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Leseprobe

 

 

 

 

 

RAYMOND R. RUSSELL

 

Sardonicus

 

 

 

Erzählungen

 

Apex Horror, Band 43

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

SARDONICUS (Sardonicus) 

DER SCHAUSPIELER (The Actor) 

DER KÄFIG (The Cage) 

DIE HELDENTATEN DES ARGO (The Exploits of Argo) 

DAS SCHWERT DES LAERTES (The Sword of Laertes) 

MONTAGE (Montage) 

AUSGEBUCHT (Booked Solid) 

HOLEN SIE TIEF LUFT (Take A Deep Breath) 

DIE FREUDE WAR GANZ AUF UNSERER SEITE (The Pleasure Was Ours) 

DAS ZIMMER (The Room) 

 CH KEHRE ZURÜCK (I Am Returning) 

INCOMMUNICADO (Incomunicado) 

DAS HAUS SEINES VATERS (His Father's House) 

LETZTER WILLE UND TESTAMENT (Last Will And Testament) 

EVOLUTION (The Rosebud) 

HIER SPRICHT LONDON (London Calling) 

EINE GERINGFÜGIGE VORBEUGUNGSMASSNAHME (Ounce of Prevention) 

 

Das Buch

 

Sardonicus enthält 17 ausgewählte Horror-Storys von Raymond R. Russell (geboren am 4. September 1924 in Chicago, Illinois; gestorben am 15. März 1999 in Los Angeles, Kalifornien) aus den Jahren 1955 bis 1961, deren Erst-Veröffentlichung in allerlei illustren Zeitschriften (wie z. B. in der US-Ausgabe des Playboy-Magazins, für das Russell als Redakteur gearbeitet hat) erfolgte. 

Die titelgebende Novelle wurde 1961 unter der Regie von William Castle (Rosemarys Baby) als Mr. Sardonicus (deutscher Verleihtitel: Der unheimliche Mr. Sardonicus) nach einem Drehbuch des Autors verfilmt. 

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe von Sardonicus in seiner Reihe APEX HORROR. 

  SARDONICUS (Sardonicus)

 

 

 

I.

 

 

Im Spätsommer des Jahres 18... hatte eine erfreuliche Serie beruflicher Erfolge zu derart großer Ermüdung und Überanstrengung geführt, dass ich ernsthaft an einen längeren Erholungsaufenthalt auf dem Festland dachte. Seit beinah drei Jahren hatte ich mich keines angemessenen Urlaubs erfreut, denn neben meiner Praxis war ich von einem Forschungsprogramm so beansprucht und fasziniert gewesen, dass ich es nicht über mich gebracht hatte, die Stadt für länger als eine Woche zu verlassen. Als Junggeselle fehlte mir eine fürsorgliche Frau, die Bedenken über meinen Gesundheitszustand geäußert hätte. So war es gekommen, dass meine Überarbeitung einen Punkt erreicht hatte, wo eine Erholungspause für mein Wohlbefinden absolut notwendig geworden war. Daher war ich nicht eben erfreut, als eines Morgens, gegen Ende des Sommers, der Brief in meine Hände gelangte.

Als er mir von meinem Diener auf den Frühstückstisch gelegt wurde, wendete ich ihn um und um, befühlte das steife, feine, beinahe pergamentartige Papier, grübelte über das große, purpurne Siegel auf der Rückseite, das verschnörkelt und kompliziert war, dass man es kaum entziffern konnte, und untersuchte schließlich die Handschrift, in der die Adresse geschrieben war: Sir Robert Cargrave, Harley Street, London. Es war die Handschrift einer Frau, soviel war sicher. Ihr klarer, feiner Ductus hatte für mich etwas unbestimmt Vertrautes. Wo hatte ich sie schon einmal gesehen? Ihre Klarheit schien im Widerspruch zu der nahezu überladenen Ornamentik des Siegels zu stehen, das, wie ich nach konzentriertem Studium schließlich ermittelte, nichts weiter als ein S darstellte, ein grotesk umranktes Initial von fast vulgärer Anmaßung.

