THEODORE V. OLSEN
Das Wiegenlied
vom Totschlag
Roman
Apex Western, Band 25
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DAS WIEGENLIED VOM TOTSCHLAG
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Das Buch
Der junge Yankee-Soldat Honus Gant und die schöne, selbstbewusste Cresta Lee sind die einzigen Überlebenden eines Überfalls der Cheyenne-Indianer auf einen Geldtransporter. Honus hasst die Indianer und hat für Cresta, die einst mit Gefleckter Wolf, dem Häuptling der Cheyenne, verheiratet war, nur Verachtung übrig. Cresta sieht das kriegstreiberische Verhalten der US-Kavallerie sehr kritisch und bringt dies offen zum Ausdruck. Als Honus verletzt wird, lässt Cresta ihn zurück, um Hilfe zu holen. Honus schlägt sich allein bis zum Fort durch und wird zum Feldzug gegen die Cheyenne eingesetzt...
Der Roman Arrow In The Sun von Theodore V. Olsen – erstmals im Jahr 1969 veröffentlicht – bildete 1970 die Grundlage des Drehbuchs für den Film Das Wiegenlied vom Totschlag (Soldier Blue, Regie: Ralph Nelson) mit Candice Bergen, Peter Strauss und Donald Pleasence. Der Film löste eine Kontroverse aus, nicht bloß als revisionistischer Western, sondern besonders durch bis dahin ungewohnt deutlichen Gewaltdarstellungen. Regisseur Nelson, der im Film ebenfalls eine kleine Rolle spielte, setzte einen neuen Maßstab für die explizite visuelle Darstellung von Gewalt, indem er die Nacktheit in Vergewaltigungs-Szenen und auch »realistische« Großaufnahmen von Geschossen, die menschliches Gewebe aufreißen, zeigte. Er nahm damit vorweg, was zum Markenzeichen späterer Regisseure wie Quentin Tarantino werden sollte.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Romans, der in vielerlei Hinsicht andere Wege beschreitet als die Verfilmung, in seiner Reihe APEX WESTERN.
DAS WIEGENLIED VOM TOTSCHLAG
Erstes Kapitel
Captain Battles machte sich Sorgen. Eigentlich war er ein gemütlicher Mann, aber wie die meisten Zahlmeister einer Armee war er nervös und litt unter Verdauungsschwierigkeiten. Captain Battles war besonders verärgert, denn er hatte sich seit seiner Versetzung aus dem bequemen Stuhl im Hauptquartier in Jefferson Barracks auf den harten Quersitz einer Zahlmeisterkutsche auch noch wundgesessen.
Seine Kutsche war ein Dougherty - bei der Army hieß sie nur die Ambulanz. Die Überdachung aus Zeltleinwand war an den Seiten und hinten hochgerollt, so dass Captain Battles vom Heck des Wagens aus einen vortrefflichen Rundblick auf die Landschaft genoß.
Viel zu sehen gab es allerdings nicht. Rechter Hand sanfte Hügel, gelb-braun das Buffalo-Gras, da und dort nackter Sandstein. Links der Janroe River, der gemächlich von Ost nach West verlief. Die alte, fast überall schnurgeradeverlaufende Heerstraße machte hier einen kleinen Umweg und folgte den Flusswindungen in nordöstlicher Richtung. Das grüne Weidendickicht und die Pappeln am Flussufer waren eine Wohltat für die Augen nach der zermürbenden Eintönigkeit der Prärie.
Aber Captain Battles hatte für die Landschaft nicht viel übrig; ebenso wenig interessierte ihn die hübsche junge Frau, die in seinem Wagen mitfuhr. Sie saß ihm gegenüber, Rücken an Rücken mit dem Kutscher, auf dem mit einem Sonnensegel überdachten Kutschbock. Captain Battles war es schon von dem Schaukeln des Wagens etwas übel, und mit der zunehmenden Mittagshitze steigerte sich seine Gereiztheit noch. Außerdem machte er sich Sorgen.
Honus Gant, einer der beiden Vorreiter der Doppelkolonne, die dem Dougherty in etwa zwei Meter Entfernung folgte, beobachtete, wie der Captain seinen Kopf auf dem brandroten, schwitzenden Nacken hin und her drehte und die Gegend in Augenschein nahm. Eigentlich gab es nichts zu befürchten - so gut wie nichts. Denn bereits vor einiger Zeit hatten sich die Stämme der südlichen Prärie, die Comanchen, Kiowas und Süd-Cheyenne, in Reservaten gesammelt. Die Stämme des Nordens, die Sioux unter Red Cloud, Sitting Bull und Crazy Horse, und ein kläglicher Rest der Nord-Cheyenne unter Dull Knife und Two Moons, hatten allerdings bis vor einem Jahr noch heftigen Widerstand geleistet.
