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Leseprobe

 

 

 

 

JULIE CAMERON

 

 

DIE DUNKELHEIT

- 13 SHADOWS, Band 35 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE DUNKELHEIT 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

 

Das Buch

Luther Waterman glaubt nicht an die Mächte der Finsternis.

Doch schließlich kommt der Tag, an dem seine Welt zusammenbricht. Es ist jener Tag, an dem Waterman zu der grauenvollen Erkenntnis gelangt, dass seine kleine Tochter Penny zum Spielball teuflischer Wesen geworden ist.

Luther Waterman muss das Leben seiner Tochter retten und seine Frau und sich vor den dunklen Mächten schützen. Ihm bleibt nur ein Ausweg: der Exorzismus. Und er weiß, welche Schrecken er damit heraufbeschwört...

 

DIE DUNKELHEIT von Julie Cameron (ein Pseudonym der US-amerikanischen Schriftstellers Lou Cameron) wurde in Deutschland erstmals im Juli 1976 als DÄMONENKILLER-Taschenbuch Nr. 18 veröffentlicht (unter dem Titel SATANS BLONDER ENGEL).

DIE DUNKELHEIT erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  DIE DUNKELHEIT

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Judith Watermans erster Eindruck von New York war niederschmetternd. Durch einen heftigen Sommersturm im Hudson Valley war der Verkehr fast zum Erliegen gekommen. Der Bus hatte schon eine gute Stunde Verspätung. Der Regen hatte die Fensterscheibe an ihrer Seite so verschmiert, dass sie außer ein paar Lichtern und unförmigen Gebäuden überhaupt nichts sah. Der Bus taumelte wie ein seekranker Elefant. Judith befürchtete sich wieder übergeben zu müssen. Dieses Malheur war ihr schon vor Stunden passiert. Obwohl sie im Waschraum des Busses das größte Übel beseitigt hatte, roch ihre Bluse immer noch leicht nach dem Erbrochenen. Die Fahrt schien kein Ende zu nehmen.

Penny, die neben ihr saß, plapperte unaufhörlich. Einem vierjährigen Kind ist es wahrscheinlich gleichgültig, ob jemand zuhört oder nicht. Unter normalen Umständen hätte Judith das Kind zum Schweigen gebracht – doch jetzt war sie froh, dass wenigstens Penny gegen den stinkenden, schwankenden Bus immun war.

Doch als dann der Bus in ein Asphaltloch geriet und Judith grün im Gesicht wurde, richtete sich Pennys Interesse auf eine Dame auf der anderen Seite des Ganges. Sie zupfte am Ärmel ihrer Mutter und fragte: »Warum hat die Dame rote Haare, Mami?«

Judith schluckte ein paarmal kräftig, ehe sie Penny zuflüsterte: »Halt’ den Mund, mein Liebling. Wir sind bald da.«

»Warum hast du rote Haare?«, fragte Penny daraufhin die Dame direkt.

Judith registrierte erleichtert, dass die ältere Dame lächelte und antwortete: »Weil ich sie mir gefärbt habe. Weshalb hast du blonde Haare?«

Penny dachte einen Augenblick nach, ehe sie antwortete: »Weil ich so aus dem Hospital gekommen bin. Meine Mami hat den Arzt gebeten, mich mit blonden Haaren zu machen.«

»Wetten, dass ich weiß, wie du heißt?«

Judith brachte so etwas wie ein dankbares Lächeln zustande. »Wetten, dass du es nicht weißt?«, fragte das Kind.

Die Frau tat, als ob sie sich mächtig anstrengte, und fragte dann: »Darf ich dreimal raten?«

»Na schön«, meinte Penny gönnerhaft.

»Elizabeth oder Floribunda – oder vielleicht Bathsheba June.«

»Das sind ganz dumme Namen«, meinte das Kind schnippisch. »Ich heiße Penelope – und das ist meine Mami. Wir fahren zu Vatis neuer Kirche in New York. Damit du Bescheid weißt!«

Judith riss sich zusammen und legte ihrer Tochter die Hand aufs Knie.

