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Leseprobe

 

 

 

 

WAYNE D. OVERHOLSER

 

 

Fluss ohne Wiederkehr

 

Roman

 

 

 

Apex Western, Band 27

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

FLUSS OHNE WIEDERKEHR 

Erster Teil: DER FLUSS 

Zweiter Teil: DAS GEFECHT 

Dritter Teil: DER LANGE WEG ZURÜCK 

 

Das Buch

Neunundvierzig Miliz-Freiwillige, zwei verwundete Offiziere und ein sterbender Armee-Arzt haben sich auf einer Sandbank eingegraben, belagert von mehr als tausend Cheyennes und Sioux. Zum vierten Mal sammeln die Häuptlinge ihre Krieger zum Angriff.

Die Überlebenden wissen, dass es keine Rettung gibt. Diesmal würden die Indianer die Insel überrennen – und die Männer laden ihre Gewehre durch und warten...

 

Der Apex-Verlag veröffentlicht Wayne D. Overholsers ebenso eindringlichen wie tragischen Western-Klassiker Fluss ohne Wiederkehr als durchgesehene Neuausgabe in seiner Reihe APEX WESTERN. 

FLUSS OHNE WIEDERKEHR

 

 

 

 

  Erster Teil: DER FLUSS

 

 

 

1.

 

 

Die Morgendämmerung überzog allmählich den Septemberhimmel und warf einen stumpfen, bleigrauen Schimmer auf die träge dahinfließenden Fluten des Republican. Im Lager wurde es lebendig. Für manche von Colonel Forsyths Milizsoldaten kam der Tag zu früh, für andere nicht schnell genug. Man konnte sagen, dass das Morgengrauen die Kampfbegierigen von den Helden schied.

Jeder in der Truppe - sie bestand aus neunundvierzig Mann, zwei Armeeoffizieren und einem Arzt - war sich bewusst, dass dies der Tag war, an dem sie wahrscheinlich die Indianer einholen würden, denen sie schon so lange nachjagten. Sie waren sich außerdem bewusst, dass viele von ihnen, vielleicht sogar alle, dem Tod geweiht waren, wenn es zum erwarteten Zusammenstoß kam. Colonel Forsyth schien der einzige zu sein, der das offensichtlich nicht begriff.

Als sich der Rand der roten Sonnenscheibe über den östlichen Horizont schob, ritten sie weiter den Republican aufwärts, eine lange Kolonne in Zweierreihen. Colonel Forsyth und Lieutenant Fred Beecher bildeten die Spitze. Der Scout, Sharp Grover, galoppierte ständig zwischen den Flankenreitern hin und her. Jedediah Jones ritt neben Jamey Burns etwa in der Mitte der Kolonne. Bill Harney, den man den Prahler nannte, ritt unmittelbar vor Jedediah und neben Diakon Andy Crowell.

Die Truppe folgte eine Weile dem Flusslauf. Dann, weil die Indianerfährte in diese Richtung führte, bog sie nach Nordwest und ritt einen fast ausgetrockneten Nebenarm aufwärts.

Harney wandte den Kopf, um Jedediah anzusehen. Seine rotgeränderten Augen verrieten den Zorn, der in zwei Tagen in ihm herangewachsen war.

»Weißt du, was dieser gottverdammte Idiot Forsyth macht?«

»Natürlich weiß ich es«, sagte Jedediah.

»Das bezweifle ich«, entgegnete Harney. »Er führt uns zur Schlachtbank. Wenn du das wüsstest, würdest du nicht hier sein. Du wärst letzte Nacht mit mir abgehauen, wie ich dir vorgeschlagen habe.«

»Ist das Leben denn so wichtig?«, fragte Jedediah.