Aber Red Cloud ging ins Reservat, und seine Anhänger folgten ihm. Die fanatisch geführten Störangriffe des Militärs auf die nach der vernichtenden Niederlage bei Little Big Horn noch übrig gebliebenen Sioux und Cheyenne zersplitterten diese Stämme in einzelne Banden. Dull Knife und seine Indianer, die einst das Herz der Prärie zwischen Missouri und. den Rocky Mountains beherrschten, wurden von ihren Jagdgründen am Powder River vertrieben, hinunter nach Fort Reno und Darlington Agency.
Aber Gant erging es ebenso wie dem Captain; eine Gänsehaut lief ihm den Rücken hinunter. Diese Gegend war unheimlich, sie gefiel ihnen beiden gar nicht. Gleich jenseits der glänzenden Serpentinen des Janroe River erhob sich im Norden die Silhouette einer Hügelkette. Hinter diesen Hügeln konnte man sich ohne weiteres eine Horde bemalter Krieger vorstellen. Die Zweierkolonne der Abteilung musste ein verlockendes Angriffsziel sein. Von diesen sanften Hügeln aus könnte die Truppe in offenem Gelände überrascht und niedergemacht werden...
Die Zahlmeisterkutsche fuhr in der Mitte der Abteilung. An der Spitze der Kolonne wechselte Lieutenant Rufus Springarn ein paar Worte mit Sergeant O'Hearn, wendete seinen Braunen und ritt zurück zum Dougherty. Dann ritt er neben der Kutsche, zog galant seinen Hut vor Miss Lee und sah Captain Battles an.
»Well, Sir«, redete er ihn aufreizend gutgelaunt an, »die Hälfte haben wir geschafft und keine einzige Rothaut gesichtet; nicht einmal einen ganz ordinären friedlichen Indianer mit einem Ackergaul.«
Captain Battles beäugte seinen Untergebenen mit kaum verhohlenem Missfallen. Alles an diesem 33jährigen Lieutenant war dazu angetan, den überaus korrekten Captain auf die Palme zu bringen.
»Meinen Sie nicht, Lieutenant Springarn, dass man in dieser Gegend vielleicht für Flankendeckung sorgen sollte?«
»Gut«, sagte Springarn mit künstlichem Ernst, »wenn das ein Befehl ist, Sir...«
Der Captain Beherrschte sich. Er grinste sogar. »Also sehen Sie, Springarn«, sagte er geduldig, »sogar so ein Trottel wie ich, sieht, dass wir hier auf dem Präsentierteller sitzen.«
Springarn hob eine Augenbraue: »In der Tat, Sir. Andererseits hat noch nie jemand etwas von einer Bande gehört, die es gewagt hätte, eine so starke Eskorte anzugreifen.«
»Gut, gut«, sagte Battles, »ich dachte auch nicht an die üblichen Desperados. Die Indianer...«
»Ach ja, Indianer. Ich schlage vor, wir befragen darüber einen echten Fachmann.«
Springarn schrie: »Sergeant!«
Sergeant O'Hearn, ein erstklassiger Unteroffizier, galoppierte zur Kutsche und grüßte zackig.
»Ja, Sir?«
»Sergeant, haben Sie jemals gehört, dass Indianer einen eskortierten Geldtransport angegriffen hätten?«
»Nein, Lieutenant. Das hat es noch nie gegeben. Hinter Geld, Gold oder Banknoten sind die nicht her.« O'Hearn räusperte sich verlegen und sah Captain Battles um Vergebung heischend an. »Bis jetzt haben sie noch nie Soldaten angegriffen, außer wenn diese auf Feindseligkeiten aus waren. Dann locken die Hunde einen meistens in eine Falle.« O'Hearns Gesicht verzog sich unglaublich bei seinem Bemühen, es sich mit keinem seiner Vorgesetzten zu verderben. »Diese Straße hier ist mit Vorsicht zu genießen. Wenigstens war's bis vor einem Jahr so. Aber man hat sie ja alle nach Darlington geschickt.«
Mit einem seidenen Taschentuch trocknete sich Captain Battles umständlich das Gesicht. »Ich versteh' schon. Und was ist mit Gefleckter Wolf? Hat er nicht mit Dull Knife gebrochen? Treibt er sich nicht noch immer in dieser Gegend herum? Oder ist er nur eine Fata Morgana?«
Plötzlich sah er das Mädchen an. »Miss Lee, Sie können wohl auch bestätigen, dass er sehr wohl vorhanden ist?«
Zum ersten Mal sprach er das Mädchen unmittelbar an, obwohl sie schon seit gestern in seinem Wagen mitfuhr. Und diese Bemerkung war, denn er wusste über sie genauso Bescheid wie die anderen, eine Gemeinheit.
