HANS-JÜRGEN RABEN
Das Horror-Kabinett
Fünf Romane in einem Band
Der Romankiosk
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE WÖLFE DER FINSTERNIS
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
DIE DÄMONEN DER TIEFE
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
DIE STUNDE DES TIGERS
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
PARASITEN DER HÖLLE
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
DIE STUNDE DER INSEKTEN
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
Das Buch
Lederne Flügel peitschten durch die Äste der Bäume und zerbrachen sie wie gläserne Filigrane. Dazwischen erklangen gieriges Röcheln und ein Pfeifen, das bis an die Ultraschallgrenze ging. Entsetzt schaute die Frau nach oben und erkannte ein riesiges Fledermauswesen, das sich mit weitausholenden Schlägen seiner Schwingen den Weg durch die Baumkronen bahnte und stetig näherkam. Das Wesen verfolgte sie. Im selben Moment, als Sabine die rotglühenden Augen des Ungeheuers erblickte, waren ihr die Zusammenhänge klar. Sie sollte sterben...
Das Horror-Kabinett enthält fünf Roman-Klassiker von Hans-Jürgen Raben, die ursprünglich (unter dem Pseudonym Miles Greene) in der Reihe Vampir-Horror-Roman erschienen sind: Die Wölfe der Finsternis (1978), Die Dämonen der Tiefe (1978), Die Stunde des Tigers (1978), Parasiten der Hölle (1979) und Die Stunde der Insekten (1979).
DIE WÖLFE DER FINSTERNIS
1.
Am Anfang verspürte Margit Rathje nur eine ungewisse und irgendwie unerklärliche Furcht, die sie veranlasste, ihre ohnehin hastigen Schritte noch mehr zu beschleunigen.
Sie wusste auch nicht, weshalb sie sich häufiger als an den vorangegangenen Abenden umschaute und den bereits zurückgelegten Teil der Straße mit den Blicken absuchte. Erkennen konnte sie nichts. Jedenfalls nichts, was ihr nicht schon vorher hätte auffallen müssen.
Dichte verfilzte Buchenhecken schirmten die einsam daliegenden Vordergärten gegen neugierige Blicke von außen ab. Die Häuser, von denen ohnehin nur die Umrisse zu erkennen waren, wirkten wesenlos und abweisend wie tote Steinklötze. In den Vorgärten kauerten Büsche, die im kalten Licht des Mondes ihre Zweige wie bizarre Auswüchse in den Himmel reckten. Gnomenhaft und in abwartender Stille lauerten sie, und keine Bewegung der Frau schien ihnen zu entgehen.
Die Straße, die Margit benutzte, war typisch für einen Hamburger Vorort. Eine Doppelreihe von Betonplatten befestigte das Trottoir, welches von dem dichten Blätterdach der alten Linden fast völlig beschirmt wurde. Das Kopfsteinpflaster glänzte wie poliert.
Durch das Dach der Laubkronen drang das Mondlicht nur sporadisch. Vereinzelt überwog auch die diffuse Beleuchtung der altmodischen Gaslaternen.
Unter Margits dahineilenden Sohlen knirschten einzelne Kieselsteine und Sand. Dieses Geräusch erschien ihr plötzlich überlaut, und unwillkürlich verlangsamte sie ihren Schritt. Schließlich blieb Margit stehen, um sich erneut umzuschauen.
Aber das Geräusch, welches ihr vorher Angst gemacht hatte, war immer noch zu hören, obwohl auch das eilige Klappern ihrer Absätze verstummt war. Es waren fremde Geräusche - jemand verfolgte sie!
Eine schemenhafte Bewegung verriet Margit, dass der Verfolger blitzschnell hinter einen Baum gehuscht war. Unvermittelt wurde sie von der Angst angesprungen. Margit presste die Lippen zusammen und unterdrückte ihren hastigen Atem.
Eine Närrin war sie! Jeden Abend benutzte Margit diese Abkürzung, einen Weg, der bestimmt nicht so sicher war, wie die in zweihundert Meter Entfernung verlaufende Hauptstraße.
Erneut zuckte die Frau zusammen. Aus dem Schatten des Baumes hatte sich jetzt eine Gestalt gelöst und kam ohne Eile näher. Die Glut einer Zigarette glimmte periodisch auf und tauchte das Gesicht des Unbekannten in regelmäßigen Abständen in rötliches Licht.
Eigentlich war im Moment des Aufglühens nur ein Paar grünlich funkelnder Augen zu erkennen. Bei näherem Hinsehen enthüllte das schwache Licht jedoch auch einen Mund, dessen scharfes Gebiss in lautlosem Grinsen entblößt wurde.
Wieder erfolgte ein Aufglimmen der Zigarette, und diesmal konnte Margit erkennen, dass die Nase des Verfolgers breit und sattelartig aufgeworfen war. Alles an dem Gesicht erschien ihr plötzlich animalisch und bösartig.
Mit einem Angstlaut warf sich die Frau herum und ergriff die Flucht. Zu lange hatte sie wie paralysiert dagestanden, unfähig, auch nur ein Glied zu rühren. Aber jetzt rannte sie.
Die Gehwegplatten wiesen breite Fugen auf. Nässe und Frost hatten sie aufquellen lassen, so dass sie sich gegeneinander verschoben hatten. Margit strauchelte, stürzte und raffte sich wieder auf.
Der Wind trieb die Dunstschwaden in fächerigen Gebilden auseinander.
Dazwischen schwamm ein bleicher Mond, der die Szene hin und wieder in geisterhaftes Licht tauchte, um kurz darauf hinter den turmartigen Wolken zu verschwinden.
Margits Absätze waren längst abgebrochen, die Strümpfe zerrissen und die Knie aufgeschrammt. Aber das kümmerte sie nicht.
Der Mann, der sie verfolgte, begann langsam seine Gestalt zu verändern. Hatte er sich bisher aufrecht wie ein Mensch fortbewegt, so lief er nun geduckt wie ein Affe. Der Rücken krümmte sich, und nun berührten seine Hände den Boden. Mehr und mehr glich der Unbekannte einem Wolf.
Gutturales Knurren und Röcheln erklang hinter der Frau und veranlasste sie trotz der drohenden Gefahr zum Umdrehen. Wahrscheinlich war es das, was Margit zum Verhängnis werden sollte.
Die Gestalt des Unheimlichen hatte sich bis ins Unkenntliche verändert. Der Mantel war an den Nähten zerrissen, und das aufgeplatzte Gewebe gab die Sicht auf mächtige, muskulöse Schultern frei. Der Anblick wirkte beinahe männlich-ästhetisch, wenn nicht der büschelige, schwarzbraune Pelz gewesen wäre.
Auch das Gesicht war nur noch eine von rötlichen Haaren überwucherte Fratze mit langen tückischen Fangzähnen, die weit über die aufgeworfenen Lippen hinauswuchsen. Die Augen des Unheimlichen glühten fast purpurfarben und lähmten das Opfer.
Blitzschnell pfiff eine der hornigen Pranken durch die Luft und riss die Frau um. Der Schlag war mit so viel Kraft geführt, dass Margit sofort zu Boden geschleudert wurde. Ihr Hinterkopf schlug dröhnend auf die
Betonplatten. Augenblicklich verlor sie die Besinnung.
Margit merkte nicht mehr, wie sich der Werwolf in ihrer Kehle verbiss...
2.
Helmut Rathje rannte in seinem Wohnzimmer auf und ab, als säße ihm der Teufel im Genick. Immer wieder irrte sein Blick zum Telefon, aber der Apparat gab keinen Laut von sich. Helmut hatte bereits diverse Male von sich aus angerufen, aber die lakonische Antwort war immer dieselbe gewesen: Noch nichts Neues.
Vor zwei Stunden war der Anruf aus dem Amalien-Krankenhaus gekommen, der ihm mitgeteilt hatte, dass Margit das Opfer eines Überfalls geworden war und mit schrecklichen Verletzungen auf der Intensivstation lag. Wie schlimm es stand, wusste er nicht. Aber den Wunsch, seine Frau zu besuchen, hatte man rundheraus abgelehnt. Also stand es schlimm.
Wenn wenigstens das Kind...
Er schämte sich im selben Moment. Margit war im neunten Monat, also hochschwanger. Wenn sie nicht überleben würde, dann gab es nach menschlichem Ermessen auch keine Chance für das Kind.
Helmut ballte die Hände und blickte wieder zum Telefon. Die Untätigkeit, zu der er gezwungen war, lähmte ihn.
Mit müden Bewegungen stand der Mann auf und schlurfte in die Küche. Im Kühlschrank war noch Bier. Mechanisch nahm er sich eine Flasche und öffnete sie. Ein Glas war nicht zur Hand - egal, es ging auch aus der Flasche. Die eiskalte Flüssigkeit rann ihm die Kehle hinunter, vereinzelte Tropfen suchten ihren Weg aus den Mundwinkeln in den Hemdkragen, und die scharfe Kohlensäure trieb ihm die Tränen in die Augen. In diesem Moment klingelte das Telefon.
Unvermittelt verschluckte er sich. Hustend und spuckend eilte Helmut in das Wohnzimmer und riss den Hörer von der Gabel.
»Rathje...«
»Amalien-Krankenhaus, Moment, ich verbinde...«
Eine Stimme ertönte am fernen Ende der Leitung. Sie klang gewollt unpersönlich, als müsse sich der Sprecher Mühe geben, nicht zu viel persönliche Empfindung einfließen zu lassen.
Helmut begriff den Sinn der einzelnen Worte nicht. Er begriff nur, dass Margit tot war. Alles andere drang wie durch Watte an sein Ohr.
»...Tochter ist wohlauf. Sie müssten sich aber noch einmal herbemühen. Die Polizei besteht auf einer Identifizierung.«
»Ja, ja - natürlich. Was haben Sie gesagt, ich habe eine Tochter?«
»So ist es«, bestätigte ihm der Anrufer, »sie ist zwar noch schwach und muss im- Brutkasten liegen, aber es besteht kein Zweifel, dass sie gesund und normal entwickelt ist.«
Margit und Helmut hatten sich auf das Kind gefreut. Die Erinnerung an die Pläne, die das Ehepaar gemacht hatte, legte sich beklemmend auf das Gemüt des Mannes. Insgeheim hatte er gewusst, dass Margit den Hauptpart der Erziehung übernommen hätte. Jetzt stand er allein da.
»Herr Rathje, sind Sie noch da?«
»Ja, natürlich. Soll ich sofort kommen?«
»Hm, das Beste wäre es natürlich. Wenn es Ihnen nichts ausmacht?« Der Anrufer zögerte.
»Nein«, entgegnete Rathje rasch, »je früher, desto besser.«
Entschlossen beendete er das Gespräch und eilte in den Flur. Sein Mantel hing an der Garderobe. Helmut schlüpfte hinein und nahm gleichzeitig die Autoschlüssel vom Haken.
Das Amalien-Krankenhaus war nur zehn Autominuten entfernt. Zwei parkende Polizeifahrzeuge machten dem Mann erneut den traurigen Anlass seines Besuchs klar.
Die gläserne Eingangstür ging von allein auf, als Helmut auf die Kontaktschwelle trat. Der Geruch von Desinfektionsmitteln schlug ihm entgegen. Aus der Duftwolke löste sich ein mittelgroßer, untersetzter Mann und nahm ihn in Empfang.
»Kempner, Hauptkommissar. Ich nehme an, Sie sind Herr Rathje?«
Auf Helmuts Nicken setzte sich der Beamte in Bewegung und drang in das Labyrinth von Gängen ein. Verschiedene Routen waren durch unterschiedlich gefärbte Linien auf dem glatten PVC-Boden kenntlich gemacht. Kempner folgte der roten. Wie Blut, dachte Helmut.
Was folgte, war die Steigerung eines grausamen Alptraums.
Tiefe blutige Wunden, vor Angst verzerrte Gesichtszüge und verkrallte Hände, die noch Spuren von Gras und Erde aufwiesen, in welche die Frau sich in ihrer Not gekrallt haben mochte.
Helmut merkte nicht, dass er unbewusst nickte. Aber im selben Moment deckte ein gnädiges weißes Laken das zu, was der Wahnsinnige von seiner Frau übriggelassen hatte. Die Tür schloss sich hinter ihm, und mit ihr schloss auch das Kapitel Margit. Der Vorhang war gefallen.
Diesmal musste Helmut Rathje der blauen Route folgen. Es ging zwei Stockwerke hinauf, bis sie zu einer Wand gelangten, die bis zur Hälfte aus großen Glasfenstern bestand.
Etwa zwei Dutzend Säuglinge lagen unter durchsichtigen Plastikhauben und machten die für Neugeborene so typischen Krabbelversuche. Wie gebannt blieb Rathjes Blick an einem Kind hängen.
Der schwarze Flaum deutete darauf hin, dass das Kind einmal dunkle Haare haben würde. Riesige kornblumenblaue Augen musterten ihn. Sie musste es sein.
»Ich will, dass sie Anna heißt«, murmelte Helmut und deutete auf das Kind.
Der Stationsarzt stutzte. »Sie wollen doch nicht sagen, Sie hätten Ihre Tochter erkannt?«
Der Vater antwortete nicht. Abrupt drehte er sich um und verließ die Station. Es war wie eine Flucht. Länger hätte er die Situation nicht ertragen.
»Helmut!«
Die Stimme schreckte ihn auf, und im selben Moment erkannte er seine Schwester Sabine. Auch sein Schwager Gerd war eingetroffen. Helmut blieb verblüfft stehen.
»Was macht ihr hier?«
Gerd Rieger, sein Schwager, ergriff das Wort. »Die Polizei hat uns informiert - wegen der Identifizierung. Helmut, ich kann dir überhaupt nicht sagen, wie nahe mir das geht.«
»Schon gut«, murmelte Helmut und ließ die beiden abrupt stehen.
