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Leseprobe

 

 

 

 

WAYLAND DREW

 

 

DER DRACHENTÖTER

 

 

 

 

Roman

 

Apex Fantasy-Klassiker, Band 13

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER DRACHENTÖTER 

Erstes Kapitel: GRAGGANMORE 

Zweites Kapitel: REISEN 

Drittes Kapitel: DIE ÖD 

Viertes Kapitel: DER SCHEITERHAUFEN 

Fünftes Kapitel: DIE ERWÄHLTEN 

Sechstes Kapitel: DER TEICH IM WALD 

Siebtes Kapitel: SWANSCOMBE 

Achtes Kapitel: MORGENTHORM 

Neuntes Kapitel: SICARIUS 

Zehntes Kapitel: DER KAMPF 

Elftes Kapitel: HERONSFORD 

Zwölftes Kapitel: DER FEUERSEE 

 

Das Buch

 

»Zu jener Zeit... war die Magie noch eine Waffe, die Liebe noch ein Mysterium, das Abenteuer überall, und die Drachen waren in der Welt...« 

 

Vermithrax, der letzte aus dem Geschlecht der Drachen, hatte endlich das Königreich Urland erreicht – und ließ seinen feurigen Atem darüber hinwegfegen. Die schwarze Einöde war nun genau nach seinem Geschmack, und er entschloss sich zu einem langen Aufenthalt.

Verzweifelt machten sich die Urländer auf die Suche nach Ulrich, dem letzten lebenden Zauberer. Doch Ulrich war zu alt, zu schwach. Nur sein Gehilfe Galen konnte gegen den Schrecken und die Stärke des todbringenden Drachen bestehen.

Aber Galen war noch jung, von Waffen verstand er gar nichts – und über die alte Macht der Magie hatte er seine Zweifel.

 

Der Drachentöter von Wayland Drew ist die atemberaubend spannende Roman-Adaption des gleichnamigen, ebenso bahnbrechenden wie düsteren Fantasy-Films aus dem Jahr 1981 (Regie: Matthew Robbins) –  mit Peter MacNicol als Galen, Caitlin Clarke als Valerian, Sir Ralph Richardson als Ulrich und Peter Eyre als Casiodorus Rex. 

 

»Zauberhaft...« (New York Times) 

 

»Die alte Macht der Magie ist vergangen, aber hier wird sie in strahlendem Glanz wieder hervorgeholt...«  (Penthouse - US-Ausgabe) 

 

DER DRACHENTÖTER

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel: GRAGGANMORE

 

 

Trutzig stand der Turm auf dem Hügel. Die schmalen Fenster und Schießscharten in den dicken Mauern blickten wie erblindete Augen nach Norden und Süden, nach Osten und Westen. Einst war der Turm der Bergfried einer stolzen Burg gewesen; jetzt lagen Mauern und Gebäude rundum in Trümmern, und er selbst war zu unausweichlichem Verfall verdammt. Jahrhundertelang hatten Regen und Kälte an seinem Mauerwerk genagt. Teile des Dachs und des Zinnenkranzes waren eingestürzt. Das Holz der Schwellen und Balken war morsch.

Windstilles Schweigen umhüllte den Turm und erfüllte die weite Mulde des Tals zu Füßen des Hügels, auf dem er stand. Letztes Sonnenlicht schimmerte auf dem halbzerstörten Dach, doch das Land rundum lag schon unter den Schleiern des Abends, und der silbern blitzende Fluss hatte sich verdunkelt und war hinter den Bäumen, die ihn säumten, nicht mehr zu sehen.

Widerstrebend ging die Sonne unter. Sie berührte den Horizont, schien noch einmal aufzuflammen und sank dann langsam tiefer.

Es war der Vorabend der frühjährlichen Tagundnachtgleiche; der folgende Tag würde halb dem Licht, halb der Dunkelheit gehören.

An der rauen Rinde einer Eiche hing reglos eine kleine braune Fledermaus und beobachtete den Untergang vieler Sonnen. Sie alle spiegelten sich im Facettenauge eines dicken Käfers, der keine Handbreit entfernt war. Satt und schläfrig blickte der Käfer in die Sonne; er wusste nicht, dass er gleich sterben würde.

Er war unvorsichtig gewesen. So reglos verhielt sich die Fledermaus, so vollendet verschmolz ihre Färbung mit dem moosigen Braun der Baumrinde, dass der Käfer sie gar nicht bemerkt hatte.

Beide waren sie ohne Bewegung, sowohl das Opfer wie der Räuber. Erst als das letzte Licht der Sonne verglühte, spannte die Fledermaus mit einem feinen Wispern wie von Seide ihren linken Flügel aus, schlug ihn über den schläfrigen Käfer, hüllte ihn ein. Das Insekt schrie. Nur die Fledermaus hörte es. Unter der Flughaut eingeschlossen war sein Kampf nur kurz; dann wurde er gegen die Baumrinde gedrückt und zerquetscht. Als das gierige Maul der Fledermaus ihn verschlang, zuckte er noch, obwohl er bereits tot war.

Die Fledermaus gierte nach Nahrung. Zwei Tage und zwei Nächte lang hatte sie nichts gefressen. Bei Tag hatte sie den Schlaf der Erschöpfung geschlafen, bei Nacht hatte sie in langem, einsamem Flug das dunkle Land überquert.

Sie wusste nicht, warum sie ihr Heim verlassen hatte. Sie verspürte keinen Anlass, sich der Dinge zu erinnern, die sie auf ihrem langen Flug gesehen hatte. An einige Dinge jedoch erinnerte sie sich ganz deutlich. Die winzigen Sonnen im Auge des unglücklichen Käfers gemahnten sie an andere rotglühende Sonnen - die Feuer abgeschiedener Dörfer und Lager, die in der endlosen Finsternis des gewellten Landes flackerten. Manche waren größer gewesen als andere, Dörfer, die in Flammen standen. Und die Todesschreie des Käfers hatten andere Schreie wieder laut werden lassen, das Brüllen gequälter Tiere, die Hilferufe von Männern, die von den Ruinen verstreut liegender Felder zu ihr nach oben drangen, hier und dort die gellenden Schreie von Frauen. Und der zerquetschte Kadaver des Käfers hatte an andere Kadaver erinnert, die die Schlachtfelder bedeckten, über die die Fledermaus auf lautlosen Schwingen hinweggetragen worden war. Während die Fledermaus jetzt durch die dichter werdende Dunkelheit des Abends zum silbernen Band eines Flusses hinunterblickte, stieg vor ihr das Bild anderer Flüsse auf, manche belebt von seltsamen Gestalten, die sich auf und in ihnen bewegten; andere leer und still.

Nun, da der schlimmste Hunger gestillt war, begann die Fledermaus zu schreien, stieß die klagenden Schreie eines Geschöpfes aus, das ein Wesen seiner eigenen Art herbeisehnt. Nichts antwortete ihm. Die zuckenden Ohren der Fledermaus fingen nur das Summen einer Vielzahl nächtlicher Insekten auf. Sie gähnte, ihre Krallen schlugen sich in die Eichenborke und ihr Rücken wölbte sich wie der einer Katze. Mit einem feinen Knistern wie von sich kräuselnder Seide entfalteten sich erneut die Flughäute und breiteten sich aus. Mit einer trägen Bewegung ließ die Fledermaus sich fallen und schwebte durch das Geäst der Eiche in den Abend hinaus. Vor ihr erhob sich der steinerne Turm, an dem, wie ihre Instinkte ihr sagten, wohlschmeckende Beute wartete - Würmer, die bleiche Köpfe vom schlammigen Grund des Burggrabens hoben, einfältige, dicke Leuchtkäfer, feinste Salamander, die durch die Spalten feuchten Mauerwerks huschten.

