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Leseprobe

 

 

 

 

HUBERT HORSTMANN

 

 

Die Rätsel des

Silbermonds

 

 

KOSMOLOGIEN – SCIENCE FICTION AUS DER DDR, Band 3

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE RÄTSEL DES SILBERMONDS 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Silbermond – das ist die poetische Bezeichnung für eine Wüste aus Ammoniak-Schnee und Methan-Seen, wo 180 Grad minus herrschen, wo die Sonne kleiner als eine Pfennig-Münze ist und der fahl glänzende Saturn-Ring beinahe den halben Himmel bedeckt. Hier, auf dem Saturn-Mond Titan, landet die erste internationale Saturn-Expedition. Sie besteht aus vier Männern und einer Frau und ist so zusammengesetzt worden, dass sich Charaktere und Temperamente ergänzen...

 

Hubert Horstmanns zweiter Roman Die Rätsel des Silbermonds, erstmals im Jahr 1971 veröffentlicht, erregte größtes Aufsehen und gilt als Meilenstein und Meisterwerk der utopischen Literatur der DDR. Horstmanns Schilderung einer nicht-menschlichen, von Aggressionen freien Zivilisation auf dem Saturnmond Titan sprengte das bis dahin in der Science-Fiction-Literatur der DDR vorherrschende anthropozentrische Weltbild und war als psychologisches Kammerspiel inszeniert.

Die Rätsel des Silbermonds erscheint als durchgesehene Neuausgabe im Apex-Verlag in der Reihe Kosmologien – Science Fiction aus der DDR. 

  DIE RÄTSEL DES SILBERMONDS

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Falls Sie auf Landeerlaubnis warten - hier ist niemand, der sie uns geben könnte!«, rief Frol Wekker.

Seit zehn Minuten hockte er in der engen Schleusenkammer und seufzte vor Ungeduld. Sein Rücken schmerzte, seine Arme drohten einzuschlafen, und der Schaft des Eispickels, den er vorsorglich in den Gürtel geschoben hatte, quetschte seinen Magen zusammen. Als er die Pilotenkanzel verlassen hatte, war die Mondebene schon ganz nahe gewesen; bleigrau und glatt wie ein Spiegel hatte sie sich unter der Rakete ausgebreitet. Warum, zum Teufel, zögerte Dahlberg?

Tu zweit waren sie mit der Hilfsrakete gestartet, um einen Landeplatz für das Raumschiff Pazifik ausfindig zu machen, das abwartend auf einer Satellitenbahn um den Saturnmond kreiste. Wekker hatte sich um diesen Auftrag bemüht, denn das Leben an Bord war ihm schon lange auf die Nerven gegangen. Nun schien es, als wolle ihn der Pilot auf eine neue Geduldsprobe stellen.

Wekker presste das Ohr an die äußere Kammerwand. In das monotone Summen der Bremsdrüsen mischten sich jetzt seltsame kratzende und klirrende Geräusche. Zuerst glaubte er, Dahlberg habe sich endlich zur Landung entschlossen und die Rakete gleite über hartgefrorenen Ammoniak-Schnee. Doch die Geräusche kamen plötzlich auch von der oberen Rumpfhälfte her. Es klang, als wäre die Rakete in eine Wolke feiner Glassplitter geraten.

Kopfschüttelnd richtete sich Wekker auf. Er versuchte, einen Blick aus dem einzigen Bullauge zu werfen, das die Schleuse mäßig erhellte, doch es lag am Ende eines Schachtes, der von Kraftstoffleitungen durchzogen war und in seinem letzten Drittel schräg abfiel. Wekker schnallte das Sauerstoffgerät vom Rücken, kroch in die trichterförmige Öffnung und schob sich Handbreit um Handbreit vorwärts. Er war hager, und der Raumanzug schmiegte sich dicht an seinen Leib; trotzdem blieb er alle Augenblicke an einem Kabel oder an einer Leitung hängen, und als er das Bullauge beinahe erreicht hatte, prallte er mit dem Helm gegen einen Metallbolzen. Das aufgeklappte Visier, ein Filter aus Spezialglas zum Schutz gegen kurzwelliges Licht, sprang herab und legte sich wie eine schwarze Binde über seine Augen.

Acht Monate an Bord der Pazifik hatten an seinem angeborenen Temperament genagt; nun stellte er mit grimmiger Genugtuung fest, dass sein Reservoir an echt Taschkenter Flüchen nach wie vor unerschöpflich war. Es half nichts, der Schacht war viel zu eng, als dass es ihm gelungen wäre, die Arme anzuwinkeln und die Binde zu entfernen.

Frol Wekker war Geologe. Seine erste Beschäftigung mit geologischen Fragen hatte ihm eine Tracht Prügel eingebracht. Das war an jenem Morgen, an dem ihn der Milizionär Gennadi Wekker eine Stunde lang zwischen den Trümmern des eingestürzten Familienhauses gesucht hatte. Bei den ersten Erdstößen, die Taschkent an diesem Tage erschütterten, war der zehnjährige Frol aus dem Schlafzimmer in den Garten gelaufen und hatte sich, zu Tode erschrocken, in ein Rosenbeet gekauert. Doch er musste schon damals einen Sinn für den Reiz ungewöhnlicher Naturerscheinungen gehabt haben, denn seine Angst war schnell verflogen, und während rings um ihn Mauern barsten, Lichtblitze aufflammten und Wolken aus grauem Mörtelstaub aufstiegen, lauschte er andächtig dem Rumoren und Grollen unter dem Rosenbeet. Sein Interesse an den geheimnisvollen Vorgängen in der Tiefe des Bodens war so stark, dass er die verzweifelten Rufe der Mutter überhörte; erst die väterlichen Ohrfeigen hatten diesem Studium ein Ende bereitet.

Er hatte es später fortgesetzt, war inzwischen Spezialist auf dem Gebiet der Geodynamik geworden, besaß einige Kenntnisse in der Geodäsie, der Mineralogie und der Geochemie - und er spürte wenig Neigung, seine Laufbahn in der engen Schleusenkammer einer Hilfsrakete zu beenden. Mühsam arbeitete sich Wekker in die Pilotenkanzel zurück.

Er fand Dahlberg vor, wie er ihn verlassen hatte: aufrecht hinter dem Steuerpult sitzend, konzentriert, die athletische Brust vorgewölbt, die nervigen Hände auf den Armaturen.