»Benimm dich, Penny. So darfst du mit Erwachsenen nicht reden.«

»Mir macht es nichts aus«, lächelte die Frau mit den roten Haaren. »Sie ist wohl gerade in diesem Alter, wie?«

»Ja. Man sagte mir, dass alles leichter würde, wenn sie erst einmal sprechen gelernt hätte. Doch als sie Da-Da sagen konnte, war sie überhaupt nicht mehr zu bremsen.«

Während die ältere Dame daraufhin verständnisvoll nickte, rumpelte der Bus durch einige Schlaglöcher und ging so scharf in die Kurven, dass sich Judiths Magen aufregte. Sie war sichtlich erleichtert, als der Wagen bremste und eine Stimme durchs Mikrophon plärrte:

»Port Authority Bus Terminal! Alle Fahrgäste nach New York aussteigen!«

Penny sprang sofort auf und rannte auf die Tür zu. »Ich sehe Vati!«, brüllte sie aufgeregt.

Sekunden später hielt Luther Penny in einem Arm und umklammerte mit der anderen Hand den Koffer. Er grinste Judith zu und sagte: »Sehen wir zu, dass wir aus diesem Irrenhaus kommen.« Er führte seine Familie in die Schalterhalle, die ebenfalls einem Irrenhaus glich und erklärte: »Wir müssen jetzt den Ausgang zur Ninth Avenue finden, um ein Taxi in die Stadt zu bekommen.«

»Wenn wir nicht zuerst eine Coke trinken, wird mir schlecht«, erklärte Judith.

Luther blieb stehen und warf ihr einen besorgten Blick zu. »Du siehst ja wie durch den Wolf gedreht aus. Ist dir Penny im Bus sehr auf die Nerven gefallen, Liebling?«

»Nicht mehr als üblich. Die Busfahrt hat mich geschafft. Ich muss mich im Augenblick an einen Platz setzen, der sich nicht bewegt!«

»Hier oben befindet sich ein Drugstore«, sagte Luther und ging auf eine Rolltreppe zu. Er wartete, bis Judith zögernd die Treppe betreten hatte, ehe er mit Penny und dem Koffer folgte. Während das Kind jubelte, fragte Luther seine Frau, ob es ihr gut gehe.

Judith, die Angst hatte, den Mund aufzumachen, antwortete nicht. Oben angekommen, half ihr Luther. Es dauerte eine Weile, bis sie im überfüllten Drugstore einen Platz gefunden hatten.

Schließlich tauchte ein Kellner mit einem finsteren Gesicht auf. »Ja?«

»Zweimal Eiscreme und ein Glas Kakao«, bestellte Luther.

Der Kellner nickte nur kurz.

»Sind die hier alle so?«, flüsterte Judith.

»Du meinst die New Yorker?« Luther grinste. »Sie sind so höflich wie die Leute bei uns zu Hause – sie wollen es nur nicht zeigen. Du wirst dich schon an diese Art gewöhnen.«

Der Kellner brachte zwei Gläser mit Kakao und stellte sie vor Judith und Penny ab. »Das Eis kommt später.«

»Was hast du denn nun eigentlich bestellt?«, fragte Judith verwirrt.

Luther, der schon drei Tage in New York war und bereits mit einigen Gepflogenheiten vertraut zu sein schien, lächelte milde. »Auch daran wirst du dich gewöhnen.«

Nachdem sie eine Weile gesessen hatten, fühlte sich Judith wesentlich wohler.

»Können wir jetzt ein Taxi nehmen, Liebling?«, fragte Luther.

»Es war so verdammt stickig in dem verdammten Bus. Können wir nicht laufen? Wie weit ist es eigentlich?«

»Nicht einmal eine Meile – aber es gießt in Strömen. Komm’ – mit einem Taxi sind wir in ein paar Minuten da.«

Judith, die protestieren wollte, musste zugeben, dass Luther recht hatte. Er hatte meistens recht – obwohl sie jetzt lieber durch den Regen gegangen wäre.

Nachdem sie gezahlt hatten, ging Judith mit unsicheren Schritten auf das Taxi zu. Um keinen Preis der Welt wollte sie Luther in dieser Stadt aus den Augen verlieren. Ihr Mann klopfte ihr beruhigend auf die Schulter.

