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Leseprobe

 

 

 

 

G. J. ARNAUD

 

 

DER SCHWARZE TOD

- 13 SHADOWS, Band 37 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER SCHWARZE TOD 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

 

Das Buch

Überall liegen tote Ratten. An ihren Schnauzen klebt vertrocknetes Blut. Vermummte Gestalten ziehen einen Leichenkarren durch das Dorf. Bleiche Frauen in kostbaren Gewändern bitten die Bauern um Nahrung. Keiner hat sie je gesehen. Sie sprechen von Pest und Hungersnot und zahlen mit Münzen aus einer längst vergangenen Zeit. Da erkrankt der Schmied. Eiterbeulen bedecken seinen Körper. Der Medizinstudent Simon wird zu ihm gerufen. Aber dem Kranken ist nicht mehr zu helfen. Der Schmied hat die Pest...

 

DER SCHWARZE TOD von Georges Jean Arnaud wurde in Deutschland erstmals im November 1973 als Band 41 der Reihe VAMPIR-HORROR-ROMAN veröffentlicht.

DER SCHWARZE TOD erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  DER SCHWARZE TOD

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Überall liegen tote Ratten. An ihren Schnauzen klebt vertrocknetes Blut. Vermummte Gestalten ziehen einen Leichenkarren durch das Dorf. Bleiche Frauen in kostbaren Gewändern bitten die Bauern um Nahrung. Keiner hat sie je gesehen. Sie sprechen von Pest und Hungersnot und zahlen mit Münzen aus einer längst vergangenen Zeit. Da erkrankt der Schmied. Eiterbeulen bedecken seinen Körper. Der Medizinstudent Simon wird zu ihm gerufen. Aber dem Kranken ist nicht mehr zu helfen. Der Schmied hat die Pest...

 

Der Winter, der bereits seit einigen Wochen die Pyrenäen fest in seinem eisigen Griff hält, hat nun endgültig auch meinen alten Ort Burach erreicht. Heute Morgen, als ich aus dem Fenster sah, entdeckte ich fünfzehn Zentimeter Schnee im Hof des Hauses.

Ich ziehe warme Kleidung an und steige hinunter in die Küche, wo Collin eben darangeht, das Feuer im Kamin zu entzünden. Er hat sich nie an die Zentralheizung gewöhnen können, so wenig wie an viele andere Dinge. Und wenn er an meiner Seite den Jeep besteigt, hört er nicht auf, während der ganzen Fahrt zu beten. Man könnte annehmen, dass er sich in den dreißig Jahren an all das Teufelswerk, wie er es nennt, hätte gewöhnen können. Aber als er in mein Leben trat, war er bereits zu sehr geprägt von seiner mittelalterlichen Kindheit.

Während ich mir auf dem Gaskocher einen Kaffee bereite, wärmt er einen Rest Kohlsuppe von gestern auf dem Holzfeuer.

»Hast du den Schnee gesehen? Das wird jetzt eine Weile so weitergehen!«

»Ja, Herr. Weihnachten wird so weiß sein wie der Mantel der Jungfrau Maria.«

Jetzt fällt es mir kaum mehr auf, aber wenn wir in den Nachbarort oder in die Stadt fahren, so erregt Collin stets die allgemeine Aufmerksamkeit. Hauptsächlich wegen seiner Größe. Mit seinen ein Meter zwanzig ist Collin ein Zwerg.

Ein Zwerg, dessen Wortschatz aus dem Mittelalter stammt, der sich so ausdrückt wie vor sechshundert Jahren. Und es ist noch gar nicht so lange her, dass er sich dazu überwunden hat, moderne Kleidung anzuziehen. Vor einigen Jahren noch sah er genauso aus wie das, was er tatsächlich ist: ein Entlaufener aus dem Hochmittelalter. Aber er ist ein braver Junge, und ich habe ihn sehr gern. Halb Freund, halb Diener ist er mir unentbehrlich geworden.