Sie irrte sich nicht. Als sie sich dem Turm näherte, wehte ihr ein köstlicher Geruch nach Verfall und Fäulnis entgegen, so kräftig und voll, dass ihr ganz schwach wurde, während sie die Flughäute über ihrem Bauch faltete und sich von einem leichten Aufwind tragen ließ. Es war ein Duft, der uralte, in den Tiefen ihres Hirns vergrabene Erinnerungen kitzelte, ein Geruch nach dem Tod von Geschöpfen, die die Geschlechter der Fledermäuse seit Generationen nicht mehr gesehen hatten. Gierig schoss die Fledermaus abwärts, dem dunklen Schlitz einer Öffnung in der Mauer entgegen. Jenseits dieser Öffnung wartete fette Beute im morschen Gebälk.

Die Fledermaus schmatzte erwartungsfroh.

Doch plötzlich schwenkte sie ab, zu Tode erschrocken. Die graue Schönheit des Abends wurde von einer Stichflamme von Licht zerrissen, so grell, dass ihre Augen schmerzten. Wie Gewitterblitzen war die blendende Flamme von einem krachenden Donnerschlag begleitet, doch sie raste nicht in zuckender Bahn vom Himmel zur Erde herab, flackerte nicht wie milder Feuerschein durch ferne Täler; dieser Blitzstrahl schoss aus einem der Fenster der Burg. Er war von grauenvoller Gestalt. Er war wie die Fledermaus selbst, doch mit einem gekrümmt herabhängenden Schwanz und einem langen Hals und einem weit geöffneten, furchtbaren Schlund. In tödlicher Angst suchte die Fledermaus diesem Geisterschlund zu entrinnen und schrie, wie zuvor der Käfer geschrien hatte, der jetzt in ihrem Magen lag. Jedoch im nächsten Augenblick schon löste sich die Vision auf. Die schillernden Flügel und der lange, gewölbte Nacken gingen im Sternenlicht auf, das auf den Flughäuten der Fledermaus glänzte, während diese von Angst und Entsetzen gejagt das Tal hinunterschoss, mit nur einem Ziel: fort von der alten Burg.

Ein bleicheres und ruhigeres Licht folgte auf die blitzartige Flamme weißglühender Helligkeit. Es ging von einer Feuerschale hinter jenem Turmfenster aus, durch das die Zauberflamme hinausgeschossen war, die die Fledermaus in so tödlichen Schrecken versetzt hatte.

Wäre die Fledermaus in das Gemach hineingeflattert, so hätte sie nicht gefunden, was sie erwartet hatte. Hier und dort in den hintersten Winkeln hatte ständig tropfendes Wasser den Kalk aus dem uralten Gestein getrieben, so dass bizarr geformte Zapfen Tropfsteine gebildet hatten; doch zum größten Teil war der Raum trocken, seine Wände geschwärzt vom Rauch zahlloser Feuer. Nicht nur Kandelaber hingen von der Decke, sondern auch die mumifizierten Kadaver kleiner Tiere und merkwürdige Instrumente, die Werkzeuge der Folter oder der Hexenkunst hätten sein können. Bücher und Pergamentrollen, die mit geheimnisvollen Zeichen bedeckt waren, lagen aufgeschlagen auf mehreren Lesepulten, und auf hölzernen Borden, die eine ganze Wand einnahmen, reihten sich weitere Bücher und Schriftrollen. Gänge und Treppen, die sowohl abwärts als auch aufwärts führten, gingen in verschlungenen Windungen von diesem Raum aus. Tatsächlich war dies weniger eine abgeschlossene Turmkammer als das Herz eines Labyrinths, das auf vielen Wegen zu erreichen war.

In der Mitte des Gemachs stand ein alter Mann, die Füße unter dem rehbraunen Gewand aus grobem Tuch gespreizt. In seinen Augen und an seinen ausgestreckten Händen flackerte züngelndes Feuer. Hätte das Schreckensbild des Drachens die Fledermaus nicht schon erschreckt, so wäre sie doch ganz gewiss vor diesem Mann geflohen, von dem gewaltige Kraft ausging. Es war Ulrich, der Herr von Cragganmore, der mächtigste Zauberer. Er war es gewesen, der die Feuerschale mit solcher Kraft entzündet hatte, dass die feurige Truggestalt des Drachens in die Nacht hinausgestoben war. Die Erscheinung hatte ihn erschreckt; er sah in ihr ein Vorzeichen, und er hatte innegehalten, ehe er die anderen Lampen im Raum entzündet hatte.

Jetzt drehte er sich um.

»Omnia in duos. Duo in unum. Unus in nihil. Haec necquattor, nec omnia, nec duo, nec unus, nec nihil sunt.«

Er lachte, und seine alte Stimme kratzte wie ein Stein auf rostigem Eisen. Seine gekrümmten Finger zuckten kaum merklich, und verborgene Kerzen an beiden Wänden flammten auf. Heißes Wachs fiel auf die Tropfsteine darunter hinab. Die Flammen beleuchteten sonderbare bauchige Vorsprünge und Ausbuchtungen im Raum und erweckten merkwürdige Wesen zum Leben. Ein Gerfalke auf einem Podest aus Eichenholz reckte den Kopf und blickte gespannt zum Fenster, als witterte er die Fledermaus, die dort draußen vorübergeflattert war. Auf einem Sims weiter oben trippelten unruhig drei Tauben, während sie auf den Mann hinunterblickten, schlugen mit ihren Schwingen, flatterten jedoch nicht davon. Auf einer Seite des Raums stand still wie ein Standbild ein majestätischer Reiher auf gespreiztem Fuß und schlief. Ein schneeweißer Rabe hockte reglos auf einem der Leuchter.

»Ulrich«, sagte der Rabe leise mit einer Stimme, die den Klang eines uralten, fremdartigen Saiteninstruments hatte, »das war von Übel.«

Der alte Mann achtete nicht auf ihn. Er wandte sich einem runden Tisch in der Mitte des Raums zu, auf dem eine steinerne Schale stand. Seine Bewegungen waren schwerfällig. Auf einen knorrigen Stock gestützt, schlurfte er nach der Art alter Männer mit kleinen, vorsichtigen Schritten zum runden Tisch. Zwar verrieten die Bewegungen seiner Schultern eine gewisse geschmeidige Kraft, doch es war ihm anzusehen, dass er steinalt war. Müdigkeit umhüllte ihn wie Falten seines Gewandes, lag auf ihm wie eine drückende Last, die seinen Nacken und seine Schultern beugte. Sein Schritt war kurz und ungelenk, als hätte man ihm die Beine zusammengebunden. Und im einsamen Verlauf der Jahre hatte er aufgehört, auf sein Äußeres zu achten; lange schon vernachlässigte er beinahe völlig die Pflege seines Körpers.