Ein wenig tat ihm sein Verhalten leid, aber er konnte nicht anders. Mit seinem Schwager verstand er sich normalerweise sehr gut. Es war nicht einfach, mit einem Mädchen zurechtzukommen, das über ein so quecksilbriges Temperament wie Sabine verfügte. Aber Gerd hatte es geschafft.
Die Empfangshalle, die Glastür, der Vorplatz. Ächzend ließ sich Helmut in die Polster des VW fallen. Nur fort, nach Hause. Die Wahrheit hätte ihm ohnehin niemand geglaubt. Ein Platz in der Anstalt wäre das einzige Resultat gewesen.
3.
»...und du bist dir sicher gewesen, dass sie schwanger war, Karel?«
Die alte Frau hatte ihre knochigen Finger ineinander verschränkt, so dass die Knöchel weiß hervortraten und laut knackten.
Fettige Haarsträhnen hingen ihr in dicken Flechten ins Gesicht. Die kohlschwarzen Augen funkelten, und die Nase, die wie ein Habichtschnabel anmutete, ruckte bei jedem Wort vor. Fast hatte es den Anschein, als wollte sie den Angesprochenen aufspießen.
Der grobschlächtige junge Mann rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Mutter, du hast dich bisher noch immer auf mich verlassen können. Ich habe mich nicht getäuscht, sie war schwanger. Da kannst du vollkommen sicher sein.«
»Du bist dir sicher.« Die Alte kicherte wieder schrill und abgehackt. »Das musst du auch. Ich dulde es nicht, wenn man mich anlügt!«
Karel zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Wenn ich es doch sage. Er hat sie Anna genannt, das Kind lebt also. Willst du, dass ich es auch töte?« Die Augen der alten Frau begannen zu glühen wie Kohlestückchen. »Wo denkst du hin, Karel? Ein glücklicher Zufall hat uns dieses Mädchen zum Geschenk gemacht. Wartet nur ab, sie wird sich des Triebs ihres Blutes bewusst werden. Wenn es soweit ist, brauchen wir nur noch zu warten. Die Zeit arbeitet für uns.«
Außer dem grobschlächtigen Karel und seiner Mutter hatten überdies noch zwei andere Personen der Unterhaltung gelauscht. Karels Brüder Geza und Bela waren zwei besonders gelungene Exemplare ihrer Gattung. Grinsend verfolgten sie das Gespräch.
Bela war ein jung anmutender, hagerer Mann, dessen dürre Gestalt auch noch durch die übertrieben dunkle Kleidung hervorgehoben wurde. Sein Gesicht wies tiefe Linien auf, die ihm etwas Grausames, Martialisches verliehen. Sein glatt zurückgekämmtes schwarzes Haar glänzte und bildete einen deutlichen Kontrast zu den blutleeren, weißen Lippen.
»Wenn sie nicht deinen Erwartungen entspricht, Mutter, dann überlass sie doch mir.«
Ein höhnisches Grinsen verzerrte seine Gesichtszüge. Im gleichen Augenblick veränderte sich auch seine Physiognomie.
Der Haaransatz schob sich zurück und entblößte eine fliehende Stirn. Über den Augen bildeten sich wulstige Höcker, und die Augen quollen hervor, während das Weiße in ihnen einen rötlichen Schimmer annahm.
In gleicher Weise begann sich auch die untere Partie des Gesichts zu verändern und wurde zur Fratze. Der Unterkiefer schob sich vor und bekam massige Ausmaße, während sich die Oberlippe wie im Krampf hochschob und zwei elfenbeinfarbene Fangzähne entblößte, die bis über die Unterlippe ragten.
»Bremst euch gefälligst, noch bin ich da!« Die Alte hatte mit einer herrischen Handbewegung ihre zwei Söhne zur Ordnung gerufen.
»Aber ich sehe auch nicht ein, weshalb wir das Balg nicht töten sollen«, widersprach Karel. »Ein Risiko ist es doch in jedem Fall, wenn wir sie am Leben lassen!«
Karel trug ebenfalls die Gestalt eines normalen Menschen. Doch wenn man ihn genauer betrachtete, konnte einem unbefangenen Menschen das Grauen kommen.
Nicht nur das ungeschlachte Äußere, sondern auch das dichte, borstige Haar, welches ihm tief in die niedrige Stirn wuchs und von unnatürlich roter Farbe war, wirkte furchterregend. Seine Stimme war tief und grollend, und die Hände, die sich beim Sprechen gelegentlich wie unter Zwang öffneten und schlossen, glichen hornigen Tatzen. Schwarze, buschige Brauen, die im seltsamen Kontrast zu den Haaren standen, bildeten eine durchgehende Linie über den Augen. Karel war der Werwolf.
Aus einer der Ecken erklang ein Räuspern. »Ihr seid so dumm! Oh, wenn ihr wüsstet, wie dumm ihr seid! Merkt ihr denn nicht, worauf Mutter hinaus will?«
Geza, der dritte Sohn, hatte sich bisher zurückgehalten. Missgelaunt richteten sich nun die Blicke seiner Brüder auf ihn - teils überrascht, teils zornig.
Im Gegensatz zu den beiden nahm sich Geza eigentlich eher unscheinbar aus; auch sein Betragen war im Allgemeinen unauffällig und bescheiden. Die Brüder verachteten ihn dafür.
»Ich habe gesagt, ihr seid dumm, und dabei bleibe ich auch, bis ihr einseht, dass es keine bessere Rache gibt als die, die Mutter sich ausgedacht hat. Die Tochter soll sich gegen den eigenen Vater wenden, so ist es doch?«
Die Augen der Alten funkelten verstärkt. Sie war stolz auf Geza. Er war ihr von den drei Söhnen der liebste, vereinigte er doch gegenüber Kare! und Bela die dämonische Triebhaftigkeit mit selten erlebter Schläue und List.
Die drei Söhne hatten jeweils verschiedene Väter gehabt - wahre Prachtexemplare ihrer Gattung. Aber mit Gezas Fähigkeiten konnte keiner konkurrieren. Waren die beiden anderen Sklaven ihrer widernatürlichen Neigungen und Gelüste, so hatte er die Intrige und mit ihr die Magie zu seiner zweiten Natur gemacht. Geza handhabte beides so virtuos und geschickt, als sei er der Erfinder.
»Sprich!« Die alte Frau machte eine auffordernde Geste.
Geza sah sich triumphierend um. »Es ist doch ganz einfach: Wenn auch die Schwester und der Schwager dran glauben müssen, dann wird ihm niemand mehr glauben, dass er keine Ahnung hat. Also wird er wieder fliehen müssen. Das Einzige, was dann für uns zu tun bleibt ist, den Kontakt nicht zu verlieren und abzuwarten.« Er kicherte bösartig auf. »Wenn Karel so sicher ist, dass seine Triebe in dem Mädchen wiederkehren, dann ist es einfach für uns, sie im rechten Moment zu manipulieren. Sie wird ein hervorragendes Werkzeug für unsere Pläne werden.«
Die Alte klatschte freudig erregt in die Hände. »Das ist ein Plan nach meinem Geschmack, Geza. So soll es sein!«
Sie wandte sich an Bela und Karel. »Also, ihr habt gehört, was zu tun ist. Die Frau und der Mann sind für euch - macht eure Sache gut.«
Die beiden nickten pflichtschuldigst.
Geza hatte sich wieder in den Hintergrund gedrückt. Für ihn war der Fall erledigt. Die Schmutzarbeit überließ er gern seinen Brüdern. Er verachtete die beiden insgeheim, und das Schicksal seiner Mutter war ihm genauso gleichgültig. Zu gern hätte er in der Familie das Zepter der Macht übernommen. Insgeheim arbeitete er schon lange darauf hin.
Die Familie Szekler, mit der alten Eszébeth an der Spitze, war ein uraltes Geschlecht aus Siebenbürgen, das es schon immer lieber mit den bösen als mit den guten Mächten gehalten hatte.
Die Aufzeichnungen der alten Eszébeth, eine Art magisches Erbe, stellten für Geza eine ungeheure Verlockung dar. Aber gerade dieses Erbe, welches sich noch in der Hand der Mutter befand, ließ ihn vor einer direkten Konfrontation zurückschrecken.
Doch der heutige Vorfall hatte ihm erneut bestätigt, wie sehr er bereits aus dem Hintergrund die Geschicke seiner Familie lenkte. Auch für ihn arbeitete die Zeit.
Ungeduldig war der Feind jeder auch noch so gut eingefädelten Intrige. Geza konnte warten.
4.
Resigniert legte Sabine den Hörer auf die Gabel zurück. »Er nimmt nicht ab - seit vier Wochen.«
Sie schüttelte den Kopf.
Gerd blickte sie tadelnd an. »Warum kannst du ihn auch nicht in Ruhe lassen, bis er von sich aus etwas hören lässt? Er muss über den gröbsten Schmerz erst einmal allein hinwegkommen. Begreifst du das eigentlich nicht?«
»Ich muss ihn aber sprechen!« Eigensinnig betätigte Sabine zum wiederholten Male die Wählscheibe.
Doch nur das monotone Freizeichen erklang. In der Stille konnte sogar Gerd es hören. Mit einer raschen Handbewegung drückte er die Gabel hinunter. Das Geräusch verstummte.
Sabine sah ihn groß an und schob das Telefon einen Moment beiseite. »Versteh mich doch, er muss mir etwas erzählen. Er hält gewissermaßen den Schlüssel zu den Ereignissen in der Hand. Ich lasse mich nicht länger vertrösten. Einmal muss er reden - bevor es zu spät ist.«
Gerd horchte auf. »Wie darf ich das verstehen - bevor es zu spät ist -, was meinst du damit?«
Sabine zuckte unsicher mit den Schultern. »Wenn ich es so genau wüsste, dann bräuchte ich ihn nicht zu fragen.«
»Aber du ahnst doch etwas...« Gerd wollte es genau wissen.
Die Frau starrte einen Moment auf das Muster des Teppichs und überlegte.
»Weißt du«, begann sie, »Helmut und ich sind doch in Siebenbürgen geboren. Wir kamen erst nach Westdeutschland, als unsere Eltern umkamen. Wir hatten hier eine entfernte Tante, und der rumänische Staat wollte sich offenbar mit zwei unmündigen Waisen nicht belasten. So hat man uns die Ausreise erlaubt. Ich war damals noch viel zu jung, um alle Zusammenhänge zu begreifen,« Gerd horchte erstaunt auf. »Die Zusammenhänge?«
Sabine zuckte wieder mit den Schultern. »Wie gesagt, ich war noch sehr jung. Aber eines ist mir im Gedächtnis geblieben: Die Menschen haben uns gemieden wie die Pest, und wenn die Rede auf den Tod meiner Eltern kam, haben sie sich bekreuzigt - jedenfalls die Alten.«
Die Frau schluckte und fuhr dann mit tonloser Stimme fort. »Ähnlich wie im Fall Margits war auch der Tod meiner Eltern gewaltsam, und obendrein soll auch damals nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein. Merkwürdigerweise hat Helmut sich schon damals in Schweigen gehüllt, so dass ich nur bruchstückhafte, verworrene Informationen bekam.«
Ihr Mann räusperte sich. »Die entfernte Tante hier in Westdeutschland hast du nie erwähnt. Was ist mit ihr?«
Sabine sah ihn wieder groß an. »Siehst du, und hier erinnere ich mich nun ganz genau. Sie verschwand eines Tages spurlos von der Bildfläche und wurde erst drei Wochen später gefunden. In ihren Adern befand sich nicht ein Tropfen Blut mehr, und der gerichtsmedizinische Befund besagte eindeutig, dass sie schon drei Wochen tot gewesen sein musste.«
Geld trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte herum. »Und?«
»Ein Nachbar schwor Stein und Bein, dass er sie noch tags zuvor gesehen hatte«, sagte Sabine tonlos.
Gerd Rieger sah seine Frau zweifelnd an. »Nun sag bloß, du glaubst an diesen Schnickschnack mit Vampiren, Blutsaugern und Untoten. Das sind doch nachgewiesenermaßen Ammenmärchen.«
»Ich glaube erst einmal überhaupt nichts«, entgegnete seine Frau gereizt. »Ich habe lediglich die Fakten aufgezählt und versuche jetzt, mir einen Reim darauf zu machen. Einige Zweifel beschleichen mich schon dabei, besonders, wenn ich an das merkwürdige Verhalten meines Bruders denke. Warum hüllt er sich so beharrlich in Schweigen?«
Gerd wiegte den Kopf. »Ich kann dich ja verstehen, aber glaubst du nicht, dass dieses Zusammentreffen rein zufällig ist?«
»Ein bisschen viel Zufälle, oder was meinst du?«
»Mein Gott...« Gerd spreizte die Finger zur Decke und machte eine theatralische Gebärde. »Ich habe ja auch schon von euren eigentümlichen Volksbräuchen gehört, auch euer Glaube an übernatürliche Mächte und so weiter ist mir bekannt. Ich weiß auch, dass bei den Siebenbürger Sachsen einige authentisch belegte Dinge geschehen sind, die durch die trockene Schulwissenschaft so ohne weiteres nicht zu erklären waren. Nun braucht aber nicht alles, worauf sich der Laie im ersten Moment keinen Reim machen kann, mit übernatürlichen Vorgängen erklärt zu werden.«
Jetzt wurde Sabine wieder ungeduldig. »Deshalb versuche ich ja die ganze Zeit, meinen Bruder zu erreichen. Wenn uns jemand die nötigen Aufschlüsse vermitteln kann, dann er.«
Verbissen begann sie wieder, die Wählscheibe zu drehen. Aber das monotone Freizeichen von der anderen Seite zeugte von der Zwecklosigkeit ihres erneuten Versuchs.
Helmut Rathje schien sich vergraben zu haben.
5.
Die schmalen, dürren Pfoten scharrten ungeduldig den Humusboden auf, dass die modrigen Fladen in Fetzen auseinanderstoben. Drüben im Haus brannte Licht. Licht, welches Leben verhieß. Leben und Nahrung. Voll quälender Ungeduld warf der Wolf den massigen Kopf in den Nacken und heulte seinen Hunger in den nächtlichen Himmel.