Nun begann ich, in meinem Gedächtnis nach einem Freund oder Bekannten zu suchen, dessen Name mit einem S begann. Da war der alte Shipley vom Chirurgen-Verband. Es gab Lord Henry Stanton, meinen geistvollen und witzigen Freund. Und das... waren bereits alle.

War es Henry? Er hielt es selten längere Zeit an einem Ort aus, ein treuer Freund und begabter Briefeschreiber. Doch seine kräftige Handschrift war alles andere als effeminiert. Überdies würde er nicht ein solches Siegel verwenden - es sei denn im Scherz, als eine spaßige Geste zwischen Freunden. Als er mir den Brief auf den Tisch legte, sagte mein Diener, dieses Schreiben sei nicht mit der Post gekommen, sondern von einem Boten überbracht worden. Das nährte meine Neugier. Ich brach das seltsame Siegel auf und entfaltete das steife Papier.

Der Brief war in derselben klaren, irgendwie vertrauten Handschrift geschrieben. Mein Blick wanderte sofort an den unteren Rand des Blattes. Die Unterschrift Madame S. sagte mir nichts, denn in meinem Bekanntenkreis gab es keine Madame S.

Der Brief hatte den folgenden Wortlaut:

 

Mein lieber Sir Robert,

es ist beinahe sieben Jahre her, seit wir uns zum letzten Mal sahen. Damals waren Sie noch nicht Sir Robert, sondern einfach nur Robert Cargrave, obgleich Gerüchte schon von der bevorstehenden Verleihung des Adelstitels wissen wollten. So frage ich mich, ob Sie sich an Maude Randall erinnern werden?

 

Und ob ich mich an Maude Randall erinnerte! Die liebe Maude mit der glockenreinen Stimme, dem nussbraunen Haar und den großen dunklen Augen, ihrem offenen Wesen und dem lebhaften Temperament, das die jungen Männer ganz Londons begeisterte. Sie kam aus reichem Elternhaus, aber ihr Vater hatte sich in Frankreich auf gewagte Spekulationen eingelassen, die das Familienvermögen dermaßen dezimiert hatten, dass der ruinierte Mann sich das Leben genommen hatte. Daraufhin waren die Randalls aus der Londoner Gesellschaft verschwunden. Maude hatte, soweit mir bekannt, einen ausländischen Herrn geheiratet und war auf dem Kontinent geblieben. Für mich war das eine traurige Neuigkeit gewesen, denn kein junger Mann in ganz London hatte Maude mehr verehrt als ich, und der Gedanke hatte meiner Eitelkeit geschmeichelt, dass meine Gefühle zu einem Teil wenigstens erwidert wurden. Nun, sieben Jahre später war sie Madame S. und schrieb mir in derselben Handschrift, die ich unzählige Male auf Einladungen gesehen hatte. Ich las weiter:

 

Ich denke oft an Sie, denn die Gesellschaft weniger Männer machte mir so viel Freude wie das Zusammensein mit Ihnen. Daher zählen die Soiréen meiner lieben Mutter in London, wo Sie anwesend waren, zu meinen liebsten Erinnerungen. Sie sehen, Offenheit war immer mein Fehler, wie Mutter mir vorzuhalten pflegte. Sie, diese liebe, gute Frau, überlebte meinen armen Vater nur um ein Jahr, aber ich nehme an, Sie wissen das.

Mir geht es recht gut. Wir leben hier in großem Komfort, obwohl wir nur selten empfangen und uns die meiste Zeit mit unserer eigenen Gesellschaft zufriedengeben. Mein Mann ist ein freundlicher, umgänglicher Mann, mit einer starken Neigung zu Stille und Zurückgezogenheit. Menschenmengen, Bälle, Feste etc. sind seinem Temperament zuwider. So ist es mir eine besondere Freude, dass er mich gebeten hat, Sie für einen Aufenthalt von ein oder zwei Wochen hier im Schloss zu gewinnen - oder, wenn ich seine Worte wiedergeben darf: »Für wenigstens zwei Wochen - aber selbstverständlich nur so lange, wie es Sir Robert gefällt - bei so eintönigen Leuten zu bleiben, wie er sie hiervorfinden wird.«

 

Ich hielt mit dieser Erkenntnis bei der Lektüre inne, dass meine Gefühle diesem Mann gegenüber nicht wenig von Eifersucht getrübt waren. Er hatte Maude Randall umworben und gewonnen, eine junge, einsichtige und sensible Frau. War es möglich, dass sie fähig gewesen war, einen gravitätischen Langweiler zu heiraten? Ich hielt es nicht für wahrscheinlich. Und ein Schloss! Wie romantisch und großartig!