Miss Lee schien unbeeindruckt. »Gewiss«, sagte sie ruhig.
»Gut, gut«, gab Springarn zurück, »aber selbst Gefleckter Wolf hat noch nie einen Zahlmeister angegriffen. Aber wenn Sie wollen, werde ich Sie von dem unangenehmen Gefühl befreien und Flankenposten ausschicken.«
Captain Battles ließ sich in seinen Sitz zurückfallen, immer noch grämlich dreinblickend, aber doch etwas erleichtert.
Für Honus Gant war der Sattel besonders unangenehm, denn er war fast zwei Meter lang und hager; Füße und Gelenke wirkten fast klobig, ebenso die breiten Farmerhände, die wie sein schmales, jungenhaftes Gesicht über und über mit Sommersprossen gesprenkelt waren. Von den Sommersprossen sah man aber nicht mehr viel, denn unter der mörderischen Sonne hatte seine helle Haut nach etlichen Sonnenbränden schließlich ein gesundes Braun angenommen. Alles in allem hatte er ein angenehm hässliches Gesicht, das, obwohl er immerhin schon 25 Jahre alt war, noch fast bartlos war. Obenauf saß ein Haarschopf, rot wie ein Buschfeuer. Obwohl er sein Haar kurz geschnitten trug, leuchtete es unter der schlappigen, ausgefransten Krampe seines schwarzen Jeff-Davis-Hutes hervor.
Honus wartete auf das Ende seiner Dienstzeit. In genau sechs Monaten und dreizehn Tagen würde er entlassen werden. Bis dahin wollte er sich gern von allem Angenehmen, das sich bot, ablenken lassen. Dort vorn saß Miss Cresta Lee; sie nickte etwas abwesend zu dem, was Lieutenant Springarn ihr erzählte.
Jeder Mann in der Abteilung kannte inzwischen Cresta Lees Geschichte. Sie war vor zwei Jahren aus Boston nach Fort Reunion gekommen, um dort einen jungen Lieutenant zu heiraten. Vielleicht zwanzig Meilen vor dem Ziel wurde die Postkutsche von Cheyenne überfallen. Alle Reisenden kamen dabei ums Leben, bis auf eine Frau.
Vor drei Wochen kam sie völlig erschöpft nach Pine Hills Agency, gekleidet wie eine Cheyenne-Frau. Sie war aus dem Lager von Gefleckter Wolf geflohen.
Der Agent Terry Long telegrafierte sofort nach Fort Reunion, um Lieutenant John McNair zu informieren, dass seine Verlobte lebe und wohlauf sei. Lieutenant McNair drahtete sofort zurück und bat Cresta Lee, sofort nach Fort Reunion weiterzureisen und ihn dort wie geplant zu heiraten. »Gerade so, als wäre in den zwei Jahren nichts geschehen«, schwatzte Mrs. Long auf Honus und ein paar andere Zuhörer ein, »was natürlich ganz undenkbar ist.« Dann brach doch ihre Mütterlichkeit durch. »Ach Gott, sie ist ein armes Kind. Sie hat genug gelitten - und ihr steht noch einiges bevor. Aber Glück hat sie mit dem jungen Lieutenant. Dieser McNair muss ja ein Heiliger sein!«
Aber zwischen der Agency und Fort Reunion lagen 80 Meilen unbesiedeltes Land. McNair war unabkömmlich, Agent Long hatte seine eigenen Probleme. Wer zwischen Fort und Agency hin und her reiste, war in der Regel nicht ganz vertrauenswürdig. Erst der Geldtransport aus Fort Kearsage bot Miss Lee Gelegenheit, sicher nach Reunion zu ihrem Verlobten zu reisen.
Obwohl es Captain Battles gar nicht passte, konnte er sich schlecht weigern, sie mitzunehmen. Er übersah sie allerdings vollkommen, was ihr sichtlich angenehm war.