Nächte wie diese waren ihm die liebsten, wenn die Landschaft im bleichen Licht des Vollmondes ertrank und sich die Äste der alten Bäume als spinnenfingrige Hände in den Himmel reckten, als wollten sie das Böse schlechthin heraufbeschwören.
Aber noch war es nicht soweit.
Über ihm im kahlen Gezweig einer alten Eiche, die vor Jahren durch einen Blitzschlag geborsten war, tat sich etwas.
Geräusche wie das helle Klatschen von Leder und das Sausen von gewaltigen Schwingen erklangen. Dann war wieder Stille. Die spitzen Dreiecksohren des Wolfs spielten nervös.
In der Eiche hatte etwas Schwarzes, Geierartiges Platz genommen, dessen Ziel offensichtlich auch das Haus war, das sich in einer windgeschützten Schneise am Waldrand hinduckte. Sein Bruder Bela.
Noch hatte der weiße Mond den Scheitelpunkt seiner Bahn nicht erreicht, die beiden mussten noch warten. Aber dieses Warten in Hunger und Ungeduld war mit dem Sammeln weiterer Kräfte verbunden, mochte es auch noch so quälend und verzehrend sein.
Drüben in dem Haus tat sich etwas. Irgendjemand kam an die Fenster und schloss mit lautem Rasseln die äußeren Jalousetten, die sich mittels eines einfachen Mechanismus von innen verriegeln ließen. Durch die metallenen Rippen drang kein Lichtschein mehr.
Der Wolf lachte innerlich. Seinem Bruder war es als Vampir nicht möglich, gewaltsam in ein verschlossenes Haus einzudringen. Doch ihm selbst konnten derartige Hindernisse nur ein Lächeln abringen. Einhalt gebieten konnten sie ihm nicht.
Seine unbändige Kraft, die durch nicht von dieser Welt stammende Quellen gespeist wurde, machte ihn sicher. Sie hatte ihn bisher noch immer in die Lage versetzt, sich über Barrieren hinwegzusetzen, hinter denen die Menschen sich sicher glaubten.
Ein Gefühl der Unbesiegbarkeit überkam ihn wie immer in solchen Momenten. Sollten sie sich sicher fühlen!
Bela war bei dem Geräusch der herunterrasselnden Jalousetten zusammengezuckt. Böse Verwünschungen formten sich in seinem unmenschlichen Gehirn. Es sah ganz so aus, als würde er auf seinen Bruder Karel, den Werwolf, angewiesen sein.
Wenn Bela etwas hasste, dann war es das Gefühl der Abhängigkeit. Die Befähigung, sich in ein gewaltiges Fledermauswesen zu verwandeln, löste immer wieder einen Rausch von unbändiger Freiheit und Macht in ihm aus und tötete jede andere Empfindung.
Wie sein Bruder Karel fühlte er sich nach abgeschlossener Metamorphose unbesiegbar. Konnte er sich nicht einem gewaltigen Vogel gleich in den Himmel schwingen und (Jem unbeholfenen Treiben der anderen von dieser überlegenen Warte aus Zusehen? Lächerlich klein und winzig nahmen sie sich aus, und er konnte sich über sie lustig machen.
Pfeilschnell und zielsicher pflegte er dann auf seine Opfer niederzustoßen, um sich, bevor sie sich von ihrem Schrecken erholen konnten, als abstoßend böse Karikatur eines menschlichen Wesens zu präsentieren.
Leistete dann immer noch einer Widerstand, sei es körperlicher oder geistiger Art, so genügte im Allgemeinen ein zwingender Gedankenimpuls von Bela, und das Opfer war gelähmt. In kataleptischer Starre mussten sie dem Vampir zu Willen sein und sich seiner Macht beugen.
Macht, das war es!
Dieses Wort peitschte ihn auf, und nach ihr gelüstete es ihm fast noch mehr als nach seinem Lebenselixier, dem Blut.
Aber die Sterblichen waren jämmerlich und ihr Widerstand kläglich. Seinen mentalen Kräften hatten sie so gut wie nichts entgegenzusetzen. Er spielte nur mit ihnen. Wonach er trachtete, das waren die Macht und die Herrschaft über seinesgleichen.
Mit seinen Brüdern verband ihn nichts. Im Gegenteil, sie waren ihm im Weg. Aber er wusste, dass alle drei Brüder so dachten.
Wenn irgendetwas auf der Welt die drei noch hindern konnte, sich in erbitterter Rivalität an die Gurgel zu fahren, dann war es die alte Eszébeth. Trotz ihres hohen Alters besaß sie immer noch die Macht, einen jeden von ihnen zu maßregeln.
Wieder begann Karel ungeduldig mit den Pfoten zu scharren. Der Mond bewegte sich langsam aber stetig dem Zenit zu. Karel würde nicht mehr lange zu warten brauchen. Dann kam das Signal.
Der Körper des Wolfs streckte sich, verschmolz einen Moment mit dem Schatten und raste dann, zu einem dunklen Strich werdend, über die mondbeschienene Wiese. Da war der Zaun. Die Muskeln der Hinterläufe wurden stählern, und die Bestie setzte mühelos hinüber. Einen Augenblick lang duckte sie sich ab, hatte sich aber im nächsten Moment orientiert und wollte auf das Haus losstürmen.
In diesem Moment schoss dem Wolf etwas riesiges Wolliges entgegen, packte ihn an der Kehle und warf ihn zu Boden. Karel knurrte wütend. An tierischen Opfern war ihm nicht gelegen. So war auch der Kampf mit dem Hund nur ein lästiges Übel.
Sekundenlang bildeten die beiden Körper im Mondlicht ein Knäuel, das ständig die Formen veränderte. Dann löste sich der Hund mit einem schrillen Auf jaulen und versuchte zu fliehen. Aber die Bestie, durch den Widerstand aufs Äußerste gereizt, saß ihm bereits im Genick.
Triumphierend hob der Werwolf für einen Moment den Kopf und stand still wie aus Stein gemeißelt - eine unwirklich anmutende Statue des Grauens, an deren Lefzen das Blut der eben getöteten Kreatur herunterlief. Dann verschmolz er wieder mit den Schatten, sicherte und wurde erneut zur Vernichtungsmaschine.
Da war die Haustür. Sie bestand aus solidem Fichtenholz, aber der elementaren Angriffswut Karels vermochte sie nichts entgegenzusetzen. Ein erster Ansturm ließ das Holz erzittern. Der zweite Anprall genügte, um das Material splitternd nachgeben zu lassen. Eine Bresche, die breit genug zum Durchschlüpfen war, tat sich auf. Der Körper der Bestie schob sich mit triumphierend glimmenden Augen hindurch.
Vielfältige Gerüche schlugen Karel entgegen. Da war warmes, lebendes Fleisch. Es überlagerte alle anderen Gerüche, die einer menschlichen Behausung zu eigen waren. Aber da war noch etwas - etwas, das Karel liebte und wonach er süchtig war.
Angst!
Der Werwolf sog die Ausstrahlung, den Duft, den Menschen ausströmen, die vor Todesangst gelähmt sind, in sich auf. In Vorfreude näherte er sich der Tür, hinter der er die Beute wusste. Gerade wollte er erneut losstürzen, als die Zimmertür mit einem Knall aufsprang. Ein Mann stand plötzlich auf der Schwelle.
Dem ersten Knall folgte ein zweiter. Er war ungleich lauter, und im selben Moment schlug etwas in Karels Körper ein.
Beißender Schmerz ging plötzlich von seiner Flanke aus und nahm ihm die Luft. Unvermittelt fühlte sich der Werwolf in die Luft gehoben. Sein Körper prallte wuchtig gegen einen Flurspiegel, der im selben Moment zu Bruch ging. Spitze Glassplitter bohrten sich wie Pfeile in seinen Rücken und in den Nacken.
Im selben Moment folgte der zweite Schuss. Diesmal schlug die Schrotladung in sein Gesicht und in die Augen. Für einen Augenblick erfasste ihn die Panik und lähmte ihn.
Die Augen waren plötzlich blind, und der ganze Körper brannte wie Feuer. Obendrein bewirkte der zweite Einschlag, dass der Wolfskörper erneut davongewirbelt wurde und mit entsetzlicher Wucht gegen die Wand prallte. Blind tasteten die Pfoten über die Augen. Karel wollte knurren, aber nur ein klägliches Jaulen löste sich aus seiner Kehle.
Wieder griff der Mann an. Das leergeschossene Gewehr gebrauchte er wie eine Keule. Karel musste auch diesen Angriff wehrlos über sich ergehen lassen.
Der schwere Kolben der Schrotflinte krachte auf den Schädel der Bestie. Gerd hatte den Schlag so wuchtig ausgeführt, dass der Schaft in der Mitte abbrach. Einen Moment starrte der Mann verblüfft auf den verbliebenen Lauf in seinen Händen, dann drang er mit einem Wutschrei erneut auf den Gegner ein.
Es war wie ein Wunder. Die Sehkraft von Karels Augen regenerierte sich, und im gleichen Maße kehrten auch seine Kräfte und seine Schnelligkeit zurück.
Ein Idiot war er!
Tatsächlich hatte sich der Werwolf für einen Moment von dem ungestümen Angriff des Mannes ins Bockshorn jagen lassen. Schüsse und Verletzungen, die einen Menschen normalerweise töteten, hatten bisher bei ihm nur vorübergehende Wirkung gezeigt. So war es auch heute.
Mit einem Knurren, das von ohnmächtiger Wut zeugte, raffte er sich auf. Die Kehle des Angreifers schob sich unwillkürlich und riesengroß in sein Blickfeld. Blindlings sprang Karel auf und schnappte nach dem Hals des Mannes.
Gerd war gewappnet. Zwar überraschte ihn die plötzliche Aktivität seines scheinbar schon besiegten Gegners, aber er nahm geistesgegenwärtig seine Chance war. Mit beiden Händen stieß er der angreifenden Bestie den Lauf quer in das Maul.
Mit unwilligem Kopfschütteln befreite sich Karel von dem Gegenstand, der sich zwischen seinen Kiefern festgeklemmt hatte. Freudig erregt sprang er.
Seine Kiefer trafen ihr Ziel. Trance erfasste ihn, und von diesem Augenblick an beherrschte nur noch der Trieb sein Handeln.
Ein Rausch erfasste den Werwolf. Er war nicht mehr in der Lage, Eindrücke aufzunehmen und vergaß alles, was um ihn herum vorging. Die uralte, durch den Vollmond ausgelöste Gier, gewann Macht über den Werwolf und löschte jegliches vernünftige Denken aus. Begeistert tat er sein grauenhaftes Werk.
Die Frau, die sich kreidebleich und zitternd vor Angst aus einem Kellerfenster stahl, um dann wie gehetzt davonzulaufen, bemerkte er in der Gier nicht.
Sein Werk war getan - die Aufgabe erfüllt.
6.
Sabine hatte die Kampfgeräusche und die Schüsse aus dem Flur wahrgenommen. Voller Angst hatte sie sich die Kellertreppe hinaufgeschlichen und die Tür leise geöffnet.
Oben im Flur war Stille eingetreten. Vorsichtig wagte sie, durch den schmalen Spalt in den Korridor zu spähen. Der Anblick traf sie unvermittelt wie ein Keulenschlag.
Gerd lag mit weit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Rücken. Seine noch im Tod entsetzt aufgerissenen Augen starrten zur Decke. Die Haut war unnatürlich bleich.
Eine schreckliche Wunde klaffte unterhalb seines Kinns.
Irgendetwas ballte sich in Sabines Kehle und suchte ein Ventil, das unter anderen Umständen ein gellender Schrei, dem Urschrei vergleichbar, gewesen wäre. Wenn nicht oben...
Über Gerds Leiche gebeugt hockte ein Wesen. Ob es ein Mensch war, der monströse Formen angenommen hatte, oder ein Ungeheuer mit annähernd menschlichen Zügen, das konnte sie nicht erkennen. Wichtig war es ohnehin nicht, denn das laute Schmatzen der Bestie löste würgende Übelkeit in ihr aus. Entsetzt erkannte die Frau, dass das Ungeheuer sich über den Leichnam ihres Mannes hergemacht hatte.
Ohne dass Sabine es sich bewusst wurde, drehte sie sich auf dem Absatz um und schlich die Kellertreppe zurück. Das kleine Kellerfenster verhieß ihr Rettung. Nur fort von hier. Schnell öffnete sie die kleine Luke und kletterte hinaus.
Als Sabine damals mit Gerd das Haus gemietet hatte, war es gerade die Abgelegenheit gewesen, die beide bewogen hatte, diesen Standort zu wählen. Das Grenzgebiet zwischen dem Nordosten von Hamburg und Schleswig-Holstein war von Wiesen, Bachläufen und kleinen Wäldchen durchbrochen. In diesem Augenblick aber wünschte sie sich, mitten im hektischen Trubel der Stadt zu sein.
Sabine erinnerte sich» dass man Jagdhunde von einer bereits auf genommenen Fährte abbringen konnte, wenn man ein Stück durch fließendes Wasser läuft. Sie schaute sich um. Irgendwo war hier ein Bach.
Das kleine Flüsschen schlängelte sich sanft gurgelnd durch die Wiesen. Ohne auf Schuhe und Strümpfe zu achten, lief sie auf das Wasser zu und ließ sich die Böschung hinab. Das Wasser erschien ihr eiskalt und ließ sie frösteln. Aber die Kälte, die sich über ihre Füße hinaus langsam bis zu den Knien hinaufschob, konnte sie nicht mehr schrecken. Im Haus lauerte die Bestie, die ihren Mann ermordet, regelrecht abgeschlachtet hatte, auf weitere Opfer.
Nach dreihundert Metern hatte Sabine ein kleines Waldstückchen erreicht. Aufatmend verließ sie das kalte Wasser und tauchte in den Schutz des Waldrandes ein.