»Das ist alles nicht so schlimm. Wenn du dich erst einmal eingelebt hast, fühlst du dich hier wie zu Hause. Zumindest in Manhattan. Bis jetzt kenne ich auch nur die nähere Umgebung. Als ich gestern zur Wall Street musste, habe ich mich völlig verfahren. Doch in unserer Umgebung kenne ich mich schon aus.«

Luther nannte dem Fahrer die Adresse. Nachdem Luther seine Familie und das Gepäck verstaut hatte, sagte der Fahrer: »Ich komme auf der Seventh Avenue schneller voran, Kamerad.«

Doch Luther brummte: »Sie fahren die Ninth Avenue entlang – oder Sie halten bei der nächsten Polizeistation, Freundchen!«

Der Fahrer zuckte die Achseln und fuhr an. Luther kicherte. »Ich kenne die Stadt immerhin schon so gut, dass man mich nicht für dumm verkaufen kann.«

Judith lächelte überrascht und grinste.

»Ich glaube, du hast diesem armen Mann wirklich einen Schrecken eingejagt, Reverend Waterman.«

»Da ich diesbezüglich einige schlechte Erfahrungen gemacht habe, mein Liebling, habe ich dem armen Mann nur meine Meinung gesagt. Ich muss allerdings zugeben, dass ich in diesen drei Tagen viel Lehrgeld bezahlt habe!«

Obwohl es immer noch in Strömen goss, konnte Judith mehr erkennen, als durch die Fensterscheiben des entsetzlichen Busses.

»Weißt du wirklich, wo wir sind?«, fragte sie ihren Mann. »Ich sehe nur Häuser und furchtbar viele Menschen.«

Luther lachte. »Die breiten Avenues laufen von Norden nach Süden. Die meisten der engen Straßen führen von Osten nach Westen. Aber ich habe schließlich noch nicht die ganze Stadt erobert. Wir sind gleich da. Rechts am Ende der Straße ist unser neues Heim.«

Der Fahrer verlangsamte die Fahrt und hielt in einer engen, tristen Straße. »Vierunddreißigsiebzig«, sagte er.

Es dauerte einen Augenblick, bis Judith dahinterkam, dass er nicht den Fahrpreis sondern die Hausnummer meinte. Sie starrte auf einen vergammelten braunen Kirchturm. Luther half ihr aus dem Wagen, ehe er den Fahrer entlohnte.

Als Judith Penny bei der Hand nahm und mit ihr auf den Eingang des Pfarrhauses zulief, regnete es immer noch. Sie fragte sich, weshalb Luther das Licht nicht hatte brennen lassen, doch dann fiel ihr ein, dass der Bus noch bei Tageslicht angekommen war. »Ist das unsere neue Kirche?«, fragte Penny. Judith riss sich zusammen und nickte.

Als sich Luther zu ihnen gesellte und nach den Schlüsseln suchte, schien er ihre Gedanken zu erraten. »Natürlich hätte ich das Licht über der Eingangstür brennen lassen sollen. So wirkt alles etwas gespenstisch, nicht wahr?«

»Du hast gesagt, dass alles Gotische aus braunem Sandstein ist«, meinte seine Frau lächelnd. »Ich hatte keine Ahnung, wie braun Sandstein sein kann.«

»Es ist das hässlichste Gebäude auf diesem Planeten«, musste Luther zugeben. »Willkommen daheim, Liebling. Die Fledermäuse kommen erst gegen Mitternacht.«

»Hier ist es schön!«, rief Penny aus und rannte voraus, um ihr neues Heim zu besichtigen.

»Das ist eine Zumutung«, murmelte Judith leise.

Das Eichenholz der hohen Halle glich in der Farbe verstaubten Schuhen. Luther seufzte und meinte leichthin:

»Das Ganze erfordert viel Arbeit. Der letzte Priester war Junggeselle. Außerdem steht das Gebäude schon eine Zeitlang leer. Als ich hier ankam, war es noch schlimmer. Zumindest ist jetzt alles gelüftet.«

Judith, die den Staub immer noch riechen konnte, blickte sich um und fragte, ob alles so schlimm sei.