Als er jetzt das Haupt neigte, um in den Spiegel der Flüssigkeit zu blicken, die ruhig in der steinernen Schale lag, bestürzte es ihn, das Bild eines verwitterten, abstoßenden Greises zu sehen, das wie eine Erinnerung aus seiner eigenen Vergangenheit zu ihm emporblickte. Er schien wie einer der Greise aus seiner Kindheit, einer der zahllosen Wanderer, die in jenen Tagen auf schmalen Pfaden die Wälder durchstreift hatten, harte, eigenwillige, humpelnde alte Männer, die längst das Ziel ihrer Wanderung vergessen hatten, denen allein die Bewegung zum Sinn ihres Daseins geworden war. War er wie einer von diesen? Ja, er war alt; alt wie jene hochbetagten Greise, die er einmal vor langer, langer Zeit in seiner Jugend im Erlengebüsch verborgen beobachtet hatte, wie sie an einem einstmals geweihten Ort inmitten ihrer Steingräber heilige Rituale vollzogen hatten, denen die Vergesslichkeit ihren Sinn geraubt hatte. Sein Gesicht war jetzt so wie die Gesichter, die er von diesem Tag erinnerte - schütteres, gelblich weißes Haar, triefende Augen, in schlaffes Fleisch eingebettet, ein beinahe zahnloser Mund, aus dem Speichel in einen verfilzten Bart troff, die Haut großporig, von Falten und Runzeln durchzogen. War das wirklich er? Ja! Der uralte Kopf in der Schale hatte genickt. Und dies war umso überraschender, als er im selben Moment ein Bildnis der Schönheit hinter dem hässlichen greisen Haupt auftauchen sah, die flüchtige Vision eines strahlend schönen Mädchens, das sich ihm zuerst in weißem Kleid, dann wie ein junger Edelmann in knappem Wams zeigte und sich noch einmal umdrehte, um ihm einen letzten, langen Blick zuzuwerfen, ehe das Bildnis in den Schatten der Schale zerfloss. War es wirklich möglich, dass es nun nicht mehr da war, dass es sich selbst seiner Kraft, dies Bildnis heraufzubeschwören, entzogen hatte?

Wieder nickte das schreckliche Haupt. Ja! 

»Was bleibt mir dann an Trost?«

Als die Vögel seine Stimme hörten, gaben sie leise Laute der Erwiderung von sich und flatterten unruhig. Ein Windhauch strich flüsternd durch die sich verdunkelnden Gänge. Macht! 

Ulrich lächelte und schüttelte demütig den Kopf. Ach, wäre es so einfach. Könnte der bloße Erwerb von Macht den Verlust dessen wettmachen, was den Menschen zum Menschen machte. Es gab Menschen, das wusste er, denen Macht Entschädigung genug war; aber nicht ihm. Er brauchte mehr. Sein ganzes Leben lang hatte er mehr gebraucht. Und während sich jetzt in der schweren Flüssigkeit der Steinschale Bilder zu formen begannen und wieder zerflossen, gestand er sich nicht zum ersten Mal ein, dass nicht das Streben nach Macht ihn damals, vor langer, langer Zeit betört hatte, sondern das Streben nach Wissen. Unstillbarer Wissensdurst hatte ihn in die Einsamkeit von Cragganmore getrieben.

Was für ein Trost blieb ihm? Die freudlose Erkenntnis, dass die Welt nicht so war, wie die meisten Menschen sie wahrnahmen, stattdessen noch immer, nach langen und einsamen Jahrzehnten des Forschens, ein ungelöstes Geheimnis verblieb.

Seufzend lehnte er seinen Stock an den Tisch, richtete sich auf, soweit ihm das möglich war, und schickte sich an, seine Beschwörungen über der Schale zu sprechen. Es war der Vorabend des Frühlingsäquinoktiums. Zweimal im Jahr, wenn die Tagundnachtgleiche bevorstand, drang er tiefer als zu jeder anderen Zeit in die geheimnisvollen Regionen der steinernen Schale ein, tiefer in die Vergangenheit und tiefer in die Zukunft. Seltsame und unvorhersehbare Dinge geschahen in der Flüssigkeit der Schale. Die Zeit hatte dort keine Bedeutung im Sinne der Menschen, und oft geschah es, dass Ulrich meinte, eine Reise in die Zukunft anzutreten, nur um zu erkennen, dass er in eine Zeit vor seiner Geburt eingedrungen war - ja, vor der Geburt der Welt. Stets jedoch begann er seine Beschwörungen damit, dass er um ein Bild der Gegenwart bat, und die Schale antwortete ihm, indem sie ihm einen Schlüssel bot, ihm zeigte, wie - zumindest bis zur nächsten Tagundnachtgleiche - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins sein würden.

Darum befahl er jetzt: »Die Gegenwart!« und begleitete seine Worte mit einer fließenden Bewegung der Beschwörung über der Schale.

Die Schale erzitterte leicht, und die Flüssigkeit in ihr verdunkelte sich, als wollte sie sich seinem Auge verschließen. Doch bald hellte sie sich wieder auf und bot ihm ein deutliches Bild. Das Gemach, das der Spiegel in der Schale zeigte, war dem ähnlich, in dem Ulrich sich befand, doch es war wesentlich kleiner, und es fehlten die Vögel. Der schwere Eichentisch glich jenem, vor dem Ulrich selbst stand, und die steinerne Schale darauf war ein Ebenbild jener, in die der alte Zauberer hineinblickte. Dem Jungen jedoch, der sich über die Schale neigte, gelang es nicht, ein Bild heraufzubeschwören. Die Stirn unter dem zerzausten flachsgelben Haar war ärgerlich gerunzelt, und noch während Ulrich ihm zusah, versuchte er zweimal mehr, mit plumpen Händen jene Geste nachzuvollziehen, die Ulrich, der Meister, so glatt und fließend in die Luft geschrieben hatte. Jedes Mal spähte er danach gespannt in die Schale. Doch es war vergeblich. Schließlich schlug er mit donnernder Faust auf den Tisch, und obwohl der alte Zauberer nicht hören konnte, was er sprach, war deutlich zu sehen, dass seine Geduld erschöpft war.

»Oh, Galen, Galen!« Der Greis schüttelte den Kopf. »Mein lieber Junge. Du mein armer, wirrköpfiger Lehrling. So geht es nicht. Ich habe es dir hundertmal gesagt!«

»Von Übel«, sang die Stimme des Raben, der dem alten Mann auf die Schulter geflattert war. »Kein Glück. Kein Reichtum.«

»Scher dich fort, Gringe.«

Zerstreut zog Ulrich die Schulter hoch, und der Rabe flatterte schimpfend davon. Die Tauben oben auf ihrem Sims gurrten leise, während sie unruhig von einem Fuß auf den anderen traten. Der Falke hatte sich dem Fenster zugewandt, aufgeschreckt durch hohe schrille Töne, die vorüberwehten - der Schrei einer Eule, das schrille Fiepen jagender Fledermäuse und ein unbestimmbares Geräusch, das entweder von gewaltigem Volumen war und aus weiter Ferne kam, oder aber unendlich fein, gleich dem Vibrieren eines winzigen Insekts am Trommelfell des Falken. Reglos hockte der Vogel auf seinem Podest und lauschte. Doch das Geräusch war versiegt, verdrängt von der Stimme des alten Mannes.

»Rerum gestarum memoria...«, deklamierte der Greis und fügte nach einem Augenblick des Zögerns hinzu: »Die Geschichte Galens.«

»Geschichte, Gesichte«, murmelte der weiße Rabe, der in den Schatten hinter Stapeln alter Bücher und Manuskripte umherflatterte. »Galen wird vielleicht lernen...«

»Der Junge wird vielleicht lernen«, sagte Ulrich, doch die Worte waren nur ein Echo in der Erinnerung des Greises, und es war ein jüngerer Ulrich, der da tatsächlich in den Tiefen der steinernen Schale sprach, der Ulrich, der er vor fünfzehn Jahren gewesen war. Ein Mann mit kräftigem Schritt und vollem, schlohweißem Haar, das den kahlen Scheitel umkränzte. Die Worte galten weniger dem besorgten Elternpaar, das an seiner Seite schritt; sie waren mehr lau ausgesprochene Überlegung, die sich mit dem Knaben Galen befasste. Der hatte soeben mit einem bloßen übermütigen Schütteln seiner Fäuste ein ganzes Rudel von Ungeheuern geschaffen, befremdliche, pelzverwachsene Tiere, die ihm hechelnd und mit hängenden Zungen voll freundlicher Ausgelassenheit entgegen tobten. Einige bewegten sich auf acht Beinen, andere auf sechs, manche schoben sich vorwärts wie Schlangen.