Hier war alles ruhig. Kein Hölzchen knackte, nicht einmal der Wind verursachte Geräusche in den Wipfeln der Bäume. Nur einmal wurde die Frau durch ein kurzes flappendes Geräusch aufgeschreckt. Sie schaute sich erschreckt um, aber es war nichts zu entdecken. Allmählich beruhigte Sabine sich.
Aber mit dem ruhigen Denken setzte auch die Erinnerung wieder ein.
War es Zufall gewesen, dass gerade in dem Moment, als sie ihrem Mann die verhängnisvollen Zusammenhänge klar machen wollte, die Bestie aufgetaucht war? Das Grauen war in viel schlimmerer Form aufgetreten, als sie sich hatte träumen lassen.
Ihr Mann war tot.
Sabine wurde sich jäh der Leere bewusst, die mit Gerds Tod in ihr Leben eingebrochen war. Ihr Bruder
Helmut mochte ähnlich empfunden haben.
Aber mit dem Gedanken an ihren Bruder wuchs auch der Zorn in ihr. Helmut musste etwas gewusst haben, und zwar etwas, das Gerds Tod verhindert hätte. Sie beschloss, ihren Bruder aufzusuchen und ihn zur Rede zu stellen. Mit grimmigem Gesicht änderte sie ihre Richtung und schlug den Weg zur naheliegenden U-Bahnstation ein. Eine Bahnstation bedeutete Leben, Trubel, Menschen...
Entschlossen durchteilte die Frau das Unterholz. Dornenranken schlugen ihr ins Gesicht, Schlingpflanzen und Efeu legten sich um die Knöchel, und schwer erkennbare Teile von Bäumen ließen sie immer wieder straucheln. Das Mondlicht zauberte immer wieder Trugbilder auf ihren Weg.
Da war es wieder, und diesmal hatte sie es genau gehört. Ein klatschendes Geräusch, das von überall zu kommen schien, fesselte ihre Aufmerksamkeit und zwang sie zum Anhalten. Sie lauschte und erkannte, dass es aus den Wolken kommen musste. Aber im selben Moment, als Sabine das begriff, war es auch schon zu spät.
Lederne Flügel peitschten durch die Äste der Bäume und zerbrachen sie wie gläserne Filigrane. Dazwischen erklang gieriges Röcheln und ein Pfeifen, das bis an die Ultraschallgrenze ging. Entsetzt schaute die Frau nach oben und erkannte ein riesiges Fledermauswesen, das sich mit weitausholenden Schlägen seiner Schwingen den Weg durch die Baumkronen bahnte und stetig näherkam. Das Wesen verfolgte sie. Im selben Moment, als Sabine die rotglühenden Augen des Ungeheuers erblickte, waren ihr die Zusammenhänge klar. Sie sollte sterben.
Die Hölle hatte sich aufgetan und trieb ihr teuflisches Spiel mit ihr. Sabines Flucht musste eine abgekartete Sache gewesen sein. Das Auftauchen zweier solcher Höllenkreaturen ließ sich durch einen Zufall allein nicht erklären.
Mit einem angstvollen Aufschrei flüchtete sie. Doch diesmal achtete die Frau nicht auf die Dornen, und auch die Äste interessierten sie nicht. Sabine hielt sich schützend die angewinkelten Arme vor das Gesicht und rannte. Wohin, das wusste sie nicht genau, und es war ihr auch egal. Sie spürte die Nähe von Menschen und lenkte die Schritte unbewusst weiter der Bahnstation entgegen.
Wieder peitschten die ledernen Flügel die Baumkronen, und diesmal durchbrach der schwere Körper des Ungeheuers die Äste. Instinktiv zog Sabine den Kopf ein, als der dunkle Körper auf sie losschoss.
Irgendetwas traf mit hartem Schlag die Stirn der Frau, und gleichzeitig spürte sie einen schneidenden Schmerz, der sich quer über die Kopfhaut hinzog.
Reflexmäßig fuhr sich Sabine über die Stirn und starrte im nächsten Moment fassungslos auf ihre Hand. Sie war blutverschmiert.
Wieder schoss das Dunkle herab und erwischte sie an der Schulter. Die Flüchtende wurde herumgewirbelt und krachte schwer auf den Rücken. Einen Augenblick lang war Sabine versucht, einfach liegenzubleiben und sich in ihr Schicksal zu ergeben. Aber die Angst trieb sie wieder hoch und zwang sie erneut zur wilden Flucht in das Unterholz.
Ihre Schuhe hatte Sabine verloren, die Strümpfe waren zerrissen, und das Kleid bestand nur noch aus Fetzen. In den zahlreichen Wunden biss der Schweiß. Das getrocknete Blut überkrustete ihr Gesicht. Der Atem ging nur noch stoßweise. Sabine wusste genau, dass sie es nicht mehr lange machen würde.
Von fern funkelten Lichter. Das Gleißen, das Signallampen auf den Schienen verursachten, und plötzliches Kreischen von Bremsen sagten ihr, wie nahe sie dem Bahnhof war. Aber im selben Moment, als sich die dunkle Gestalt vor der Flüchtenden materialisierte, war ihr klar, dass sie es nicht mehr schaffen würde. Ihr Weg war hier zu Ende.
Genüsslich fuhr Belas Zunge über die Lippen. Er freute sich, dass es gerade die Frau war, die zu Seinem Opfer werden sollte. In Vorfreude bleckte er sein mörderisches Gebiss. Mit magischen Mitteln brachte er es fertig, seine dürre Gestalt mit einer leuchtenden Sphäre zu umgeben, so dass die Frau auch sein Gesicht erkennen konnte.
Ein leiser Angstlaut kam von seinem Opfer. Es bedurfte keines Gedankenimpulses, um es wie paralysiert stillstehen zu lassen. Sabine zitterte vor Furcht.
Bela kicherte. Längst hatte sein Gesicht jenen widerwärtig grausamen Ausdruck angenommen, der in solchen Momenten die innersten Triebe des Vampirs hervorkehrte.
Langsam breitete er seine Arme aus und streckte der Frau die Hände entgegen - eine höhnische Karikatur eines Willkommensgrußes. Der schwarze Umhang klaffte auseinander, so dass das scharlachrote Innenfutter sichtbar wurde. Gemächlich und mit eigenartig schwebenden Schritten bewegte sich der Vampir auf sein Opfer zu. In diesem Moment zerbrach ein Ast unter Belas Füßen.
Das Knacken zerriss die Stille und bewirkte, dass Sabine jäh aus ihrer Starre geweckt wurde. Schlagartig wurde sie sich wieder der Gefahr bewusst und versuchte das Unmögliche: Die Flucht.
Ein seltsames Klingen war plötzlich in ihrem Geist, und dann waren plötzlich fremdartige Gedanken zu spüren.
Lockende Gedanken waren es. Sie sagten: Komm, du wirst es nicht bereuen. Vergiss alles, was dich an läppischen Gefühlen von Liebe, Ehre und Treue hängen lässt. Du sollst mein sein!
Glaub mir, es ist schön, was ich dir zu bieten habe. Du wirst eine Auserwählte sein. Die Hast und Gier nach Geld, der Kampf um das Überleben, all das kann ich dir ersparen. Willst du?
Überrascht war Sabine stehengeblieben und lauschte den Worten, die sich in ihrem Geist manifestierten. Mehr und mehr verfiel sie den lockenden Impulsen. Auf die letzte Frage gab es für sie nur eine Antwort: Natürlich wollte sie!
Begeistert lief sie dem Unbekannten entgegen.
Zuerst war nur ein Kitzeln zu spüren, dem ein lustvolles Gefühl des Losgelöstseins folgte. Langsam setzte eine Schwäche in ihren Beinen ein, das in eine Lähmung überging. Schließlich befiel die Lähmung den ganzen Körper. Sabine starb.
Aber sie starb nicht richtig. Eine totengleiche Starre hielt sie umfangen. Die einschmeichelnde Stimme erklang erneut und gab ihr Anweisungen, die sie zwar nicht begriff, aber um jeden Preis ausführen würde. Niemand würde sie hindern können.
Gleichgültig begann Bela, sich wieder in eine riesige Fledermaus zu verwandeln. Seine Arbeit hatte er erledigt. Der Vampir setzte sich in Bewegung. Er schwang sich empor und begann mit dem Heimflug.
Zurück blieb die blutleere Hülle eines Menschen, der den Keim des Satans in sich trug. Wie vorbestimmt würde das, was einmal Sabine gewesen war, die Metamorphose durchmachen. Dann würde sie eine weitere Trumpfkarte in dem teuflischen Spiel werden, welches sich vier Bestien in menschenverachtender Grausamkeit ausgedacht hatten.
Der erste Akt des Dramas war gelaufen. Bela hatte zuverlässig funktioniert. Seine Aufgabe war erfüllt.
7.
»Verdammt noch mal, warum nimmt der nicht ab?« Hauptkommissar Kempner
schmetterte wütend den Hörer auf die Gabel zurück. Den ganzen Abend hatte er versucht, Helmut Rathje telefonisch zu erreichen, aber der Mann schien sich tot zu stellen. »Buck?«
»Ja, Chef.?
In der Tür erschien Klaus Buck, Walther Kempners Assistent, ein hochaufgeschossener Endzwanziger. In der Hand hielt er einen Pappbecher mit heißem Kaffee, aus dem er ab und zu vorsichtig schlürfte. Es ging auf ein Uhr nachts, und das ganze Revier machte Überstunden.
Hauptkommissar Kempner musterte wütend das Telefon, als sei es dafür verantwortlich, dass Rathje sich nicht meldete. Dann ging sein Blick langsam zu dem Assistenten. Er fasste einen Entschluss.
»Wir müssen hinfahren, er nimmt den Hörer nicht ab.
Klaus Buck runzelte die Stirn. »Muß das sein? Jetzt noch?« Kempners Faust krachte auf den Schreibtisch. »Jawohl, es muss sein!« Ein paarmal atmete er heftig, dann fuhr er fort: »Es ist mir scheißegal, wie spät wir es haben! Im Augenblick sind noch die Kollegen von der Spurensicherung dort, und ich will, dass er die Toten genauso zu sehen bekommt, wie man sie aufgefunden hat.«
Buck sah ihn ungläubig an. »Sie glauben doch nicht, dass er...«
Der Kommissar schüttelte entschieden den Kopf und entgegnete nach kurzem Überlegen: »Nein, natürlich meine ich das nicht. Aber ich glaube, dass er etwas ahnt, ich glaube sogar, dass er etwas weiß. Und da können Sie sich getrost auf mein Gefühl verlassen.«
Klaus Buck seufzte. Mit einem Vorgesetzten wie Walther Kempner war es wirklich nicht immer einfach. Seine Gefühle oder Intuitionen, wie er sie gelegentlich nannte, waren so etwas wie eine heilige Kuh. Niemand wagte daher ernsthaft, öffentlich Kritik daran zu üben.
Im Übrigen trafen Kempners Intuitionen sehr oft den wahren Sachverhalt eines noch aufzuklärenden Verbrechens. Mit Wundern hatte das allerdings nicht das Geringste zu tun. Es war vielmehr die berufsbedingte Menschenkenntnis und ein in vielen Jahren zusammengetragenes, gerütteltes Maß an Erfahrungen.
Der Kommissar hatte die Hände in die Hosentaschen geschoben und stand vor dem Fenster. Mit zusammengekniffenen Lippen starrte er in die Nacht hinaus. Abrupt drehte er sich um.
Langsam ging Kempner um den Schreibtisch herum und bewegte sich auf seinen Assistenten zu. Mit zusammengekniffenen Lidern starrte er dem Jüngeren in die Augen.
»Herr Bück, stellen Sie sich einmal vor: Da erfährt ein Mann, dass seine Frau ermordet worden ist - was sage ich da, dass sie zerfleischt worden ist.« Kempner holte erneut Luft, dann fuhr er brutal fort: »Soweit, so gut. Er identifiziert sie, sieht dabei die scheußlichen Verletzungen, verliert die Fassung für zwei, drei Sekunden und will dann seine Tochter sehen.« Kempners Hände ballten sich. »Herr Buck, der Mann hat sich genau so benommen, als wollte er sagen: Na, was habe ich schon anderes zu erwarten? Ist das normal, Herr Buck? Ist das normal?«
Der Assistent sah ein wenig betreten zur Seite. »Chef, was ist in solchen Momenten schon normal?«
Kempner schnitt ihm mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort ab. »Nun kommen Sie mir nicht so. Ich war schließlich dabei, und ich sage Ihnen: Der muss etwas wissen!«
Entschlossen nahm er den Trenchcoat vom Haken und schlüpfte hinein. »Wir fahren. Bitte rufen Sie die Spurensicherung an. Die sollen beide Leichen so liegen lassen und auf uns warten!«
Klaus Buck lief eilig in die Funkzentrale, um die Anweisungen des Vorgesetzten auf drahtlosem Weg weitergeben zu lassen. Dann lief er die Treppen hinunter auf den Hof, wo Kempner bereits ungeduldig neben einem zivilen Dienstfahrzeug stand. Rasch stieg Buck ein und startete den Wagen. Der Weg zu Rathjes Haus war nicht weit.
»Übrigens, eines habe ich noch vergessen.« Kempner starrte auf die Fahrbahn. »Rathje hatte eine Tante, das ist schon lange her, und ich habe es aus den Akten. Als er damals nach Deutschland kam, wohnten zuerst seine Schwester und er dort. Und nun halten Sie sich fest, Herr Buck. Die Todesursache entsprach aufs Haar der, die der Arzt nach oberflächlicher Untersuchung bei Sabine Rieger festgestellt hat.«
Klaus Buck pfiff leise durch die Zähne. »Das muss ich zugeben: Ein Hammer ist das natürlich. Aber glauben Sie nicht, dass diese Rosskur, der Sie Rathje unterziehen wollen, ein wenig zu viel für den Mann ist?«
Kempner zuckte nur mit den Schultern.
