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Leseprobe

 

 

 

 

ERROL LECALE

 

 

DAS GEISTERSCHIFF

- 13 SHADOWS, Band 36 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DAS GEISTERSCHIFF 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

 

Das Buch

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stößt das englische Dampf-Frachtschiff Unity in der südwest-atlantischen Sargassosee auf den holländischen Segler Grijt Henryk. Dieser treibt verlassen durch die Wellen; die Besatzung hat das Schiff offenbar fluchtartig verlassen, obwohl es völlig unbeschädigt ist.

MacNeil will sich das Bergungsgeld verdienen und nimmt die Grijt Henryk ins Schlepptau. Bis man in England an Land geht, gehen drei Matrosen der Unity verloren. Ihre Kameraden weigern sich, das Geisterschiff zu betreten, und MacNeil fügt sich, da in der Tat etwas Unheimliches an Bord umgeht...

 

DAS GEISTERSCHIFF von Errol Lecale wurde in Deutschland erstmals im März 1976 als VAMPIR-HORROR-ROMAN-Taschenbuch Nr. 33 veröffentlicht (unter dem Titel DAS GEHEIMNIS DER TOTENKISTE).

DAS GEISTERSCHIFF erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  DAS GEISTERSCHIFF

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Verdammte See! Kapitän Eric MacNeil dachte an seinen Vater, als er von der Brücke über die ölig-trägen Wellen starrte. Damals waren es noch Segel gewesen, und im Notfall Ruder, die einem Schiff über diese Leere geholfen hatten. Und gab es keinen Wind, gab es auch kein Vorwärtskommen.

Das verdammte Sargassomeer! Die flachen Wellen, die müde dahinrollten und nie das ehrliche Weiß von Schaumkronen zeigten oder echtes Leben verrieten wie der Rest der Weltmeere! So wie diese verfluchte See stellte er sich etwa die Hölle vor – die unerträgliche Eintönigkeit eines Meeres, das noch nie einen Sturm gekannt hatte.

Rings um das Schiff trieben kleine Inseln von schwimmendem Beerentang, dem ekelhaften gelben Zeug, das sich besser am Meeresboden versteckt halten sollte, als seine Hässlichkeit so offen zu zeigen und auch noch mit den kleinen Krabben anzugeben, die sich auf seiner Oberfläche tummelten.

Immer wenn er hier durchfuhr, erinnerte er sich an die erste Zeile eines Gedichts von – war es Samuel Taylor Coleridge?

Allein – allein – auf weiter, weiter See...

Für einen Seemann war das ein Gedicht, das ihm so richtig durch Mark und Bein ging, denn nur er kennt die wahren Schrecken der entsetzlichen Leere eines Ozeans.

Allein – allein – auf weiter, weiter See.

Dabei war dieser Samuel Taylor Coleridge gar kein Seemann gewesen. Nein, nichts weiter als ein Schreiberling war er, ein Poet! Nie war er die Wanten hochgeklettert und hatte oben im Royal gegen den Sturm angekämpft.

Mit der Verachtung eines Mannes der Tat für einen Schreibtischhengst entblößte MacNeil geringschätzig die Zähne.

Mr. MacAdams neue Maschinen pochten unter seinen Füßen, während er an die Zeiten zurückdachte, als er noch ein echter Seemann gewesen war und nicht nur der Kutscher einer Blechbüchse.

Aber ein Vergnügen war es auch nicht gewesen, in diesem verdammten Meer Seemann zu sein und auf eine steife Brise zu warten, die doch nie kam! Sein Vater hatte die Schrecken dieser trägen See noch selbst erlebt. Er hatte ihm erzählt, wie sie oft Tage und Wochen in dem grässlichen gelben Treibtang festlagen...

Nein, da war es schon besser, das Stampfen der Maschinen in Kauf zu nehmen und sie mit guter Kohle aus Newcastle zu füttern.

Doch das Gedicht ging ihm nicht aus dem Kopf. Es hatte etwas mit einem Albatros zu tun. Der Vogel hatte ihn getötet...