»Die Kirche nebenan ist in einem furchtbaren Zustand. Der alte Palmer hat vor seinem Tode wirklich alles verkommen lassen. Ich habe sie zwar schon ausgefegt – aber vor dem ersten Gottesdienst müssen wir noch einiges unternehmen. In der Küche habe ich Kaffee für dich. Komm mit.«

Judith folgte ihrem Mann einen langen schmalen Gang entlang, der zu einer großen schummrigen Küche führte.

»Ich habe das Gas und das Licht brennen lassen«, erklärte Luther, »aber ich merke schon, dass wir zusätzliche Lampen kaufen müssen.«

Judith erkannte ihre eigenen Küchenmöbel, die in diesem großen Raum wie verloren wirkten. Sie setzte sich an den Tisch und schlürfte ihren Kaffee.

»Ich dachte, dass wir heute Abend auswärts essen – es sei denn, du möchtest selbst etwas kochen.«

»Ich bin von der langen Fahrt so müde«, protestierte Judith. »Kannst du uns kein warmes Essen nach Hause bringen?«

»Aber natürlich. Ganz in der Nähe ist ein chinesisches Restaurant. Dort kann ich Chop Suey oder etwas Ähnliches bekommen. Ich zeige dir nur rasch unser Schlafzimmer.«

»Ich würde gern baden, ehe ich mich umziehe«, lächelte Judith.

»Aber natürlich. Ich lasse heißes Wasser in die Wanne. Dann gehe ich mit Penny schnell einkaufen. Komm mit. Aber pass auf. Die Stufen sind steil und miserabel beleuchtet. Der alte Palmer muss immer mit einer Kerze herumgelaufen sein.«

»Müssen wir immer über diesen Dr. Palmer reden?«, murmelte Judith.

»Was ist los?«, fragte Luther stirnrunzelnd. »Fürchtest du dich vor Gespenstern?«

»Vielleicht ein wenig. Dieses Pfarrhaus in New York ist nicht direkt so, wie man es dir beschrieben hat. Außerdem ist der arme alte Mann hier gestorben, nicht wahr?«

»Seit damals sind immerhin ein paar Jahre vergangen. Das kann dich doch nicht stören?«

»Ich hoffe nicht.«

»Du lieber Gott. In unserem Haus in Maple Junction sind zwei oder drei Leute gestorben. Das hat dich doch nie gestört, nicht wahr?«

»Natürlich nicht. Aber unser altes Pfarrhaus war so hübsch...«

»Pass auf die Stufen auf«, wechselte Luther taktvoll das Thema.

Dabei war Luther gar nicht taktvoll. Er war zwar ein geduldiger, verständnisvoller Mann – der jedoch mit Gefühlsregungen nicht viel im Sinn hatte.

Judith Watermann liebte ihren Mann – und verstand ihn manchmal auch. Er war ein starker Mann, der, um sie und Penny zu retten, mit bloßen Händen gegen Wölfe kämpfen würde – doch Gefühlsregungen waren ihm fremd. Das mochte im milden Klima von Vermont seine Berechtigung haben – aber hier...

Luther führte sie ins Schlafzimmer, in dem es ein wenig heller als unten war, und sagte: »Die Sachen, die mit den Möbeln kamen, habe ich schon ausgepackt. Das Badezimmer ist am anderen Ende des Ganges.«

Während er das Badewasser anwärmte, kam er noch einmal zurück. »Es regnet immer noch«, sagte er. »Wenn du dich hier nicht wohlfühlst, kann ich Penny bei dir lassen.«

»Sie soll sich in der Umgebung zurechtfinden, mein Lieber. Mir macht es nichts aus, hier allein zu bleiben.«

»Wirklich?« Er war sichtlich erleichtert und rief dann laut: »Penny? Wo bist du? Wir müssen etwas einkaufen!«

Pennys Stimme kam aus weiter Ferne.

»Ich komme gleich, Vati.«

Als sie sich im Laufschritt näherte, grinste Luther seine Frau an.