»Schwierigkeiten, Harry? Etwa ein Defekt?«

Dahlberg war ein ausgezeichneter Pilot. Daneben besaß er jedoch Eigenschaften, die Wekker immer von neuem in Erstaunen versetzten. Zum Beispiel schien er fanatisch bemüht, seine Stimmbänder verkümmern zu lassen. Auch jetzt deutete er nur ein Kopfschütteln an.

Wekker blieb unschlüssig stehen. Nach einem Blick durch die großen Frontalbullaugen wurde ihm klar, woher die seltsamen Geräusche kamen. Die Rakete hatte fast Bodenberührung; unter dem Druck der Bremsdüsen wurden Eissplitter aus der Ebene gerissen, sie zerstoben wie Gischt, vor dem Bug bildeten sie eine regelrechte Welle.

Eis! Woraus mochte es bestehen? Aus kristallisiertem Ammoniak? Oder aus gewöhnlichem H2O? Dann musste es stahlhart gefroren und spröde wie Porzellan sein. Vielleicht aber handelte es sich um eine unbekannte chemische Verbindung? Wekkers Ungeduld wuchs. An Bord hatte er sie bezähmen müssen. Unnötig lange, denn die Flugzeit von acht Monaten kam auf Kommandant Bronsteins Konto. Er hatte sich pedantisch an das vorgeschriebene Programm gehalten, statt Eigeninitiative zu entwickeln und die Triebwerke der Pazifik voll auszulasten.

»Worauf warten wir eigentlich?«

»Auf die Analysen natürlich.« Dahlbergs Stimme klang verwundert.

»Aha! Und auf welche Analysen, wenn ich fragen darf?«

»Landevorschrift, Paragraph vier.«

Wekker kramte in seinem Gedächtnis. AUF UNBEKANNTEN HIMMELSKÖRPERN SIND VOR DER LANDUNG, BESONDERS ABER BEVOR DIE LUFTSCHLEUSEN GEÖFFNET WERDEN, UNTERSUCHUNGEN ÜBER... Er starrte den Piloten verdutzt an. Der Hygieneparagraph! Nachweis und Identifizierung lebender Materie, insbesondere aller frei in der Atmosphäre schwebender Kokken, Bakteriophagen, Mikromyzeten und so weiter. Und das auf einem Ammoniakmond mit der fabelhaften Temperatur von minus einhundertachtzig Grad! Mit der gleichen Berechtigung, wie hier nach Kokken, hätten sie in der Sahara nach Laubfröschen suchen können.

Aber es gab Vorschriften, und Dahlberg gedachte, sie einzuhalten. Wütend verließ Wekker die Pilotenkanzel. Es war nicht das erste Mal, dass er jenes Fernschreiben verfluchte, das ihn vor nunmehr zwei Jahren von der Tschuktschen-Halbinsel nach Baikonur, Kosmonautenstadt, gerufen hatte. Jenseits des Polarkreises, beim Bau der ersten Thermenstadt auf dem ewigen Frostboden, war er glücklich gewesen. Er hatte sich wohl gefühlt unter den Vermessungsleuten, Hydrologen und Tiefbauspezialisten. Später hatte er selbst eine Brigade geleitet: Komsomolzen, die aus allen Unionsrepubliken gekommen waren, weil man ihnen Pionierarbeit versprochen hatte. Und Polartarife. Ein paar Tollköpfe unter ihnen: Wolodja, das Walross, der sich bei dreißig Grad unter Null in den Eislöchern sielte; der rotschopfige Sergej, den die Einheimischen zweimal pro Monat windelweich droschen, weil er ihren Mädchen nachstieg; Kostja mit dem Messertrick; German, Pawlik... Sie alle hatten geschuftet, was das Zeug hergab; manchmal einfach aus Spaß, meistens aber, weil es Ehrensache war, dass sich die Normen überschlugen. Abends Qualifizierungskurs und ein paar Stunden in der Kantine: »He, twisten wir einen, Nonka?«

»Brigade Wekker zur Polonaise!«

»’ne Tischrunde Pflaumenschnaps!«

In Kosmonautenstadt hatte es gleich ganz anders angefangen: Atemübungen an Stelle von Zigaretten, Tomatensaft statt Hochprozentigem; medizinische Untersuchungen, psychologische Tests, Druckkammer, Schleudersitz. Seine Hände waren so weich geworden, dass ihm Abend für Abend, wenn er sie betrachtet hatte, die Schamröte ins Gesicht gestiegen war. Aber er hatte sich beschwatzen lassen. »Uns interessiert vor allem Ihre intellektuelle Anpassungsfähigkeit, Genosse Wekker.«

Die Versicherung, er werde einer Expedition angehören, die nicht wie frühere Kosmonautengruppen an ein starres Programm gebunden sei, hatte den Ausschlag gegeben. Und die Begründung war ihm einleuchtend erschienen: Solange sich die Raumforschung auf relativ nahe Objekte wie Mars und Venus beschränkt habe, sei es möglich gewesen, konkrete, bis ins Detail aufgeschlüsselte Programme vorzuschreiben, jede Handlung, jeden Schritt im Voraus festzulegen. Doch diese Etappe gehöre der Vergangenheit an. Das Wissen über die ferneren Planeten - Jupiter, Saturn, Neptun und Pluto - sei noch lückenhaft. Man müsse mit unerwarteten Schwierigkeiten rechnen, Zwischenfälle einkalkulieren. Das setze bewegliche Forschungsgruppen voraus, die in der Lage seien, sich rasch zurechtzufinden, anzupassen, die wesentlichen Aufgaben an Ort und Stelle zu erkennen und selbständig Entscheidungen zu treffen. Gerade deshalb habe man sich für ihn, Frol Wekker, entschieden. Denn dass er einen hohen Grad an intellektueller Anpassungsfähigkeit besitze, gehe schon aus seiner Kaderakte hervor.

Wekker seufzte. Offenbar hatte die Auswahlkommission vergessen, die Kaderakten der anderen Expeditionsteilnehmer durchzusehen. Kommandant Bronstein und der Astrochemiker Robert Westing, der Prinzipien sammelte wie andere Leute Briefmarken oder Schmetterlinge, schienen jedenfalls nicht unter einem Übermaß an Entschlusskraft zu leiden, und Harry Dahlberg suchte Kokken, weil es in der Vorschrift stand. Am besten war noch mit der Ärztin Anne Mesmer auszukommen. Tatsache blieb allerdings, dass sie seine Versuche, die lange Reise durch einen Flirt zu würzen, eines Tages auf ziemlich unqualifizierte Weise beantwortet hatte: »Eine Woche Rohkostdiät wird Sie beruhigen, Monsieur Wekker, nest-ce pas?«

Als die Bremsaggregate ein letztes Mal aufheulten und die Rakete mit einem sanften Stoß aufsetzte, war Wekkers Trübsinn wie weggeblasen. Er schulterte das Atemgerät, regulierte die Sauerstoffzufuhr und nahm den Eispickel in die Hand. Die äußeren Schotten öffneten sich geräuschlos, nachdem er einen Schalter bewegt hatte.