»Verdammt wichtig«, antwortete Harney. »Was hat man schon außer seinem Leben?«

»Die ewige Seele«, sagte Diakon Andy Crowell ernst. »Wenn du dich vor deinem Tod nicht zu unserem Herrn Jesus Christus bekennst, wirst du zur ewigen Verdammnis verurteilt werden. In einer Zeit wie dieser solltest du darüber nachdenken.«

»Nun, was sagst du, Jed?«, drängte Harney, der Crowell ebenso ignorierte, wie alle anderen es taten. »Habe ich nicht Recht? Was haben wir denn schon, außer unserem Leben?«

»Ehre.«

Jedediah lächelte über sich selbst, als er über das Wort Ehre nachdachte. Er hatte längst gelernt, dass es zur Vermeidung bitterer Enttäuschungen wichtig ist, sich auf nichts einzulassen, das mit nebelhaften Phrasen und emotionellen Untertönen zusammenhängt. Aber hier gebrauchte er ein Wort, das eben damit gesättigt war. Er operierte mit Begriffen, die er aus Prinzip zu meiden suchte.

Immerhin, es gab einige Dinge, die man nicht tun durfte, Prinzip hin, Prinzip her. Immer noch lächelnd, fügte er hinzu: »Aristoteles hat einmal gesagt: Es ist die Natur von vielen, dass sie der Angst unterworfen sind, nicht aber dem Ehrgefühl.«

»Aristoteles?«, fragte Harney. »Gehört er zu unserer Truppe?«

»Nein«, antwortete Jedediah. »Er ist vor geraumer Zeit gestorben.«

Harney schien jetzt den Sinn des Zitats zu begreifen. Er zog die Brauen hoch. »Willst du damit sagen, dass ich Angst habe?«

»So ungefähr«, gab Jedediah zu. »Ich habe jedenfalls Angst. Du nicht?«

»Zum Teufel, nein«, sagte Harney. »Ich habe bloß mehr Grips im Kopf als dieser schwachköpfige Forsyth. Das ist alles.«

Matthew Redig drehte sich im Sattel herum und warf Harney einen Blick zu. Dann wandte er sich wieder nach vorn, ohne ein Wort zu sagen. Jedediah wusste nicht genau, was der Blick bedeutete. Er war noch nie imstande gewesen, etwas aus Matthew Redigs Gesicht zu lesen, außer dass er weder Harney noch dessen Reden schätzte.

Am Vormittag kamen die Flankenreiter zurück, und Forsyth ließ den Trupp anhalten und absitzen. Zusammen mit Beecher und Bill McCall, dem Sergeanten, studierte er die Fährte, während der Scout, Sharp Grover, immer wieder nach Westen zeigte und heftig auf die Männer einredete.

Jamey Burns, der nahe bei Jedediah stand, flüsterte: »Hat Harney Recht, Mr. Jones? Müssen wir desertieren, wenn wir unser Leben retten wollen?«

»Nein«, sagte Jedediah. »Dein Leben wäre nicht wert, gerettet zu werden, wenn du das versuchen würdest.«

Nach einer Weile kam der Befehl, wieder aufzusitzen, und die Kolonne setzte sich von neuem in Marsch. Jedediah blickte besorgt in Jameys bleiches, verkniffenes Gesicht. Auf dem ganzen Weg von Fort Hays hierher hatte er bis auf das Naseputzen jeden Handgriff für den Jungen getan. Er überdachte seine eigene Inkonsequenz. Gegen seinen Willen war Jamey irgendwie zum Gegenstand seiner Fürsorge geworden. Der Junge war wie ein hilfloser junger Hund in einem Wolfsrudel. Jedediah hatte Mitleid und tat, was er konnte, wusste aber gleichzeitig, dass es nicht ausreichen würde.

Sie folgten weiter dem trockenen Nebenarm des Republican; die Flankenreiter waren wieder hinausgeritten. Die Sonne stieg unaufhaltsam in einen wolkenlosen Himmel empor. Nur der Staub, der hinter der Kolonne dicht über dem Boden hängenblieb, sich langsam ausbreitete und höher stieg, erfüllte die Luft.

Für Jedediah hatte die Prärie etwas Seltsames und Beunruhigendes. Die eintönige Gleichförmigkeit, das Fehlen jeglicher Abwechslung in der Landschaft bedrückten ihn. Er war jetzt zweiunddreißig. Bis vor einem Jahr hatte er in Colorado gelebt, und dorthin wollte er zurückkehren, wenn es ihm vergönnt war, dieses Abenteuer zu überleben. Es war wie ein Zwang, denn ohne die Berge Colorados fühlte er sich verloren. Er fragte sich, warum er überhaupt so lange in der Fremde geblieben war.