»Sie muss am anderen Ende des Ganges sein, wo es stockfinster ist. Ich glaube, das Kind scheint sich vor nichts zu fürchten.«

Penny stürmte ins Zimmer und ließ sich auf Judiths Bett fallen. »Ist das euer Zimmer?«, fragte sie. »Wo ist meines? In keinem der Räume habe ich ein Bett gefunden. Die sind alle leer. Kann ich das kleine Zimmer mit den schrägen Fenstern haben, Mami?«

»Welches Zimmer meinst du?«, fragte Judith, während sie sich auszog.

»Es ist oben«, antwortete das Kind. »Ein hübsches Zimmer mit bunten schrägen Fenstern.«

»Wir werden sehen«, antwortete Judith und schlüpfte in ihren Bademantel. Dann erst schien sie den Sinn von Pennys Worten voll zu begreifen. »Sagtest du oben, Penny? Gibt es noch mehr Treppen in diesem Haus?«

»Ich habe sie gefunden, Mami. Sie ist ganz am Ende des Ganges. Wenn man da hinaufsteigt, kommt man zu dem hübschen Zimmer. Das Fensterglas ist so schön bunt.«

Luther, der sich um das Badewasser gekümmert hatte, kam zurück.

»Es dauert ewig, bis das Wasser warm wird. Wenn wir eine Waschmaschine anschließen wollen, müssen wir dringend einen Elektriker bestellen.«

»Luther, Penny hat mir eben gesagt, dass oben noch ein Stockwerk ist. Sie hat es sich angesehen!«

»Sie meint sicher die Mansarde!« Er runzelte die Stirn. Dann lächelte er zu Penny hinunter. »Da solltest du nicht hingehen. Dort gibt es kein Licht, und du könntest die Treppe hinunterfallen.«

»Aber ich will in dem Zimmer mit den schrägen Wänden und den schrägen Fenstern schlafen!«, beharrte das Kind.

»Nein«, antwortete Luther. »Dein Zimmer ist gleich nebenan.«

»Aber da ist kein Bett für mich, Vati. Soll ich auf dem Fußboden schlafen?«

Luther, der etwas von dem schlechten Licht erklären wollte und von dem bestellten Bett, das morgen geliefert werden sollte, fand es aber dann einfacher, nur zu sagen: »Komm, wir holen etwas zu essen.«

Nachdem die beiden das Haus verlassen hatten, ging Judith ins Badezimmer. Die Wanne war ein altes Monstrum, das auf Eisenfüßen stand, doch das Wasser fühlte sich angenehm warm an. Als sie den Bademantel auszog und aus ihren Pantoffeln schlüpfte, spürte sie das feuchte Linoleum. Irgendwo in ihrem Gepäck befand sich eine dicke rosa Badematte. Damit würde sie dieses Übel abstellen.

»Ich lasse mich nicht so leicht einschüchtern«, sagte sie laut, als sie in die Wanne stieg. »Ich werde es schon schaffen, dieses Haus gemütlich zu machen.«

  Zweites Kapitel

 

 

Als Luther mit seiner Tochter das chinesische Restaurant verließ, hatte der Regen etwas nachgelassen. Luther rollte seinen Schirm zusammen und nahm die große braune Tüte in die Hand.

»Du darfst den kleinen Beutel tragen«, sagte er zu Penny, »aber wir müssen uns beim Überqueren der Straße fest anfassen.«

»Ich kann allein über die Straße gehen«, meinte Penny. »Das habe ich in unserem alten Haus auch immer getan. Hast du das vergessen?«

»Nein – und ich habe auch nicht vergessen, dass du dafür zur Strafe in der Ecke stehen musstest. Du musst mir jetzt versprechen, nie allein über die Straße zu gehen!«

»Ich habe keine Angst vor Autos!«

»Das solltest du aber haben. Viele kleine Mädchen werden angefahren.«

»Hast du Angst vor Autos, Vati?«

»Ja.«

»Weshalb gehst du dann allein über die Straße, Vati?«

»Erwachsene müssen manchmal Dinge tun, vor denen sie sich fürchten, aber sie passen immer auf.«