Ich esse mein Butterbrot zum Kaffee, und er gießt sich einen Teller Suppe ein. Inmitten des Gemüses steckt eine große Scheibe Speck, und seine Augen glänzen voller Vorfreude. Collin ist ein starker Esser, und wenn er sich nicht zurückhält, wird er bald so breit wie hoch sein.

»Wir werden den Hof und den Weg bis zur Straße kehren«, erklärte ich, nachdem ich mit dem Frühstück fertig bin.

»Bei dieser Kälte wird niemand bis zu uns herkommen.«

»Gewiss, aber man weiß nie. Außerdem tut uns die Bewegung in frischer Luft gut. Wir müssen auch ein Kaninchen schlachten und es zubereiten.«

»Und Brot muss ich backen. Wir haben nur mehr einen Laib im Kasten.« Er beendet sein Frühstück. »Ich werde jetzt den Backofen heizen.«

Er wickelt sich in sein großes Schaffell, das ich ihm gekauft habe, und verlässt die Küche.

Die alte Bäckerei befindet sich am anderen Ende des Ortes. Ein Teil des Hauses ist in den vergangenen dreißig Jahren eingestürzt, aber der Backofen ist intakt geblieben. Ich hätte das Brot auch aus der Nachbarortschaft bringen können, aber Collin findet es scheußlich und zieht es vor, sein eigenes zu backen.

Also gehe ich ganz allein daran, den Schnee wegzukehren. Es wird immer kälter, aber es schneit trotzdem weiter. Ich arbeite mehrere Stunden lang, um die alte Straße zu erreichen, deren Asphaltbelag aus kaum mehr als seltenen Erinnerungsstückchen besteht, da und dort verstreut, zernagt vom Zahn der Zeit.

Dann gehe ich zu Collin in die alte Bäckerei. Er knetet den Teig. Ich helfe ihm bei der Zubereitung der Laibe, und gemeinsam schieben wir sie in den Ofen. Hin und wieder machen wir eine Pause, um einen Schluck Wein aus der Ziegenhautflasche zu trinken. Dann zünde ich mir eine Zigarette an. Collin hat das Rauchen versucht, aber es unter dem bedrückenden Gefühl, einen Akt der Zauberei zu begehen, wieder aufgegeben.

Seit dreißig Jahren ist er davon überzeugt, in einer magischen Welt zu leben und unter einem Zauber zu stehen. Er hofft immer noch, sich ihm entziehen zu können und die Seinen wiederzufinden, seinen mittelalterlichen Ort, das Leben, das er in diesen fünfzehn Jahren gelebt hat. Dieses geduldige Warten geht mir hin und wieder ein wenig auf die Nerven. Und darüber hinaus möchte auch ich selbst diesen Riss in der Zeit wiederfinden, durch den sich Collin unvorsichtigerweise eines schönen Winterabends mit all den anderen gedrängt hat.

Einigen ist es gelungen, die Passage wiederzufinden. Sie sind aus meinem Leben verschwunden und haben Ninon mit sich gezogen, meine süße Ninon, die einzige Frau, die ich je geliebt habe und die ich immer noch liebe, jetzt, nach dreißig Jahren.

Während das Brot im Ofen einen guten Duft verströmt, denke ich an das Dorf, wie es vor dreißig Jahren war. Niemand konnte damals ahnen, dass es nach kurzer Zeit schon völlig verlassen sein würde. Man schrieb 1943, und unter der Besatzung hatte jeder andere Sorgen im Kopf, als sich wegen der vierzig Einwohner von Burach zu beunruhigen. Außerdem war der Ort immer schon sehr isoliert gewesen, teils durch seine Abgelegenheit, teils durch die Ungeselligkeit seiner Einwohner. 1943 gab es nicht mehr viele Transportmöglichkeiten, und nur einzelne Gaswagen waren auf den großen Straßen zu sehen. Es gab lediglich Fahrräder und Viehwagen, von Pferden oder Mulis gezogen, und einige Esel. Aber das Dorf lebte trotzdem glücklich dahin, unbeeinflusst von den tragischen Geschehnissen des Zweiten Weltkrieges. Man hatte ein wenig Geflügelzucht, Schweine und Schafe, Kühe und einige Kornfelder, Gemüse, Weinstöcke und Holz. Damit hatte man das Lebensnotwendige hier, trotz der Rationierung.