Er kam sich wie ein Hamster nach dem Winterschlaf vor, als er den Kopf aus der Öffnung steckte. Zuerst schwindelte ihn sogar. Er hatte sich an Enge gewöhnt: an Kajüten und Maschinenräume ein paar Meter im Quadrat, an vollgepfropfte Laboratorien und Depots, schmale Wendeltreppen und winzige Korridore. Nun lag die Ebene vor ihm: grünlich, glasig durchscheinend, unbegrenzt, wie leergefegt. Über dem fernen Horizont hing die mächtige Saturnscheibe. Ihr fahler, leichenhafter Glanz erschien ihm in diesem Augenblick wie das wärmste Sonnenlicht. Als er den Blick wandte, entdeckte er braune Erhebungen. Sie waren über den ganzen westlichen Teil der Ebene verstreut, dunstverhangen, aber deutlich kegelförmig. Vulkankegel etwa?

Sein geologisches Interesse erwachte.

Der erste Schritt in eine neue Welt! Wekker beugte sich aus der Luke, im Begriff, auf die glasige Ebene hinabzuspringen, fühlte sich jedoch plötzlich am Gürtel zurückgehalten.

»Nicht ohne Sicherungsleine!«

»Schon gut.« Er wandte sich um und befestigte das Kabel-Ende, das ihm Dahlberg reichte, vorschriftsmäßig an einer Schlaufe des Skaphanders.

Dann stieß er sich ab, die Beine angewinkelt, um den Aufprall abzufangen. Doch er hatte zu viel Schwung genommen. Sechs, acht Meter von der Luke entfernt kam er auf und federte bis an den Raketenkörper zurück. Eine schmerzende Schulter erinnerte ihn daran, dass er unter den Schwereverhältnissen des Mondes kaum fünfzehn Kilo wog und seine Muskeln sparsam einsetzen musste.

Eine erste Analyse ergab, dass die grünlich glasige Masse aus gewöhnlichem, verunreinigtem Eis bestand. Die Ebene schien für eine Landung wie geschaffen, die Pazifik würde ohne Schwierigkeiten aufsetzen können, und es erübrigte sich, eine besondere Bahn zu markieren.

Der Pilot war anderer Meinung. »Einzig zu diesem Zweck sind wir hier«, sagte er und ging die Farbstoffbehälter aus dem Transportraum der Rakete holen.

Sie begannen ein blutrotes, phosphoreszierendes Pulver auszustreuen, und Dahlberg achtete darauf, dass der gesamte Vorrat verbraucht wurde. Dann brachten sie den transportablen Mehrzwecksender ins Freie. Sobald das Raumschiff die Satellitenbahn verlassen und die ionisierte Schicht der Atmosphäre durchstoßen hatte, musste es die Rufzeichen empfangen.

Wekker setzte sich auf einen umgestülpten Farbstoffeimer und blinzelte in die Sonne. Sie war nicht größer als ein Ein-Kopeken-Stück und flimmerte wie eine altersschwache Neonröhre. Zusammen mit dem Widerschein des Saturn brachte sie ein eigenartiges Zwielicht hervor. Wekker gähnte. Sein Blick berührte die Berge im Westen. Todsicher bestanden sie nicht aus Eis, sondern aus Gesteinen vulkanischen Ursprungs. Der Gedanke faszinierte ihn. Magmatisches Gestein in den Händen haben - das bedeutete, einen Blick in den Schoß des Saturnmondes zu werfen.

Er erhob sich und ging mit langen, federnden Schritten auf und ab. Sollte er warten, bis die Pazifik kam? Das würde mindestens zwei Stunden dauern. Und die Ausläufer der Berge waren nicht weit entfernt; vier bis fünf Kilometer etwa - ein Katzensprung bei der geringen Schwerkraft.

Doch es gab eine Order, die lautete: LANDEBAHN SUCHEN, MARKIEREN UND WARTEN, BIS PAZIFIK EINTRIFFT! Wekker runzelte die Brauen. Gleichgültig, wohin er kam, überall stolperte er über Vorschriften. So war es vom ersten Expeditionstag an gewesen. Die Pazifik war nicht nur das bestausgerüstete Raumschiff, das es je gegeben hatte - ein wahres Wunderwerk der Technik -, sondern auch das schnellste. Es besaß die stärksten Antriebsaggregate - und hatte trotzdem volle acht Monate gebraucht, um sein Ziel zu erreichen. »Einhundertzwanzig Tage bleiben uns für die Forschungsarbeiten auf dem Mond«, hatte Wekker den Kommandanten oft genug gedrängt. »Es könnten dreißig Tage mehr sein, wenn Sie beschleunigten. Die Motoren sind doch längst nicht ausgelastet!«

»Natürlich nicht. Denn wir fliegen nach einem bestimmten Programm.«

»Programme sind variabel, und wenn ich mich recht erinnere, haben wir in allen wichtigen Punkten Handlungsfreiheit.«

»Ausgenommen, wenn es um die Sicherheit geht!« Die Sicherheit! Wekker hatte schon damals geahnt, dass ihm dieses Argument noch oft begegnen werde, und zwar immer bei den wunderlichsten Gelegenheiten. Zum Beispiel jetzt. Wen brachte er wohl in Gefahr, wenn er sich ein bisschen um die Vulkankegel kümmerte?

Er schlenderte auf die Rakete zu und kroch missmutig in die Schleusenhalle. Dahlberg saß wieder in der Pilotenkanzel. Er hatte ein Notizbuch aufgeschlagen.

»Schreiben Sie immer schon Ihre Memoiren?«

»Das Protokoll!«

Wekker riss die Augen auf. »Über die Landung?«

»Ganz recht.«

»Und die Markierung der Landebahn?«

»Gewiss.«

»Mit genauen Angaben über Lage, Länge und Breite?«

»So gut es geht.«

Wekker biss sich auf die Lippen. »Vergessen Sie nicht, die Menge des Markierungspulvers in Gramm pro Quadratzentimeter anzugeben!«

Als er sich wieder im Freien befand, gab er dem Farbstoffeimer einen Fußtritt.