»Ich denke dabei ja auch an Sie, Chef«, fuhr Klaus Buck fort, »die Methode ist - je nun - zumindest zwiespältig.«
»Weiß ich«, seufzte sein Vorgesetzter, »weiß ich ja alles. Aber können Sie mir sagen, wie ich ihm sonst die Zunge lösen kann? Der Mann braucht einen heilsamen Schock.«
Kempner schaute aus dem Seitenfenster und machte eine Handbewegung zu seinem Assistenten hinüber.
Auf das Zeichen des Kommissars hielt Buck den Wagen an und die Männer stiegen aus. Es war eine Vorsichtsmaßnahme, dass sie die letzten hundert Meter zu Fuß gingen.
Helmut Rathjes Haus lag am Ende der Straße in einem verwilderten Garten. Eines der vorderen Fenster war erleuchtet.
»Na also«, brummte Kempner, »er ist zu Hause.«
Leise durchquerten die beiden Kriminalbeamten den verwilderten Garten und stiegen die zehn Stufen zur Haustür empor.
Kommissar Kempner drückte entschlossen auf den Klingelknopf. Dann trat er abwartend einen Schritt zurück. Fehlanzeige. Als sich nach dem dritten Läuten noch immer nichts tat, wandte er sich an seinen Assistenten.
»Herr Buck, gehen Sie doch einfach mal vorn herum. Am besten versuchen Sie, in eines der Fenster zu sehen.«
Buck entfernte sich. Kempner versuchte erneut sein Glück, doch dann stutzte er und drückte noch einmal auf den Knopf. Aber die Klingel schwieg. Rathje musste sie abgestellt haben.
In diesem Moment kam sein Assistent zurück. »Er hat das Licht ausgeschaltet, ich kann nichts sehen.«
»Na gut«, Kempner nickte grimmig, »dann eben anders!«
Mit seinem schweren Schlüsselbund donnerte er einige Male gegen die Haustür. Dann rief er mit lauter Stimme: »Herr Rathje, hier ist die Polizei. Wir wissen, dass Sie da sind! Machen Sie auf!«
Die lauten Worte zeigten sofort Wirkung. Der Kommissar drehte sich grinsend zu seinem Assistenten um, denn von drinnen waren leise, schlurfende Schritte zu hören. Sie kamen rasch näher. Schließlich drehte sich ein Schlüssel im Schloss, und die Tür wurde geöffnet.
Das Licht, das durch die Türöffnung aus dem Flur strömte, offenbarte den Anblick eines Mannes, der offensichtlich am Ende seiner körperlichen und geistigen Widerstandsfähigkeit war.
Hauptkommissar Kempner merkte sofort, was mit Helmut Rathje los war. Der Mann war stark angetrunken.
Helmut Rathje war nur noch der klägliche Überrest dessen, was der Kommissar vor vier Wochen kennengelernt hatte. Die Augen des Mannes lagen tief in den Höhlen und hatten einen unsicher flackernden Blick. Eingefallene, stoppelbärtige Wangen ließen die Jochbeine extrem hervortreten, und die Haare hingen ihm wirr ins Gesicht.
Rathjes Kleidung machte den Eindruck, als sei sie in der letzten Zeit nicht gewechselt worden. Herabgerutschte Hosenträger hingen lose um die ausgebeulten Hosenbeine.
Für einen Augenblick verstärkten sich Kommissar Kempners Zweifel. War der Weg, den er da zu beschreiten im Begriff war, tatsächlich der richtige? Gewaltsam riss er sich zusammen. Drei Menschen hatten ein gewaltsames Ende gefunden* und es galt, den Mörder zur Strecke zu bringen. Hier vermutete er den Schlüssel.
»Wir dürfen wohl eintreten«, meinte er barscher als gewollt und stand bereits im nächsten Moment im Flur.
Assistent Buck folgte ihm auf dem Fuß.
Rathjes Wohnzimmer bestätigte den Beamten ihre Vermutung. Der Mann musste sich in den letzten Wochen regelrecht zu Hause vergraben haben. Fassungslos schaute Buck sich um.
Eine unter anderen Umständen sicher gemütliche Couchgarnitur war mit zerdrückten Kissen geradezu übersät. Überquellende Aschenbecher standen auf nahezu allen Möbelstücken herum. Mengen von teilweise umgekippten Schnaps-, Bier- und Weinflaschen rundeten das Bild ab. Der Geruch nach Alkohol und kaltem Rauch hing zäh in der Luft und machte das Atemholen zu einer Zumutung. Auch Hauptkommissar Kempner musterte völlig konsterniert das Chaos.
Der Beamte räusperte sich ein wenig verlegen. »Äh, Herr Rathje, wir müssen Sie noch einmal sprechen...«
Sein Blick wurde etwas weicher, als er den Angesprochenen mit müden Bewegungen zu einem mit Brandlöchern übersäten Sessel schlurfen sah. Rathje bewegte sich, als sei er aller Kräfte beraubt.
»Was gibt es noch zu fragen? Meine Frau ist tot...« Die letzten Worte waren mehr an sich selbst gerichtet.
»Es handelt sich nicht um Ihre Frau«, entgegnete Kommissar Kempner und kam damit zur Sache. »Es hat zwei weitere Opfer gegeben, und der Mörder scheint derselbe zu sein!«
In diesem Moment zeigte sich in dem Blick des Mannes so etwas wie Leben.
»Wer?«, fragte er kurz.
Klaus Buck mischte sich ein. »Ihre Schwester und Ihr Schwager, Sabine und Gerd Rieger.«
Kempner ergriff wieder das Wort. »Wir müssen Sie leider bitten, uns zu begleiten, so leid es uns tut. Es ist von dringendem Interesse, dass ein Lokaltermin abgehalten wird, und dazu benötigen wir Sie.«
Sein Ton duldete keinen Widerstand.
Rathje stand wortlos auf und steuerte mit unsicheren Bewegungen auf die Garderobe zu. Kurz darauf stand er in Hut und Mantel vor den beiden Beamten. »Können wir?« Kempner nickte. Er sah, dass Tränen ihre Spuren über das Gesicht des Mannes gezogen hatten und verkniff sich jede weitere Äußerung. Gemeinsam bestiegen sie das Polizeifahrzeug. Buck startete wieder, und die Männer machten sich auf den Weg.
Je näher sie dem Haus der Riegers kamen, desto verkniffener wurde Rathjes Gesicht. Schließlich biss er die Zähne so fest aufeinander, dass die Wangenknochen weiß hervortraten und leises Knirschen zu hören war. Aber das war auch seine einzige Reaktion.
Kempner fluchte leise, als sie wieder aus dem Haus heraustraten. Sein Plan schien sich zum Fiasko zu entwickeln. Beim Anblick seines Schwagers war Rathje noch blasser geworden, hatte sich dann aber noch mehr verhärtet. Gesagt hatte er rein gar nichts.
Mit einem Ruck bremste Klaus Buck den Wagen neben einem hoch aufgeschütteten Bahndamm ab. Er stellte den Motor ab, ließ aber die Scheinwerfer angeschaltet, so dass die Lichtkegel einen Pulk von Polizeibeamten beleuchteten, der sich in etwa fünfzig Metern Entfernung zusammengeschart hatte.
»Na, dann wollen wir mal.« Kempner stieg ächzend aus und bewegte sich auf die Gruppe zu. Helmut Rathje und sein Assistent folgen ihm.
Die Gruppe der Polizeibeamten befand sich in heller Aufregung, als sie dort anlangten. Kempner drängte sich zwischen sie hindurch bis zum Einsatzleiter.
»Was ist los?«
Der Einsatzleiter war die Aufregung in Person. »Herr Hauptkommissar, ich kann es überhaupt noch nicht fassen, wie so etwas passieren konnte. Aber solange ich meine Laufbahn als Polizeibeamter zurückverfolge, ist mir so etwas...«
Kempner wippte ungeduldig auf den Zehen und unterbrach jetzt wütend. »Ich bin nicht im Geringsten an Ihrer Laufbahn interessiert. Ich will wissen, was hier los ist! Wo liegt die Frau?«
Der Einsatzleiter wischte sich mit verzweifelter Gebärde den Schweiß von der Stirn. »Aber das ist es ja gerade! Als Ihr Funkruf kam, war unsere Arbeit bereits getan, und wir wollten gehen. Dann kam die Anweisung, zu warten, bis Sie eintreffen. Da haben wir uns nicht weiter um die Leiche gekümmert. Als Sie dann auf sich warten ließen, ist noch einmal jemand von uns routinemäßig hingegangen und stellte fest, dass die Frau verschwunden war. Verschwunden! Sie ist weg!«
»Danke, das habe ich ja nun begriffen«, fauchte Kempner gereizt und ließ den Mann einfach stehen. Voller Wut steuerte er zum Wagen zurück. Wäre er länger geblieben, hätte er den Einsatzleiter unter Umständen eigenhändig erwürgt.
»Was ist los, Chef? Wo wollen Sie hin?«
Klaus Buck war das Benehmen seines Vorgesetzten, der mit hastigen Schritten zum Wagen zurückstrebte, ein Rätsel. Als er keine Antwort bekam, folgte er schulterzuckend. Rathje schloss sich wortlos an.
Der Kommissar hatte bereits wieder auf dem Beifahrersitz Platz genommen, als seine Begleiter eintrafen. Er war nicht ansprechbar. Resigniert startete Buck den Wagen.
Einen Moment herrschte beklemmendes Schweigen, als der junge Beamte vorsichtig auf die Straße zusteuerte. Dann drehte Kempner sich ruckartig um und funkelte Rathje an.
»Meine Geduld ist zu Ende. Wir wollen jetzt einmal Tacheles reden. Also, Ihre Schwester ist genauso umgekommen, wie damals Ihre Tante ermordet worden ist. Ja, hören Sie nur genau zu! Wir wissen nämlich mehr, als Sie glauben. Also weiter. Die Leiche Ihrer Schwester ist verschwunden« - er schnippte mit den Fingern - »einfach so.«
Rathje starrte ihn mit auf gerissenen Augen an. Kempner sah seinen Weizen reifen. In unvermindert hartem, zwingendem Tonfall fuhr er fort, als er sah, dass der andere unsicher wurde.
»Niemand behauptet, dass Sie mit der Ausführung der Morde etwas zu tun hätten, Herr Rathje. Aber Sie wissen etwas, und solange ich nicht weiß, was das ist, solange werde ich Sie auch nicht zufriedenlassen. Also erzählen Sie mir, was dahintersteckt. Ich höre...«
»Die Szeklers...«
Kempner atmete auf. »Ich habe es doch gewusst, Herr Rathje. Also, nun einmal langsam. Wer oder was ist das, die Szeklers?«
»Eszébeth Szekler und ihre verdammte Brut. Sie hat die Finger im Spiel!« Unvermittelt war es aus dem Mann herausgebrochen. Jetzt, als er den Anfang gemacht hatte, hielt ihn nichts mehr zurück. »Sie können mich jetzt für verrückt halten, Herr Kommissar, aber das ist die Rache der verdammten Szeklers!«
Der Bann war gebrochen. Alles, was Helmut Rathje jetzt wollte, war reden. Darüber sprechen, das war im Moment sein einziges Bedürfnis. Zusammenhanglos begann er, einzelne Sätze herauszusprudeln.
Kempner bremste ihn. »Herr Rathje, bitte, alles, was Sie uns hier erzählen, ist selbstverständlich von größter Wichtigkeit. Bitte versuchen Sie, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Sind Sie bereit, auf der Wache noch einmal alles schriftlich zu Protokoll zu geben?«
Rathje nickte ergeben.
In diesem Moment kam ein unterdrückter Laut von Klaus Buck, der einen kurzen Blick in den Rückspiegel geworfen hatte.
»Chef, ich muss einen Augenblick anhalten. Entweder hat sich jemand an unserem Kofferraum zu schaffen gemacht, oder ich habe vergessen, ihn sorgfältig zu verschließen.« Während der Assistent den Wagen an den Straßenrand lenkte, gewahrte Kempner, dass der Kofferraumdeckel tatsächlich auf und zu schwang. Buck sprang behend heraus und lief um das Auto herum. Doch im selben Moment, als er das Heck erreicht hatte, blieb er auch schon wie angewurzelt stehen und starrte fassungslos auf die Klappe.
»Verdammt noch mal, was ist?« Kempners Stimme klang ungnädig, als er jetzt hinzutrat. Im selben Moment erstarrte auch er.
Über das hochgezogene Bord des Kofferraums ragte etwas: Eine menschliche Hand!
Sie schien zwar seltsam verwelkt und doch irgendwie voller Kraft. Die Fingernägel waren spitz und muteten wie Krallen an. Die Männer glaubten, ihren Augen nicht trauen zu können, als sie sich zu allem Überfluss noch zu bewegen begann.
Die Finger spreizten sich und wanderten gemächlich wie ein Spinnentier auf dem Bord entlang. Dann verhielten sie sich abwartend still, als müssten sie sich orientieren.
»Das soll mich doch...« Entschlossen sprang Kempner hinzu und riss mit einem Ruck die Klappe auf.
Der Anblick, der sich ihm bot, war so entsetzlich, dass der Kommissar einen Moment wie gelähmt dastand. Einen Moment zu lange.
Im Kofferraum lag ein Wesen. Mensch konnte man es wohl kaum nennen. Blutleer und weiß, wie ausgetrocknet, lag es da und funkelte mit den Augen. Immer noch gelähmt, wurde der Kommissar Zeuge, wie sich das Ungeheuer mit langsam sicherer werdenden Bewegungen aufrichtete. Fast verwundert schaute es sich um. Dann schoss jählings eine verkrümmte Krallenhand vor und packte Kempner an der Kehle.
Der Kommissar konnte sich nicht mehr retten. Nägel, die lang und spitz waren, bohrten sich schmerzhaft in seine Haut. Doch in diesem Moment erwachte der Widerstand in ihm. Zuerst versuchte er, sich loszureißen, aber je mehr er seine Anstrengungen verstärkte, desto mehr schnürte der eiserne Klammergriff ihm die Luft ab. Das Ungeheuer schien über unmenschliche Kräfte zu verfügen.