Die Mutter schreckte furchtsam zurück.

»Seht Ihr, Herr?«, fragte der Vater. »Er kann das zu jeder Zeit. Er braucht nur zu wollen.«

»Ja, das sehe ich«, meinte Ulrich nickend. »Er hat die Gabe.«

»Aber das ist doch keine Gabe! Das ist ein Fluch!« Die Mutter rang die Hände, und Tränen kamen ihr aus den Augen. »Wie kann die Fähigkeit, Ungeheuer zu schaffen, eine Gabe sein? Sogar nachts macht er es. Er träumt sie!«

Der Vater nickte in tiefer Bekümmerung.

»Und dann wandern sie einfach davon. Hinaus. In die Welt. Wer weiß, wohin? Wie überleben sie?«

»Träume«, sagte Ulrich. »Andere Menschen träumen, dass sie gefüttert werden.«

»Entsetzlich!« Die Frau schauderte, und der Mann nahm sie tröstend in die Arme. »Warum musste uns das geschehen? Warum? Die anderen Kinder sind doch alle normal.«

Schweigend und mit tiefem Mitgefühl betrachtete Ulrich die Eltern. Er wusste keine Antwort auf die Frage Warum ich?, obwohl er selbst unzählige Male eben diese Frage gestellt hatte. Er neigte sich zu dem Knaben hinunter und legte beide Hände um den Kopf mit dem zerzausten Haar.

»Eine große Gabe«, sagte er. »Wenn nur...«

Er vollendete den Satz nicht, sondern betrachtete nur stumm den Knaben, während er sich in seine Gedanken verlor. Erst das Schluchzen der Mutter und die gequälte Frage des Vaters, »Könnt Ihr - könnt Ihr ihn heilen?« zwangen ihn zur Rückkehr in die Wirklichkeit.

Und da traf Ulrich seine Entscheidung, eine Entscheidung, die von mehreren Aspekten bestimmt wurde. Zum einen war er in den langen Jahren seines einsamen Forschens als Zauberer niemals einem Menschen begegnet, der mit einer so reichen natürlichen Gabe ausgestattet war wie dieser Junge, der ihm buchstäblich im Handumdrehen diese Horde seltsamer Geschöpfe vor die Füße gesetzt hatte. Zum zweiten bewegte ihn eine tiefe Angst davor, dass solche Kraft zu Schlimmem missbraucht werden könnte. Und schließlich - dies war vielleicht der zwingendste Grund für seine Entscheidung - hatte er keinen Erben, an den er sein Wissen um die uralte, vom Vergessen bedrohte Kunst weitergeben konnte.

»Heilen? Nein, heilen kann ich ihn nicht. Ich kann nur seine Kräfte meiner Gewalt unterwerfen. Aber...«

»Oh, danke Euch!« Die Frau umfasste Ulrichs Hand.

Der Mann runzelte die Brauen.

»Ist sie - kostet sie viel, diese Heilung?«

»Sie kostet nichts. Aber später, wenn der Kleine zum Jüngling herangewachsen ist, soll er zu mir kommen und bei mir auf Cragganmore leben. Ich will ihn in die Lehre nehmen. Das ist meine Bedingung.«

Seufzend trocknete sich die Frau die Augen und nickte.

»Und ich muss Euch sagen« - warnend hob Ulrich einen Finger. »...dass dies mit Gefahr verbunden sein wird. Es ist stets ein Wagnis, solche Kräfte zähmen zu wollen. Wenn ich mich verrechnen sollte... Wenn ich einen allzu starken Zauber verhängen sollte...«

»Ach«, flüsterte die Frau, »Ihr könnt gewiss keinen Fehler machen. Ihr seid doch ein Zauberer.«

Ulrich lächelte traurig.

»Top!«, sagte der Vater. »Abgemacht.«

Das Gesicht des alten Zauberers verdüsterte sich, und er seufzte schwer bei der Erinnerung.

Alle Bilder lösten sich auf. Das Zauberwasser in der Schale lag still und glatt und spiegelte nur die Flammen der Feuerpfannen und der Wandleuchter, während der alte Mann in die Vergangenheit zurückträumte.

Er hatte in der Tat einen schweren Fehler begangen, als er jenen unschuldigen Kräften Gewalt angetan hatte; der Zauber, diese Kräfte zu binden, hatte sich einer Schlange gleich gewunden, sich gegen ihn gerichtet. Er hatte Galens Gabe beeinträchtigt und einen Träumer aus dem Jungen gemacht, der sich leicht ablenken ließ. Später, als Ulrich ihn in die Lehre genommen hatte, um ihn nach den Geboten seines Meisters Belisarius zu unterrichten, sah er, dass dem Jungen Interesse und Konzentration fehlten. Und in fünfzehn Jahren - welch ein Fehlschlag! Welche Schande! - hatte ihn Ulrich nicht einmal zum ersten Grad hingeführt. Nach all diesen Jahren hatte der Junge noch nicht einmal die Levitation, die Verwandlung, die Vorschau in die Zukunft gemeistert. Er war, mit anderen Worten, unfähig, auch nur die elementaren Aufgaben eines Zauberers zu erfüllen. Sehr bald, fürchtete Ulrich, würde der Jüngling aufgerufen werden, und dann würde er Hilfe brauchen; oh, ja, er würde große Hilfe brauchen.

Seufzend massierte der alte Mann sich die schmerzende Hüfte und richtete sich dann steifgliedrig auf. Erwartungsvoll reckten die Vögel die Hälse, als Ulrich ächzend zu einem zweiten Tisch schlurfte, der kleiner war und etwas erhöht auf einem Podium stand. Auf ihm lag ein Gegenstand, der mit einem weißseidenen Tuch bedeckt war. Kunstvolle Stickereien, die ineinander verschlungene geheimnisvolle Symbole darstellten, zierten das Tuch, und als der Zauberer sich näherte, begann es in einem Licht aufzuleuchten, das kein Widerschein war, sondern von der Stickerei ausging und von dem Gegenstand, den es bedeckte. In zuckendem Rhythmus, flackerndem Feuerschein gleich, wurde das Licht bald heller, bald dunkler.

Als Ulrich dieses Tuch hob - oder besser, als er es durch eine Berührung seiner Ränder und einer aufwärtsstrebenden Geste veranlasste, sich zu heben -, erfüllte flüchtig ein wunderbarer milder Glanz das Gemach. Zwinkernd blickten die Vögel auf den Gegenstand, der dieses unirdische Licht verbreitete. Es war ein in Gold gefasster Stein, der an einer goldenen Kette hing. Dem Auge des Gerfalken schien er von der Größe einer kleinen Maus, die über herbstliche Stoppelfelder huscht.

»Von Übel!«, murmelte Gringe und zog sich in die äußersten Schatten des Raumes zurück.

Ulrich nahm den Stein, umschloss ihn mit seiner knochigen alten Hand, so dass das Licht sich in seinen Fingern fing. Er griff zu der blitzenden goldenen Kette und ließ sie in seine Handmuschel herabfließen, bis der Stein wie ein kleines Ei in einem aus Gold gewundenem Nest lag. Dann entließ er den wunderbaren Lichtschein wieder aus dem Gefängnis seiner Hände, doch da begann er schon zu verbleichen.