Als die Sonne ihren Zenit erreichte, wurde eine Mittagspause eingelegt. Die Männer holten Brot und Speck aus ihren Satteltaschen und begannen lustlos zu kauen. Bill Harney starrte mit Widerwillen auf seine Ration, bevor er zu essen anfing.

»Seht euch bloß diesen verdammten Kommissstiefel an«, sagte Harney. »Der will doch nur eine Beförderung, und die konnte er nicht kriegen, solange er bei General Sheridans Stab hinter einem Schreibtisch hockte. Er hat nicht für fünf Pfennig Verstand, sonst würde er sich überlegen, wie wenig ihm eine Beförderung nutzen wird, wenn er tot ist.«

»Ich halte ihn für einen fähigen Mann«, entgegnete Crowell milde.

»Fähig! Dass ich nicht lache!«, rief Harney. »Lieber Gott, sieben Tage ist es jetzt her, dass wir in Fort Wallace Station gemacht haben, und unser Proviant ist alle. Wir schießen Wild und ernähren uns vom Land, sagt er. Der Klugscheißer! Habt ihr in den letzten drei Tagen vielleicht etwas Größeres als ein Kaninchen gesehen? Einen Bison oder eine Antilope? Nein, das habt ihr nicht.

Und warum wohl? Weil wir hinter dem größten Haufen von Indianern herreiten, den ich je gesehen habe. Sie schießen uns das Wild vor der Nase weg.«

Harney steckte den letzten Bissen Brot in den Mund, schluckte heftig und zeigte auf den Boden. »Hier, seht euch die Fährte an. Breit wie eine Straße. Seht ihr die Schleifspuren? Das ist keine umherstreifende Bande von Kriegern. Es ist der ganze Cheyenne-Stamm. Hunderte, vielleicht Tausende, wenn Sioux und Arapahoes dabei sind, was anzunehmen ist. Forsyth scheint nicht zu wissen, dass die Indianer nicht kämpfen werden, solange sie nicht eine große Übermacht haben. Deshalb laufen sie vor uns weg. Aber das wird bald aufhören, denn sie sind inzwischen stark genug, um uns bis zum letzten Mann auszulöschen.«

»Ich glaube, Forsyth weiß das«, sagte Jedediah. »Er rechnet damit, dass unsere modernen Repetiergewehre und Revolver genug Feuerkraft haben, um mit ihnen fertig zu werden.«

»Und er weiß auch, dass du mit so einem kurzläufigen Spencer auf hundert Schritte kein Pferd mehr treffen kannst«, versetzte Harney ungerührt. »Ich habe bei Indianern gelebt. Ich weiß, wie sie denken und handeln.« Seine große Hand beschrieb einen weiten Bogen nach Norden, wo eine Bodenwelle den Eindruck eines Höhenzuges hervorrief. »Ich sage euch, sie sind überall dort oben und beobachten uns, aber wir sehen sie nicht. Und wir werden sie auch nicht eher sehen, als bis sie es an der Zeit finden, loszuschlagen. Dann werden wir Augen machen! Vielleicht sehen wir sogar Roman Nose. Er ist der größte verdammte Indianer auf der Welt. Wenn er sie führt, kann uns nur Gott helfen, denn wir werden uns ganz bestimmt nicht helfen können.«

Andere Männer hatten seine laute Stimme gehört und sich der Gruppe zugesellt. Einer von ihnen erklärte: »Was du sagst, klingt vernünftig, Bill. Ich bin ganz deiner Meinung.«

»Gut, hauen wir also ab. Wir werden Forsyth zeigen...«

Matthew Redig stürzte sich ohne ein Wort auf Harney; er sprang zwischen Jedediah und Jamey Burns hindurch und stieß sie grob beiseite. Seine Faust traf Harney und trieb ihm die Luft aus den Lungen. Harney stand einen Augenblick vornübergebeugt da und schnappte nach Luft.