Vor Kempners Augen verschwammen bereits die Bilder vor Atemnot, da entsann er sich eines Tricks. Blitzschnell gab er seinen Widerstand auf und ließ die Bestie ein Stück herankommen. Dann griffen seine Finger zu. Er bekam die Frau am Hals zu fassen, und es gelang ihm, sie mit einer kurzen Drehung zu Boden zu schleudern. In verbissenem Knäuel wälzten sich die Körper der Kämpfenden auf dem Boden.
Aber das Ungeheuer gewann auch am Boden wieder die Oberhand. Wie ein Teufel saß die Frau auf der Brust des Beamten. Sie hatte ihre Zähne gefletscht. Langsam ließ Kempners Widerstandskraft nach, und das mörderische Gebiss näherte sich bedrohlich seinem Hals.
»Buck, verdammt noch mal, tun Sie doch was!« Der Kommissar brüllte verzweifelt.
Buck hatte längst seine Dienstwaffe gezogen und lief verzweifelt um die beiden herum, ohne einen sicheren Schuss anbringen zu können. Er sah seine Chance, als Kempner in einer letzten Anstrengung die Angreiferin von sich stoßen konnte. Die Frau saß sprungbereit in der Hocke und wollte sich erneut auf ihr Opfer stürzen.
In diesem Moment traf sie Bucks Schuss in den Hinterkopf. Aber gleichzeitig geschah noch etwas - etwas Entsetzliches.
Das Geschoss durchschlug den Kopf der Untoten wie einen chinesischen Papierballon und setzte dann seinen Weg fort.
Kempner konnte sich nicht mehr die Frage stellen, was der rote Fleck auf der Stirn der Frau zu bedeuten hatte. Im selben Moment drang ihm das Projektil in die Nasenwurzel und tötete ihn auf der Stelle.
»Sabine...« Rathje war aus dem Wagen gekrochen und hatte den letzten Akt des Dramas mitbekommen.
Klaus Buck stand immer noch wie paralysiert da und starrte auf die Waffe in seiner Hand.
Die Bestie lebte!
Mit funkelnden Augen schlich sie auf den jungen Beamten zu. Ohne sich bewusst zu werden, was er tat, hob Buck wieder die Waffe.
Vier, fünf röte Flecken erschienen wie hingetupft in dem Gesicht des Ungeheuers, dann war es heran. Buck kam nicht mehr zum Nachladen, denn im gleichen Moment brachen ihm die zupackenden Krallen das Genick.
»Sabine...«
Etwas wie Erkennen flackerte in dem Blick der Frau auf. Dann bewegte sich die Untote mit staksigen
Bewegungen auf den Wald zu und verschwand darin.
Rathje rannte wie gehetzt davon.
Er konnte nicht mehr Zeuge werden, dass die Untote sich wie durch posthypnotischen Befehl den spitzen Pfahl eines Zaunes in die Brust stieß und langsam verging, als hätte es sie nie gegeben.
Am Abend des folgenden Tages saß er bereits im Wagen und verließ Hamburg in südlicher Richtung. Das Radio berichtete von zwei Polizeibeamten, von denen einer den anderen erschossen hatte. Auch der andere war tot.
Hinter Helmut Rathje auf dem Rücksitz schlief seine kleine Tochter, als er die Flucht vor der Vergangenheit antrat.
8.
Die Alfa Giulia-Super lag wie ein Brett auf der Straße. Lyle Mishner drehte am Autoradio. Musik war wichtig für ihn, wenn er auf eintönigen Landstraßen unterwegs war.
Die Gegend um die Weinstraße herum hatte bestimmt ihre landschaftlichen Reize. Dichter grüner Mischwald, weite Täler und dann wieder tief abfallende Schluchten mischten sich in reizvollem Durcheinander.
Aber auf die Dauer war es ein wenig viel Gegend, und so blieb es nicht aus, dass Lyles Gedanken langsam abschweiften.
Studium an der Columbia University, dann Wehrdienst. Er grinste. Seine Kommilitonen hatten ihn belächelt, aber Lyle hatte sich nicht beeinflussen lassen. Er hatte sich gesagt, dass ein längerer Aufenthalt in Deutschland bestimmt gut sei, wenn er schon als Nebenfach Germanistik belegt hatte.
Dass man ihn zuerst nach Vietnam geschickt hatte, war natürlich ein Kunstfehler gewesen. Aber die Zeit war vorbei, und jetzt war er in Deutschland.
Im Radio war absolut nichts zu bekommen. Lyle kurbelte verbissen weiter. Der AFN hing ihm allmählich zum Hals heraus. Auch als Amerikaner war man das ewige Banjo-Didelingdingding der Country-Musik allmählich leid, besonders, wenn man von der Ostküste stammte wie Lieutenant Mishner. Nantucket, jetzt bloß nicht daran denken, sagte er sich und warf einen Blick auf die Karte.
Ortsnamen wie Etztal und Lambrecht tauchten auf. Irgendwo musste sich ja wohl ein Gasthof finden lassen.
Lyle konzentrierte sich wieder auf die Fahrbahn, die allmählich schmaler wurde. Auch die Kurven nahmen ständig zu. Überdies setzte die Dämmerung ein und mit ihr leichter Regen.
Lyle fluchte leise vor sich hin. Der Regen wurde stärker. Es wurde Zeit, dass er einen1 Gasthof fand. Seine Blicke suchten den Straßenrand ab, aber so sehr er auch suchte, nirgends war ein Wegweiser zu entdecken.
In diesem Moment wurde seine Aufmerksamkeit jäh gefesselt. Etwas bewegte sich am Waldrand. Ein Mädchen, offensichtlich auf der Flucht, löste sich aus dem Unterholz und rannte wie gehetzt auf die Straße.
Im nächsten Augenblick hatte Lyle gebremst und sprang heraus. Das Mädchen schien am Ende ihrer Kräfte. Sie keuchte und zitterte. Der Regen hatte ihre Kleidung durchnässt und aufgeweicht. Die dunklen Haare hingen ihr in klatschnassen Strähnen in das Gesicht, das von Schmutz und Tränen verschmiert war. Im nächsten Moment fiel sie Lyle in die Arme.
»Bringen Sie mich weg. Oh, bitte, bringen Sie mich fort!«
Ehe der junge Amerikaner zufassen konnte, sank das Mädchen ohnmächtig zusammen und rutschte am Kotflügel des Wagens herunter,. Hastig griff er ihr unter die Arme und hob sie hoch. Dann trug Lyle das Mädchen um den Wagen herum und bettete sie auf den Vordersitz. Anschließend drehte er die Rücklehne zurück, so dass sie zusammen mit dem Rücksitz eine Horizontale bildete.
Aufatmend kam Lyle aus der gebückten Stellung empor und schlug die Tür zu. Hastig atmend wollte er um den Wagen herum, als ihn jemand aufhielt. Vor Schreck blieb ihm einen Moment lang die Luft weg.
Ohne dass er es gemerkt hatte, war ein junger Mann herangetreten und beobachtete ihn. Lyle wäre fast mit ihm zusammengestoßen.
»Verdammt noch mal, hätten Sie sich nicht bemerkbar machen können?« schnauzte der Amerikaner erbost.
Der andere zuckte nur gleichgültig mit den Schultern und starrte neugierig in das Innere des Wagens.
Lyle sog hörbar die Luft ein. »Wer sind Sie überhaupt? Kennen Sie die junge Dame?«
Der junge Mann schien stumm zu sein, jedenfalls schüttelte er nur den Kopf und starrte weiter das Mädchen an.
Allmählich wurde es Lyle zu bunt.
»He, Sie« - er packte den anderen an der Schulter -, »ich rede mit Ihnen. Können Sie mir wenigstens den Weg in den nächsten Ort sagen?«
Jetzt bequemte sich der andere zu einer Antwort. »Immer geradeaus, dann kommen Sie nach Etztal.«
Das Benehmen des jungen Mannes erschien dem Amerikaner mehr als eigenartig. Er entschied, dass der andere ein wenig beschränkt sein musste. Wie der überhaupt aussah!
Vierschrötig und untersetzt war er, und seinen kantigen Schädel bedeckte ein büscheliger Pelz von rostrotem Borstenhaar. Die Hände muteten eher wie Klauen an und wirkten verwachsen und furchterregend.
Jetzt bemerkte Lyle auch, dass die Kleidung des Unbekannten aussah, als sei sie unter starker Belastung aufgeplatzt. Teilweise waren die Nähte zerrissen, als ob Hemd und Hose zu eng waren.
Dem jungen Mann schien es plötzlich unangenehm, dass er so offensichtlich gemustert wurde. Jedenfalls drehte er sich schnell und grußlos um und verschwand mit eigenartig schlenkernden Bewegungen wieder im Unterholz. Ehe Lyle es sich versah, kündeten nur die Bewegungen der Äste von der Existenz des anderen. Dann bildete das Laubgewirr eine dichte einheitliche Wand, die den Unbekannten verschluckt hatte.
Die Dunkelheit brach nun vollends herein. Entschlossen bestieg der junge Amerikaner wieder den Wagen und startete. In rascher Fahrt versuchte er, die Strecke bis zum nächsten Ort in möglichst kurzer Zeit zurückzulegen. Aber die Straße war nicht beleuchtet, und zu allem Überfluss nahmen auch die Kurven zu, bis Lyle sich wie ein Slalomfahrer vorkam.
Vor ihm tauchte plötzlich eine stählerne Brückenkonstruktion auf. Kurz darauf polterten die Stahlgürtelreifen über den holperigen Brückenbelag. Lichter tauchten auf und veranlassten Lyle, wieder Gas zu geben.
Es war ein Fehler, wie gleich darauf zu bemerken war. Die anschließende Fahrbahn spottete jeder Beschreibung.
»Holy cow«, fluchte Lyle leise. Für einen Augenblick hatte er alle Hände voll zu tun, um den Wagen auf der Straße zu halten. Vor ihm wuchs plötzlich eine steile Felswand auf.
Aber als er den Alfa auf der Rollsplit-Piste nach rechts schlittern ließ, wurde ihm vorübergehend schlecht. Die Schlucht musste mindestens dreißig Meter tief sein.
Aufatmend brachte Lyle schließlich den Wagen zum Stehen. Seine Stirn war schweißnass. Besorgt blickte er seinen Fahrgast an, aber das Mädchen war immer noch ohnmächtig. Glücklicherweise hatte sie nichts von alldem bemerkt.
Immer noch leise vor sich hin schimpfend, startete er wieder den Wagen, bog um eine scharfe Kurve und sah Etztal vor sich. Der ganze Ort bestand offensichtlich nur aus einer Hauptstraße, die sich in der Mitte des Ortes gabelte, sowie ein paar. Seitenstraßen. Die große Welt war hier bestimmt nicht zu Hause.
Lyle hielt den Wagen vor einem großen, erleuchteten Haus, dessen Aufschrift den Besucher darauf hinweisen sollte, dass es sich um einen Gasthof handelte.
Einen Moment lang erwog er, das Mädchen ein Weilchen allein im Wagen zu lassen, besann sich dann aber anders und hob sie vorsichtig heraus. Ächzend machte er sich mit seiner Last auf den Weg und öffnete mühsam mit dem Ellenbogen die Eingangstür.
Bierdunst und Zigarettenrauch schlugen ihm entgegen.
9.
An diesem Abend hatte sich Anna besonders hübsch gemacht.
Sie freute sich darauf, sich mit Stefan zu treffen. Ob sie ihn liebte, wusste sie nicht. Aber er hatte so etwas an sich, das alle Mädchen anzog. Und heute hatte er sich mit ihr verabredet.
Trotzig hob sie den Kopf und schaute in den Spiegel.
Die Dorfbewohner waren seltsam, wenn sie ihr oder ihrem Vater begegneten. Wahrscheinlich lag es daran, dass ihr Vater zu niemandem Kontakt hatte. Nein, das stimmte nicht - zu einem hatte er Verbindung, und der war sogar sein Freund. Jürgen Hasse war sein Name, und er war Wirt in Etztal. Hasse war auch der einzige, den ihr Vater im Haus duldete.
Das Haus. Das war auch so etwas. Weshalb ihr Vater draußen im Wald lebte wie ein Eigenbrötler, war ihr ein Rätsel. Er brachte sie mit dem Wagen zur Schule nach Heidelberg und holte sie auch wieder ab.
Nachdem sie ihr Abitur gemacht hatte, wollte sie eigentlich einen Beruf erlernen. Aber immer, wenn sie ihren Vater darauf ansprach, pflegte er abzulenken und sie zu vertrösten.
Manchmal fragte Anna sich, ob es an ihren Träumen lag. Sie erinnerte sich genau, wie erschrocken er gewesen war, als die Träume angefangen hatten.
Somnambulismus - Mondsucht hatte der Arzt gesagt, und dass es bei jungen Menschen nichts Besonderes sei. Es würde sich geben.
Aber es hatte sich nicht gegeben. Im Gegenteil, es war schlimmer geworden - mit jedem Tag, mit jeder Nacht. Soviel hatte sie auf der Schule auch mitbekommen, dass sie wusste, dass Menschen unter Stresssituationen gelegentlich das aktivieren konnten, was Altmeister Freud den Destruktionstrieb genannt hatte.
Aber das war Schulwissenschaft. Die Wirklichkeit war viel schlimmer. Mehrmals war Anna nachts aus ihren Träumen hochgeschreckt, hatte geschrien und festgestellt, dass sie blutbesudelt war. Dann war die Erinnerung gekommen, und Gesichter waren vor ihren Augen aufgetaucht. Gesichter, die in Todesangst und namenloser Qual verzerrt waren. Und dann hatte sie erkannt, wem diese Gesichter gehörten, und sie hatte sich vor dem nächsten Tag gefürchtet
Sie verscheuchte die Gedanken. Die Morde waren in Heidelberg geschehen, sie war in Etztal. Um diese Entfernung zu überbrücken, hätte sie ein Pferd sein müssen oder ein Windhund.