Ihr Gesicht wirkte klar, gelöst und heiter. Oder war es Selbstgefälligkeit und Hochmut? Vielleicht besaß sie sogar ein Recht zu einer solchen Haltung.
Sogar wenn man Honus Gant hieß und ein bisschen puritanisch dachte, musste man anerkennen, wie dieses Mädchen ihren Kopf trug. Und trotzdem stimmte irgendetwas nicht. In ihrer Gelassenheit lag etwas beinahe Anstößiges, als ob es für sie weder Scham noch Bedauern gäbe. Irgendwie schien es jedem Anstand Hohn zu sprechen, dass jemand ein solches Schicksal durchstand und dann noch derart vor Gesundheit und Lebenskraft strotzte - und obendrein noch unverzeihlich hübsch aussah.
Plötzlich sah sie Honus an. Ihre Augen waren hart wie Achat, und er erschrak. Erst jetzt merkte er, wie aufdringlich er sie angestarrt hatte. Er senkte den Blick und fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss.
Er konnte ihren überlegenen und kühlen Gesichtsausdruck nicht deuten. Aber eines wusste Honus ziemlich sicher - so wenig Cresta Lee verbittert zu sein schien, so wenig besaß sie das, was ein zunehmend zynisches Zeitalter Unschuld nannte.
Das gewundene Flusstal stieg allmählich an, verschwand fast, während die Flussufer steiler und höher wurden. Von hier aus konnte man das Terrain besser überblicken.
Die Soldaten ritten mit halbgeschlossenen Augen gegen die Sonne. Wie Ameisen krochen sie paarweise über das leere, stille Land. Die einzigen Laute kamen von dem Wind, der durch das Gras strich, dem Summen der Fliegen, dem Knarren der Wagenachsen und dem dumpfen Dröhnen der Hufe.
Der Angriff kam urplötzlich.
Die zwei Flankenposten, die nach Norden geritten waren, stoben über eine Anhöhe, als säße ihnen der Teufel im Nacken. Hinter ihnen ergoss sich über den Hügelkamm ein wilder Haufen berittener Indianer.
Gewehre krachten. Die zwei Soldaten wurden aus den Sätteln geschleudert. Dann stürmten die Indianer schießend und mit lautem Kriegsgeheul den Hügel herunter.
Zweites Kapitel
O'Hearns Kommando brachte die konsternierten Soldaten in Bewegung. Sowohl Springarn als auch Battles begriffen langsamer, folgten aber dann O'Hearns Befehlen. Der Sergeant schrie den Männern zu, in dem nahegelegenen Dickicht Deckung zu suchen.
Diesen Befehl brauchte er nicht zweimal zu geben.
In dem Durcheinander dieser ersten Minuten bekam Honus viele Dinge gleichzeitig mit - aber doch nur unvollständig und bruchstückhaft. Ein verwundetes Pferd bäumte sich wiehernd auf. Es ging zu Boden und begrub seinen Reiter unter sich. Die Kutsche holperte über den unebenen Boden. Wie ein Wahnsinniger brüllend feuerte der Kutscher seine Pferde an. Captain Battles klammerte sich an seinen Sitz, aschfahl im Gesicht. Miss Lee saß auf dem Boden der Kutsche und hielt sich an einem Seitenbrett fest.
Die Soldaten brachen mit voller Wucht in das Buschwerk, drangen aber nicht tief hinein, denn O'Hearns Stimme brüllte immer und immer wieder: »Halten, Absteigen, Eingraben!«
Außer üppig wucherndem Gebüsch gab es auch noch Felsblöcke und Geröllhaufen zur Deckung. Die Männer sprangen aus den Sätteln, sie nahmen sich nicht einmal Zeit, ihre Pferde anzubinden und suchten sich die nächstbeste Deckung.
Die Kutsche hatte das Dickicht fast erreicht, als ein Hinterrad gegen einen Felsbrocken schlug und brach. Der Wagen schlingerte wild, ein paar Meter zogen ihn die Pferde noch, er krängte heftig und kam ruckartig zum Stehen.
Captain Battles sprang aus der Kutsche. Um das Mädchen kümmerte er sich in seiner ängstlichen Hast überhaupt nicht. Cresta Lee war durch den plötzlichen Ruck unter ihre Sitzbank gerutscht. Für einige Augenblicke war sie völlig hilflos in ihre Röcke und Unterröcke verstrickt. Honus wollte ihr schon zu Hilfe eilen, aber Jung-Custer kam ihm zuvor. Lieutenant Springarn brachte seinen Braunen an den gekenterten Wagen, und als Miss Lee sich hochgerappelt hatte, klemmte er sie sich unter den Arm und sprengte ins Gebüsch. Honus verlor sie aus den Augen.