Jedediah sah das Messer in Redigs Hand blitzen. Im nächsten Augenblick hätte er die Klinge bis zum Heft in Harneys Leib gestoßen, aber Jedediah sprang zu und konnte gerade noch Redigs rechte Hand festhalten.

»Los, helft mir!«, rief er. »Andy! Jamey!«

Sergeant McCall kam herbeigerannt. »Was ist hier los? Wir haben schon genug Ärger, auch ohne dass ihr euch gegenseitig die Köpfe einschlagt. Los, ich möchte wissen, was passiert ist.«

Harney schlug die Augen nieder. Das Atmen machte ihm immer noch Mühe. Schließlich murmelte er. »Nichts, McCall.«

»Er wollte abhauen«, erklärte Jedediah, »und jeden mitnehmen, der auch keine Lust mehr hat. Er sagte, unsere Rationen seien aufgebraucht, und wir hätten nichts zu erwarten als den sicheren Tod...«

»Es ist mir egal, was er sagt.« McCall zog seinen Revolver und stieß die Mündung in Harneys Bauch. »Du Dreckskerl! Ich sollte dich an Ort und Stelle erschießen. Zuerst spuckst du große Töne, was für ein toller Hecht du bist und wie du bei den Indianern gelebt und gegen sie gekämpft hast, und nun bist du der erste, der vom Desertieren redet.«

»Ich habe eben mehr Verstand als die anderen, das ist es«, sagte Harney.

McCall fluchte. »Verstand nennst du das? Na schön, ich werde dir Gelegenheit geben, deine klugen Reden vor dem Colonel zu halten.« Er steckte den Revolver ein,  schritt zu seinem Pferd, stieg auf und ritt an der Kolonne entlang nach vorn.

Harney starrte wütend in Jedediahs Gesicht. »Warum hast du ihm das gesagt? Gestern Abend wollte ich dich mitnehmen, aber du hattest keine Lust. Ich dachte, du würdest deinen Mund halten...«

»Ich vertrete den Standpunkt, ein Mann sollte für das einstehen, woran er glaubt«, unterbrach ihn Jedediah, »und sich nicht zu drücken versuchen, wie du es vorhast.«

»Wir brauchen jeden Mann, um Cheyennes zu töten«, sagte Redig. »Sogar einen verdammten Feigling wie dich.«

Es waren die ersten Worte, die Jedediah an diesem Tag von Redig gehört hatte.

Einen Augenblick später kam Forsyth zusammen mit McCall herangeritten. Beide Männer stiegen ab. Colonel Forsyth war ein noch junger Mann, der, wie auch Lieutenant Fred Beecher, im Bürgerkrieg gedient hatte und mehrfach ausgezeichnet worden war. Zuletzt war er bei General Sheridans Stab in Fort Harker gewesen. Weil er aber die Schreibtischarbeit nicht liebte, hatte er sich um den Dienst bei der Truppe beworben. Sheridan, der zu wenig Soldaten hatte, um die Indianer für ihre Überfälle am Salomon und Sabine River zu bestrafen, gab Forsyth die Erlaubnis, fünfzig Milizfreiwillige anzuwerben und die Indianer zu verfolgen. Lieutenant Fred Beecher vom dritten Infanterieregiment wurde für das Unternehmen seinem Befehl unterstellt.

Jetzt stand Forsyth vor Harney, sehr gerade und aufrecht, und seine zornigen Blicke schienen den großen Mann zu durchbohren. Er sagte: »Ich höre, Sie wollen gehen, Harney.«

»Nein, Sir«, antwortete Harney und schlug die Augen nieder. »Ich habe bloß gescherzt.«

»Er sagt, wir haben die ganze Cheyenne-Nation vor uns, nicht nur eine Bande Krieger«, sagte Jedediah. »Außerdem meint er, dass sie sich mit Sioux und Arapahoes zusammentun werden, und dass Roman Nose wahrscheinlich ihr Anführer ist. Sie würden erst angreifen, wenn ihre Übermacht groß genug ist.«

»Ich verstehe«, sagte Forsyth. »Sonst noch etwas, Harney?«

»Nein, Das ist mehr als genug, Colonel.«

Forsyth blickte in die Gesichter der Umstehenden.