Dieser Coleridge musste so eine Art Albatros-Verfolgungswahn gehabt haben. In dem Gedicht war der Held dazu verdammt, den Albatros um den Hals zu tragen. Lächerlich! 

Ein Albatros war schließlich nur ein Vogel und nichts weiter. Wie viele hatte er selbst schon erlegt! Im Augenblick trug er sogar einen Tabakbeutel aus Albatroshaut bei sich.

Dumme Vögel, dachte er. Kap-Horn-Schafe. Ihre Federn sind so zottlig wie die Wolle der ungeschorenen Lämmer. Und sie sind so leicht zu fangen! Man brauchte nur Achteraus irgendeinen Köder auszuhängen, und schon schnappten die dummen Vögel danach. Nicht einmal ein Haken war nötig. Sie verschlangen das Zeug mit Haut und Haar, und dann konnte man sie an der Schnur, an der der Leckerbissen befestigt gewesen war, heraufziehen.

Als er noch ein Schiffsjunge war, mit einer Heuer von fünf Pfund im Jahr, hatten die Albatrosse Frischfleisch bedeutet – etwas zu essen, das nicht schon jahrelang eingepökelt war.

Ja, das waren eben noch Zeiten gewesen, ehe er zum Jockei eines Kupferkessels wurde.

Aber viel zu futtern war an so einem Albatros wirklich nicht. So groß sie waren, diese eleganten Vögel, die über die Wellen segelten, ohne ihre weiten Flügel zu bewegen – wenn sie erst einmal gerupft waren, blieb nicht mehr als ein Bissen für jeden...

»Kapitän, Sir...«

Er blickte den Schiffsjungen, der ihn so jäh aus seinen Gedanken gerissen hatte, stirnrunzelnd an, schwieg jedoch.

»Ein Schiff steuerbord voraus, Sir.«

Die Jahre, die er auf dem Buckel hatte, wurden ihm so richtig bewusst, als er in das junge frische Gesicht sah.

»Ist mir bekannt«, log er. »Glaubst du, ich bin blind, Junge?« Unauffällig warf er einen Blick nach Steuerbord.

Tatsächlich, es war ein Schiff, ein echtes Schiff, ein Dreimaster, dessen Segel schlaff von den Rahen hingen.

All das registrierte er im Bruchteil einer Sekunde und tat, als wäre es ihm schon längst aufgefallen. Der Kapitän sah alles. Davon musste ein Schiffsjunge fest überzeugt sein.

»Wir haben hier also ein fremdes Schiff«, brummte er. »Nun sag mir, was du davon hältst. Hast du es dir schon durchs Glas angesehen?«

»Mr. Jorkens, Sir, glaubt, dass mit dem Schiff etwas nicht stimmt, Sir.«

MacNeil fluchte insgeheim. Er war von seinem Ersten nicht sehr angetan. Jorkens machte der Tochter des Eigners den Hof und sah sich bereits als Chef der Schifffahrtsgesellschaft. Wenn es je so weit kommt, dachte MacNeil, dann fresse ich den Anker! 

Aber irgendetwas schien wirklich faul mit dem Klipper. Wieso waren die Vorsegel Back, als wollte er beidrehen?

Er warf einen Blick durch das Glas und brummte etwas Unverständliches vor sich hin.

Das Schiff ragte hoch aus dem Wasser, was auf einen leeren oder zumindest fast leeren Laderaum schließen ließ. In dem kaum nennenswerten Wind, der gerade reichte, die Segel jetzt ein wenig aufzublähen, gierte es leicht von Back- nach Steuerbord.

Niemand stand am Ruder, auch waren die Segel nicht gezurrt, wie es der Fall hätte sein müssen, wenn es wegen schlechten Wetters beigedreht wäre, ehe es ins Sargassomeer einfuhr.

Eine unbestimmte Vorahnung sandte einen kalten Schauder über Kapitän MacNeils Rücken. Später sollte er bereuen, nicht darauf geachtet zu haben, dem Klipper nicht das Heck zuzudrehen und mit voller Kraft davonzudampfen.