Inzwischen waren alle Soldaten in Deckung gegangen. Die völlig verstörten Pferde stoben in alle Richtungen davon. Ein Mann überlegte es sich, nachdem er abgesessen war, wieder anders, packte hastig die Zügel seines Tieres, saß wieder auf, aber als er aus dem Dickicht ausbrach, zerschmetterte ihn. eine feindliche Kugel den Schädel. Das war der einzige Fluchtversuch. Die Indianer waren den Soldaten zahlenmäßig mehrfach überlegen, ihre Pferde waren ausgeruht. O'Hearns Überlegung war richtig: Die Truppe musste sich an Ort und Stelle verschanzen und sich mutig verteidigen, um dem Feind den Mut abzukaufen.
Die Indianer stoben durch den Fluss; silbern spritzte das Wasser hoch; am nahen Ufer drängten sie herauf. O'Hearn befahl Pistolen.
Die stotternde Salve der Soldaten tötete einige Pferde, kein Indianer wurde getroffen. Die Roten, die ihre Pferde verloren hatten, sprangen auf die Pferde ihrer Kameraden. Sie wendeten und preschten zum Fluss zurück.
Der Angriff schien schnell gebrochen - aber war es wirklich so? Ein zweiter Angriff auf diesem offenen Gelände wäre Selbstmord gewesen, aber der Rückzug klappte zu gut. Hier wurde geplant.
Die Indianer zogen sich nur bis zum Flussufer zurück, saßen ab und schwärmten unter dem Schutz des Ufers aus. Von dort aus feuerten sie nun ebenso gut gedeckt wie die Soldaten.
Honus hatte sich hinter einigen Felsbrocken verschanzt. Während er schoss - auf ein Rauchwölkchen, eine kupferrote Schulter, ein geschwärztes Gesicht -, fühlte er nur den massiven Griff und den Rückstoß seiner schweren Dienstpistole. Alles schien seltsam unwirklich, fast wie ein Traum. Er machte sich nicht klar, dass er Menschen traf; er war nur froh, dass er bei seinem ersten Gefecht nicht vom Jagdfieber, von Mordlust, überfallen wurde. Davor hatte er Angst gehabt.
Gewehrschüsse, stinkender Pulverdampf, hektische Rufe und Schmerzensschreie. Rechts von ihm kauerte Menzies, der bei jedem Schuss, den er abgab, wie ein Verrückter brüllte. Sergeant O'Hearn machte die Runde bei seinen Leuten; tief gebückt rannte er von einem zum anderen, schrie dem etwas Ermunterndes zu, ohrfeigte dort einen vor Angst schlotternden Rekruten wieder kampffähig.
Honus' Hammer fiel auf eine leere Kammer. Ganz mechanisch klappte er die Ladesperre hoch, warf die Patronenhülsen aus, öffnete seine Patronentasche, lud neu - kein einziges Mal griff er daneben. Eine Hand fiel auf seine Schulter: »Prima, Junge!« O'Hearn und ganz ohne Grimassen! Honus wurde noch ruhiger. Sorgfältig zielte er bei seiner nächsten Runde.
O'Hearn brüllte nach Gewehrfeuer. Irgendwo schrie auch Lieutenant Springarn Befehle, aber in dem Lärm kamen sie nicht an den Mann, nur O'Hearns Gebrüll erreichte die Männer.
Ritual des Krieges, dachte Honus: Spannen, zielen, feuern, laden, feuern. Seine Schulter schmerzte von dem ständigen Rückstoß des Gewehrs, der Lauf wurde immer heißer.
Und dann war der Feind da. Der Pulverdampf nahm die Sicht fast vollständig, doch Einzelheiten prägten sich deutlich ein. Der Kopfschmuck der Indianer in den leuchtenden Kriegsfarben, die Hemden mit Skalplocken geschmückt, zum Fürchten bemalte Gesichter.
Das Feuer in den eigenen Reihen ließ nach, die Indianer schossen weiter wie zuvor. Den berittenen Angriff hätten die Soldaten mit ihren sechsschüssigen .45er-Colts abgewehrt. Sie hatten diese Schusswaffe gerade neu bekommen. Als sie auf Gewehre überwechselten, hörte man deutlich den Unterschied. Die Indianer hatten von Anfang an Gewehre benützt; sie hatten alle möglichen Fabrikate, von der ältesten Muskete bis zum modernen Vorderlader. Aber die meisten ihrer Gewehre gingen viel öfter los als die Gewehre der Soldaten.