Du fliegst also und fliegst, drückst dich eine Ewigkeit in engen Kabinen herum, mästest dich an Geflügel und Leberpastete, schluckst Tomatensaft und Vitaminkonzentrat, nimmst alles Mögliche in Kauf, hast endlich dein Ziel erreicht - und setzt dich hin, um Protokolle zu verfassen! Wekker hätte am liebsten geheult. Er konnte sich schon denken, wie es weitergehen würde. War die Pazifik gelandet, dann stand zunächst eine Überprüfung der Atommotoren und Triebwerke, der Steuereinrichtungen und Beschleuniger bevor. Damit würde sich Dahlberg nicht zufriedengeben. Er würde die Inventarlisten in die Hand nehmen und sich davon überzeugen wollen, dass auch jedes Schräubchen, jedes Stück Draht und jede Lötstelle noch am richtigen Platz waren. Dann kam der Plan, das Organisatorische: Bronsteins und Westings Spezialität. Sie würden Programme, Unterprogramme und Miniprogramme ausarbeiten. Und schließlich würde die Ärztin medizinische Untersuchungen verlangen: Routinetests, Kontrolltests, Ergänzungstests - über den Einfluss der Mondgravitation auf den Kreislauf, die Verdauung und den Hormonspiegel; Untersuchungen über die Wirkung des Zwielichts auf die Zirbeldrüse und den Blinddarm...

Wekker blieb stehen. Diesen Trott würde er nicht mitmachen! Dreißig Tage waren unwiederbringlich verloren. Nun sollte ihn niemand daran hindern, die übrige Zeit zu nutzen!

»Zu den Bergen wollen Sie, magmatisches Gestein sammeln?« Der Pilot blickte verwundert von seinen Notizen auf. »Die Order verlangt...«

»...dass wir eine Landebahn ausfindig machen.«

»...und warten, bis die Pazifik eintrifft!«, zitierte Dahlberg mit Nachdruck.

Wekker lächelte. »Gemeint ist, dass wir uns in erster Linie um die Landebahn kümmern sollen. Denn niemand konnte ahnen, dass wir direkt auf eine spiegelglatte Ebene stoßen. Das war ein Glückstreffer, der uns zwei Stunden Zeitgewinn eingebracht hat. Niemand wird es uns verübeln, wenn wir die beiden Stunden nun auch produktiv verwerten.«

»Hm.« Dahlberg schien schwankend geworden zu sein. »Wozu brauchen Sie dieses... magmatische Gestein überhaupt?«

»Es könnte erste Anhaltspunkte über den Schalenaufbau des Titan liefern.«

»Aha!« Dahlberg lehnte sich in den Sessel. Ein verständnisvolles Lächeln spielte um seinen Mund. »Ich kann mir ja vorstellen, wie Ihnen zumute ist, Wekker«, sagte er. »Sie haben gerade Ihren ersten Raumflug hinter sich und stehen nun zum ersten Male vor absolutem Neuland. Als Geologe brennen Sie darauf, die Ebene, die Berge - alles so schnell wie möglich kennenzulernen. Das ist eine bekannte und, ich möchte sagen, eine ganz natürliche Reaktion...«

Was sollte das nun wieder? Versuchte Dahlberg, die Diskussion in die Länge zu ziehen?

»Eine ganz natürliche, aber nicht die allerbeste Reaktion«, fuhr der Pilot fort. »Sie verleitet nämlich zu Planlosigkeit. Brauchen wir im Moment Anhaltspunkte über den Schalenaufbau? Sicher nicht! Was wir zunächst brauchen, ist ein Gesamtüberblick, aus der Vogelperspektive sozusagen. Und dann eine Konzeption: über die genaue Forschungsrichtung und die entsprechenden Forschungsmethoden. Ein planloses Hin und Her mag interessanter sein, führt aber zu nichts und...« Jetzt hob Dahlberg die Stimme. »...kann deshalb nicht geduldet werden. Das ist eine prinzipielle Frage - und zugleich meine Antwort auf Ihren Vorschlag.«

Einen Moment lang war Wekker verblüfft. Er hatte zwar keinen jubelnden Beifall erwartet, doch dass Dahlberg einfach ablehnte, verschlug ihm die Sprache. Was war dieser Pilot für ein Mensch! Zufrieden mit dem Landeprotokoll und der Kokken-Analyse lag er in seinem Sessel und lächelte weise. Die Berge interessierten ihn nicht. Und wüchsen sie plötzlich in den Himmel oder verschwänden in die vierte Dimension, ihn kümmerte das nicht. Denn sie waren in keinem Plan vorgesehen, Punktum!

Das war die Logik eines Bürokraten, der seine Prinzipien wie Scheuklappen trug. Eine gefährliche Logik! Wenn sie Schule machte, würde die konkrete Forschungsarbeit unter einem Wust von prinzipiellen Erwägungen, Einschränkungen und Vorbehalten ersticken, genauso wie er, Wekker, es schon dunkel befürchtet hatte. Doch er würde dafür sorgen, dass es nicht so weit kam! Je früher, umso besser.

»Also, ich gehe jetzt.«

Dahlberg musste sich des Erfolgs seiner ungewöhnlich langen Rede sehr sicher gewesen sein, denn er schien nicht gleich zu verstehen. »Wohin gehen Sie?«

Wekker gab keine Antwort. Er hatte sich lange genug mit fruchtlosen Erörterungen aufgehalten.

Als er vor der Rakete stand, atmete er befreit auf. Hell und freundlich lag die Ebene vor ihm. Die Dunstschleier hatten sich verzogen, sie hingen jetzt als kleine, silberne Wölkchen über den Bergen. Die Saturnscheibe leuchtete elfenbeinfarben, von ihrem westlichen Rand zog sich ein gelber Streifen schräg in den Himmel hinauf und verblasste in der Nähe des Zenits: das Ringsystem.

Mit langen, weichen Sprüngen setzte sich Wekker in Bewegung. Er war kaum ein paar hundert Meter gekommen, als er Dahlberg dicht hinter sich vernahm. »Sie sind ein Starrkopf, Wekker. Ich kann Sie nicht halten, aber ich werde Sie nicht aus den Augen lassen. Und damit es klar ist: Sie tragen die volle Verantwortung!«

Wekker spürte, dass ihm das Blut in die Schläfen stieg. Nicht genug, dass Dahlberg in geschmackloser Weise begann, den erfahrenen Piloten herauszukehren, jetzt spielte er sich auch noch als Amme auf. Doch Wekker verzichtete auf eine Antwort. Er hatte sich zu lange bevormunden lassen. Das würde nun anders werden.