»Es ist nicht richtig, nach Fort Wallace zurückzukehren. Nach meiner Meinung würde das für uns den sicheren Tod bedeuten. Die Indianer würden uns sofort im Nacken sitzen und die Kolonne durch ständige Angriffe von hinten aufreiben. Wir haben gute Gewehre und eine Menge Munition. Wir werden gegen eine Übermacht zu kämpfen haben, aber wir können sie schlagen.«

Er gab Signal zum Aufsitzen, und die Kolonne setzte sich in Bewegung.

Jedediah blickte nachdenklich auf Harneys breiten, schwitzenden Rücken. Der Mann hatte ein loses und prahlerisches Maul, aber er kannte das Land, und er kannte die Indianer. Jedediah war sicher, dass Forsyth ihn nicht überzeugt hatte. Er würde einen neuen Versuch unternehmen, sich allein oder mit anderen abzusetzen, und wenn es dazu käme, würde McCall ihn erschießen.

 

 

 

2.

 

 

Gegen vier Uhr erreichte die Truppe ein flaches Talbecken von ungefähr zwei Meilen Länge, im Süden von einem niedrigen Hügelkamm und im Norden von einem ebenso niedrigen, felsigen Hochplateau begrenzt. Forsyth konferierte mit Beecher und Grover und gab Befehl, das Nachtlager aufzuschlagen. Jedediah hielt das für eine glückliche Entscheidung; denn auf der Südseite des Flussbettes wuchs gutes Gras, und die Pferde waren erschöpft.

Die Tiere wurden mit Hilfe der Lassos angepflockt. Nach getaner Arbeit überquerte Jedediah das Flussbett, das an dieser Stelle etwa sechzig Meter breit war und nur in wenigen Rinnsalen Wasser führte, die hier und dort kleine Tümpel im sandigen Flussbett gebildet hatten. Kurz darauf stand er auf einer Flussinsel, die ungefähr hundertfünfzig Meter lang und vielleicht halb so breit war. Sie war mit hohem Gras und kümmerlichen Sträuchern bedeckt, und Jedediah bemerkte, dass nur ein einziger Baum am unteren Ende der Insel wuchs, eine kleine Schwarzpappel.

Er arbeitete sich durch das Strauchwerk zum jenseitigen Ufer der Insel und blickte über das sandige Bett des nördlichen Flussarms zu den niedrigen Felsen am Nordrand des Tals. Dort waren die Cheyennes. Es war ein sonderbares, erschreckendes Gefühl, beobachtet zu werden, ohne selbst auch nur die Spitze einer Feder oder den Rauch eines Signalfeuers zu sehen.

Als er sich umwandte, sah er Jamey Burns durch Büffelgras und Sträucher näherstapfen. Nachdem er herangekommen war, fragte der Junge noch einmal: »Harney hatte Recht, nicht wahr, Mr. Jones?«

Sein Gesicht war gerötet, und er betastete nervös seinen Schnurrbart, Ausdruck von Jameys angestrengtem Bemühen, ein Mann zu werden. Aus den Erfahrungen, die er im letzten Winter als Jameys Lehrer gesammelt hatte, wusste Jedediah, dass der Junge ein Träumer war. Träumen war gut für einen Mann, der daneben noch genug Sinn fürs Praktische hatte, aber eben der fehlte Jamey.

Jedediah fragte sich, ob dasselbe auch für Forsyth gelten mochte. Sie hatten Fort Wallace mit sieben Tagesrationen Proviant verlassen, und heute war der siebente Tag. Die letzten Bohnen würden zum Abendessen verbraucht werden; dann blieben nur noch etwas Kaffee und Salz übrig. Oder war Forsyth übermäßig ehrgeizig? Jedediah wusste nicht, welches die richtige Erklärung war, aber er wusste umso besser, dass das Resultat in beiden Fällen gleich tragisch sein konnte.

»Nun, hatte er recht?«, fragte Jamey hartnäckig.