In dem Dorf wohnte meine Tante, die nur zu glücklich war, mich eine Zeitlang bei sich zu haben, denn sie war sehr einsam gewesen. Ich kam von Paris, wo meine Eltern zurückgeblieben waren. Ich arbeitete auf den Feldern, an den Weinstöcken, ich hütete Schafe und Ziegen und schnitt Holz.

Collin reicht mir die Ziegenhautflasche, und ich trinke hastig. Es ist heiß in dem alten Backhaus, und abgesehen davon, ich kann es ruhig zugeben, trinke ich jetzt ziemlich viel. Collin übrigens auch. Abends passiert es uns manchmal, dass wir zu betrunken sind, um zu reden oder auch nur in unsere Zimmer zurückzufinden. Dann schlafen wir in der Küche.

»Es ist fertig.«

Er blickte durch das kleine Guckloch in das Innere des Ofens und kratzt sich den feisten Brustkorb.

»Ich öffne, Herr.«

Im selben Augenblick verbreitet sich ein wunderbarer Duft goldbraun gebackenen Brotes in der Backstube. Wir beginnen die heißen Laibe aus dem Ofen zu ziehen und legen sie auf die ausgebreitete Sackleinwand. Damit sind wir wieder für eine Woche versorgt, denn wir essen viel Brot, besonders Collin, für den es den Hauptbestandteil seiner Nahrung ausmacht.

Wir nehmen nur zwei Laibe mit und lassen die anderen in der Backstube. Es gibt keine Diebe in Burach. Ich und Collin sind die einzigen Einwohner. Ich brauchte nicht einmal die anderen Häuser aufzukaufen, denn es gab niemanden, der sich dafür interessiert hätte. Ich besitze sie alle, und das Land dazu.

Collin geht unsicher im Schnee. Er hat sich niemals an seine Nagelschuhe gewöhnen können, und zieht immer noch die Holzschuhe vor. Aber es wird zunehmend schwieriger, sie in dieser Gegend aufzutreiben, und die, die er momentan trägt, sind schon ziemlich schäbig.

Wir tragen den Duft hinein in unsere Küche. Ich gehe hinten wieder hinaus, um die Heizung zu kontrollieren, die in einem ehemaligen Stall untergebracht ist. Sie wird von einem großen Öltank gespeist, der nur einmal im Jahr nachgefüllt werden muss. Leider gibt es in Burach keinen elektrischen Strom mehr. Es kam zu teuer, die Leitung aufrechtzuerhalten, und da ich nicht mehr zahlen kann, ließ man sie einfach verfallen, ohne sie zu reparieren. Ich musste Gasbeleuchtung installieren in den Räumen, in denen wir uns am meisten aufhalten.

Auf dem Rückweg hole ich ein Kaninchen aus dem Stall. Collin wird es schlachten und zubereiten, »mit allerlei Spezereien«, wie er sagt. Der Zwerg ist begeistert von den vielen Gewürzen, über die er verfügen kann. Zu seiner Zeit war man knausrig mit Pfeffer, Zimt, Muskat und Nelken. Sie waren den reichen Bürgern und den Herrschaften vorbehalten.

Trotz des Windes schneit es weiter. Die Arbeit von heute Früh war wohl umsonst. In wenigen Minuten wird man keine Spur mehr davon sehen.

Collin bringt das abgehäutete und ausgenommene Kaninchen vom Spülstein und schneidet es in Stücke. Dann holt er die große Tonterrine hervor und legt die Fleischstücke hinein.