Sie flogen förmlich auf die Berge zu. Die geringe Schwerkraft erlaubte Sprünge über bizarre Schneewehen und mannshohe Eisblöcke hinweg, die allmählich den Charakter der Ebene veränderten. Der Pilot schien plötzlich von dem Ehrgeiz besessen, der Schnellere zu sein; bald hatte er einen erheblichen Vorsprung.

Doch Wekker nahm die Herausforderung nicht an. Er hatte keinen Wettkampf, sondern eine wissenschaftliche Exkursion vorgeschlagen. Und die würde er verantworten. Seine Stimmung besserte sich sofort, als er die ersten Mineralsplitter fand. Sie waren von tiefgrüner Farbe. Er steckte sie in die aufgesetzten Taschen des Skaphanders. Dann entdeckte er einen rötlich-grauen Brocken mit Einlagerungen, die an Quarz und Feldspat erinnerten. Liparit? Er wog den Brocken in der Hand und schmunzelte sogleich über diese Geste. Er war nicht auf der Erde. Hier hatte jeder Gegenstand ein anderes Gewicht, mit den gewohnten Maßstäben war nicht mehr viel anzufangen. Trotzdem, dieser Brocken konnte gut und gerne Liparit sein. Wenn das zutraf, dann musste es Vulkanausbrüche gegeben haben, und es würde nicht schwerfallen, die Zusammensetzung der tieferen Bodenschichten zu erschließen. Wekker sah zu den Bergen hinauf, die nun schon dicht vor ihm lagen. Dort oben musste er eine Antwort finden: Gesteine, die gewöhnlich in Nachbarschaft mit dem echten Liparit auftraten.

Dahlberg hatte bereits eine Höhe erklommen, lehnte an einem Vorsprung und blickte angespannt nach Osten. »Was kann das bedeuten? Dort, links von der Rakete...«, rief er über den Sprechfunk.

Wekker kniff die Augen zusammen. Die Rakete war kaum zu erkennen, aber die Landebahn hob sich gut ab. Ein paar Kilometer südlich ragten milchweiße Gebilde von riesigen Dimensionen auf. Sie ähnelten Säulen mit flachen, den Himmel berührenden Kapitellen. Der Teufel mochte wissen, woher sie so plötzlich gekommen waren. Hüpfend bewegten sie sich nach Norden und wirbelten Ammoniak-Schnee auf. Jetzt kamen sie an der Rakete vorbei, zogen sich zusammen, verwandelten sich in rotierende Zylinder - und jagten mit hoher Geschwindigkeit weiter nach Norden. Der Horizont verschluckte sie.

»Rätsel Numero eins.« Wekker dachte nicht daran, sich durch ein paar hüpfende Säulen ablenken zu lassen. Es war wichtig, sich zunächst auf eine einzige Sache zu konzentrieren, später würde er dann die nächste in Angriff nehmen. In dieser Hinsicht hatte Dahlberg ganz recht: Ein planloses Hin und Her führte zu nichts.

Da der Pilot zur Umkehr drängte, bat er ihn, wenigstens ein paar Gesteinsproben von der Anhöhe mitzubringen, und hielt inzwischen nach weiteren Liparitbrocken Ausschau. Er kletterte über eine Spalte, die tief in den vereisten Abhang gerissen war, und brach unwillkürlich in einen Freudenschrei aus. Eine Geröllhalde lag vor ihm: Tausende, Zehntausende faustgroßer Täfelchen und Quader; blasig, porig wie Schwamm, leichter als Holz. Ohne Zweifel, das war Bimsstein.

»Liparit und Bimsstein sind junge Ergussgesteine«, erklärte er dem Piloten auf dem Rückweg. »Sollte mich nicht wundern, wenn wir auch schwere Granite, Basalte und Erze im Überfluss finden. Westing neigt allerdings dazu, diese Möglichkeit zu bezweifeln. Er vermutet nämlich alle schwereren Stoffe unter einem gewaltigen Mantel aus leichteren Verbindungen und gefrorenen Gasen. Er geht davon aus, dass...«

»Moment, da huscht doch was?« Dahlberg blieb stehen.

Wekker blickte verwundert auf. »Schon wieder eine Säule?« Er sah, dass Dahlberg verwirrt mit der Hand über den Glashelm wischte, und hörte ihn verlegen hüsteln.

»Nein, nichts, war wohl eine Täuschung. Ich glaubte eben, eine - Riesenschildkröte gesehen zu haben!«

»Huschend und bei minus einhundertundachtzig Grad?« Wekker lächelte verstohlen. Die ganze Umgebung war wie leergefegt, ein festgewalzter Schneeteppich, auf dem sich keine Stecknadel verbergen konnte. Der Pilot musste schon wieder in irgendwelche Paragraphen vertieft gewesen sein. Auf die Dauer konnte sich auch das geduldigste Gehirn nicht mit derlei trockener Beschäftigung zufriedengeben. Kein Wunder also, dass es ihm kuriose Streiche spielte.

»Sagen wir: Rätsel Numero zwei, wenn es keine Täuschung... Was ist denn?«

Mit einem kräftigen Ruck aus den Kniekehlen heraus hatte sich Dahlberg abgestoßen und schnellte fast senkrecht in die Höhe. Dann eilte er mit langen Sprüngen auf die Rakete zu.

Kopfschüttelnd folgte ihm Wekker - und starrte Augenblicke später fassungslos dorthin, wo er noch vor dreißig Minuten die Landemarkierung gesehen hatte. Sie war verschwunden! Doch sofort fielen ihm die hüpfenden Säulen ein, und er brach in ein schallendes Gelächter aus. »Luftwirbel, verstehen Sie? Windhosen sind hier vorbeigekommen! Sie werden unser blutrotes Pülverchen als Fackel um den halben Mond tragen.« Er klopfte Dahlberg, der wie erstarrt neben ihm stand, auf die Schulter. »Mal ganz ehrlich, war es nicht sowieso überflüssig? Die Pazifik findet uns auch ohne Landebahn, hab’ ich recht?«

Der Pilot warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. »Ohne Landebahn - vielleicht. Aber nicht ohne Sender!«

Das Sendegerät, vor der Schleusenkammer aufgestellt, ein paar Meter von der Luke entfernt, war ebenfalls verschwunden. Eine Windhose musste es von seinem Platz gefegt und in die Atmosphäre geschleudert haben. Vielleicht raste es mit dem Hurrikan nach Norden, vielleicht war es irgendwo draußen auf der Ebene zerschellt. Jedenfalls war es zwecklos, danach zu suchen.