 

Erst gestern erinnerte ich mich im Laufe einer Unterhaltung an mein altes Leben in London und erwähnte Ihren Namen. Mein Mann war plötzlich interessiert. »Robert Cargrave?«, sagte er. »Es gibt einen bekannten Arzt und Forscher dieses Namens, aber ich kann mir nicht denken, dass es sich um einen und denselben Herrn handelt.« Ich lachte und sagte, es sei wirklich derselbe Mann, nur hätte ich Sie gekannt, bevor Sie zu Ruhm und Ehren gelangt seien. Ich erzählte ihm, dass Sie ein Freund meiner Familie und ein häufiger Gast in unserem Haus waren. »Das ist ein glückliches Zusammentreffen«, sagte er. »Ich habe schon seit langer Zeit den Wunsch gehabt, Sir Robert Cargrave kennenzulernen. Deine frühere Freundschaft mit ihm gibt uns eine ausgezeichnete Gelegenheit, ihn einzuladen.«

Und so, Sir Robert, komme ich seiner Bitte nach - und gehorche zugleich meiner eigenen Neigung -, Sie herzlich zu einem Besuch einzuladen, dessen Dauer Sie selbst wählen mögen. Ich würde mich aufrichtig über Ihr Kommen freuen, denn wir sehen wenige Leute hier, und es wäre mir ein großes Vergnügen, mit Ihnen über die alten Zeiten zu plaudern und den letzten Londoner Klatsch zu hören. Mr. S. vertraut der Post nicht, darum lasse ich diesen Brief von einem unserer Bediensteten überbringen, der in besonderen Geschäften nach London reisen muss. Bitte übermitteln Sie Ihre Antwort durch ihn. 

 

Ich läutete meinem Diener. »Wartet der Bote, der diesen Brief brachte, auf eine Antwort?«, fragte ich.

»Er sitzt unten in der Halle, Sir Robert«, sagte er.

»Das hätten Sie mir sagen sollen.«

»Ja, Sir.«

»Schicken Sie ihn zu mir. Ich wünsche ihn zu sehen.«

Mein Mann ging, und ich brauchte nicht viel länger als eine Minute, um meine Zusage zu Papier zu bringen. Meine Antwort war fertig für den Boten, als er in mein Zimmer geführt wurde.

»Sie sind ein Angestellter von Madame...« Da erst fiel mir ein, dass ich den Namen ihres Mannes überhaupt nicht kannte.

Der Kurier, ein verschlossen aussehender Mann mit slawischen Zügen, antwortete mit schwerem Akzent: »Ich bin ein Angestellter von Mr. Sardonicus, Sir.«

Sardonicus! Der Name - zweifellos ein Pseudonym - war ebenso übertrieben wie das Siegel. »Dann überbringen Sie diesen Brief bitte sogleich nach Ihrer Rückkehr Madame Sardonicus.«

Er verneigte sich leicht und nahm den Umschlag aus meiner Hand. »Ich werde ihn unverzüglich meinem Herrn aushändigen«, sagte er.

Sein Benehmen reizte mich. »Ihrer Herrin«, sagte ich kühl.

»Madame Sardonicus wird Ihre Botschaft erhalten, Sir«, sagte er.

Ich entließ ihn, und erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wo sich das Schloss dieses Herrn Sardonicus befand. Erneut nahm ich mir Maude's Brief vor.