»Es kommt hier nicht darauf an, wer Recht hat«, erwiderte Jedediah, während sie sich zum Gehen wandten. »Forsyth ist der Chef. Er gibt die Befehle. Wir befolgen sie.«

Als sie zurückkamen, war das Essen fertig. Die Sonne sank hinter den Horizont; ein phantastisches Farbenspiel erglühte über dem flachen Land im Westen, dann erstarb es, und graues Zwielicht kroch über das Tal. Forsyth gab einen letzten Befehl aus. Im Fall eines Angriffs hatte jeder Mann zu seinem Pferd zu laufen, die Zügel festzuhalten und mit dem Gewehr in der Hand zu warten, bis ihm gesagt wurde, was zu tun war.

Doppelte Wachposten wurden ausgestellt, und Harney knurrte, dass das eine Schnapsidee sei. Indianer griffen fast nie nachts an, sagte er, aber Forsyth solle dafür lieber im Morgengrauen die Augen offenhalten. Jedediah überlegte, ob Harney auch schon auf den Gedanken gekommen war, dass Forsyth mehr um die Erhaltung seiner Befehlsgewalt besorgt war, als wegen eines Indianerangriffs.

Die Dunkelheit brach herein, und die meisten Männer, erschöpft vom anstrengenden Ritt, rollten sich in ihre Decken und legten sich schlafen. Harney und Jamey suchten sich die Nähe der Feuerstelle aus. Jedediah hörte die murmelnden Stimmen an den anderen Feuern und wünschte, er wüsste, was diese Männer vor dem Einschlafen dachten. Die unterschiedlichsten Gründe hatten sie dazu bewogen, sich der Freiwilligenmiliz anzuschließen. Rachegelüste, Abenteuerlust. Der Sold von einem Dollar pro Tag, plus fünfunddreißig Cents, wenn sie ihr eigenes Pferd mitbrachten. Aber unbeschadet aller Gründe zweifelte Jedediah daran, dass auch nur einer von ihnen die Lage vorhergesehen hatte, in der sie sich an diesem Abend befanden.

Matthew Redig ließ sein Feuer ausgehen und kam unschlüssig näher. »Macht es was aus, wenn ich mich hierher setze?«, fragte er nach einer Weile.

»Durchaus nicht. Willst du nicht schlafen?«

»Nein.«

Redig starrte in die Flammen und schien weder ihn noch einen anderen zu sehen. Sein breites Gesicht war genauso stur und ausdruckslos wie an jenem Tag in Fort Hays, als Jedediah es zum ersten Mal gesehen hatte. Jedediah beugte sich vor zum Licht des Feuerscheins. Er schlug sein Tagebuch auf und begann zu schreiben.

 

An einem Nebenarm des Republican,

16. September 1868.

Wir haben sie gefunden, oder sie uns, ganz wie man es ausdrücken will. Gott allein weiß, wie viele es sind, aber nach der breiten Fährte zu urteilen, der wir seit zwei Tagen folgen, müssen es Hunderte sein. Wird Forsyth in seiner unerschütterlichen Zuversicht morgen den Befehl zum Angriff geben, oder wird er warten, bis wir angegriffen werden? Auch das weiß Gott allein, denn ich zweifle daran, dass Forsyth sich darüber klargeworden ist. Die meisten von uns rechnen damit, dass sie morgen sterben müssen, und von allen Männern in unserer Truppe scheint das Matthew Redig am wenigsten zu beunruhigen. Er ist ein seltsamer Mann, der sich nie an unseren Unterhaltungen beteiligt und nur spricht, wenn er dazu gezwungen ist. Und auch dann beschränkt er sich meistens auf einsilbige Antworten. Ich frage mich, ob er schon immer so war, oder ob etwas geschehen ist, das ihn zu diesem Mann gemacht hat, einem Mann, in dem jede Lebensfreude erstorben ist. Aus den wenigen Worten, die er gesagt hat, kann man entnehmen, dass er in seinem Leben nur das eine Ziel kennt, Cheyennes zu töten.

 

 

 

3.