Aus der Nähe betrachtet wirkte der Stein beinahe farblos. Die blauen, weißen und rosafarbenen Töne besaßen einen unvergleichlich zarten Schimmer, der changierte wie ein sich ständig veränderndes, von zauberischen Lichtadern durchzogenes Meer. Ein winziger Funke lag im Mittelpunkt des Steins gefangen, die Quelle des mondmilden, in Wellen fließenden Lichts, das das Gemach erfüllte.

Ulrich trug das Amulett zu dem Tisch, auf dem die Schale stand. Ihre Flüssigkeit erzitterte leicht, als er sich näherte. Das Kerzenlicht brach sich blass im blitzenden Gold der Kette, als er den Stein mit tiefer Ehrfurcht vor sich hertrug und sich dann über die steinerne Schale neigte.

»Nunc, illo tempore!«, flüsterte er. »Und nun die alte Zeit!«

Wieder belebte sich die magische Flüssigkeit mit Bildern. Diesmal dauerte es länger, bis sie sich formten, und die Wasser der Schale brodelten in tieferen und dunkleren Wirbeln als zuvor. Winzige Spritzer leckten an Ulrichs Händen, als wollten sie ihm das Amulett entreißen, als er es in den immer dunkler werdenden Strudel hineinhielt, der wie eine langgezogene Spirale inmitten der Schale kreiselte und bis auf ihren Grund hinunterreichte. Und unter Ulrichs staunendem Blick schien es, als öffnete sich das Auge dieses Strudels weiten dunklen Räumen, in denen, wie willkürlich gesetzte Farbtupfer, rotglühende Feuer brannten.

Wieder blickte Ulrich in die Vergangenheit - aber das, was sich ihm zeigte, waren nicht die wenigen Jahrtausende menschlicher Geschichte, sondern jene Zeit, als es noch keine Geschichtsschreibung gab, sondern nur Rätsel, die in den Tiefen der Erde begraben sind und in den Mythen und Träumen der Menschen. Zuerst zeigte sich eine wogende Masse von Plasma, grau und schwarz und rot, aufgehellt durch Streifen von bleichem Weiß, dann braun, orangefarben und schließlich gelb, die stetig fluktuierend immer breiter wurden, bis endlich die unregelmäßigen Horizonte von Himmel, Erde und Wasser sichtbar wurden. Und durch diese junge Welt bewegte sich erstes Leben, unförmige Wesen von schwerfälliger Massigkeit, die gewaltige Rüssel aus dem brodelnden Schlamm hoben, während sie sich hoffnungslose Pfade entlangschleppten. Später dann wurden hagere Geschöpfe von den Aufwinden unablässiger Stürme emporgetragen, paarten sich plump und anmutslos, brachten Junge hervor; sie starben und wurden fortgeweht, um endlich Fels zu werden, und ihr Fleisch schmolz, ihre Knochen wurden zermalmt vom Druck.

Ulrich verfolgte das alles mit müdem Blick. Er wusste es lange, hatte es lang schon verstanden. Doch was jetzt in den Tiefen der Schale geschah, war ihm neu, und trotz der bohrenden Schmerzen in seinem Rücken und in seinen Beinen beugte er sich begierig vor, um besser sehen zu können.

Zuerst sah er einen Mann, einen Mann, der mit Fellen bekleidet war und in einer Zauberpose dastand, die Ulrich wohlbekannt war. Es war jene Pose, die man einnahm, wenn man versuchte einen Zauber zu bewirken, der über das eigene Vermögen hinausging - eine Haltung, die Entschlossenheit, zugleich aber Vorsicht und Abwehr ausdrückte. Während Ulrich wie gebannt in die Schale blickte, sandte jener andere Magier seinen Zauber aus, der eines so gewaltigen Einsatzes geistiger Kräfte bedurfte, dass der Mann völlig ermattet zurückblieb. Im selben Augenblick wechselte das Bild; Ulrich sah jetzt die Wirkung des Zaubers durch die Augen seines Zunftgenossen.

Der Zauberspruch war an die Erde gerichtet gewesen, und seine Kraft war in sie eingedrungen. Zunächst schien es, als wollte die Erde nur mit einem leichten Beben antworten; Büsche und Bäume schüttelten ihre Glieder, und loses Gestein rollte scheppernd einen felsigen Hang hinunter. Dann jedoch wurde die Bewegung heftiger, und bald schwankte die Erde, die an manchen Stellen wie eine schuppige Haut aussah, in rhythmischen Wellenbewegungen. Aus klaffenden Kratern und plötzlich aufgerissenen Spalten schossen lodernde Flammenkegel empor, und Feuerbäche ergossen sich die Hänge hinunter. Sprudelnde Quellen und kleine Wasserläufe verdampften zischend in der heißen Glut des Feuers.

Und noch während der Zauberer mit abwehrend erhobenen Armen vor der sengenden Hitze nach rückwärts taumelte, tat eine gähnende Schlucht sich auf, breiter als alle anderen, und ihren von Flammen umzüngelten Klippen entstieg ein Geschöpf.

Zuerst kamen zwei klauenbewehrte Füße, dann ein Bein, dann folgten die feinhäutigen Spitzen weißglühender Flügel. Es war eine geflügelte Echse, deren Körper mit einem schleimigen Schuppenkleid dicht gepanzert war. Den krustigen Kopf zierten rubinrote Auswüchse, über dem Maul saß ein graubrauner Schild. Die dicke Zunge war von einem leuchtenden Scharlachrot, und über der Stirn wuchsen dem Tier zwei noch unentwickelte Hörner. Soweit Ulrich sehen konnte, hatte es nur zwei Beine. Das Ende seines Schwanzes trug es im Winkel seines Maules eingeklemmt. An seinen Schuppen hafteten noch Hautfetzen der Fruchthülle, von denen ein ekelerregender Geruch nach Fäulnis ausging. Seine Augen hatten sich geöffnet, blickten so starr und reglos, als wäre kein Leben in ihnen. Die schmalen Schlitze der Pupillen lagen horizontal, und wenn man in sie hineinsah, so war es, als blickte man in die Tiefe der Zeit jenseits aller Horizonte.

Allmählich beruhigte sich die Erde, bäumte sich nur noch hier und dort in kleineren Stößen auf. Noch war das Zischen von Wasser zu hören, das auf heißem Fels verdampfte, das Krachen und Knirschen der letzten Steinlawinen, ein dumpfes Grollen aus den Tiefen, während das Land ächzend wieder zur Ruhe fand. Aus der Ferne kam der schrille Schrei eines Vogels, voll Angst und voll Trauer. All diese Laute hörte Ulrich klar und deutlich, obwohl das, was er da miterlebte, nur eine Vision war.

Dann tat der kleine Drache sein Maul auf und brüllte. Es war ein ungeheuerliches, markerschütterndes Brüllen wie der Todesschrei eines Pferdes, dem man den Bauch aufgeschlitzt hat. Der Zauberer wich angstvoll davor zurück, wie Ulrich vor dem Bild in der Schale zurückschreckte. Wieder stieß der Drache einen schmetternden Schrei aus, und wieder, voller Triumph angesichts des zurückweichenden Mannes. In wilder Flucht stürzte der Mann davon und wandte Ulrich sein Gesicht zu, und Ulrich sah die starre Maske des Entsetzens und der Angst, die dieses Antlitz war, sah so klar, als wäre er in den Stein der Schale eingeritzt, den Gedanken, der unaufhörlich diesen Mann quälte: Habe ich das getan? Was habe ich da getan?