 

...bitte übermitteln Sie Ihre Antwort durch ihn, und bitte, geben Sie ihm eine Zusage mit, denn ich würde mich freuen, Ihren Aufenthalt in... zu einem angenehmen zu machen.

 

Ich befragte einen Atlas und entdeckte endlich, dass der erwähnte Ort in einer ziemlich abgelegenen und gebirgigen Region Böhmens lag.

Ich beendete mein Frühstück mit neuem Appetit, und von Erwartung erfüllt, begann ich noch am selben Nachmittag Vorbereitungen für meine Reise zu treffen. 

 

 

 

II.

 

 

Ich bin keineswegs - wie Freund Henry Stanton - ein Liebhaber des Reisens um seiner selbst willen. Henry hat mich oft deswegen gescholten und mich einen staubtrockenen Akademiker und unverbesserlichen Londoner genannt, was zutreffen mag. Denn tatsächlich sind mir nur wenige Dinge lästiger als Schiffe, Eisenbahnzüge und Wagen. Obschon ich Freude und geistigen Gewinn in fremden Städten gefunden habe, sind die Mühseligkeiten des Reisens oft Grund genug für mich gewesen, auf den Besuch dieses oder jenes Ortes zu verzichten.

Immerhin, weniger als einen Monat nachdem ich Maude's Einladung angenommen hatte, fand ich mich in ihrem angenommenen Heimatland wieder. Ich reiste von London über Hamburg nach Berlin, von dort nach Böhmen, und wurde in... von einem Kutscher erwartet, der ein sehr unvollkommenes Englisch sprach, mir aber feierlich zu verstehen gab, dass er ein Bediensteter des Schlosses sei. Er verstaute meine Koffer an Bord einer von zwei Pferden gezogenen Kutsche, half mir hinein und setzte sich auf den Kutschbock, um mich das letzte Stück meiner Reise zu befördern.

Mich fröstelte. Die Luft war frisch und feucht, und ich war sehr müde. Die Kutsche schaukelte durch tief ausgefahrene Rinnen einen ziemlich schlechten Fahrweg entlang und warf mich auf der gepolsterten Bank hin und her. Der Blick aus den Fenstern bot wenig Abwechslung, denn inzwischen war es dunkel geworden, und außer düsteren Silhouetten von Fichtenwäldern gab es wenig zu sehen. Außer dem Klappern der Pferdehufe und dem Quietschen des ratternden Wagens gab es nur die rauen Schreie unsichtbarer Nachtvögel.

Maude hatte geschrieben, dass sie nur selten Gäste empfingen. Kein Wunder! Wer würde gern und häufig in diese abgelegene und unwirtliche Gegend kommen? Ich seufzte, denn der Eindruck dieser düsteren Landschaft und der Gedanke an einen langweiligen, tristen Urlaub vereinten sich und hüllten meinen müden Geist in melancholische Stimmung.

In diesem Zustand machte ich das Schloss aus, als das Mondlicht durch ein Wolkenloch brach. Ein gedrungener, massiver Bau auf dem Kamm eines bewaldeten Höhenzugs, offenbar eine ehemalige Ritterburg, die in späteren Jahrhunderten um- und ausgebaut worden war. Aus der Ferne und in der fahlen Beleuchtung machte das Schloss den Eindruck eines großen gebleichten Totenschädels, der dort oben zwischen den Wäldern lag. Der Anblick hatte wenig Anziehendes. Daran änderte sich auch nichts, als wir eine Viertelstunde später den steilen, steinigen Fahrweg hinter uns hatten und ich die Fassade aus der Nähe betrachten konnte. Die Öffnung eines breiten, niedrigen Torbogens, wie die übrige Fassade mit plumpen Stuckornamenten verziert und weißgetüncht, gähnte mir dunkel entgegen. Dieser Torbogen war es, der mir von weitem die Assoziation mit einem Totenschädel auf gedrängt hatte; er und die Schlagschatten der beiden Erkertürme mit ihren stumpfen Kuppeln.