Die Kavallerie war im Grunde ganz gut bewaffnet. Die großen 1873er Standard-Springfields waren schwere Gewehre mit hoher Durchschlagskraft, aber leider waren sie nur einschüssige Hinterlader.
Plötzlich war es allen klar: Die Cheyenne waren fast alle mit Repetiergewehren ausgerüstet - kein Wunder, dass die Soldaten mit ihrer Feuergeschwindigkeit nicht mithalten konnten.
Dennoch ließ das Feuer der Indianer nach, sie schossen nur mehr ab und zu. Auf O'Hearns Befehl feuerten auch die Soldaten seltener, warteten ab.
Honus' Handflächen bekamen Brandblasen. Er zerriss ein Taschentuch und umwickelte seine Hände. Menzies schaute herüber; der Schweiß lief ihm in Strömen über das geschwärzte Gesicht.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Denke schon.«
Menzies spähte aus seinen Schlitzaugen zum Flussufer hinüber.
»Was die roten Teufel wohl jetzt vorhaben?«
Honus wusste es auch nicht; aber die kleine Kampfpause ließ sein methodisches Gehirn wieder arbeiten.
»Sonderbar«, murmelte er.
»Was?«
»Nun ja, dass sie uns hier überfallen haben. Ich meine, es war ganz vernünftig, uns jetzt, am späten Vormittag anzugreifen, wo wir schon ziemlich abgeschlafft sind; aber dass sie uns hier angreifen, verstehe ich nicht. Sie hätten uns wie oft schon in völlig offenem Gelände erwischen können. Stattdessen kommen sie hier an, wo es jede Menge Deckung gibt, Büsche, Felsen...«
»Ach, verdammt!« Menzies spuckte aus. »Wer weiß schon, was in diesen verfluchten Rothäuten vor sich geht.«
»Dumm sind die Indianer nicht«, murmelte Honus wieder, aber dann schwieg er. Es war völlig sinnlos, mit diesem Holzkopf über Intelligenz zu sprechen.
Hinter dem Manöver der Cheyenne musste irgendeine Absicht stecken.
Die Erkenntnis traf ihn noch bevor der Wind den beißenden Rauchgeruch herübertrug. Die Cheyenne hatten das Dickicht in Brand geschossen.
Die Männer wurden unruhig. Vom Ufer her erscholl lautes Hohngeschrei. Feuer. Die Angst davor versetzte jeden in panischen Schrecken.
Die Cheyenne hatten alles genau geplant. Sie trieben die Soldaten in die sich anbietende Deckung, in dieses ausgedehnte Gebüsch, das stellenweise undurchdringlich verfilzt war.
Der Wind blies von Süden, sanft und stetig. Die Flammen konnte man noch nicht sehen, aber man hörte sie knistern und knacken. Dünne Rauchsäulen stiegen aus der Dickicht-Wand empor. Das Feuer breitete sich unerbittlich nach allen Seiten aus.
Jeder war sich der Situation bewusst: Hinauslaufen und niedergeschossen werden - oder bleiben und verbrennen.
Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Jedenfalls nicht, solange Sergeant O'Hearn jeden Mann auf seinen Platz verwies.
Die Cheyenne hatten offensichtlich damit gerechnet, dass die Soldaten durchdrehten. Als das nicht passierte, eröffneten die Indianer erneut das Feuer.
»Liegenbleiben!« ertönte O'Hearns Stimme immer und immer wieder.
Captain Battles, der sich zunächst in Sicherheit gebracht hatte, kam plötzlich aus dem Dickicht herausgekrochen. O'Hearn war hinter einem Felsblock in der Nähe von Honus in Deckung gegangen. Battles krabbelte wie ein fettes, ängstliches Kaninchen zu ihm. Sein Schwabbelgesicht war schmutzig und tränenverschmiert.