Ulrich war zutiefst erschüttert von dieser Vision. Seine Hände umklammerten den Rand des Tischs, und es bereitete ihm Mühe zu atmen. Ein seltsamer, klammernder Schmerz hielt seine Brust umfangen. Doch noch war kein Ende der Vision abzusehen. Ehe die Bilder für immer zerrannen, sah er noch ein letztes Mal den in Felle gehüllten Zauberer. Einige Jahre schienen vergangen zu sein. Der Mann war abgemagert, seine Züge eingefallen, er war anscheinend dem Tode sehr nahe. Es war klar zu sehen, dass seine Kräfte ihn beinahe ganz verlassen hatten. Er kniete auf der Erde und bot einem Jungen, der ihm die geöffnete Hand entgegenstreckte, eben jenes Amulett, das Ulrich in Händen hielt und dessen unirdischer Glanz über der Schale pulsierte. Doch der Zauberer blickte weder auf den neugeformten Stein noch auf den Jungen. Sein Arm und sein Blick wiesen in die Ferne, und als Ulrich diesem Blick folgte, konnte er tief über dem Horizont die mächtige Silhouette eines fliegenden Drachens sehen, der sich rasch näherte.

»So«, sagte Ulrich und nickte bedächtig. »So.«

Die Flüssigkeit in der Schale brodelte, trübte sich, wurde still und klar, lag wieder reglos wie ein Spiegel.

Die Schmerzen in Ulrichs Rücken waren beinahe unerträglich geworden. Stöhnend, das Amulett in einer Hand, stützte er sich auf den Tisch. Seine Knie waren steif vom langen Stehen, und schlurfend schob er seine Füße hin und her, um das Blut in seinem Körper wieder in Wallung zu bringen. Wortlos brummelte er vor sich hin. Er hatte das Fluchen nie gelernt, obwohl er sich als Jüngling, als er noch unten im Moor gelebt hatte, die größte Mühe gegeben und es auf lateinisch, keltisch und angelsächsisch versucht hatte.

»Altes Wrack«, schnarrte Gringe, der weiße Rabe, und flatterte hastig über den Steinboden, um sich unter dem Tisch in Sicherheit zu bringen.

»Fort mit dir!«, rief Ulrich ihm zu und hob seinen knorrigen Eichenstock. »Hol' Galen!«

Der Rabe ließ eine ganze Kette obszöner Geräusche hören.

»Gringe!« Ulrich hob die Faust, die das Amulett hielt. »Ich warne dich!«

Der Rabe schimpfte weiter, doch er kam jetzt dem Befehl seines Herrn nach. Mit einem schiefen Blick auf das Amulett flatterte er schon an dem hochmütigen Falken vorbei, schwang sich von der Sessellehne aufs Fensterbrett und von dort in die Nacht hinaus. Gleich darauf hörte Ulrich, wie er unten vor Galens Fenster schnatterte.

Wenig später ertönte ein leises Klopfen an der Tür, und Galen trat zaghaft ein.

»Ihr habt nach mir verlangt, Herr?«

»Ich habe Gringe geschickt, dich zu holen«, erwiderte Ulrich, noch immer verdrießlich in die steinerne Schale starrend.

Galen nickte und rieb sich mit einer Hand den Hals.

»Ich habe den neuen Zauber geübt, den Ihr mir aufgegeben habt, und als ich nicht gleich geantwortet habe, kam er angeschossen und pickte mich in den Hals.«

»Hm. Er hat dir eben nie verziehen, dass du ihn weiß gemacht hast.«

»Das weiß ich. Aber ich habe mich bei ihm entschuldigt. Es war ein Versehen«, erklärte Galen lauter als notwendig, während er stirnrunzelnd auf den Raben blickte, der jetzt auf dem Fenstersims hockte.

Gringe zwinkerte bekümmert.

Ulrich antwortete mit einer ungeduldigen Geste.

»Es ist dennoch nicht zu leugnen, dass du unüberlegt gehandelt hast. Ich hatte dir gesagt, dass du diesen Zauber nicht ausprobieren sollst. Ich hatte dich gewarnt, hatte dich darauf aufmerksam gemacht, dass der Spruch einer Abschlussformel bedurfte, weil sonst Gefahr bestand...«

»Aber...«

»Aber du hast nicht auf mich gehört. Du hast experimentiert, und Gringe kam dir dazwischen.«

»Ich...« Galen zuckte die Achseln und breitete hilflos die Hände aus. Er hatte keine Entschuldigung.

Er war ein schlanker junger Mann von achtzehn Jahren jetzt. Er hatte ein offenes Gesicht mit weit auseinanderliegenden, vertrauensvoll blickenden Augen, von dem tiefen Grün-Blau eines stillen Waldsees. Sein Kopf, den er jetzt ehrfürchtig vor Ulrich geneigt hielt, war mit lockigem, zerzaustem, flachsblondem Haar bewachsen. Die Schultern unter dem erdbraunen Kittel waren breit und kräftig, sein junger Körper biegsam und geschmeidig. Als er jetzt in einer Geste der Hilflosigkeit seine Hände ausbreitete, zeigten sich Schwielen und schwarzgeränderte, abgebrochene Fingernägel - es waren die Hände eines Arbeiters.

»Und«, fragte Ulrich, den Blick noch immer in die Schale gerichtet. »Hast du den neuen Zauber gemeistert?«

»Nein, Herr.«

»Waren deine Gebärden richtig? Hast du die Beschwörungszeichen für die Gegenwart genauso geübt, wie ich es dir gezeigt habe?«

»Ja, Herr, ich denke schon. Ich habe es wirklich versucht.«

»Aber offensichtlich ist es dir nicht gelungen.«

»Nein, Herr.« Galen seufzte tief. »Um ganz ehrlich zu sein, Ulrich...« Mit einer entschlossenen Bewegung strich er sich das Haar aus der Stirn. »Ich bin mir nicht sicher, dass ich wirklich ein Zauberer bin.«

»Unsinn!«

Galen schüttelte bekümmert den Kopf.

»Oh, ich weiß, Ihr seid überzeugt davon, dass ich die Gabe besitze, und es ist ja auch wahr, dass es mir hin und wieder gelingt, mit einem Zauberspruch das zu bewirken, was er bewirken soll; aber viel häufiger geschieht es, dass die Zauberkraft unter meinen Händen außer Rand und Band gerät, und dass sich dann irgendetwas ganz Verrücktes ereignet. Einem Baum wächst plötzlich ein Pelz, oder Blumen fangen an zu lachen, oder jemand, der zufällig in der Nähe ist, wie Gringe, bekommt eine andere Färbung.« Er schüttelte wieder den Kopf. »In der letzten Woche, Ihr wisst, als wir das schwere Gewitter hatten...«

Ulrich nickte.

»Nun, da bin ich zum See hinuntergegangen und versuchte, die Wasser zu beruhigen. Etwas Einfacheres gibt es ja wohl kaum. Und was geschah? Fische, Fische in Schwärmen drängten zum Ufer und strichen mir um die Beine wie Katzen!«

»Du musst dich ernsthafter bemühen, Galen. Du musst dich in der Selbstzucht üben. Du musst dich konzentrieren!«

Der Junge schnitt eine betrübte Grimasse.

»Das weiß ich, Herr. Aber ich konzentriere mich ja. Wirklich! Und es gibt Zeiten, da habe ich beinahe das Gefühl, als...«

»Als was?«, fragte Ulrich und beugte sich, die Augen zusammengekniffen, vor.

»...als träte ich aus mir hinaus. Als schwebte ich irgendwie nach oben. Und ich habe das Gefühl, wenn das geschehen könnte, dann wäre ich zu allem fähig. Dann wäre alles möglich.«

»Und was geschieht dann?«

»Ach, ich weiß auch nicht genau. Irgendetwas holt mich immer zurück. Ich sehe etwas. Etwas ganz Gewöhnliches. Einen Vogel vielleicht oder das Glitzern vom Fluss oder einen Wanderer - und dann - ja, dann ist es vorbei.«

Ulrich drückte beide Hände auf sein verwittertes altes Gesicht.