Die Kutsche hielt vor einem hohen, schmiedeeisernen Gitter, vielleicht hundert Schritte vom Schloss entfernt, das Park und Herrensitz gegen Eindringlinge schützte. Ein überladen ornamentiertes Tor zwischen zwei grauen Tuffsteinpfeilern sperrte den Fahrweg. Während der Kutscher herunterkletterte und mit einem gewaltigen Schlüssel hantierte, bemerkte ich, dass die ganze schmiedeeiserne Ornamentik nichts anderes darstellte als eine vergrößerte und mehrfach wiederholte Version jenes anmaßenden S-Siegels.

Der Kutscher öffnete die leise quietschenden Torflügel, fasste das linke Gespannpferd am Zaumzeug und knirschend rollte die Kutsche durch das Tor die kiesbestreute Auffahrt hinauf, an deren Ende das Schloss wartete. Dunkel bis auf Lichter hinter zwei der vielen Fenster.

Als wir vorfuhren, wurde einer der halbrunden Flügel des Portals aufgerissen und helles Licht strömte ermutigend und warm über den Vorplatz. Ein Mann kam heran, öffnete den Kutschschlag und verneigte sich feierlich. Derselbe Mann, der als Kurier nach London gekommen war und Maudes Brief überreicht hatte. Ich nickte ihm zu, und er sagte: »Sir Robert, Madame Sardonicus erwartet Sie. Wenn Sie mir folgen wollen, werde ich Sie zu ihr führen.«

Der Kutscher kümmerte sich um mein Gepäck und ich folgte dem Diener ins Schloss. Hinter dem Portal führte eine Durchfahrt unter schweren Gewölben durch das Gebäude, anscheinend in einen Innenhof mit Arkaden. Der Diener bog vorher rechts ab und geleitete mich über eine niedrige Treppe und durch einen halbdunklen Empfangssaal. Ich war vom Reichtum der Einrichtung verblüfft. Zwei zweifellos sehr kostbare Ritterrüstungen flankierten die schwere, geschnitzte Eichentür zu den Wohnräumen, große alte Gobelins bedeckten die hohen Wände. Überall standen massive, reichgeschnitzte Möbel im Stil der ausgehenden Renaissance. Ich hatte keine Zeit, mich umzusehen. Nachdem wir zwei kleinere Vorräume durchwandert hatten, fand ich mich plötzlich in einem hellen Salon mit bequemen Sesseln, einem Teetisch und einem Spinett. Maude erhob sich, mich zu begrüßen.

»Sir Robert!«, sagte sie leise, ohne zu lächeln. »Wie schön, Sie nach langer Zeit zu sehen.«

Ich beugte mich über ihre Hand. »Verehrteste«, sagte ich, »so treffen wir uns wieder.«

»Sie sehen gut und glücklich aus«, sagte sie.

»Ich kann nicht klagen, aber ich bin überarbeitet und von der Reise ziemlich müde.«

Wir setzten uns. Sie meinte, dass eine Mahlzeit und eine Flasche guten Weines meine Lebensgeister bald beleben würden. Dann fügte sie hinzu, dass ihr Mann in ein paar Minuten zu meiner Begrüßung erscheinen werde.

Ich sprach von ihrem Aussehen und erklärte galant, dass sie nicht einen Tag älter aussehe, als bei unserem letzten Zusammentreffen in London. Das war kaum übertrieben, betrachtete man ihr Äußeres, denn ihr Gesicht zeigte keine Falten, ihre Haut war von gleicher Frische, und ihr wunderschönes Haar hatte weder Glanz noch Farbe eingebüßt. Etwas, wovon ich nicht sprach, war die auffallende Veränderung in ihrem Wesen. Sie, die stets Fröhliche und Lebhafte, deren Munterkeit und Lachen so mancher Soiree erst Sonne und Leben verliehen hatten, war nun distanziert und steif, ohne Lächeln. Ich bedauerte dies, schrieb es aber den sieben Jahren zu, die seit ihrer sorgenfreien Mädchenzeit vergangen waren, dem Verlust ihrer geliebten Eltern und auch ihrem abgeschlossenen Leben in dieser zwar prächtigen, doch weltabgeschiedenen Umgebung.