Im Augenblick wunderte er sich jedoch nur, dass keine Menschenseele sich an Deck des Dreimasters befand – kein Rudergänger, kein Ausguck, ja, nicht einmal Neugierige, obwohl man gewiss auch dort drüben seit Wochen kein anderes Schiff gesichtet hatte.

Es war unnatürlich. Alles an diesem Klipper war unnatürlich.

Nur eines stand fest: Er befand sich in Seenot. Und der Kodex der See verlangte, dass er alles zur Hilfe unternahm, was in seiner Macht stand.

»Steuerbord, Mister!«, befahl er Jorkens. »Wir werden uns die Hübsche näher ansehen.«

Der Steuermann gab den Befehl an den Rudergänger weiter, und der Dampfer Unity drehte auf das hohe Schiff zu, das in der öligen See schaukelte.

Mit jeder Minute des Näherkommens wurden die Einzelheiten deutlicher sichtbar. Es befand sich tatsächlich niemand auf Deck. Und auf der ihnen zugewandten Seite hingen die Leinen der Rettungsboote ins Wasser.

Hatte die Mannschaft den Klipper verlassen? Und wenn ja, weshalb?

Den Masten und Segeln nach zu schließen, war er keinem Sturm ausgesetzt gewesen.

Nach MacNeils Erfahrung gab es nur zwei weitere Gründe, ein Schiff aufzugeben – Feuer und Seuche. Ein Feuer hätte Spuren hinterlassen, es waren jedoch keine bemerkbar.

Wieder brummte MacNeil etwas Unverständliches vor sich hin. Pest?, überlegte er. Gelbfieber? Pocken? Cholera? Die halbe Besatzung tot und die Überlebenden ergriffen die Flucht? 

Der Name am Bug war nun zu lesen. Grijt Henryk. Eine niederländische Flagge hing schlaff vom Heck.

»Ein Holländer, Sir!«, rief Jorkens. Er war ein noch sehr junger Mann und machte auf der Unity seine erste Fahrt als Steuermann.

»Wie aufmerksam«, brummte MacNeil sarkastisch. »Gehen Sie näher heran.«

Langsam stampfte die Unity um den Dreimaster. Jeder an Bord machte es sich zur Aufgabe, mit bloßem Auge oder Fernglas, wo vorhanden, die Decks des Fremden abzusuchen.

»Rufen Sie, Mister«, befahl MacNeil. »Sie haben eine laute Stimme, wenn ich mich nicht irre...«

Doch auch auf Jorkens Aufforderung rührte sich nichts auf dem Klipper.

MacNeil musterte das fremde Schiff. Es befand sich, zumindest äußerlich, in gutem Zustand und schien noch verhältnismäßig neu zu sein.

»Ein Boot, Mister. Sie übernehmen hier das Kommando, bis ich zurück bin.«

»Captain, Sir, wäre es nicht möglich, dass eine Seuche an Bord herrscht?«

»Daran dachte ich auch schon«, erwiderte MacNeil schwer. »Aber sie haben weder die gelbe Fahne gehisst noch ihre Nationalflagge auf Halbmast gesetzt. Ich werde an Bord gehen.«

Er blinzelte verschmitzt. »Sie wird uns Bergungsgeld einbringen, Mr. Jorkens. Denn es sieht ganz so aus, als hätte man sie aufgegeben. Wir werden sie in Tau nehmen, und dann gehört sie uns.«

Die paar tausend Pfund Bergungsgeld, dachte Kapitän MacNeil, würden seinem Bankkonto guttun.

 

Eine nicht sehr begeisterte, ja sogar ein wenig ängstliche Mannschaft setzte mit Kapitän MacNeil über. Die Männer hatten MacNeils und Jorkens Erwähnung einer eventuellen Seuche gehört und verheimlichten deshalb ihre Erleichterung nicht, als der Captain ihnen befahl, im Beiboot auf ihn zu warten.