»Ich weiß«, murmelte er. »Ich weiß.«

»Aber das Seltsame ist, dass ich mich dann sogleich viel wohler fühle. Ich fühle mich - ich fühle mich wieder menschlich, und die Tatsache, dass ich als Zauberer nichts tauge, bedrückt mich nicht mehr so sehr. Arg ist es eigentlich nur, dass ich für Euch eine solche Enttäuschung bin.«

Ulrich antwortete darauf nur mit einem müden Achselzucken, während er schlurfenden Schrittes, den schmerzenden Rücken gekrümmt, ein-, zweimal schweigend auf und ab ging. Doch plötzlich schlug seine knorrige alte Faust erregt in die Luft.

»Und doch hattest du einst die Gabe, Galen!«

Mit einer raschen Hiebbewegung hob dieser den Kopf.

»Wirklich? Wann?«

Ulrichs Hand stockte. »Als du klein warst«, antwortete er, bedächtiger sprechend jetzt, »da sah ich, dass du - dass du Möglichkeiten hattest. Dass du vielleicht großer Taten fähig sein könntest. Ich - ich würde gern glauben, dass das noch immer wahr ist.«

Galen krauste voller Zweifel die Stirn, und als er zu dem alten Zauberer aufsah, war sein Gesicht bleich.

»Offen gesagt, Herr, ich habe Angst. Ich habe Angst vor dieser Kraft, die ich nicht verstehe. Ich glaube - ich glaube, ich möchte am liebsten einfach ein Mensch sein und diese Kraft zurückgeben.«

Ulrich senkte seinen Arm und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.

»Zurückgeben? Wohin zurückgeben?«

»Nun dahin, wo sie hergekommen ist.«

»Aber sie kommt von dir, Junge! Von dir! Und wenn du sie ablehnst, wenn du sie aus deiner Gewalt lässt, dann wirst du Ungeheuer schaffen; Scharen von Ungeheuern wirst du auf die Welt loslassen! Erinnerst du dich denn nicht der ersten Bedingung der Regulae: Wer immer sich durch Glück oder eifriges Bemühen die Kraft erworben hat, soll wissen, dass es ihm für immer aufgegeben ist, sie sicher zu verwalten...«

»Ja«, sagte Galen, »ich weiß.«

»Dann...« Ulrich holte tief Atem. Sein Zorn war verflogen. Und an seiner Stelle rührte sich in ihm das Schreckgespenst einer Angst, so tief, wie er sie noch nie gekannt hatte. »...Dann darfst du niemals davon sprechen, deinen Kräften absagen zu wollen. Niemals! Du musst sie beherrschen und zähmen und gebrauchen. Du musst...« Seine Stimme verklang.

Beinahe hätte er gesagt, dass der junge Lehrling die ihm gegebenen Kräfte im Kampf um das Gute einsetzen müsse, und es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hätte er dies auch mit Überzeugung sagen können. Jetzt aber war er, wenn er auch noch immer fest an das Gute glaubte, nicht mehr so sicher, wie es zu erlernen war. Allzu häufig hatte er es erlebt, dass ein Zauber, der im Namen des Guten verhängt worden war, plötzlich umgeschlagen war wie ein eben noch freundlich blasender Wind und statt des beabsichtigten Guten Schmerz, Verlust und Tränen gebracht hatte. Die Zeit, das wusste er, war schuld daran; Zeit und Umstände und Gelegenheit, doch in erster Linie die Zeit. All seine Anstrengungen hatten dem Bemühen gegolten, den Sog der Zeit zu überwinden und in einen reineren Äther einzudringen, wo der Vorsatz wie klarer Bergkristall leuchtete und niemals durch die Tat getrübt wurde. Die Schwerkraft hatte er besiegt, die Zeit nicht; das Zeugnis seines Versagens war fühlbar und sichtbar in seinen schmerzenden Gliedern, gekrümmten Schultern, dem verwitterten, von Runzeln durchzogenen Gesicht, den unsicheren Händen.

Er seufzte tief.

Geistige Macht. Was war sie letzten Endes anderes als eine Verbindung zufälliger Zusammentreffen, die er trotz all seiner Studien und magischen Fähigkeiten nie hatte ergründen können. Im Gegenteil, je mehr geistige Macht er sich erworben hatte, desto unentwirrbarer war das Rätsel geworden, hatte sich einem Irrgarten gleich in gewundenen Gängen verästelt, und er war immer tiefer in die geheimnisvoll verschlungenen Gänge hinabgestiegen, bis er das letzte Fädchen, das ihn mit der rettenden Schlichtheit von Himmel und Erde und Wasser verband, aus der Hand verloren hatte...

»Ich weiß«, sagte der Jüngling, auch er nachdenklich. »Ich weiß, dass da etwas in mir ist, aber es ist Eurer Gabe nicht gleich, Ulrich. Ich bin kein großer Zauberer wie Ihr oder Belisarius oder einer der anderen.«

»Aber du hättest es sein können«, erwiderte Ulrich leise. »Du kannst es vielleicht immer noch werden.«

»Ja, mag sein. Ich weiß es nicht. Wozu soll all diese geistige Kraft gut sein? Gibt es denn niemanden, der Hilfe braucht? Nein, ich glaube...« Er hielt inne.

»Fahr fort.«

»Ich glaube, wenn Ihr nicht wärt, Ulrich, hätte ich meine Bemühungen längst aufgegeben. Ich würde auf Wanderschaft gehen. Vielleicht nach Süden, oder vielleicht auch nach Westen mit dem nächsten Schiff, das den Raggenfirth zum See heraufkommt.«

»Törichter Schnickschnack!«, stieß Ulrich verächtlich hervor. »Zeitvertreib für Bauerntölpel!«

Doch flüchtig hatten eigene alte Sehnsüchte sich in ihm geregt.

»Bedenkt doch, Herr, ich habe gehört, dass jenseits der westlichen Inseln, wo die Christen sind, Berge ganz aus Eis stehen, die ins Meer stürzen und allein auf Reisen gehen.«

Der Gerfalke zeigte plötzlich Unruhe. Er neigte sich auf seinem Podest vornüber und hob seine Schwingen, als wollte er zum Flug ansetzen. Sein Auge starrte in die Ferne, als teilte er die Vision des Jünglings von Freiheit. Doch er schwang sich nicht in die Höhe.

»Ich habe diese Geschichten gehört«, erklärte Ulrich. »Aber glaube sie nicht.«

»Sie sind wahr! Ich habe gehört...«

»Du hast gehört? Von wem? Was weißt du denn schon? Nein, Galen, du musst noch ein Weilchen bei mir bleiben. Nur noch ein Weilchen. Dann wirst du frei sein und kannst deine eigenen Entscheidungen treffen; kannst die dir gegebenen Kräfte so einsetzen, wie du es für richtig hältst.«

»Was meint Ihr damit - nur noch ein Weilchen?«

»Komm«, sagte Ulrich. Er nahm den jungen Mann beim Arm und führte ihn zu dem Tisch mit der steinernen Schale. »Blick hinein, und du wirst alles wissen, was ich schon jetzt weiß.«

Mit der Hand, die noch immer das Amulett hielt, wies er auf die Zauberschale.

Wieder begann die geheimnisvolle Flüssigkeit in der Schale sich zu kräuseln, während sie sich zu einem matten schimmernden Grün färbte. Doch die Bilder, die vom Grund des blassgrünen Sees aufstiegen, waren weniger körperhaft als jene, die sie zuvor gezeigt hatte. Es waren Vorahnungen dessen, was erst noch geschehen würde.