Erschrocken schaute Anna zur Wanduhr. Es ging auf fünf Uhr. Wenn sie sich nicht beeilte, dann würde sie Stefan verfehlen. Eilig lief sie über den Flur nach draußen. Die Wände des langen Korridors waren mit vielen kunstvoll geschnitzten Kruzifixen und Krippen behängt. Ihr Vater hatte sich in mühevoller Arbeit vom Kunsttischler zum Innenarchitekten hochgearbeitet. Die Arbeiten waren sein Hobby.
Annas Vater war heute nach Frankfurt gefahren, um Entwürfe abzuliefern. Deshalb hatte sie Zeit. Merkwürdig, Annas Vater hatte immer versucht, ihre Kontakte mit Jungen gleichen Alters zu unterdrücken. Er war wohl eifersüchtig.
Der Weg zum Treffpunkt mit Stefan war ziemlich lang. Anna würde eine Viertelstunde bergauf laufen müssen und dann noch ein Stück. Aber das machte ihr nichts aus. Im Gegenteil, sie lief gern zu Fuß. Auch die Tatsache, dass sie in der Dunkelheit heimkommen würde, schreckte sie nicht. Sie mochte die Dunkelheit und hatte sie immer gemocht.
Der Weg war schneller zurückgelegt, als sie gedacht hatte. Da war die Lichtung - ihre Lichtung.
Stefan war schon da. Er wartete auf sie und eilte auf Anna zu, als er sie erblickte. Sie fühlte sich von zwei starken Armen umschlossen und herumgewirbelt. Lachend machte sie sich frei.
Der Junge führte Anna unter eine ausladende Tanne. Gemeinsam setzten sie sich. Stefan legte fürsorglich seine Jacke um die Schultern des Mädchens.
Stefan Schwalbes Vater war ein bedeutender Bauunternehmer, der vor allen Dingen riesige Auslandprojekte realisierte. Sein Sohn wollte später in das Geschäft einsteigen. Seine Karriere schien damit gesichert.
Als Stefan ihr sagte, dass er sie gern mitnehmen wollte, weil er sie sehr lieb hatte, war Anna für einen Augenblick glücklich. Sie ließ es zu, dass der Junge sie küsste und lehnte sich an ihn.
Aber irgendwie schien er das wieder missverstanden zu haben, denn er wurde von Minute zu Minute zudringlicher. Oder waren seine Worte von vorhin nur ein Trick gewesen, um sie herumzubekommen? Egal, sie war zwar ein modernes Mädchen und nicht mehr unschuldig, aber was Stefan hier mit ihr abziehen wollte, das ging ihr doch entschieden zu schnell.
Ob alle Männer so reagieren mussten? Stefan schien ihren Widerstand als Anlass zu sehen, seine Zudringlichkeiten zu verstärken. Schließlich riss ihre Bluse mit einem ratschenden Geräusch auf, und die Knöpfe sprangen wie von allein davon. Sie hatte genug.
Wütend stand Anna auf und rannte fort in den Wald hinein.
Aber was war das? Wie ein grauer Schleier legte sich etwas über ihren Blick, und sie konnte ihre Umgebung nicht mehr wahrnehmen. Plötzlich hatte Anna das Gefühl, neben sich zu stehen. Sie verlor jegliche Orientierung und taumelte wie blind umher. Plötzlich war alles wie in ihren Träumen.
Sie sah sich selbst nicht mehr, sie sah nur noch die zottige Bestie, die drüben auf der Lichtung ihr Werk tat. Stefans vor Grauen verzerrtes Gesicht tauchte schemenhaft vor ihr auf. Ein wütendes Knurren ertönte, und dann zerriss ein entsetzlicher Schrei die Stille des Waldes. Plötzlich wichen die grauen Schleier, und Anna konnte wieder sehen.
Im selben Moment prallte sie entsetzt zurück. Sie saß an Stefans Leiche. Sein Kopf stand in unnatürlichem Winkel ab. Seine Kehle und Brust waren zerfleischt.
Jetzt bemerkte sie auch, dass sie voller Blut war. Entsetzt sprang sie auf und rannte aufschreiend in den Wald zurück.
Sie hatte Stefan getötet, es konnte gar nicht anders gewesen sein. Und wenn sie Stefan getötet hatte, dann war sie auch am Tod all der anderen schuld. Sie rannte, ohne nachzudenken.
Das Gelände fiel plötzlich steil ab, und sie stürzte und rollte ein Stück weiter. Keuchend rappelte sie sich wieder hoch und hastete vorwärts. Der Wald tat sich auf. Anna stand auf der Straße.
Mehr taumelnd als laufend rannte sie in die Mitte der Fahrbahn. Die Scheinwerfer eines dunkelgrünen Autos erfassten sie. Der Wagen bremste scharf, und ein Mann sprang heraus. In diesem Moment verließen Anna die Kräfte.
Sie. stammelte noch: »Bringen Sie mich weg, oh, bitte - bitte, bringen Sie mich fort!«
Sie nahm nicht mehr wahr, dass der Fahrer sie behutsam aufnahm und ihr half. Es war ein sympathischer dunkelhaariger Mann mit drahtiger Figur. Er hob sie sacht in den Wagen.
Anna träumte. Da war die Bestie, das Zerrbild ihres Ichs. Auch Stefan war wieder da. Sein Gesicht war vor Grauen verzerrt. Dann kamen das wütende Knurren und der gellende Schrei. Jäh schob sich Stefans schrecklich zugerichtete Leiche wieder in ihr Blickfeld. Sie sah ihn fallen und aufstehen, aufstehen und fallen. Wie ein grausamer Film spulte die Szene immer wieder ab und zeigte das Geschehen aus den verschiedensten Perspektiven. Dann war Schluss, und um das Mädchen herum versank alles in tintenschwarze Finsternis.
10.
Als Lyle die Gaststube betrat, setzte urplötzlich Stille ein. Einer nach dem anderen verstummte, bis auch der letzte Betrunkene an einem Hintertisch sein monotones Lallen einstellte. Mit glasigen Augen, die trotz des genossenen Alkohols Furcht zeigten, stierte er den Mann mit dem Mädchen auf den Armen an.
Lyle konnte nicht ergründen, worauf die plötzliche Reaktion der Leute zurückzuführen war. Dementsprechend wusste er auch nicht recht, wie er die Menschen ansprechen sollte.
»Kennt jemand - äh, ich meine, weiß jemand, wer diese junge Dame ist?«
Ein unwahrscheinlich großer, breiter Mann schob sich hinter dem Tresen hervor. Er kam auf Lyle zu und musterte zuerst ihn und dann das Mädchen. In seinem Blick war Misstrauen.
Der Mann hat Arme wie meine Oberschenkel, durchfuhr es den jungen Amerikaner.
Die Stirn des Wirts legte sich in Falten. Sein grauer Haarkranz, der sich hufeisenförmig um eine blankpolierte Glatze legte, schob sich in den Nacken. »Das ist Anna Rathje«, meinte er dann und stemmte die Arme in die Seiten. »Was ist mit ihr?«
Lyle Mishner zuckte mit den Schultern. »Weiß ich auch nicht. Ich wollte nach Neustadt und bin von der Straße abgekommen. Zehn Minuten von hier ist sie mir vor den Wagen getaumelt. Ich wollte sie gerade fragen, was los ist, da kippte sie um und war weg.«
Der Wirt deutete auf eine freie Sitzbank. »Legen Sie das Mädchen erst einmal dorthin.«
Lyle tat, wie ihm aufgetragen.
Der Wirt war hinter den Tresen geeilt und kam in diesem Moment mit einem nassen Handtuch wieder zurück. Sacht hob er den Kopf der Ohnmächtigen an und befeuchtete zuerst ihre Stirn und dann ihren Nacken. Langsam begann sie, sich zu regen.
Die riesigen kornblumenblauen Augen öffneten sich und blickten die beiden Männer verständnislos an.
»Erkennen Sie mich wieder? Sie sind vor meinen Wagen gelaufen, da habe ich Sie mitgenommen. Erinnern Sie sich?« Lyle sprach sie als erster an.
Sie zögerte, ihre Augen irrten umher und trafen schließlich wieder die seinen. »Ich glaube, ja. Wo bin ich hier?«
»Im Etztaler Hof...« Der Wirt hatte das Wort ergriffen.
In diesem Moment ging die Eingangstür auf. Ein Mann etwa Mitte der Fünfzig stand auf der Schwelle.
»Kann mich irgendjemand...«
In diesem Moment hatte er das Mädchen entdeckt und eilte mit langen Schritten näher. Behutsam nahm er ihr Gesicht in die Hände und musterte sie forschend.
»Wie kommst du, hierher, Anna? Was ist passiert?«
Der ausgestreckte Zeigefinger des Mädchens deutete auf Lyle, der ein wenig unschlüssig dastand. Er fühlte sich offengesagt überflüssig.
»Dieser Herr hat mich hergebracht. Ich war ohnmächtig, da wusste er nicht, wohin mit mir.«
Der forschende Blick des Mannes ging zu Lyle. Misstrauen keimte in den Augen des Älteren auf. Der junge Amerikaner hatte plötzlich das Gefühl, als könnte ihm der Mann bis auf den Grund seiner Seele blicken. Gleichzeitig ahnte er, dass das Misstrauen ein fester Bestandteil der Persönlichkeit des Mannes sein musste.
»Was haben Sie mit meiner Tochter zu tun, und wer sind Sie überhaupt?« kam es fast feindselig.
In diesem Moment mischte sich der Wirt ein. »Nun komm mal, Helmut. Ich weiß zwar auch nicht, wer der Mann ist, aber auf jeden Fall hat er deiner Tochter geholfen. Ich finde, du hast keinen Grund, ihn so zu behandeln. Er hätte sie ja liegenlassen können!«
Der Blick des Älteren zerfloss regelrecht und verlor jede Strenge.
»Entschuldigen Sie«, murmelte er, »es war wohl der Schreck. Ich bin mit dem Wagen steckengeblieben und musste zu Fuß laufen. Merkwürdig, aber ich hatte so ein eigenartiges Gefühl, wie eine Ahnung. Sie müssen wissen, wir wohnen sehr einsam draußen.« Er zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Und nun muss ich wohl dankeschön sagen.«
Er streckte Lyle die Hand hin. »Übrigens, mein Name ist Rathje, Helmut Rathje.«
Lyle hatte die Hand ergriffen.
»Mishner, Lyle Mishner, ich bin Amerikaner. Im Übrigen, wenn Sie steckengeblieben sind, dann stehe ich Ihnen gern zur Verfügung. Schon wegen Ihrer Tochter«, fügte er hinzu und blickte zu dem Mädchen, das immer noch benommen wirkte.
Rathje schien Vertrauen gefasst zu haben, jedenfalls nahm er dankend an.
Die Rathjes wohnten zwanzig Autominuten außerhalb von Etztal in einem abgelegenen kleinen Häuschen, das nur über einen holperigen Waldweg zu erreichen war.
Wieder musste Lyle sein ganzes fahrerisches Geschick aufwenden, aber schließlich kamen sie doch heil an. Der Amerikaner wunderte sich, als er das Haus betrat.
Die vielen handgeschnitzten Kruzifixe und Krippen an den Wänden muteten ihn ein wenig seltsam an, obwohl er zugeben musste, dass die Gegenstände von einem wahren Künstler angefertigt worden sein mussten. Kurz darauf hatten sich die Männer dann in dem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer niedergelassen. Rathje war gerade dabei, eine Flasche Rotwein zu öffnen.
»Möchtest du auch, Anna«, fragte er besorgt und machte eine Geste mit der Flasche.
Das Mädchen, das die ganze Zeit über keinen Ton von sich gegeben hatte, schüttelte den Kopf und erhob sich langsam. Mit müden Bewegungen öffnete sie eine Tür, die in ein angrenzendes Zimmer führte. Grußlos verließ sie den Raum. Ihr Blick schien nach innen gekehrt.
»Sie trinken sicher nur Whisky«, begann Rathje verlegen ein Gespräch. »Es tut mir leid, aber auf amerikanischen Besuch waren wir nicht eingerichtet.«
Lyle lehnte sich gemütlich zurück.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte er. »Ich bin kein großer Whiskytrinker, er ist mir zu hart.« Er lachte. »Am liebsten trinke ich Bier, ganz normales Bier. Glauben Sie nur nicht alles, was Ihnen hier an amerikanischer Kultur übermittelt wird.« Demonstrativ hatte Lyle zum Fernsehapparat geblickt und grinste jetzt. »Vieles, was hier gezeigt wird, ist auch bei uns umstritten.«
Zum ersten Mal lachte Rathje. »Woher haben Sie Ihr gutes Deutsch? Haben Sie deutsche Eltern?«
»Nicht direkt«, gab Lyle zu. »Ich bin gebürtiger Amerikaner, meine Vorfahren sprachen deutsch. Ich habe Germanistik studiert und würde gern nach meiner Militärzeit in Deutschland bleiben!«
»Wie lange sind Sie schon hier und wie alt sind Sie?« Rathje musterte ihn interessiert.
»Ich bin dreißig Jahre alt«, entgegnete Lyle. »Hergekommen bin ich gleich nach Vietnam. Wissen Sie, meine Vorfahren waren nicht eigentlich Deutsche. Heute gehört Siebenbürgen ja zu Rumänien, aber ich habe gehört, dass es dort immer noch eine Menge von Volksdeutschen gibt. Meine Großmutter hat noch in Klausenburg gewohnt, jetzt heißt es ja wohl Cluj.« Lyle nahm einen Schluck Rotwein. »Tja, verwunden hat sie es eigentlich nie. Sie sprach sehr oft davon und oftmals benutzte sie ein anderes Wort - wie hieß es doch gleich...« »Transsylvanien...«, antwortete Rathje.