Kapitän MacNeil stieg allein an Bord. Als er das Deck erreichte, band er sich zunächst ein in Essig getauchtes Halstuch um Mund und Nase. Sollte doch eine Seuche auf dem Holländer herrschen, mochte es ihn vielleicht vor einer Ansteckung schützen. Jedenfalls war es die einzige Schutzmaßnahme, die im Erste-Hilfe-Buch in der Schiffsapotheke angegeben war.

»Hallo! Jemand an Bord?«, rief er vorsichtshalber noch einmal. Nur Schweigen antwortete ihm.

Ein unerwartetes Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Aber er hatte den Grund dafür schnell entdeckt. Die Kombüsen-Tür war zugeschlagen. Er öffnete sie und sah sich im Innern um. Wie er erwartet hatte, brannte kein Feuer im Herd. Er war völlig kalt.

An Proviant mangelte es jedoch offensichtlich nicht. Es war alles in Fülle vorhanden: Schiffsbrot, Kartoffeln, Pökelfleisch, selbst Zwiebeln, die auf manchen Schiffen als Luxus erachtet wurden. Töpfe und Pfannen glänzten vor Sauberkeit und standen ordentlich auf Regalen und in Wandschränken.

MacNeil machte sich zu den Offizierskabinen im Heck auf. Wenn er Glück hatte, fand er hier vielleicht das Logbuch und sonst ein paar Anhaltspunkte über das mysteriöse Verlassen.

Die Kabinen waren geräumig und fast luxuriös ausgestattet. Die Vorratskammer, die zur Kapitänskajüte gehörte, war ebenfalls wohlgefüllt – mit Dosenfleisch, Marmelade und Regalen voll guten Weins und anderen Alkoholika.

Aber weder hier noch im Kartenhaus befand sich das Logbuch. Auch der Sextant, das Chronometer und sämtliche Karten waren verschwunden. Die Kiste, die vermutlich den Kompass enthalten hatte, war ebenfalls leer.

Nirgends ein Anzeichen von Seuche, Tod oder irgendeiner anderen Katastrophe. MacNeil kehrte verwirrter als zuvor auf Deck zurück.

»Alles in Ordnung, Captain?«, brüllte Jorkens durch ein Megaphon herüber.

Ungeduldig winkte MacNeil ab und stapfte zum Vorderdeck. Wenn überhaupt, dann musste er hier in der Mannschaftslogis einen Hinweis finden. Wenn einer an einer Seuche gestorben war...

Aber die Luft war so rein, wie sie eben in Mannschaftsräumen sein konnte. Auch hier befand sich keine Menschenseele, und es sah auch nicht so aus, als wäre die Besatzung überstürzt von Bord gegangen. Von den Kojen fehlten die Decken, etwa die Hälfte der Spinde war leer und ebenso viele Seesäcke fehlten.

MacNeil zündete die Petroleumlampe an und blickte sich gründlich um.

Nein, nichts wies auf einen hastigen Aufbruch hin.

Aber weshalb war fast die Hälfte der Spinde noch voll? Und die dazugehörenden Seesäcke waren ebenfalls zurückgeblieben. Ein Seemann würde doch seine Schätze nicht so einfach aufgeben.

MacNeil kratzte sich den Kopf und ließ sich zum wartenden Boot herunter.

Er empfand zweifellos tiefe Erleichterung, als das Boot die Grijt Henryk hinter sich ließ, und das verwirrte ihn umso mehr, weil er sich normalerweise nicht so leicht von Stimmungen beeinflussen ließ.

Aber irgendetwas war mit dem Klipper los. Selbst an Bord der Unity hatte er noch das Gefühl, als ob das Böse in Person auf der menschenleeren Grijt Henryk lauerte.