»Ich bin ausgesprochen neugierig, Ihren Gatten zu sehen«, sagte ich.

»Und er, Sir Robert, kann es kaum erwarten, Sie zu begrüßen«, versicherte Maude. »Er wird gleich herunterkommen. Erzählen Sie mir inzwischen, wie es Ihnen ergangen ist.«

Ich sprach - mit einiger Bescheidenheit, wie ich hoffe - von meinen Erfolgen in meinem Fach, meiner Londoner Wohnung, meinem Büro und dem Laboratorium. Ich erwähnte verschiedene gemeinsame Freunde aus früherer Zeit und erzählte ihr vom Leben der Londoner Gesellschaft, besonders vom Theater. Ich wusste, dass sie sich sehr dafür interessiert hatte. So beschrieb ich Macreadys Abschiedsvorstellung als Macbeth im Haymarket Theater, berichtete, dass das Covent Garden Theater mit großem Aufwand zum Opernhaus umgebaut worden war, sprach über die Londoner Uraufführung von Guiseppe Verdis neuestem Werk im Beisein der Königin und über anderes mehr und bemerkte wiederholt das Aufleuchten ihrer Augen.

»Die Oper!«, seufzte sie. »Ach, Sir Robert, wenn Sie wüssten, wie ich die Oper vermisse! Die Aufregung einer Premiere mit ihrem gesellschaftlichen Glanz, die Festlichkeit der Ouvertüre, und dann das Aufgehen des Vorhangs.« Sie brach ab, als ob sie sich ihrer Gemütsbewegung schäme. »Aber ich bekomme die Noten aller neuen Werke, und es verschafft mir große Befriedigung, sie für mich selbst zu spielen und zu singen. Ich muss den neuen Verdi von Mailand kommen lassen. Die Oper heißt Ernani, sagten Sie?«

Ich nickte. »Mit Ihrer Erlaubnis will ich versuchen, einige der bedeutendsten Arien zu spielen.«

»Oh, bitte tun Sie es, Sir Robert!«

»Sie werden sie vielleicht etwas zu modern und unmelodisch finden.« Ich setzte mich ans Spinett und spielte, so gut ich konnte, ein Potpourri aus der Oper und flocht Improvisationen ein, wo ich mich nicht genau an die Noten erinnerte.

Sie applaudierte, und ich bat sie, ihrerseits etwas zu spielen, denn sie war eine gute Pianistin und besaß auch eine annehmbare Stimme. Sie ließ sich nicht lange bitten und spielte das Menuett aus Don Giovanni und sang schließlich die Arie Voi lo sapete aus Figaros Hochzeit. Als sie mich bat, das Duett Là ci darem la mano gemeinsam mit ihr zu singen, tat ich ihr den Gefallen, obwohl meine Singstimme weniger als durchschnittlich ist. Während ich so neben ihr stand, ihre feingliedrigen Finger über die Tasten gleiten sah und die reinen, klaren Töne ihrer Stimme hörte, überfluteten mich alle alten Empfindungen, und bei der Wiederholung des Wortes mano überwältigte mich ein Impuls. Ich ergriff ihre linke Hand. Ihr Spiel wurde natürlich beeinträchtigt. Einige Takte lang hinkte die Musik. Dann ließ ich ihre Hand los und beendete das Duett mit brennender Röte in den Wangen. Sie war klug genug, meine Tat weder mit Tadel noch mit Ermutigung zu beantworten. Sie verhielt sich, als wäre nichts vorgefallen.