 

 

Morgen war der Tag, für den Matthew Redig seit jenem 10. August gelebt hatte. Morgen würde er Cheyennes töten. Manchmal war sein Gedächtnis wie ein nebliger Morgen, ohne Sonnenlicht und voll Schatten, die an der dunklen Erde hafteten. An anderen Tagen war es scharf und sehr klar. Bei solchen Gelegenheiten erinnerte er sich daran, wie schön das Leben mit seiner Frau Mary und seinen Söhnen, dem vierzehn Jahre alten Mark und dem Baby Luke gewesen war. Aber eines änderte sich nie, und das war der Zwang, Cheyennes töten zu müssen.

Er blickte über das niedergebrannte Feuer zu Jedediah Jones hinüber, der in ein kleines, ledergebundenes Buch schrieb. Eine letzte Botschaft für ein Mädchen oder eine Frau, dachte Redig. Der Mann war glücklich, der jemanden hatte, den er lieben konnte. Für ihn, Matthew Redig, gab es niemanden mehr. Er schloss die Augen und sah alles noch einmal, alles was an jenem schrecklichen, blutigen Tag geschehen war...

Am Morgen des 10. August 1868 hatte Matthew Redig eine Milchkuh an einen Nachbarn am Saline River abzuliefern. Er trennte sich ungern von der Kuh, aber er brauchte Bargeld, um Vorräte für den Winter einzukaufen: Zucker, Salz, Kaffee, Schuhe für die ganze Familie und einen Wintermantel für Mark, der im letzten Jahr in die Höhe geschossen war, so dass er fast so groß war wie sein Vater. Die Ärmel seines alten, fadenscheinigen Mantels waren fast fünfzehn Zentimeter zu kurz geworden.

»Mach den Grauen fertig«, sagte er zu Mark und wandte sich zum Haus, um seinen Karabiner zu holen.

Auf halbem Weg blieb er stehen und ließ seinen Blick über die Gebäude schweifen, den sauberen Hof, das Kornfeld im Osten und den Wiesenhang, der sich sanft zum Fluss hinabsenkte. Das war sein Land, an die sechzig Hektar groß. Manchmal, wenn er wie jetzt an das dachte, was in den zwei Jahren seit seiner Ankunft geschehen war, überkam ihn ein Glücksgefühl, das jedoch stets mit der Befürchtung gekoppelt war, dass sein Werk keinen Bestand haben könnte.

In diesem Stück Land verkörperten sich alle Hoffnungen und Wünsche, die er kannte. Es war die Heimat für ihn und seine Frau, für Mark und für Luke, eine Heimat, die er lange Jahre hindurch gesucht hatte. Er war kein redegewandter Mann und nie fähig gewesen, seine Gefühle in angemessenen Worten auszudrücken, aber er war sicher, dass Mary von der tiefen Hingabe wusste, mit der er sie und die Jungen liebte und in Worten nicht ausdrücken konnten.

Im Bürgerkrieg hatte er an General Shermans Feldzügen teilgenommen. Nach Kriegsende war er im Land umhergestreift, immer auf der Suche und ohne recht zu wissen, was er eigentlich suchte. Dann kam er ins Tal des Saline River und wusste sofort, dass er am Ziel war. Er hatte sich von der Regierung ein Stück Land zur Besiedelung erworben, eine Notbehausung gebaut und seine Familie nachkommen lassen. Wie alle Siedler wusste er, dass der Erfolg nur von ihm, seiner Zähigkeit und seiner Arbeit abhing, aber er unterschied sich von vielen, die gleich ihm zum Saline River gezogen waren. Manche hatten bereits aufgegeben, andere hielten sich noch, obwohl sie sich über ihren Fehlschlag klar waren. Aber Matthew Redig würde durchhalten. Darüber hatte es bei ihm nie den geringsten Zweifel gegeben.

Sie lebten ein Jahr lang in der Notunterkunft. Redig pflügte den schweren Boden um und bestellte die Felder. Er besaß zwei Pferde, eine braune Stute und einen grauen Wallach, der auch als Reitpferd diente, und er hatte ein paar Kühe. Im Frühling des zweiten Jahres holte er Bauholz aus Hays City und errichtete ein Farmhaus. Nicht etwa, weil das Leben in der Behelfsunterkunft unerträglich gewesen wäre. Aber er wollte seiner Frau zeigen, was er für sie empfand, und er wusste, dass ihr nichts so viel Freude machen würde wie ein festes Haus.