  Zweites Kapitel

 

 

»Na, was halten Sie davon, Mr. Jorkens?«

Der Erste Offizier der Unity machte aus seiner Verblüffung kein Hehl. Er zuckte die Schultern. »Keine Spur von Seuche«, rekapitulierte er, »kein Anzeichen, dass sie in einen Sturm gekommen wären... Und doch haben alle den Holländer verlassen. Könnte... könnte vielleicht eine Meuterei stattgefunden haben?«

»Es könnte«, brummte Kapitän MacNeil. »Es könnte auch ein Piratenstreich gewesen sein. Aber bei einer Meuterei oder einem Piratenüberfall geht es wohl kaum ohne Blutvergießen ab. Und ich habe noch nie gehört, dass Meuterer oder Piraten hinter sich das Deck schrubben. Normalerweise würden sich Meuterer wie auch Piraten, nachdem sie das Schiff in der Hand haben, volllaufen lassen. Aber die Alkoholbestände waren reichlich. Und falls es tatsächlich Meuterei war – weshalb hätten sie das Schiff dann verlassen? Sie hätten doch zweifellos gewartet, bis Land in Sicht kam, und sich dann erst mit den Booten davongemacht.

Und außerdem – die Karten, der Sextant und das Chronometer sind verschwunden. Das deutet darauf hin, dass ein Offizier das Kommando über die Rettungsboote übernommen hatte. Nein, nein, ich glaube nicht an eine Meuterei. Und was Piraten betrifft – davon hat man hier im Sargassomeer schon seit Pontius Pilatus nichts mehr gehört. Abgesehen davon, dass sie der Mannschaft kaum die Gelegenheit gegeben hätten, ihre Seesäcke mitzunehmen. Sie wären ja auch an Beute interessiert gewesen. Und soweit ich beurteilen kann, sah es nicht nach Plünderung aus...« Er verzog nachdenklich das Gesicht. »Nur die Hälfte der Seesäcke fehlte«, überlegte er laut. »Das könnte bedeuten, dass einige Männer bereits tot waren... Wir stehen hier vor einem großen Rätsel, Mister Jorkens, einem großen Rätsel...«

Auch Jorkens hatte nachdenklich die Stirn in Falten gelegt. »Die Marie Celeste!«, rief er plötzlich. »Captain, haben Sie von der Marie Celeste gehört?«

»Wer hat das nicht?«, knurrte MacNeil.

»Sie wurde völlig verlassen aufgefunden«, fuhr der Steuermann fort, als hätte er den Kapitän überhaupt nicht gehört. »Alle Segel waren gesetzt, das Feuer in der Kombüse brannte, und manche behaupten sogar, dass in der Messe noch Speisen auf den Tellern waren. Doch von der Mannschaft gab es keine Spur, weder an Bord noch sonst wo. Es war ruhiges Wetter – wenn sie mit den Rettungsbooten aufgebrochen wären, hätte man sie sehen müssen... Aber von den Booten fehlte ohnehin keines. Vielleicht haben wir hier einen ähnlichen Fall?«

MacNeil schüttelte den Kopf. »Nein, so groß ist die Ähnlichkeit gar nicht. Beispielsweise sind hier die Rettungsboote weg. Also ist durchaus anzunehmen, dass die Besatzung das Schiff darin verließ. Auch die Seesäcke fehlen – selbst die Decken. Offenbar rechneten die Männer mit einer längeren Fahrt.«

Ohne ein weiteres Wort begab er sich ins Kartenhaus und berechnete Kurs und Entfernung. Als er damit fertig war, rief er erneut nach seinem Ersten.

»Wie viele Seeleute haben wir?«, erkundigte er sich. »Und ich meine echte Seeleute, die mit den Segeln umgehen können, und keine Dampfschiffer.«

Jorkens zuckte unter der Geringschätzung in der Stimme des Kapitäns zusammen.

»Die meisten haben von der Pike auf einem Segler gelernt, genau wie ich.«

MacNeil betrachtete nachdenklich den Dreimaster. »Ich kann keine Bergungsmannschaft abkommandieren, aber wir können sie abtakeln und ins Schlepptau nehmen.«

»Ins Tau, Sir?«

»Warum nicht? Die Unity schafft das leicht – bei unseren Maschinen! Wenn ich an früher denke! Ich erinnere mich, als wir vor etwa zehn Jahren die Huntress von Kap Horn in Schlepp nahmen, und dies mit der altersschwachen Highlander. Sorgen Sie dafür, dass sich Freiwillige melden, Mr. Jorkens. Oder teilen Sie ein paar erfahrene Seebären ein.« Seine Augen funkelten kalt. »Die Grijt Henryk wird uns einen schönen Batzen Geld einbringen. Ich habe nicht die Absicht, sie hierzulassen, dass ein anderer das Bergungsgeld bekommt.«

Mit auf dem Rücken verschränkten Armen und verbissenem Gesicht stapfte er auf dem Achterdeck hin und her.