»Werden Erwachsene nie angefahren, Vati?«

»Manchmal schon – wenn sie unvorsichtig sind.«

»Wenn ich groß bin, werde ich immer aufpassen.«

»Das will ich hoffen, meine Kleine.«

»Hat Mami auch vor Autos Angst?«

»Wahrscheinlich.«

»Mami hat vor der Dunkelheit Angst. Du auch, Vati?«

Luther fragte stirnrunzelnd: »Wie kommst du auf diese Idee, Penny? Deine Mami fürchtet sich nicht vor der Dunkelheit.«

»Doch. Mami fürchtet sich mehr vor der Dunkelheit als jeder, den ich kenne.«

Luther, der protestieren wollte, behielt seine Gedanken für sich. Er wusste, dass Judith ihre Angst immer verbergen wollte. War es möglich, dass das einem vierjährigen Kind nicht entgehen konnte? Nachdem sie eine Weile verheiratet waren, hatte Judith ihn gebeten, immer eine Lampe im Schlafzimmer brennen zu lassen. War es Penny aufgefallen, dass im Schlafzimmer ihrer Eltern immer Licht brannte?

Als sie nebeneinander hergingen, fragte Penny. »Weshalb gibt es Schatten, Vati?«

»Was?« Luther blinzelte, als Penny auf die beiden Silhouetten vor ihnen auf dem Bürgersteig zeigte. Dann meinte er achselzuckend: »Schatten entstehen durch das Licht, das nicht durch uns hindurchkann, Penny. Schau, wir beide machen Schatten. Ein großer, das bin ich, und der kleine bist du.«

»Das ist aber komisch, Vati.«

»Wir wollen uns jetzt beeilen, Penny. Deine Mami wartet auf uns und das warme Essen.«

»Mir gefallen Schatten, Vati. Dir auch?«

»Ja.«

»Können Schatten einen verletzen, Vati?«

»Natürlich nicht. Wie kommst du darauf?«

Penny dachte nach. »Wie ist es mit Schatten von anderen Leuten, Vati? Können die einen verletzen?«

»Natürlich nicht.«

»Da bin ich aber froh, weil wir in unserem neuen Haus viele Schatten haben.«

Inzwischen hatten sie das Pfarrhaus erreicht. Penny riss sich los und eilte die Stufen empor. »Mami, Mami, wir sind wieder da«, rief sie laut.

Luther war überrascht, als die Tür sofort aufgerissen wurde.

»Bist du es, Luther?«, fragte Judith.

»Natürlich. Wer soll es denn sonst sein?«

»Bist du nicht eben schon einmal gekommen und hast dann Penny geholt?«

»Nein, wir sind gerade zusammengekommen. Was ist los?«

»Ich dachte, dass ich jemand gehört hätte, und glaubte, du seist es. Doch als ich rief, hast du nicht geantwortet...«

Als sie seinen Gesichtsausdruck sah, meinte sie achselzuckend: »Wahrscheinlich ist nur jemand vorbeigekommen, oder ich habe Geräusche aus dem Nachbarhaus gehört...«

»Du musst dich hier an fremde Geräusche gewöhnen«, antwortete Luther ein wenig zu hastig und fügte hinzu: »Wir können gleich essen.«

»Gott sei Dank, ich bin am Verhungern.« Sie lächelte, weil sie wusste, dass Luther von ihrer Furcht vor der Dunkelheit nicht viel hielt.

Nachdem sie gegessen und Kaffee getrunken hatten, nahm sich Judith zusammen und bat Luther, ihr das Haus zu zeigen.

Diesmal war es Luther, der zögerte.