Um meine Verlegenheit zu verbergen, begann ich ziemlich hektisch zu plaudern. Ich sprach über dies und jenes, albernes Zeug zum größten Teil, fragte sogar, ob Mr. Sardonicus zur Eifersucht neige. Darauf lachte sie. Zum ersten Mal verlor ihr Gesicht den ernsten Ausdruck. »Oh, nein! Im Gegenteil, erst vor wenigen Tagen sagte mein Mann, als wir über Sie sprachen, je enger unsere Freundschaft früher gewesen sei, desto lieber sei es ihm.«

Das schien mir eine sonderbare und sogar grob taktlose Bemerkung eines Mannes seiner Frau gegenüber. Ich versuchte sie humoristisch zu nehmen und erwiderte jovial: »Ich hoffe, Mr. Sardonicus lächelte, als er das sagte.«

Maudes Heiterkeit schwand sofort aus ihrem Gesicht. Sie blickte weg und wechselte das Thema. Ich war verblüfft. Hatte meine unschuldige Antwort sie beleidigt? Das erschien mir unmöglich. Einen Augenblick später erfuhr ich jedoch den Grund für ihre seltsame Reaktion, denn ein großgewachsener Mann betrat mit gleitendem Schritt das Zimmer, und ein Blick in sein Gesicht erklärte vieles.

 

 

 

III.

 

 

»Sir Robert Cargrave?«, fragte er, sprach aber mit Schwierigkeit, und gewisse Lippenlaute wie das b in Robert und das v in Cargrave brachte er nicht zustande. Der Mann vor mir war das Opfer eines Leidens, das seine Lippen ständig und krampfartig zurückzog und seine Zähne in einem fortwährenden gespenstischen Lächeln entblößte. Es war das gleiche humorlose Grinsen, das ich früher einmal gesehen hatte. Bei einer älteren Frau, die in den letzten Qualen eines Kinnbackenkrampfes lag. Wir Mediziner haben einen Namen für diese schauerliche Grimasse, eine lateinische Bezeichnung, und als sie mir einfiel, schien sie noch ein anderes Geheimnis aufzuklären. Die Bezeichnung für das zähnebleckende Grinsen des Kinnbackenkrampfes lautet Risus sardonicus. Eine fahle, ungesunde Blässe vervollständigte den bestürzenden Anblick dieses Antlitzes.

»Ja«, antwortete ich, bemüht, meinen Schock zu verbergen. »Habe ich das Vergnügen, mit Mr. Sardonicus zu sprechen?«

Wir schüttelten einander die Hände. Nach dem üblichen Austausch von Höflichkeiten sagte er: »Ich habe Anweisung gegeben, das Abendessen in einer Stunde im großen Speisesaal zu servieren. In der Zwischenzeit wird mein Diener Sie zu Ihren Räumen führen, denn sicherlich möchten Sie sich nach Ihrer anstrengenden Reise erfrischen.«

»Sehr freundlich von Ihnen.« Der Diener erschien. Ein Mann mit ernsten, verschlossenen Zügen, wie der Kurier und der Kutscher, und ich folgte ihm eine Steintreppe hinauf. Im Gehen dachte ich über die ernsten Gesichter in diesem Schloss nach, und sie kamen mir nicht länger verwunderlich vor. Wer würde hier lächeln mögen, unter einem Dach mit diesem Unglücklichen, der zu unaufhörlichem Grinsen verurteilt war? Selbst das spontanste Lächeln musste vor diesem leidenden Gesicht wie Hohn wirken. Ich war erfüllt von Mitleid für Maudes Ehemann. Von allen Geschöpfen der Erde, ist der Mensch als einziges mit der Fähigkeit zu lächeln begabt. Aber dem Herrn des Schlosses war dieses Geschenk zum Fluch geworden. In die berufsmäßige Neugier des Arztes mischte sich Mitleid. Seine Grimasse ähnelte dem Erscheinungsbild des Kinnbackenkrampfes, aber Kinnbackenkrampf ist tödlich. Mr. Sardonicus aber war ungeachtet seines entstellenden Grinsens sehr lebendig. Welche Bitterkeit musste in seiner Brust wohnen, welche Verzweiflung sein Herz zerfressen!

Meine Räume waren groß und boten alle Bequemlichkeiten eines so alten Hauses. Ein heißes Bad war vorbereitet, für das mein müder und staubiger Körper höchst dankbar war. Als ich in der Wanne lag, begann ich, angenehmen Appetit zu verspüren. Ich freute mich auf das Abendessen. Nach dem Bad zog ich mich um, nahm zwei kleine Geschenke für meine Gastgeber aus dem Koffer - eine Flasche Parfüm für Maude, eine Kiste Zigarren für ihren Mann - und verließ meine Räume.