»Die einzige Alternative wäre sie zu versenken«, brummte er schließlich.

»Versenken, Sir?«

»Mann, seit wann sind Sie bei der christlichen Seefahrt? Sie müssen doch wissen, dass man ein verlassenes Schiff nicht einfach frei treiben lassen darf. Wie leicht könnte ein anderes es im Dunkeln rammen! Aber wir haben keinen Sprengstoff an Bord. Und weil sie aus Eisen ist, können wir sie auch nicht verbrennen. Nein, es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als sie in Schlepptau zu nehmen.«

 

Sie manövrierten die Unity, bis sie neben der Grijt Henryk lag. Dann mussten die Freiwilligen an Bord des Dreimasters geschickt werden, um sie abzutakeln, denn es hätte nicht genügt, sie nur aufzugeien; der Widerstand der Maste und Takelage hätte die Unity zuviel unnötige Kraft gekostet.

Die Sonne ging bereits unter, als das Dampfschiff vorwärtsstampfte und das Schlepptau sich schließlich spannte.

Kapitän MacNeil stand auf der Brücke und seufzte erleichtert. »Die Plackerei wird sich bezahlt machen«, brummte er vor sich hin.

Aber als er die Grijt Henryk betrachtete, hatte er ein ungutes Gefühl. Er versuchte, es zu unterdrücken und Logik walten zu lassen. Er hatte ein aufgegebenes Schiff entdeckt und nirgends eine Spur der Besatzung gefunden. Er hatte dieses Schiff nun in Tau genommen und würde es zum nächsten Hafen schleppen – dem Londoner natürlich, denn schließlich war er ja kein Schwachkopf.

Aber weshalb diese Unruhe tief in ihm?

Die Maschinen der Unity schleppten die beiden Schiffe durch den Tang des Sargassomeers.

 

Bei Einbruch der Nacht hatte MacNeils Unruhe sich nicht gelegt, im Gegenteil – sie hatte sich womöglich noch verstärkt. Immer noch war kein Wind aufgekommen, immer noch hing die drückende Atmosphäre über ihnen, die normalerweise einem Sturm vorausgeht. Aber das Barometer stand hoch. Für Orkane war nicht die richtige Jahreszeit, und außerdem gab es keinen Grund zur Beunruhigung.

MacNeil fluchte über seine Kenntnisse des Sargassomeers. Selten, dass sich jetzt noch Segelschiffe hierher verirrten. Aber der Grund, weshalb sie es nicht taten, war genau der, den ein Dampfschiff vorzog: ruhiges Wasser, keine hohen Brecher, keine stürmischen Winde, eine träge Strömung. Na ja, und der Beerentang störte nicht allzu sehr, wenn man das Wasser hier kannte wie er. Hätte er jedoch den üblichen Kurs genommen, wäre er nicht auf den verdammten Dreimaster gestoßen.

Im Augenblick hob nicht einmal der Gedanke an das Bergungsgeld seine Stimmung. Sein Vater war der siebte Sohn eines siebten Sohnes gewesen, vielleicht hatte er – auch wenn er nie daran geglaubt hatte – doch etwas von dem ungewollten Zweiten Gesicht abbekommen.

Die verfluchte Unruhe ließ ihn auch nicht schlafen. Er versuchte es, gab es aber bald wieder auf. Etwa eine Stunde nach Mitternacht spürte er, dass das Heck unkontrolliert hin und her schwang.