Keine Funkverbindung mit der Pazifik, das bedeutete...

»Wie lange reichen unsere Sauerstoffvorräte?«, fragte Wekker.

»Höchstens zwölf Stunden«, sagte Dahlberg.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Leonid Bronstein wanderte mit langen, ruhigen Schritten durch die Steuerzentrale der Pazifik. Er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und hielt den massigen Kopf ein wenig geneigt. Sein Gesicht mit den fleischigen Wangen und dem angegrauten Schnauzbart war entspannt, die wasserhellen Augen waren halb von den Lidern bedeckt.

Er war zufrieden. Vor zehn Minuten hatte der Bordempfänger die ersten Signale des Landetrupps auf genommen; seitdem tanzten grüne Sinusschwingungen über die Mattglasscheibe des optischen Indikators. Noch bewegte sich das Raumschiff auf einer Satellitenbahn. Doch bald würde er, Bronstein, den Autopiloten ablösen und die Sendequelle ansteuern. In weniger als zwei Stunden würde die Pazifik auf der Mondoberfläche landen.

Die erste Etappe der Expedition war also nahezu abgeschlossen, und dass sie ohne jeden Zwischenfall verlaufen war, erschien ihm als ein gutes Omen für die nächste, die eigentliche Forschungsetappe. Immerhin hatte er mit einigen Schwierigkeiten gerechnet, zwar nicht in technischer, aber in personeller Hinsicht. Er konnte sich noch genau erinnern: Als ihm die Frage gestellt worden war, ob er bereit sei, die erste internationale Kosmonautengruppe zu leiten, hatte er gezögert.

Eine Besatzung führen, die sich aus Wissenschaftlern verschiedener Länder zusammensetzte? Das würde keine leichte Aufgabe sein. Er hatte sich eine Bedenkzeit erbeten und sich zunächst mit den personellen Unterlagen vertraut gemacht. Das Resultat hatte ihn nicht gerade ermutigt. Der Astrochemiker Robert Westing besaß den Ruf eines kaltblütigen Praktikers, der unbeirrbar, allein den Gesetzen der Logik folgend, auf sein Ziel lossteuerte. Die vierte amerikanische, eine der erfolgreichsten nationalen Mars-Expeditionen, hatte unter seinem Kommando gestanden. Doch einige der Teilnehmer hatten diesen Erfolg mit schweren Nervenkrisen bezahlt.

Während sich Robert Westing ausschließlich auf dem Gebiet der Astrochemie bewegte, hatte sich Frol Wekker bereits in einem halben Dutzend geologischer Berufe versucht. Er schien aufnahmefähig, begabt und einfallsreich, doch ohne rechte Ausdauer. Seine Zeugnisse waren glänzend. Er besaß zwei akademische Titel und den Orden Aktivist Jakutiens. Andererseits gab es in seiner Akte den Vermerk, dass er sich als leitender Brigadier einer Komsomolzengruppe in den unterirdischen Anlagen von Thermenstadt zu wenig um die Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen gekümmert und vermutlich sogar seine Hand im Spiel gehabt hatte, als ein Arbeitsschutz-Inspekteur im Schacht IV... von vermummten Gestalten ergriffen, gefesselt und bis Schichtwechsel an der Ausübung seines Dienstes gehindert worden sei.

Von der Bordärztin Anne Mesmer erfuhr Bronstein im Wesentlichen, dass sie am französischen Forschungszentrum für medizinische und psychologische Probleme der Astronautik arbeitete und eine vorzügliche Verhaltensanalytikerin sein sollte. In einer zusätzlichen Bemerkung, die ihn jedoch eher verwirrte als aufklärte, hieß es, Mademoiselle Mesmer besitze neben dem scharfen Verstand des Analytikers einen erstaunlich hohen Grad an Sensibilität. Erst an Bord hatte er erfahren, worauf sich diese Bemerkung bezog. Anne gehörte zu den sensitiven Fingersehern. Mit den bloßen Händen konnte sie Farben unterscheiden und Buchtexte entziffern.

Am klarsten umrissen war das Bild Harry Dahlbergs. Er war Pilot der ersten bis achten Kategorie, hatte demnach alle kosmischen Fluglinien und die meisten Schiffstypen kennengelernt, liebte exakte Befehle und pflegte sie mit der Präzision eines Elektronenrechners auszuführen. Während seiner ganzen Dienstzeit bei der EURO KOSMOS hatte er sich nicht die geringste Nachlässigkeit zuschulden kommen lassen.

Bronstein hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt selten nach seinen pädagogischen Fähigkeiten gefragt, doch nach dem Studium der Kaderakten waren sie ihm mehr als fragwürdig erschienen. Besaß er überhaupt genügend Einfühlungsvermögen, um verschiedene Charaktere, Temperamente und Lebensgewohnheiten unter einen Hut zu bringen? Es war schließlich nicht damit getan, dass er die künftige Besatzung der Pazifik kommandierte. Sie musste sich zu einem Kollektiv entwickeln. Das war nicht zuletzt von politischer Bedeutung. Denn die Tendenz nach internationaler Zusammenarbeit in der bemannten Kosmosforschung war noch jung, und es gab Leute, die sie mit scheelen Augen verfolgten. Sie behaupteten, die Sowjetunion strebe eine Monopolstellung im Raumflugwesen an und sei nicht an einer fruchtbaren Zusammenarbeit interessiert. Einige verlangten sogar Gegenbeweise. Nun gut, die konnten sie haben. Schon mit der ersten internationalen Expedition. Sie würde den Nutzen kollektiver Forschung demonstrieren. Und ihre Ergebnisse würden allen Ländern zur Verfügung stehen. Kurzum, die Besatzung der Pazifik stand vor großen Aufgaben. Deshalb brauchte sie einen fähigen Leiter. Und Bronstein hatte nicht gewusst, ob er diese Fähigkeiten besaß.