Ich erwartete nicht, ohne Hilfe den Weg zum Speisesaal zu finden. Weil es aber noch früh war, wollte ich ein wenig im Schloss umherwandern und seine altertümliche Pracht auf mich wirken lassen. Aus der Tatsache, dass Mr. Sardonicus keinen Adelstitel führte, schloss ich, dass er den Besitz nicht geerbt, sondern gekauft hatte, wahrscheinlich von einem verarmten Edelmann. Dieser Sardonicus musste enorm reich sein. Wie ich noch über die mutmaßliche Quelle seines Reichtums grübelte, hörte ich auf einmal Maudes Stimme und blickte auf.

Ich stand bei einem offenen Fenster, das zum Innenhof hinausging. Mehrere Fenster des gegenüberliegenden Gebäudeteiles waren ebenfalls offen. Von dort schien ihre Stimme herüberzukommen. Die Akustik des Hofes war so, dass ich jedes Wort klar verstehen konnte.

»Ich kann nicht«, sagte sie. »Unmöglich, es ist unziemlich.«

Die Stimme ihres Mannes antwortete: »Du kannst und du wirst, Maude. In meinem Schloss bin ich derjenige, der entscheidet, was geziemend und was unziemlich ist, nicht du.« Es war mir peinlich, diese private Diskussion über ein offenbar strittiges Thema mitzuhören. Ich wollte mich vom Fenster abwenden. Aber dann hörte ich meinen Namen aus Maudes Mund. »Ich habe Sir Robert mit aller gebotenen Höflichkeit behandelt«, sagte sie. Er erwiderte: »Du musst ihn mit mehr als förmlicher Höflichkeit behandeln. Du musst ihn mit Wärme behandeln. Du musst jene Empfindungen in ihm wiedererwecken, die er früher für dich hatte...«

Ich konnte nicht länger zuhören. Der Wortwechsel war gemein. Welch ein Mensch war dieser Sardonicus, der seine Frau in die Arme anderer warf? Ich verließ das Fenster und suchte schweren Herzens einen Diener, den ich bat, mich in den Speisesaal zu führen. Als ich dort anlangte, waren der Hausherr und seine Frau bereits bei Tisch und erwarteten mich. Er stand auf und deutete mit seinem abstoßenden Lächeln auf einen freien Stuhl. Sie erhob sich ebenfalls, nahm meinen Arm, nannte mich »Lieber Sir Robert« und führte mich zu meinem Platz. Ihre Berührung, die mich zu jeder früheren Zeit erfreut hätte, war mir jetzt entschieden zuwider.

Während der ganzen Mahlzeit hing eine oberflächliche Heiterkeit über der Tafel. Maudes Lachen kam mir albern und gekünstelt vor, Sardonicus trank zu viel Wein und seine Sprache wurde noch undeutlicher als sie ohnedies schon war. Es gelang mir, über allerlei triviale Dinge zu reden, ich wiederholte einige Anekdoten über das Theater und die Londoner Gesellschaft, die ich Maude schon erzählt hatte und beschrieb Macreadys Macbeth-Interpretation.

»Einige Schauspieler«, sagte Sardonicus, »interpretieren diese Gestalt als eine durch und durch böse Kreatur, ohne gute Eigenschaften irgendwelcher Art. Solche Interpretationen werden oft - und ich glaube, zu Recht - mit der Begründung kritisiert, dass kein menschliches Wesen ausschließlich üble Eigenschaften in sich vereinigt. Stimmen Sie mir zu, Sir Robert?«

Ich blickte ihm zweifelnd ins Gesicht, dann sagte ich: »Nein, ich glaube, es ist durchaus möglich, dass ein Mensch keine einzige Tugend besitzt, dass er eine Art

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Raymond R. Russell/Apex-Verlag/Successor of Raymond R. Russell.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Pixabay.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Walter Brumm und Christian Dörge (OT: Sardonicus).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 26.08.2019
ISBN: 978-3-7487-1380-7

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