Ich sitze am großen Tisch und sehe ihm zu. Ich fühle mich behaglich. Nach dreißig Jahren des Wartens beginnt das Leben für mich endlich ein wenig süßer zu werden, denn ich flüchte mich in die Freuden des guten Essens, des Weines, des Tabaks. So versuche ich dem großen Kummer zu entfliehen, der mich immer noch verzehrt.

Aber manchmal, des Nachts, wenn ich nicht zu viel getrunken habe, öffne ich das Fenster meines Zimmers, um in die Stille des verlassenen Dorfes zu lauschen. Denn alles begann eines Nachts.

»Gib Knoblauch und Zwiebel hinein, und vergiss nicht auf das Tomatenmark und ein wenig Weißwein!«

»Jawohl, Herr. Ihr werdet Euch die Finger lecken!«

Collin hat seine kleinen Angewohnheiten. Er holt den Topf mit dem ranzigen Schweinefett, um das Kaninchen damit zu bestreichen. Das hebt den Geschmack.

Collin versteht etwas vom Kochen. Er war Küchenjunge in der Herberge seines Dorfes, einer großen Herberge, in der die Wanderer, die unterwegs nach Compostela waren, haltmachten. Von dieser Herberge hat übrigens alles seinen Ausgang genommen, das Böse, das mein und Collins Leben so erschüttert hat.

»Wenn der Schneesturm vorbei ist, müssen wir nach unseren Schlingen sehen.«

»Bei dieser Witterung kommen die Krammetsvögel bis an die Häuser«, sagt der Zwerg. »Daran sollten wir auch denken.«

Er fertigt die Fallen, um sie zu fangen, und wenn wir zu viele davon haben, verkaufe ich sie in der Stadt. So kommt ein wenig Bargeld ins Haus. Manchmal verkaufe ich auch Schafe oder Holz. Jetzt sind die Schafe im Stall, wohin wir jeden Nachmittag gehen, um sie zu füttern. Wir haben viel Arbeit, Collin und ich, und wir langweilen uns nur selten. Ich bin froh, dass er, nachdem sich der Riss in der Zeit wieder geschlossen hatte, bei mir geblieben ist. Er selbst ist sicherlich nicht so glücklich darüber. Und ich frage mich, ob er sich jemals an dieses Exil gewöhnen wird, an diese Epoche, die nicht die seine ist.

Lange Zeit haben mich die Gendarmen seinetwegen bedrängt. Sie wollten wissen, woher er kam, wer er war, ja, sie haben sogar seine Fingerabdrücke und seine Personenbeschreibung kreuz und quer durch die Welt geschickt. Aber ich kann ihnen doch nicht die Wahrheit sagen! Ich riskiere, für den Rest meines Lebens in eine Irrenanstalt gebracht zu werden. Als die Gendarmen mich in Ruhe ließen, kamen die Verwaltungsbehörden. Man warf mir vor, ihn nicht bei der Sozialversicherung angemeldet zu haben, und es war schwer, den Leuten klarzumachen, dass er nicht mein Angestellter ist. Von Zeit zu Zeit kommen sie wieder, vor allem im Frühling, wenn das schöne Wetter zu Spaziergängen verlockt.

Der Duft des Kaninchens, das bald gar ist, steigt mir in die Nase. Ich stelle zwei Gläser auf den Tisch und fülle sie mit einem guten, alten Wein.

»Trink einen Schluck, Collin!«

Er wischt sich mit dem Ärmel über den Mund und kommt zum Tisch. Er setzt das Glas an die Lippen und trinkt mit geschlossenen Augen.

»Schmeckt gut, nicht wahr?«

»Ein paar Fässer davon im Keller wären gar nicht schlecht.«

Er geht an die Arbeit zurück.

Ich verlasse den Raum und sehe nach den Hühnern. Ich streue ihnen Futter und bereite das Schweinefutter. Von den vier Schweinen haben wir heuer bereits zwei geschlachtet. Der Keller ist voll mit Schinken, Würsten, Pasteten und eingemachtem Fleisch. Das genügt bei weitem für den Winter. Vielleicht kann ich im Frühling einige der Schinken verkaufen; die Käufer reißen sie mir jedes Mal aus den Händen. Collin versteht sein Geschäft!