Bronstein lächelte. Er hatte sich unnütze Gedanken gemacht. Vor allem hatte er die Arbeit der Auswahlkommission unterschätzt und an Problemen gerätselt, die schon vor dem Start gelöst worden waren. So unterschiedlich die Charaktereigenschaften der Gefährten nämlich sein mochten, sie waren derart aufeinander abgestimmt, dass sie sich genau ergänzten. Das hatte sich bereits nach den ersten Flugwochen herausgestellt. Neigte Wekker dazu, die Expedition als einen harmlosen Spaziergang zu betrachten, so hatte Dahlberg umso strenger über das Bordreglement gewacht; erschöpfte sich Westings Beitrag zur Geselligkeit in ein paar Schachpartien, so hatte Anne umso besser für Unterhaltung gesorgt. Es war zwar nicht gerechtfertigt, aus der gegenseitigen Ergänzung an Bord Schlussfolgerungen für die künftige praktische Zusammenarbeit auf dem Saturnmond zu ziehen, doch berechtigte sie immerhin zu einem gewissen Optimismus.

Noch anderthalb Stunden bis zur Landung. Es wurde Zeit, die Flughöhe zu verringern. Bronstein schaltete einen Teleschirm ein, um mit Westing zu sprechen, der seit dem Start der Hilfsrakete atmosphärische Messungen in der Schleusenhalle vornahm.

Der Astrochemiker saß vor den geöffneten Schotten. Er hatte einen Gasanalysator auf den Knien und trug Zahlenwerte in eine Tabelle ein. Als habe er den Anruf erwartet, erhob er sich und kam näher an die Aufnahmekamera. Er war Mitte Fünfzig, schlank und hochgewachsen und in dem enganliegenden Skaphander kaum von Wekker zu unterscheiden.

»Der Empfänger arbeitet normal?«, fragte er sofort.

Bronstein nickte. »Andernfalls hätte ich...«

»Dann möchte ich Sie bitten, die Flughöhe vorläufig konstant zu halten.«

Bronstein schüttelte den Kopf. »Der Landetrupp  erwartet uns.«

»Aber ich bin einer äußerst interessanten Entdeckung auf der Spur!«

»Und worum handelt es sich?«

Der Astrochemiker lächelte dünn. »Geben Sie mir zehn Minuten, und ich garantiere Ihnen eine wissenschaftliche Sensation.«

»Nun gut... aber keine Sekunde länger.«

Bronstein warf einen Blick auf die Borduhr an der Stirnwand der Zentrale und nahm in einem Sessel Platz. Wahrscheinlich übertrieb Westing. In bezug auf die Atmosphäre des Titan war kaum mit Überraschungen zu rechnen. Ihre Eigenschaften waren hinreichend bekannt. Spektroskopische Untersuchungen hatten ergeben, dass sie sich vorwiegend aus Stickstoff, Methan und Edelgasen zusammensetzte. Sie war also ausgesprochen giftig und außerdem so kalt, dass alle chemischen Reaktionen sehr träge abliefen. Allerdings existierte sie auch nur auf Grund dieser niedrigen Temperatur. In größerer Sonnennähe hätte die Schwerkraft eines Himmelskörpers mit dem Volumen und der Dichte des Saturnmondes nicht ausgereicht, um gasförmige Bestandteile zu halten.

Titan besaß als einziger der neun Saturnmonde eine Atmosphäre. Deshalb sollte er dereinst einen Komplex wissenschaftlicher Einrichtungen beherbergen: eine Station zur Erforschung des Mutterplaneten und seines Ringsystems, eine andere für die Beobachtung der fernen Planeten Uranus, Neptun und Pluto, weiterhin ein Institut für Kältephysik und vor allem eine Basis für Raketen, die über die Grenzen des Sonnensystems hinaus in den galaktischen Raum Vordringen sollten. Die Atmosphäre des Titan war ein natürlicher Schild gegen kosmische Strahlen und Meteoritenschauer, ersparte aufwendige Sicherheitsmaßnahmen. In ihrem Schutz konnten Menschen arbeiten.

Wie aber sah es unter der Atmosphäre aus? Die Pazifik-Expedition hatte den Auftrag, die geologische und physikalische Beschaffenheit des Titan zu untersuchen, insbesondere die Bedingungen für die Anlage jener wissenschaftlichen Einrichtungen zu prüfen.

Bronstein erhob sich. Zehn Minuten waren verstrichen. Er trat erneut vor den Bildschirm.

Westing erwartete ihn bereits. Er schwenkte ein Blatt Papier vor der Aufnahmekamera. »Wir bewegen uns an der unteren Grenze einer atmosphärischen Schicht entlang, deren Ionisationsgrad konstant zwischen der siebenten und achten Größenklasse liegt.«

Bronstein lächelte ungläubig. »Das wäre fast das Dreifache des vorausberechneten Betrags.«

»Eben! Die ultraviolette Strahlung des Zentralgestirns kommt nur zu einem Bruchteil als auslösender Faktor in Frage. Ich nehme an, der Fehlbetrag wird durch Teilchenschauer gedeckt, die irgendwie mit Saturn oder seinem Ringsystem Zusammenhängen... Noch fünfzehn Minuten, und ich liefere den Beweis. Doch dazu muss die Pazifik um fünftausend Meter gehoben werden.«

Bronsteins Gesichtszüge nahmen sofort einen abweisenden Ausdruck an. »Die ionisierte Schicht reflektiert elektromagnetische Wellen. Wollen Sie die Funkverbindung mit dem Landetrupp aufs Spiel setzen?«

Der Astrochemiker hob beschwichtigend die Hände. »Erstens soll es sich nur um einen kurzfristigen Abstecher in die Ionosphäre handeln, und zweitens arbeitet Dahlbergs Sender kontinuierlich. Sobald wir die Schicht verlassen haben, nehmen wir die Signale wieder auf.«

Bronstein zögerte. Es bestand Aussicht auf eine grundlegende Entdeckung. Westings Hypothese konnte der Schlüssel zu einigen ungeklärten Problemen sein, die sich aus dem Verhalten der Wasserstoffplaneten Saturn und Jupiter ergaben. Andererseits war diese Hypothese nur in der Ionosphäre verifizierbar, und die Funkverbindung zu unterbrechen bedeutete, mutwillig ein Risiko heraufzubeschwören.

Der Mensch hatte auch in den bestausgerüsteten automatischen Raumschiffen eine wichtige Funktion: darüber zu wachen, dass das Wahrscheinlichkeitsmaß, mit dem unvorhergesehene Ereignisse eintreten konnten, möglichst gering blieb. Aus den verschiedenen Varianten, die in einer gegebenen Situation zu einem bestimmten Ziel führten, hatte er stets die Variante des kleineren Risikos auszuwählen.

Im Augenblick gab es nur ein Ziel: die einwandfreie Landung zu sichern. Westings Experiment, so verlockend es war, musste später nachgeholt oder der nächsten internationalen Expedition überlassen werden.