»Mister!«, brüllte er seinen Ersten an. »Was für einen Steuermann haben Sie denn für die Grijt Henryk eingeteilt? Einen Cowboy, vielleicht? Sie schwankt wie besoffen...«

»Higgins, der Waliser, Sir... Er ist ein guter Mann am Ruder, Sir.«

»Und was ist das dann dort am Heck? Sie liegt ja schon fast längsseits!«

MacNeil vergewisserte sich hastig, dass das Hecklicht der Unity auch tatsächlich brannte – denn nach ihr würde Higgins sich richten. Es flackerte ungetrübt.

Er nahm das Megaphon. »Ahoi, Higgins!«, brüllte er. »Mehr Abstand bewahren. Hören Sie, Higgins! Mehr Abstand!«

Aber der Waliser rührte sich nicht.

MacNeil runzelte die Stirn. »Mister Jorkens«, brummte er. »Lassen Sie das Beiboot klarmachen. Ich fürchte, ich werde es wieder brauchen...«

Es dauerte eine Weile, bis die Mannschaft sich einfand. Es war ganz offensichtlich, dass keiner den Wunsch hegte, noch einmal Fuß auf die Grijt Henryk zu setzen.

»Sie ist ein Unglücksbringer«, murmelte einer der Besatzung. »Je eher wir das Tau kappen und sie absetzen, desto besser.«

MacNeil wunderte sich selbst, dass er den Mann nicht zurechtwies. Der Grund war weniger, dass er Aufruhr befürchtete, sondern dass er insgeheim nicht anders dachte.

Nie war er so ungern in ein Boot gestiegen und über einen Flecken ruhigen, sicheren Wassers gefahren. Bedeutsamerweise verhielten alle sich schweigsam. Die Männer brummten nicht einmal. Nur das Knarren der Ruder war zu hören und das Plätschern des Wassers, wenn sie eintauchten.

Als sie längsseits des Holländers ankamen, rief MacNeil nach Higgins und den beiden anderen Freiwilligen, Johansen und Morton, die an Bord geblieben waren.

Keine Antwort erfolgte, keine Strickleiter wurde herabgelassen, keine Schritte waren an Deck zu hören.

»Ein Unglücksschiff, ein fluchbeladenes Schiff – ein Totenschiff«, brummte die gleiche Stimme wie an Bord der Unity.

»Das genügt!«, bellte MacNeil jetzt doch. »Diese verdammten pflichtvergessenen Kerle! Beim Klabautermann, dafür gehörten sie gekielholt!«

Wütend kletterte er an Deck.

»Higgins!«, donnerte er. »Wo, zum Teufel, sind Sie?«

Fast bewusst peitschte er seinen Ärger auf, um damit seine geheimen Befürchtungen zu unterdrücken.

Das mondhelle Deck war so leer, wie es nur sein konnte. Er schritt es langsam ab und rief immer wieder nach den drei Seeleuten.

Die Laterne am Kompasshäuschen vor dem Ruder brannte. Aber keine Hand steuerte den Kurs. Das Rad drehte sich durch den Zug des Taus langsam von Seite zu Seite. MacNeil blickte verlangend hinüber zu den Lichtern der Unity.

Aber er musste seine Leute finden.

Diese Faulenzer, diese Halunken, sie haben die Schnapsvorräte entdeckt und liegen besoffen unter Deck, versuchte er sich selbst zu überzeugen.

Aber ein eisiger Schauder lief ihm den Rücken hinab. Innerlich wusste er, es gab keinen normalen Grund, weshalb sie ihren Posten hätten verlassen sollen.

Irgendetwas Entsetzliches war auf dem Schiff passiert. Etwas sagte ihm, dass er Higgins, Johansen und Morton nie wiedersehen würde.

  Drittes Kapitel

 

 

Die zwei Schiffe, durch das Schlepptau verbunden, glitten

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Wilfred Glassford McNeilly/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Lore Strassl (OT: Death Box). Mit freundlicher Genehmigung der Edition Bärenklau/Literatur-Agentur Jörg Martin Munsonius.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2019
ISBN: 978-3-7487-1121-6

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