte nichts. Aber diesmal sollte er hinkommen. Schließlich war es die natürlichste Sache, dass sie ein bisschen mit ihm ausgehen wollte.

Er war so hübsch, er sah so würdevoll aus. Alles an ihm war attraktiv: seine Augen, seine Figur, seine ganze Persönlichkeit, seine tiefe, klare Stimme.

Sie nahm einen Zug aus der Zigarette und blies die Wolken zur Decke, dann goss sie sich einen trockenen Martini ein, und während sie trank, schaute sie auf die Uhr.

Lieber Himmel, war es denn schon wieder so spät? Die Zeit flog nur so dahin!

Armer John; es musste nicht leicht für ihn sein, sich fertigzumachen und sich auf die Party einzustellen, besonders dann, wenn er vielleicht gerade das Krankenhaus verlassen hatte.

Ihre Augen wurden weich. Sie wollte es ihm danken, wenn sie sich trafen...

Sie stellte das Glas auf den Tisch, als sie das Signal des Wagens hörte und lief zum Fenster. Es war John.

Sie winkte, und er winkte zurück; sie war erleichtert, als sie sah, dass er lächelte.

Niemand von beiden wusste, dass es lange, sehr lange dauern würde, bis er so wieder einmal lächeln konnte.

  Zweites Kapitel

 

 

Das Studio war groß, voller Menschen, erfüllt von lärmender Beatmusik, die von den Wänden zurückprallte und ohrenbetäubend gegen die Trommelfelle hämmerte.

In der Luft lag das schwere Aroma von Zigarren, Zigaretten, von billigem und teurem Parfüm. Die Aschenbecher quollen von Zigarettenkippen über sie lagen auf dem Teppich und versengten ihn, und der scharfe Gestank brennender Wolle mischte sich mit dem Geruch, der aufdringlich alles überflutete.

Irgendwo wurde schrill gelacht. Bestrumpfte

und nackte Beine waren unter Miniröcken und mikroskopisch kleinen Kleidern.

Flaschen mit vielversprechenden Etiketts standen auf der Bar, Gläser glitzerten und funkelten, Glasscherben auf dem Boden wurden zertreten.

Niemand kümmerte sich darum. Niemand kümmerte sich jemals darum, was auf einer von Mike Ormes Party geschah.

Mike, der gewandte und erfahrene Gastgeber, ging von Gruppe zu Gruppe, drängte sich gutmütig an den Tänzern vorbei, er lachte, wenn die anderen lachten, er wechselte ein paar Worte da, ein paar Worte dort, er sprach länger mit den Gästen, die wichtig für ihn waren.

Mike war jung, er sah gut aus und war talentiert; solange er zurückdenken konnte, hatte er immer eine Kamera in der Hand gehabt. Er war ein Künstler; seine Bilder schienen zu leben, fast zu atmen.

Sie warben für die Produkte, für die er fotografierte. Er verdiente sehr viel Geld. Er fotografierte nicht einfach, er dachte lange nach und gestaltete; er plante, er experimentierte.

Manchmal konnte es tagelang dauern, bis ex eine Bildserie fertig hatte; er besaß absolut kein Zeitgefühl. Doch dann, wenn die Bilder vor ihm lagen, wenn er endlich zufrieden war, dann warf er sich auf die Couch, rauchte eine letzte Zigarette und starrte gegen die Decke. Müde, aber dennoch zufrieden.

Er wanderte weiter, dann blieb er einen Augenblick lang stehen um ein Mädchen zu betrachten, das in der Nähe tanzte. Ihr hübsches Gesicht war mit gemalten Herzen und vielfarbigen Diamanten geschmückt, es war der letzte Modeschrei des Jet-Set.

Aber sie konnte tanzen; ihr Körper zuckte und krümmte und drehte sich in dem wilden Rhythmus Eingeborener, und die jungen Männer standen um sie herum und riefen ihr zu und klatschten in die Hände.

Und Kate war auch hier - obgleich er sich nicht daran erinnern konnte, sie eingeladen zu haben. Aber niemand hielt es für notwendig, Kate einzuladen. Sie roch eine Party im Umkreis von zehn Meilen und ließ sie nicht aus. Im Augenblick war sie offensichtlich high, sie lachte hysterisch über irgendetwas hinter ihm.

Er drehte sich um und sah Clare, eines seiner Modelle, eine hinreißende, rothaarige Schönheit, die sich zwischen den Gästen hin und her bewegte. Sie trug ein farbenprächtiges Kleid in einem Stil, der in die sogenannte Zukunft wies, und dazu ein großes Hundehalsband und eine Leine.

Oh, Gott, dachte er, nicht schon wieder, Schätzchen!

Er wusste, was sie vorhatte. Der junge schlanke Mann trug ein schwarzes seidenes Hemd über engen weißen Hosen und unterhielt sich mit einigen Freunden.

Die Rothaarige schwankte zu ihm hin und streckte die Hand aus, um das Seidenhemd von seinem Rücken herunterzureißen. Sie brüllte vor Lachen wie die anderen, die in der Nähe standen, denn sie kannten Clare und wussten, was nun geschehen würde...

Jemand stellte das Hi-Fi-Gerät auf höchste Lautstärke. Die Rhythmen waren wild, pulsierend, das

Tanzen wurde erotischer und erregender, sinnlicher. Die Drinks flössen schneller und die Galerie über dem Eingang war voller Menschen.

Darunter waren die lachenden Gäste durch die geöffnete Tür auf die Straße hinausgewandert. Dort standen sie, Drinks in den

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Wilfried McNeilly/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Ernst Heyda und Christian Dörge (OT: Corruption).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 30.08.2019
ISBN: 978-3-7487-1420-0

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