»Lass uns warten, bis Penny eingeschlafen ist. Du weißt ja, wie sie ist. Vielleicht kommt sie auf den Gedanken, in der Kirche nebenan herumzulaufen.«

»Stimmt etwas mit der Kirche nicht? Du hast geschrieben, dass sie viel größer und hübscher sei als unsere alte in Vermont.«

»Nun ja, sie ist größer. Dass sie hübscher ist, habe ich bestimmt nicht geschrieben. Wie ich schon sagte, ist sie eine Weile nicht benutzt worden und etwas morsch geworden.«

»Willst du damit sagen, dass sie nicht sicher ist? Wolltest du nicht an diesem Wochenende deine erste Predigt halten?«

»Das werde ich auch. Trotzdem soll sie vorher eine Kommission von der Stadtverwaltung begutachten.«

Nach einem Blick auf seine Armbanduhr nickte er Penny zu. »Es wird Zeit, junge Dame.«

»Ich bin noch gar nicht müde«, protestierte Penny und fügte hinzu: »Außerdem will ich nicht auf dem Fußboden schlafen.«

»Du wirst heute mit Mami und mir zusammen schlafen. Komm. Erst wirst du dich waschen und dann warten wir auf den Sandmann.«

Judith war leicht irritiert, dass Penny nicht versuchte, ihre üblichen Argumente anzubringen. Als Luther mit dem Kind unter dem Arm verschwand, murmelte sie: »Vatis Liebling«, ehe sie sich an den Abwasch machte.

Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass jemand im Raum war, und sagte: »Das ging aber schnell. Hat sich Penny auch ordentlich gewaschen?«

Sie bekam keine Antwort.

Als sich Judith langsam umdrehte, war niemand in der Küche! Sie riss den Mund auf und wollte schreien, aber sie brachte keinen Ton hervor. Sie biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. Ich lasse mich nicht verrückt machen, dachte sie.

Sie starrte auf die Tür und murmelte: »Du bist für mich nicht vorhanden – wer immer du auch sein magst. Du gehörst zu diesem düsteren Haus und glaubst, dass ich eine dumme Person bin, die alles dramatisiert. Damit ist jetzt Schluss! Ich werde alles streichen lassen und aus dieser finsteren Bude ein gemütliches Heim machen! Basta!«

Die Dunkelheit blieb.

Judith wusste natürlich, dass sie die Küche erst verlassen würde, wenn Luther sie holte.

 

Der erste Besuch aus der Nachbarschaft kam kurz vor Mittag. Als Judith auf das Läuten hin die Tür öffnete, stand ihr eine kleine grauhaarige Frau gegenüber. Lächelnd reichte sie ihr einen Plastiktopf mit einem Gewächs, das wahrscheinlich einmal eine Geranie werden würde.

»Ich bin Flora Cannon«, stellte sie sich vor. »Ich wohne nebenan. Sie müssen die Frau des neuen Pfarrers sein.«

»Oh ja, ich bin Judith Waterman«, antwortete Judith unsicher und fügte hinzu: »Wollen Sie nicht eintreten, Mrs. Cannon?«

»Nennen Sie mich Flora«, sagte die ältere Frau. »Jeder hier in Chelsea nennt mich Flora.« Sie trat ein, schnüffelte und bemerkte natürlich den Staubgeruch, der in der Luft hing. »Sie werden Hilfe brauchen, nicht wahr?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

»Es sieht wirklich fürchterlich aus«, lächelte Judith. »Ich weiß ehrlich nicht, wo ich anfangen soll. Das Gebäude war so lange unbewohnt...«

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach sie die ältere Frau. »Die Holztäfelung müssen Sie erst einmal einölen...«

»Meinen Sie wirklich? Ich wollte alles weiß streichen lassen. Es ist in der Halle so dunkel und...«

»Unsinn«, sagte Flora Cannon. »Es wäre eine Sünde, die gute Holztäfelung anzustreichen. Da hilft nur Öl. Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen dabei gern. Wo soll ich den Topf mit der Geranie hinstellen?«

»Ach ja, der Blumentopf. Vielleicht in die Küche. Dort ist es ein wenig heller und – entschuldigen Sie mein schlechtes Benehmen! Bitte kommen Sie in die Küche!«

»Ich sage nur Öl«, murmelte die Frau, als sie Judith in die Küche folgte. Penny, die mit einem Ball in der Ecke spielte, blickte auf.

»Penny, das ist Mrs. Cannon von nebenan.«

»Ach – und ich habe gedacht, du hast die alte Dame, die weint, gefunden,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Lou Cameron/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Pixabay.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Christiane Nogly (OT: The Darklings).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2019
ISBN: 978-3-7487-1120-9

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