Wie gebannt starrte Galen in die Schale. Das erste, was sich seinem Blick zeigte, war der Stein, den Ulrich in Händen hielt. Nur einen Moment lang behielt er seine gegenwärtige Gestalt bei, dann begann er sich langsam, aber unaufhaltsam mit einer ungeheuren Kraft auszudehnen und zerbarst in Milliarden winziger Teilchen, von denen jedes sich ins Unendliche ausdehnend in immer kleinere Teilchen zersprang, die schließlich in einem kühlen, alles umfassenden Regen herabströmten, der alles Feuer löschte, so dass nur die in fortwährendem Wechsel spielenden Blau- und Grüntöne einer Wasserwelt zurückblieben. Und doch blitzte im Herzen des Bildes, das im Inneren des Amuletts in Ulrichs Hand lag, noch immer ein Feuerfunke.

»Was hat das alles zu bedeuten, Ulrich?«, flüsterte Galen fragend.

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

»Sieh es dir selbst an...«

Wieder deutete er auf die sich mit neuen Bildern belebende Flüssigkeit in der Schale.

Ulrich selbst war dort jetzt zu sehen, und er schien zu fliegen, wurde wie von Zauberhand aufwärts getragen, immer weiter aufwärts. Die Farben über ihm waren nicht mehr von tiefem nächtlichem Blau, sondern leuchteten in lebhaften Gelb- und Orangetönen, und der ganze Raum über ihm war erhellt von einem ehernen Glanz. Der Wasserspiegel zog sich plötzlich zusammen, herabgezogen vom Sog seines eigenen Strudels, nur um sich gleich darauf in zischendem Brodeln winziger Wogen und Gischtfontänen heftig aufzubäumen. Im selben Augenblick schrie der alte Zauberer auf und begann so heftig zu zittern, dass Galen fürchtete, er würde zusammenbrechen. Doch schon war alles vorbei - die schäumenden Wasser beruhigten sich, und das Bild, das langsam in der Schale verblich, zeigte einen durchscheinenden Ulrich, der mit einem verklärten Lächeln auf den Zügen immer höher schwebte.

»Über die Grenzen der Zeit hinaus«, flüsterte der Greis.

»Aber was hat das denn zu bedeuten, Ulrich?«

»Es bedeutet, dass ich sterben werde. Und sehr bald schon, wenn ich auch nicht weiß wie und wann. Dieses Wissen bleibt stets verborgen. Doch es bedeutet auch, dass es ein vollendeter Abschied werden wird. Zu einem Zeitpunkt, wo alle Dinge in Harmonie miteinander verschmelzen werden. Und du, Galen, wirst teil daran haben! Du wirst wissen, was zu tun ist, und kein Zweifel wird dich schwankend machen.«

Ulrichs gekrümmte alte Finger liebkosten das Amulett. Es war, als wollte er noch etwas sagen, doch er hielt inne, um zu lauschen.

»Aber Ulrich, Ihr dürft noch nicht sterben! Das ist ja entsetzlich!«

»Unsinn. Natürlich darf ich sterben. Und es ist überhaupt nicht entsetzlich. Im Gegenteil, der Gedanke, den Elementen wiedergegeben zu werden, tausend Reisen anzutreten, ist interessant. Außerdem, mein Junge, nehmen die Dinge ein anderes Gesicht an, wenn man alt wird - du wirst es selbst noch erleben -, und der Tod wird einem vertrauter, wie ein Bruder oder ein alter Freund.« Er schüttelte sich. »Auf jeden Fall weiß ich, dass er bald kommen wird. Und ich weiß auch, dass du an meinem Tod irgendwie Anteil haben wirst, wenn ich auch nicht ahne, wie...«

»Ich will aber nicht, dass Ihr sterbt!«

Der Alte war in weiter Ferne, dem Kummer und der Angst des jungen Mannes nicht zugänglich.

»Pst.« Ulrich legte eine Hand auf die Schulter des Jungen. Sein Blick ging über Galens Kopf hinweg, sah die Tränen nicht, die der Lehrling sich mit verlegener Hand aus den Augen wischte. »Höre!«, sagte Ulrich.

Galen hob den Kopf, wandte ihn erst nach rechts und dann nach links wie ein witterndes Tier; doch er hörte nichts, nichts als das Gebabbel von Gringe, der auf den Zaubertisch geflattert war und jetzt, den alten Zauberer nachahmend, in die steinerne Schale spähte; nichts, als das Rascheln unruhiger Bewegung und die sanften Atemzüge der anderen Vögel.

»Es hat begonnen«, flüsterte Ulrich. »Es nimmt jetzt seinen Anfang.«

»Aber...«

»Höre!« Der alte Zauberer drückte die Hand des jungen Mannes auf das Amulett. »Höre!«, sagte er wieder.

Und als Galen mit seinen Fingern den magischen Stein umschloss, begann er in der Tat zu hören, wenn auch die Geräusche zunächst so schwach waren, dass er meinte, es wäre das Pulsen seines eigenen Blutes. Dann aber wurden sie deutlicher, unverwechselbar, wenn auch gedämpft durch die Entfernung und die grüne Mauer des Waldes. Das sanfte Klirren einer Kandarenkette; der dumpfe Aufschlag von Pferdehufen auf erdigem Pfad; Wortfetzen einer müden Stimme.

»Gäste«, sagte Galen.

Ulrich nickte. »Nächtliche Wanderer, die mit einem Anliegen kommen.«

Mit weit ausgreifendem Schritt eilte Galen zur Tür.

»Ich hole mein Schwert! Ich wecke Hodge! Sie werden Euch keine Gewalt antun, Ulrich, nicht ohne Kampf!«

»Nein, nein, mein Sohn. Noch droht nichts Böses. Dies sind friedliche Männer, die nichts Arges im Sinn haben, gewöhnliche Leute, die gefangen sind im Strom der Ereignisse wie wir alle, geplagt von Schwierigkeiten, aus denen sie von mir befreit zu werden hoffen. Vielleicht - vielleicht...«

Draußen auf der Steintreppe war das Schlurfen lederner Sandalen zu hören, dann trommelte eine Faust an die Tür des Turmgemachs.

»Was gibt es, Hodge?«

Die Tür öffnete sich, und ein alter Knecht trat ein. Sein Rücken war gebeugt, sein Haar so grau wie Asche, und seine Haut hatte die Farbe rotgegerbten Leders.

»Fackeln, Herr! Sie ziehen durch den Wald herauf. Ich hab' sie gesehen, weil ich nicht schlafen konnte. Ich hab' geträumt, ein ganz grauenvoller Traum war's, Herr, in dem Ihr selbst mir erschienen seid. Da bin ich aufgestanden, und gezittert hab' ich von Kopf bis Fuß. Hodge, du alter Narr, hab' ich mir gesagt, es war doch nur ein Traum! Und dann hab' ich mir gesagt, Schön, hab' ich gesagt, wenn's nur ein Traum war und nichts Wahres dran, warum soll's einen dann so erschrecken?« Richtig geschüttelt hat's mich, Herr, der kalte Schweiß ist mir runtergelaufen, so furchtbar war der Traum, Herr, ja, er war wirklich...«

Hodges helle Augen wurden glasig, und sekundenlang stand er mit hängenden Armen da, verloren in seine Erinnerungen.

»Und?«, fragte Ulrich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Wayland Drew/Apex-Verlag. Published by arrangement with Del Rey Successors.
Bildmaterialien: Kostic Dusan/123rf/Christian Dörge.
Cover: Kostic Dusan/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Mechtild Sandberg und Christian Dörge (OT: Dragonslayer).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2019
ISBN: 978-3-7487-1069-1

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