Ich komme zurück, die Arme beladen mit Holzscheiten. Collin deckt eben den Tisch, so wie ich es ihm beigebracht habe. Er verzichtet nur auf eine Gabel für sein eigenes Gedeck. Er begnügt sich mit Löffel und dem Messer, das er bei sich hatte, als er für immer in meine Zeit kam.

»So! Zu Tisch!«

Wir beginnen mit einem köstlichen Wildschweinragout. Bei uns ist jeden Tag Festtag, und wir sehen einander buchstäblich zu, wie wir in die Breite gehen. Das ist jeden Winter so. Aber die harte Arbeit in der schönen Jahreszeit bringt uns bald wieder auf das Normalgewicht zurück. Ich möchte mich nicht verändern. – Ich möchte auch nicht altern. Ich wünsche so zu bleiben, wie damals, als Ninon von mir weg in den Strudel der Vergangenheit gerissen wurde. Wenn sie je zurückkäme, fände sie mich verändert? Daran denke ich oft. Fünfzig werde ich heuer, aber ich habe noch kein graues Haar. Die Züge sind ein wenig härter geworden, aber kaum älter. Ich möchte nicht daran denken, was aus Ninon in den dreißig Jahren geworden ist. Dreißig Jahre sind eine entsetzlich lange Zeit unter den harten Lebensbedingungen des Mittelalters. In einem armen Dorf, das von einem grausamen Herrn ausgepresst wird. Nein, ich erwarte nicht mehr als ein Wunder: Ich wünsche mir, dass die Zeit ihr nichts hat anhaben können. Dass sie, wenn sie jemals wieder aus der unsichtbaren Mauer der Zeit tritt, dieselbe ist wie damals: blond, feingliedrig, wunderschön wie eine Fee.

»Das Brot ist dir gut gelungen«, sage ich zu Collin.

Es ist gerade ausgekühlt.

Das Wildschweinragout schmeckt tatsächlich hervorragend. Collin erzählt mir, dass es zu seiner Zeit nicht so viele Wildschweine in der Gegend gegeben hat, dafür mehr Hirsche, Gämsen, Bären und Wölfe, die im Winter bis an den Rand des Dorfes kamen. Die Wölfe kenne ich ja. Auch sie kamen durch die geheimnisvolle Tür in die Gegenwart.

Wir machen uns, immer noch hungrig, über das Kaninchen her. Davon wird nicht allzu viel für die Hunde im Schafstall übrigbleiben. Wir werden ihnen wohl eine Specksuppe bereiten müssen.

Nach der Mahlzeit trinke ich Kaffee. Collin mag das bittere Getränk nicht, er trinkt lieber einen Grog. Ich habe ihm gezeigt, wie man einen guten Grog bereitet. Er gibt viel Zucker hinein, Nelken und Zitrone, wenn wir sie haben, und natürlich einen guten Schuss Alkohol, der seinen Blick unter den farblosen Wimpern ein wenig wässrig macht. Wenn er in diesem Zustand ist, spricht er oft über seine Vergangenheit, obwohl er erst fünfzehn Jahre alt war, als die Geschehnisse ihren Anfang nahmen. Er hat zweimal so lange in diesem Jahrhundert gelebt, und er gewöhnt sich immer noch nicht daran. Brutal herausgerissen aus einer Epoche ohne Reiz und Schönheit, trauert er ihr dennoch nach. In seiner Herberge arbeitete er vom Morgengrauen bis in die Nacht, und war nicht besonders glücklich. Er war an schlechte Behandlung gewöhnt und schlief in einer Kiste hinter dem Kamin. Seine Nahrung bestand hauptsächlich aus den Resten, die die anderen übrigließen. Er musste Holz hacken, Wasser schleppen, die Tiere versorgen, die Ställe reinigen. Er bekam aus jedem, noch so geringen Anlass Stockhiebe, und sein Herr, Grangure, war ein Rohling. Und ich weiß, wovon ich rede, denn ich kannte ihn wie er leibte und lebte vor dreißig Jahren.