»Um Gottes willen - Feuer!«
»Ja, Sir. Am besten nehmen Sie Ihr Seitengewehr zur Hand. Wir brauchen jeden Mann.«
»Wo ist Springarn?«, fragte Battles. »Wo ist der Dummkopf? Ist alles seine Schuld!«
»Weiß nicht, wo der Lieutenant steckt, Sir. Aber wenn überhaupt einer schuld ist, dann bin ich es. Ich gab Befehl, hier in Deckung zu gehen.«
»Springarn war's«, sagte Battles. »Dieser Idiot! Dieser eingebildete, dämliche Idiot!«
Wie ein erschöpftes Kind begann er zu weinen. Honus kannte das dumme Gefühl, das einen Soldaten überkam, wenn er seinen Vorgesetzten schlappmachen sah.
O'Hearn packte Battles am Kragen und schüttelte ihn wie eine leblose Puppe.
»Verdammt, Sir, Sie sind Offizier. Sie müssen ein Beispiel geben für diese Männer!«
Battles tappte nach O'Hearns Händen. »Wir könnten mit ihnen verhandeln, Sergeant.« Seine Augen flackerten irre.
»Weiße Flagge!«
»Mein Gott, Sir!«, brüllte ihn O'Hearn an. »Begreifen Sie denn nicht! Wir stecken mitten in einem Massaker. Diese Bluthunde wollen nichts anderes als unseren Skalp. Und wehe dem, den sie lebendig erwischen!«
»Nein, verhandeln, sprechen Sie. Sagen Sie ihnen, sie sollen mit uns reden.«
Battles befreite sich von dem Griff des Sergeanten, sprang auf und rannte nach vorn. Er schrie und schwenkte die Arme, zog die Pistole und hielt sie über den Kopf, dann warf er sie fort. Wild schreiend rannte er auf die Indianer zu.
Die Cheyenne schossen erst, als er nur mehr einige Meter vom Ufer entfernt war. Sein Körper bäumte sich unter dem Einschlag von einem Dutzend Kugeln auf, im Laufen brach er zusammen, rutschte mit dem Gesicht über die Erde.
Sechs oder sieben Krieger sprangen auf ihre Pferde und preschten unter lautem Kriegsgeschrei das Ufer herauf. Sie donnerten an dem hingestreckten Körper vorbei und bohrten ihre Lanzen in seinen Rücken. In immer engeren Kreisen ritten sie um ihn herum, rissen die Lanzen wieder hoch und stachen erneut auf ihn ein. Ihre ganze Verachtung demonstrierten sie an diesem Körper. Dies war ein moralischer Sieg: Hier lag ein Häuptling der blauen Soldaten, und sein Herz wurde vollständig vernichtet.
Der dämonische Horror dieser Szene lähmte die Soldaten. Als erster kam O'Hearn fluchend wieder zu sich. Einen der Krieger schoss er von seinem Pferd herunter. Die folgende Gewehrsalve jagte die Indianer in ihre Deckung zurück.
Inzwischen konnte man die roten Flammen hinter den Rauchschwaden sehen. Der Wind trieb ihnen die Hitzewellen entgegen. Bald würde es noch schlimmer kommen. Wieder drohte Panik auszubrechen. Die grünen, mit trockenen Ranken verflochtenen Dickicht-Wände begannen zu qualmen. Überall beißender Rauch. Die Männer husteten und wischten sich die Augen. Darauf hatten die Cheyenne gewartet.
Sie kamen die Uferböschung herauf. Alles, was die Soldaten mit ihren tränenden Augen ausmachen konnten, war eine Schar reiterloser Pferde, die auf sie zu stob. Dann sahen sie auch die Indianer; sie hingen an der geschützten Flanke ihrer Pferde, ein Bein auf dem Pferderücken, einen Arm durch eine Schlinge gezogen, die in die Mähne eingeflochten war, und sie schossen unter dem Hals ihrer Pferde hervor.
Schreiend und schießend kamen sie über das offene Feld.
Diesmal war es ihnen ernst mit dem Angriff.
Drittes Kapitel
Cresta Marybelle Lee war ein Mädchen von gesundem Menschenverstand. Sie hatte schon als Kind gelernt, ein hartes Los zu ertragen. An ihre Mutter konnte sie sich kaum erinnern, sie starb, als Cresta vier Jahre alt war.
An ihren Vater erinnerte sich Cresta hingegen nur allzu gut. Er war ein komischer Riese mit einem Vollbart, trug eine schwarze Augenbinde, und sein Lachen war viel zu laut, so als wollte er dahinter Angst und Unentschlossenheit verbergen. Ihr hatte das aber nichts ausgemacht; für sie war er der Inbegriff der Zärtlichkeit und Liebe. Sie bewunderte alles an ihm, sogar den Geruch der Knoblauchzwiebeln, die er immer kaute, damit man nicht roch, dass er auch ständig trank.