»Tut mir leid, Westing, ich...«

Ein schrilles Klingelzeichen schnitt dem Kommandanten das Wort ab. Zugleich erlosch der Bildschirm, und rotes Warnlicht flutete durch die Zentrale.

Der Sender war verstummt!

Mit drei, vier langgezogenen, schwerelosen Sprüngen stand Bronstein vor der Empfangsanlage und drückte eine Verstärkertaste. Ohne Erfolg. Die Verbindung zum Landetrupp war tot.

 

In fieberhafter Eile, aber planmäßig und mit sicheren Handgriffen, begann Bronstein, den Empfänger zu kontrollieren.

Wenig später erschien Anne Mesmer in der Zentrale. Der Alarmruf musste sie beim Umkleiden überrascht haben. In Hinblick auf die bevorstehende Landung hatte sie Rock und Pullover gegen einen Skaphander ausgetauscht, doch ihr langes, dunkles Haar war noch nicht aufgesteckt, und der Schutzhelm baumelte an ihrem Handgelenk. Als sie den Grund des Alarms erfuhr, erblasste sie. Doch sie stellte keine überflüssigen Fragen, sondern setzte sich sofort an die Steuereinrichtung. »Kurs beibehalten?«

»Vorläufig ja.«

Westing kam aus der Schleusenhalle und warf dem Kommandanten einen flüchtigen Blick zu. »Empfänger intakt?«

Bronstein nickte. »Damit scheidet die erste Möglichkeit aus.«

»Das dachte ich mir.« Westing blieb vor dem zentralen Rechenautomaten stehen und gab ihm den Befehl, alle gespeicherten Daten über die Richtung und die Intensität der eingetroffenen Funksignale bereitzustellen.

»Die zweite Möglichkeit«, sagte Bronstein, »wäre ein Defekt am Sender.«

»Ausgeschlossen! Der Sender ist absolut gesichert.«

»Auch gegen minus zweihundert Grad? Wir sollten alle möglichen Faktoren einkalkulieren.«

»Im ungünstigsten Falle könnte ein Miniaturelement durch Kälteeinwirkung beschädigt werden. Aber dann schaltet sich automatisch ein entsprechendes Ersatzelement ein. Der Sender enthält alle Bauteile in dreifacher Ausfertigung. Ich wiederhole: Er ist absolut störunempfindlich. «

Bronstein zupfte nachdenklich an seinem Schnauzbart. »Wahrscheinlich haben Sie Recht. Kommen wir also zur nächsten Möglichkeit: atmosphärische Störungen. Es wäre denkbar, dass wir uns in einer lokal begrenzten Störzone befinden oder dass sich eine solche Zone zwischen den Sender und unsere Flugbahn geschoben...«

In diesem Moment signalisierte der Rechenautomat die Erledigung des Befehls, und Westing entnahm der Datenausgabe einen mit Zahlenkolonnen bedruckten Papier streifen. »Ich glaube an überhaupt keine Störung«, sagte er, als er die Zentrale durchquerte, um an seinem Arbeitstisch Platz zu nehmen.

»Sondern...?«

Auch Anne wandte sich erwartungsvoll um.

»An eine Schlamperei des Landetrupps.«

Ein paar Augenblicke lang war nur das Ticken der Borduhr zu hören. Bronstein hatte den massigen Kopf erhoben. Seine wasserhellen Augen ruhten mit einem Ausdruck der Verwunderung auf dem Astrochemiker. Im Gesicht der Ärztin erschienen rote Flecken.

Westing beantwortete das Schweigen der Gefährten mit einem Achselzucken. Er schob einen Sessel an seinen Arbeitsplatz und schlug ein Tabellenbuch auf. »Ich bleibe dabei«, sagte er. »Der größere Unsicherheitsfaktor ist nun mal der Mensch und nicht die Technik.«

Bronstein empfand dieses Urteil wie einen Schmerz. Wie kam Westing dazu? Aus grundsätzlichen Erwägungen? Oder hatte er kein volles Vertrauen zu den beiden Gefährten? Mit Wekker hatte er bisweilen kleine Reibereien gehabt. Es war dabei meist um Fragen der Borddisziplin gegangen, die der Geologe nicht so ernst nahm, wie er es sich wünschte - wobei nicht übersehen werden durfte, dass Westing seinerseits zu Übertreibungen neigte. Doch waren die Zwiegespräche stets im kameradschaftlichen, oft im spaßhaften Ton geführt worden, und er, Bronstein, war nie auf den Gedanken gekommen, dass sich dahinter etwas Ernsthaftes verbergen könnte. Hatte er sich getäuscht?

Bronstein fuhr sich über die Stirn. Jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Er musste eine Entscheidung treffen. Lag eine technische, atmosphärische oder sonstige Störung vor, so kam es darauf an, die Störquelle ausfindig zu machen, zu beseitigen - oder zu umgehen - und die Pazifik präzise auf den Sender zuzusteuern. Es war ratsam, zunächst eine Parabel zu fliegen und zu jenem Punkt der Flugbahn zurückzukehren, an dem die Signale zuletzt einwandfrei registriert worden waren. Doch das nahm Zeit in Anspruch.

Und wenn der Landetrupp in eine Notlage geraten, auf schnelle Hilfe angewiesen war? Dann war es erforderlich, die Satellitenbahn sofort zu verlassen und Kurs auf jenes Gebiet zu nehmen, in dem sich Dahlberg und Wekker vermutlich befanden. Doch wahrscheinlich kam ein sehr großes Gebiet in Frage. Es würde schwerfallen, den genaueren Ort mit Hilfe der bisher gespeicherten Daten über die Richtung und Intensität der Funksignale zu bestimmen.

Bronstein zwang sich zur Ruhe. »Wieweit sind Ihre Berechnungen gediehen?«

Statt einer Antwort stieß Westing einen Ruf des Erstaunens aus und beugte sich tiefer über das Papier. »Kommen Sie!«

Der Bleistift in seiner Hand beschrieb einen Kreis. »Bei aller Unzulänglichkeit der Daten lässt sich der Standort des Landetrupps auf diesen Bereich mit dem Radius von zirka einhundertundfünfzig Kilometern lokalisieren. Doch nur für eine bestimmte Zeitspanne. Etwa zehn Minuten vor Sendeschluss ist der Standort verlassen worden - und zwar mit ziemlich hoher Geschwindigkeit.

»Woraus schließen Sie das?«

»Während der letzten zehn

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Hubert Horstmann/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 27.06.2019
ISBN: 978-3-7487-0841-4

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