Lyle hatte bereits das zweite Glas des schweren Rotweins getrunken und fühlte sich angenehm beschwingt. Gerade wollte er weitersprechen, als er bemerkte, dass Rathje eigenartig blass geworden war. Er beschloss, das Thema zu wechseln.
»Ihre Tochter«, begann er, »hoffentlich ist es nichts Ernstes.«
Rathje rutschte etwas verlegen im Sessel hin und her. »Das ist mit einem Wort schlecht gesagt. Sie zeigt Symptome von Mondsucht. Manchmal überfallen sie Träume, dann ist sie nicht ansprechbar. Oh, nein«, meinte er, als er Lyles mitleidigen Blick sah. »Sie ist ganz normal. Sie hat kürzlich ein glänzendes Abitur abgeliefert. Anna ist normal, sogar hochintelligent.«
Der junge Amerikaner saß nur da und sagte kein Wort.
Rathje fuhr mit seinen Erzählungen fort. »Manchmal mache ich mir Sorgen wegen ihrer Träume. Wenn Sie mich richtig verstehen, sie entwickelt mitunter präkognitive Fähigkeiten und blickt in die Zukunft. Anders kann ich es mir nicht erklären.
Thomas Eichholtz war einer ihrer Mitschüler. Eines Morgens wachte Anna auf und äußerte die Befürchtung, was sage ich da - sie hat gewusst, dass er tot war. Und es hat sich bestätigt, der Junge ist regelrecht zerfleischt worden.«
Der Hausherr atmete ein paarmal hastig, dann fuhr er fort: »Nun drängt sich natürlich die Vermutung auf, dass sie etwas mit dem Verbrechen zu tun hatte. Aber nichts dergleichen. Anna war hier in Etztal. Die Untat ist in Heidelberg passiert. Anna hätte selbst unter günstigsten Umständen nicht die Möglichkeit gehabt, die Strecke zu bewältigen. Ein Auto hat sie auch nicht«, schloss er.
Lyle war das Thema etwas peinlich. Er hatte nicht vorgehabt, den Vater auszuhorchen. In diesem Moment fiel ihm etwas ein, was er ohnehin wissen wollte.
»Als ich Ihre Tochter gewissermaßen aufgelesen habe, war da auch ein junger Mann. Er tauchte unmittelbar nach ihr auf. Irgendwie käm er mir verdächtig vor. Sein Haar ist rot und borstig, seine Hände sind riesig und hornig. Und was mir noch aufgefallen ist, seine Kleidung sah aus wie aufgeplatzt. Gesprochen hat er kaum.«
Er brach ab, als er sah, dass das Gesicht des Hausherrn kreidebleich wurde und sich feine Schweißperlen auf der Stirn des Mannes gebildet hatten.
»Karel Szekler...«
»Wie meinten Sie?«, erkundigte Lyle sich höflich.
Helmut Rathje schüttelte ein paarmal den Kopf, als erwachte er aus tiefer Trance. Dann wich er Lyles Blick aus und schaute zur Seite.
»Es ist nichts, ich dachte nur, es würde sich um einen alten Bekannten handeln. Karel Szekler hieß er. Aber er wird es nicht gewesen sein. Sie haben ihn ja beschrieben, er müsste viel älter sein.«
Lyle dachte einen Moment nach. »Ich kannte einmal einen Szekler, aber der hieß Bela. Ich hatte seinerzeit in Vietnam mit ihm zu tun. Ein schrecklicher Mensch.«
Lyle schüttelte sich ungewollt. Als er das Interesse in den Augen seines Gegenübers sah, fuhr er fort.
»Tja«, begann Lyle und stärkte sich mit einem Schluck Rotwein, »Amerika stand damals kurz vor dem Ende seines Vietnam-Abenteuers. Die meisten von uns waren ziemlich demoralisiert. In Paris zankten sich Kissinger und Le Duc Tho immer noch um die Form des Verhandlungstischs. Viele Kameraden von uns waren gefallen, und viele persönliche Opfer waren gebracht worden. Einerseits wollten wir alle, dass endlich Schluss war. Aber auf der anderen Seite hatten viele Angst vor der Heimkehr. Zu Hause wartete nicht nur die Familie, sondern in vielen Fällen auch die Arbeitslosigkeit.« Lyle trank sein Glas leer. »Verstehen Sie, wir alle waren nicht gern dort. Als dann der Federstrich, der alles auslöschen sollte, direkt bevorstand, mussten wir immer noch kämpfen. Jeden Tag fielen welche von uns - umsonst. Das war die Situation, als Bela Szekar zu uns stieß.« Lyle Mishner atmete einige Male tief. Helmut Rathje stand auf und füllte ihm das Glas nach. Dankbar nahm Lyle noch einen Schluck.
»Keiner von denen, die ich kenne, ist gern losgegangen. Aber bei Bela Szekler war das anders. Ich glaube, ich habe nie einen Soldaten kennengelernt, der undisziplinierter war als er. Nur wenn es um Nachteinsätze ging, um Spezialeinsätze hinter den feindlichen Linien, dann war er unentbehrlich.
Als ausgebildeter Einzelkämpfer hatte Bela Szekler bereits alle erdenklichen Ehrenzeichen eingeheimst, die es gab. Mir schien es immer so, als ob er nur auf die Nacht wartete, um wieder loszugehen.
Er kam auch nie mit einer Verwundung von seinen Einzeleinsätzen zurück. Das erschien mir verwunderlich, denn die Gegenseite bestand ganz bestimmt nicht aus einer Ansammlung von Papiertigern. Die Boys begannen schon, Wetten abzuschließen, denn seine Einsätze wurden immer kühner. Schließlich wurde er zu einer Art Geheimwaffe:« »Was ist aus ihm geworden? Haben Sie ihn jemals wiedergesehen?«, erkundigte sich Rath je heiser.
Lyle schüttelte den Kopf.
»Unsere Bekanntschaft endete so plötzlich, wie sie begonnen hatte. Vorher gab es noch einen entsetzlichen Vorfall. Ich habe damals keine Meldung gemacht«, meinte er, »mir hätte seinerzeit wohl auch niemals geglaubt. Ich war jedenfalls froh, endlich nach Deutschland zu kommen. Immer, wenn ich daran zurückdenke, überläuft es mich kalt.« Erinnerungen tauchten vor Lyle auf. Geborstener Stahl. Lärm und die Schreie von Verwundeten erklangen. Blitze und Leuchtspurmunition zuckten durch die Nacht.
11.
Über die schlecht überschaubare Bruchlandschaft hatte sich feiner Nebel gelegt. Die Kämpfe um dieses Gebiet hatten ihre Narben hinterlassen. Granattrichter reihte sich an Granattrichter.
Aber die Natur stellte sich darauf ein. In den tiefen Mulden hatte sich Wasser gesammelt, und unzählige Frösche feierten dort Hochzeit. Ihr lautes Quaken vermischte sich mit dem andauernden Propaganda-Gedudel des Vietcong, der drüben, jenseits der verfluchten gedachten Linie seine Lautsprecher aufgebaut hatte.
In ständig wiederholten Phrasen versuchte der Sprecher oder die Sprecherin - so genau war das nicht zu erkennen -, die Männer weichzuklopfen und sie zum Desertieren zu bewegen. Zikaden bildeten die Oberstimme zu diesem Chor.
An diesem Tag hatten Lieutenant Mishners Leute das Terrain gesäubert, wie es hieß. Drei gute Männer waren dabei drauf gegangen - bestimmt nicht die letzten.
Lance-Corporal Miles Fiddler war in eine jener tückischen Fallgruben gestolpert, deren Böden mit spitzen Bambusstäben bewehrt waren. Corporal Jack Borowicz war auf eine Tretmine gelaufen, und als Sergeant Wexler ihm zu Hilfe kommen wollte, hatte ein Scharfschütze alle beide erwischt.
Was nützte es, dass das Gebiet anschließend durch die Artillerie regelrecht zerhackt worden war? Die drei waren tot. Wie viele Verluste der Gegner hatte, war nicht so genau zu bestimmen. Bestimmt reichlich.
Lieutenant Mishner seufzte. Die anderen kannten sich aus. Doch er konnte ihnen nicht böse sein. Schließlich waren sie hier zu Hause. Aber sollten sich Mishners Leute deshalb umbringen lassen?
In diesem Moment setzte das Inferno ein.
Blitze zuckten wie Irrwische durch die Nacht, Raketen jaulten und explodierten irgendwo, um ihre tödlichen Splitter auszustreuen. Mit einem Fluch warf sich der Lieutenant zu Boden.
»In die Gräben!«, brüllte er.
Der Gegner hatte es geschafft, diesseits der Linie einen Raketenwerfer in Stellung zu bringen. Jetzt, mitten in der Nacht, bestand kaum eine Möglichkeit, das Nest auszuräuchern. Solange das gegnerische Feuer nicht schwieg, war es glatter Selbstmord, auch nur den Kopf über den Rand des Schützengrabens hinauszurecken.
In diesem Moment berührte ihn jemand an der Schulter. Mishner fuhr herum. Lance-Corporal Szekler hatte einen dunklen Kampfanzug angelegt und das Gesicht schwarz beschmiert. Nur sein kräftiges, weißes Gebiss blitzte in der Dunkelheit. Die Augen hatten einen fiebrig rötlichen Glanz.
»Soll ich... Szekler deutete grinsend mit dem Daumen auf die Stelle, von der das feindliche Feuer kommen musste.
»Sie sind verrückt!«, entfuhr es Mishner unwillkürlich.
Szekler machte eine ungeduldige Handbewegung. »Also, wie ist es nun? Soll ich, oder soll ich nicht?«
Lieutenant Mishner nickte langsam. »Gehen Sie, gehen Sie in Gottes Namen...«
Bela Szekler zuckte zurück, als hätte ihn ein Huftritt getroffen. Sein Gesicht veränderte sich und wurde zur Fratze. Die Hände krümmten sich, als wollten sie im nächsten Moment dem Vorgesetzten an die Gurgel fahren. Dann riss er sich zusammen, und sein Gesicht wurde wieder glatt und nichtssagend. Die in fürchterlicher Wut gefletschten Zähne verschwanden, bis sie nicht mehr zu sehen waren.
Ehe Lieutenant Mishner reagieren konnte, hatte sich Szekler geschickt über den Rand des Grabens geschwungen. Die Dunkelheit nahm ihn auf und verschluckte ihn, als sei er ein Teil von ihr.
Lyle atmete auf, irgendwie wurde er das beklemmende Gefühl nicht los, eben noch einmal mit dem Leben davongekommen zu sein. Hastig winkte er den diensthabenden Sergeant heran.
»Blumenthal, achten Sie auf das Feuer. Szekler ist draußen und sieht zu, was er ausrichten kann. Stellen wir zehn Mann zusammen! Wenn er es schafft und das Feuer schweigt, dann warten wir noch genau zwei Minuten. Sind die zwei Minuten verstrichen, dann stürmen wir!«
Sergeant Blumenthal nickte und lief dann geduckt davon. Die Unterstände waren etwa dreißig Meter entfernt.
Lyle Mishner beobachtete das Gelände. Aber das Scherenfernrohr nützte in der Nacht nicht besonders viel. Langsam begann er, sich ebenfalls zu den Unterständen zurückzuziehen.
Es sollte das erste Mal sein, dass ein Stoßtrupp Szekler folgte. Irgendwie gönnte er diesem verdammten Bastard nicht, dass er wieder die ganzen Lorbeeren ernten sollte.
Als er den Unterstand erreichte, hatten sich bereits etliche Freiwillige versammelt. Es waren mehr, als er brauchte. Lieutenant Mishner musterte die Männer.
»Wingaite, Cassell, Scranton...« Lyle stellte zehn Mann zusammen.
Die Männer begannen, sich die Gesichter schwarz einzuschmieren. Witherspoon und Scranton hatten das nicht nötig, sie waren Farbige. Keiner von den Männern redete, alle horchten gespannt hinaus in die Nacht.
Lieutenant Mishner blickte zur Uhr und begann, die Sekunden zu zählen. In diesem Moment schwieg das gegnerische Feuer. Szekler musste Erfolg gehabt haben.
Sergeant Blumenthal spreizte die Finger seiner Hand und begann, lautlos zu zählen.
Lyle Mishner griff sich eine Strohpuppe, die sie mit einem Kampfanzug nebst Stahlhelm versehen hatten. Die Puppe hieß Charly und hatte schon einem jeden von ihnen das Leben gerettet.
Nachdem er die Puppe auf ein Bajonett gespießt hatte, hob er sie langsam über den Rand des Grabens. Die Männer schauten gespannt zu, während Lyle schlenkernde Bewegungen mit der Attrappe machte. Aber drüben tat sich rein gar nichts.
In diesem Augenblick hatte Blumenthal zu Ende gezählt. Er hob die Faust und stieß sie einmal Himmel. Die Männer sprangen auf und schwangen sich über des Gefechtsstands.
Die dicken Sohlen der Kampfstiefel verursachten keinen Laut. Sergeant Blumenthal hatte seine Leute vorbildlich ausgebildet. Lyle konnte mit Recht stolz auf ihn sein.
Mit langen Schritten drangen sie in das Gelände vor, aber nirgendwo zeigte sich Widerstand. Lance-Corporal Szekler hatte wie immer ganze Arbeit geleistet. Lieutenant Mishner schaute sich sichernd nach allen Seiten um, als plötzlich vor ihm ein Schrei ertönte.
Eigentlich war es kein Schrei mehr. Irgendjemand musste in höchster Todesnot ein qualvolles Heulen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Hans-Jürgen Raben/Der Romankiosk. Mit freundlicher Genehmigung der Edition Bärenklau.
Bildmaterialien: Pixabay.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Kerstin Peschel/Christian Dörge.
Satz: Der Romankiosk.
Tag der Veröffentlichung: 15.07.2019
ISBN: 978-3-7487-0995-4
Alle Rechte vorbehalten