Als Cresta acht Jahre alt war, ging er fort und versprach, bald wiederzukommen. Sie blieb bei Freunden. Nach ein paar Monaten schickten sie die Freunde ins Waisenhaus. Ihren Vater sah sie nie wieder.
Cresta Lee wurde zwangsläufig ein sehr frühreifes Kind. Sie konnte beispielsweise schon damals ihre Gefühle völlig abschalten. Sie hatte erkannt, dass man jede Gelegenheit wahrnehmen musste und dass man diese, falls sie sich nicht von selbst bot, mit allen Mitteln herbeiführen musste - und, dass man den richtigen Zeitpunkt abzuwarten hatte.
Mit dieser Einstellung war sie, seit sie vor vier Jahren das Waisenhaus verlassen hatte, recht gut vorangekommen. Mit achtzehn verlobte sie sich mit dem Sproß einer der ältesten Beacon-Hill-Familien in Boston.
Aber selbst dann wiegte sie sich nicht in selbstgefälligen Träumen, denn sie wusste zu gut, wie trügerisch Glück und Hoffnung sein konnten. Ein kleines Missgeschick konnte Jahre des Vorausplanens und Arbeitens zunichtemachen. Deshalb vergoss Crest Lee, nachdem sie in die Gefangenschaft von Gefleckter Wolf geraten war, nicht lange unnütze Tränen. Es war ihr Pech gewesen. Sie begann ihre Flucht zu planen.
Dies dauerte zwei Jahre. In dieser Zeit erlernte sie die Sprache und Gebräuche der Indianer, und, sie lernte die Prärie kennen. Da der Stamm dauernd umherzog, hatte sie Gelegenheit, sich die Einzelheiten der gesamten Platte-River-Gegend einzuprägen. Sie kannte die Orientierungspunkte, die Wasserstellen, sie wusste, wo man geschützt campieren konnte und wo nicht. Sie wusste genau, wo Pine Hill Agency lag, denn der Stamm hatte manchmal in Sichtweite der dortigen Häuser campiert.
Dem Anschein nach gab sie sich mit ihrem Schicksal zufrieden. Und allmählich ließ die strenge Bewachung durch die Cheyenne nach. Auch andere weiße Frauen hatten aufgegeben, hatten sich angepasst und waren mit Leib und Seele Indianerinnen geworden.
Aber die Indianer kannten Crestas zähen Selbsterhaltungstrieb nicht. Unermüdlich arbeitete sie an ihrem Fluchtplan. Schließlich wartete sie nur mehr auf eine günstige Gelegenheit.
Eines Nachts biwakierten sie an einem namenlosen Flüsschen, ungefähr zwanzig Meilen nördlich der Agency. Sie verließ das Lager unter dem Vorwand, Holz zu holen. Unter ihrem groben Wollkleid trug sie einen Wasserbeutel aus Pferdedarm und etwas Dörrfleisch.
Sie ging aber nicht gleich nach Süden. Gefleckter Wolf würde sie zuerst auf dem kürzesten Weg zur Agency suchen. Aber Gefleckter Wolf wusste auch, dass sie nicht dumm war. Dennoch, sie war eine weiße Frau – allzu viel würde er ihr nicht zutrauen. Also hielt sie sich zunächst ostwärts und hinterließ deutliche Spuren einer panikartigen Flucht, die sie an manchen Stellen absichtlich ungeschickt verwischte. Sie wollte den Eindruck erwecken, als hätte sie keine Ahnung, in welche Himmelsrichtung sie flüchtete. Schließlich geriet sie - zwar mit Vorbedacht - in eine felsige und mit Büschen bestandene Gegend, wo sie sich dann tatsächlich verirrte, aber mit dem Erfolg, dass sie niemand fand.
Nach vielen langen Umwegen und Nachtwanderungen durch die offenen Gegenden erreichte sie schließlich nach einer Woche die Agency. Sie hatte die lange Gefangenschaft, die Tage, an denen sie am liebsten blindlings geflüchtet wäre, mit eiserner Selbstdisziplin ertragen; jetzt, dachte sie, wäre endlich alles überstanden.
Lieutenant Springarn hatte sie in das einigermaßen sichere Innere des Dickichts gebracht. Dort ließ
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Theodore V. Olsen/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: M. Curths und Christian Dörge (OT: Arrow In The Sun).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 11.07.2019
ISBN: 978-3-7487-0962-6
Alle Rechte vorbehalten