»Wenn es schneite, rollten sich alle nackt im Schnee«, sagt er, den Grog in der Hand. »Auch die Weiber kamen. Man scherzte und lachte viel.«

Damals gab es freiere Sitten, eine gesunde Lüsternheit ohne viele Komplexe. Überreste der lockeren Katharensitten, die der Klerus noch nicht hatte ausmerzen können.

»Denk nicht so viel daran, mein Alter.«

Aber das begreift er nicht. Für ihn haben diese seltenen Augenblicke des Vergnügens eine Bedeutung erlangt, die ihnen gar nicht zukommt.

Aber auch ich lebe in der Erinnerung, und in einigen besonders schönen Nächten wird Ninon in meinen Träumen so lebendig, dass ich ihr Bild tagelang vor mir sehe.

»Soll ich abspülen?«, fragt er.

Das tut er gar nicht gern. Und vielleicht will er heute schnell hinauskommen zu den Ställen.

»Lass es für den Abend.«

Collin zieht seinen Überwurf an und sagt, dass er nach den Schafen sieht. Der Wind pfeift um das Haus, aber es schneit so dicht wie vorher.

»Gib acht, dass du den Weg nicht verlierst!«

»Gott wird mich weisen, Herr.«

Wenig später ziehe ich mich in mein Büro zurück. Es ist ein kleines Zimmer in einem Teil des Hauses, der in einen Abhang hineingebaut ist. Ich muss einige Stufen hinaufsteigen und trete durch eine niedrige Tür. Ein kleines quadratisches Gitterfenster lässt den Blick zum Mont Bugarach frei. Heute ist die Sicht getrübt.

Das Zimmer ist so niedrig, dass es meist überhitzt ist. Das lädt ein zum Träumen, zum Nachdenken und zum Schreiben.

Ich lasse mich auf dem Diwan meiner Tante nieder. Der Stoff ist fadenscheinig, und die Sprungfedern knarren gegen den Holzrahmen, aber ich grabe mich in die Polster und zünde meine Pfeife an. Ich rauche sie nur hier.

Schon als meine Tante noch lebte, war dies hier mein Zimmer. Um es zu heizen, benützte ich damals einen kleinen Holzofen. Anfangs gab ich vor, mich hierher zurückzuziehen, um zu studieren, denn bevor ich Paris verlassen hatte, war ich Medizinstudent gewesen. Aber, wie man sieht, habe ich die Studien nach den seltsamen Ereignissen des Winters 1943-44 nicht wieder aufgenommen.

Damals, wenn der Schnee kam, rollte das Dorf sich ein wie ein Igel. Man war daran gewöhnt, dass der elektrische Strom nicht mehr funktionierte, und es gab Kerzen und Petroleumlampen zur Genüge. Die Kerzen waren hausgemacht. Wenn man sie anzündete, verbreitete sich ein Duft nach Bienenhonig im ganzen Haus.

Ich bringe die Kerzen nicht so schön geformt fertig wie meine Tante, aber ich bin zufrieden, wenn sie brennen.

Im Halbdunkel bin ich nahe daran einzuschlafen, die Pfeife im Mundwinkel. Also erhebe ich mich und zünde das Gaslicht an, das ein weit angenehmeres Licht gibt als eine elektrische Lampe. Ich reguliere die Flamme und lasse mich an meinem Schreibtisch nieder, der mit Büchern und Papieren überladen ist. In diesem Zimmer habe ich auch meine geistige Nahrung untergebracht. Wenn Collin

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Georges Jean Arnaud/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Kostic Dusa/123rf.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Biggy Winter (OT: La Mort Noire).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 29.08.2019
ISBN: 978-3-7487-1411-8

Alle Rechte vorbehalten

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