Er konnte mit Werkzeugen umgehen und baute gut. Als das Haus stand, war es solide und wetterfest. Es sollte noch hier stehen, wenn Mark und Luke längst verheiratet sein und selbst Kinder haben würden. Wenn es einmal soweit war, wollte er mit Mary vor der Tür sitzen und das Tal überblicken und seinen Söhnen bei der Arbeit zusehen.

Er betrat das Haus und warf einen Blick in die Küche, wo Mary auf dem Tisch Brotteig knetete. Er versuchte das Vorgefühl drohenden Unheils abzuschütteln und nur noch zu denken, dass es in ganz Kansas keinen glücklicheren Mann gäbe als ihn.

»Ich bleibe nicht länger aus als nötig«, sagte er, »aber es wird dunkel werden, bevor ich zurückkomme. Der Graue hält nicht viel vom Galoppieren.«

»Wir kommen schon zurecht«, entgegnete Mary lächelnd. »Was soll Mark heute tun?«

»Er kann machen, was er will. Vielleicht hat er Lust, in den Wald zu gehen und uns einen wilden Truthahn zu schießen.«

»Dagegen hat er bestimmt nichts. Reite du nur los. Wir sind mit allem fertig, bis du zurückkommst.«

Er ging in den Wohnraum und beugte sich über die Wiege, in der das Baby schlief. Vor einer Woche war es ein Jahr alt geworden. Komisch, wie es dazu gekommen war, dachte er. Er hatte sich immer mehr Kinder gewünscht als nur einen Sohn, aber nur noch wenig Hoffnung gehabt. Dann, nicht lange nach ihrem Einzug in der neuen Heimat, war Mary schwanger geworden, und jetzt war es schon wieder soweit.

»Es muss an der Luft hier in Kansas liegen«, hatte Mary lachend gesagt.

Vielleicht war es so, dachte er, nahm sein Gewehr vom Wandhaken und wandte sich zur Tür. Wenn das nächste Kind ein Junge sein würde, wollte er ihn John nennen. Er zögerte. Das Unbehagen in ihm verstärkte sich. Er kehrte in die Küche zurück und küsste Mary auf die Wange. Sonst hatte er sie nur nachts geküsst, wenn sie im Bett lagen, aber Mark war nicht in der Nähe. Seine Frau blickte erstaunt auf, und das machte ihn verlegen. Er ging zur Tür.

»Matthew!«, sagte sie überrascht und froh. »Daran werde ich den ganzen Tag denken.«

Draußen sah er, dass Mark den grauen Wallach gesattelt hatte und am Weidegatter auf ihn wartete. Die Milchkuh, die er mitnehmen wollte, graste zwischen dem Haus und dem Fluss.

Redig stieg in den Sattel und blickte auf den Jungen hinunter. Mark war schon fast ein Mann, mit dunklem Bartflaum auf der Oberlippe, der ihm ein ungewaschenes Aussehen verlieh, und mit Händen und Füßen, die etwas von der Größe ahnen ließen, zu der er noch heranwachsen würde.

»Du hast einen schönen Tag vor dir«, sagte Redig. »Du darfst uns nämlich einen Truthahn schießen.«

 

Mark blickte erstaunt auf, dann lächelte er. »Gern, Papa. Wird gemacht.«

»Pass auf den weißen Kojoten auf«, sagte Redig halb im Scherz und zwinkerte seinem Sohn zu.

Es war sein Lieblingsaberglaube. Er hatte noch nie einen weißen Kojoten gesehen, und vielleicht gab es gar keinen. Aber er hatte nie vergessen, was ihm ein alter Pawnee vor Jahren einmal erzählt hatte. Danach war es schlechte Medizin, wenn man einen weißen Kojoten sah; denn dann lebte man nicht mehr lange. Vielleicht war es nur ein alberner Scherz gewesen,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Wayne D. Overholser/Apex-Verlag/Successor of Wayne D. Overholser.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Walter Brumm und Christian Dörge (OT: Standoff At The river).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 20.08.2019
ISBN: 978-3-7487-1330-2

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