Cover

Leseprobe

 

 

 

 

EVA CHRISTOFF

 

 

DIE TERRANAUTEN, Band 31:

Der Einsame von Ultima Thule

 

 

 

Science-Fiction-Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER EINSAME VON ULTIMA THULE von Eva Christoff 

 

Das Buch

Man schreibt das Jahr 2500 irdischer Zeitrechnung.

Der Herr der Misteln von allen verraten...

Myriam, die nun in Growans Palast wohnt, wird auf Schritt und Tritt bewacht, und der Kontakt zwischen ihr und Mar-Estos wird von Clint Gayheen eingeschränkt.

Jonsson, einer der Terranauten um Myriam, wird überwältigt und mit einer Droge dazu gezwungen, Myriams Notizen weiterzugeben.

Hados George, Myriams Nachfolger als Projektleiter, erweist sich als tüchtiger Mitarbeiter, der aber die Test-Ergebnisse selbst vor den Treibern geheim hält. Merlin findet heraus, dass auch er für Max von Valdec arbeitet....

 

DIE TERRANAUTEN – konzipiert von Thomas R. P. Mielke und Rolf W. Liersch und verfasst von einem Team aus Spitzen-Autoren – erschien in den Jahren von 1979 bis 81 mit 99 Heften und von 1981 bis 87 mit 18 Taschenbüchern im Bastei Verlag. 

Der Apex-Verlag veröffentlicht die legendäre Science-Fiction-Serie erstmals und exklusiv als E-Books.

  DER EINSAME VON ULTIMA THULE von Eva Christoff

 

 

 

 

  Die Treiber an den Pulten des Forschungszentrums, die sonst kaum von ihrer Tätigkeit abzulenken waren, schwangen wie auf ein Kommando auf ihren Drehsitzen herum, als der neue Projektleiter durch die Tür stürmte, kaum, dass sie einen Spaltbreit offen stand. Seine Schritte knallten wie mittlere Explosionen auf dem harten Protopboden, untermalt von dem Bimmeln der dünnen Goldreifen an seinen beiden Handgelenken. 

»Ich grüße Euch«, sagte er lauter, als nötig gewesen wäre. »Hoffentlich komme ich nicht ungelegen. Ich bin Frühaufsteher, und leider schließe ich immer von mir auf andere, was mir schon einige Ungelegenheiten eingebracht hat. Aber Ihr scheint mich ja erwartet zu haben. Ihr habt wohl vergessen, mir einen Gleiter zu schicken? Ich musste mir einen mieten. Meint Ihr nicht auch, es wäre günstiger, an den Palast einen größeren Gästetrakt anzubauen, damit Ihr mehr Leute darin unterbringen könntet und nicht ein Teil Eurer Besucher in dem doch recht unkomfortablen Haus in Ultima Thule wohnen muss?« 

»Du bist weder als Gast noch als Besucher hier«, erklärte ihm Growan terGorden, der es satt hatte, mit ausgestreckter Hand herumzustehen, ohne dass der Neue Anstalten machte, sie zu ergreifen. »Eins wollen wir gleich zu Anfang klären, damit keine Missverständnisse auftreten: Arbiter Hados, du bist als Wissenschaftler hier, als Arbiter, und in dieser Eigenschaft wohnst du im Stadthaus wie alle anderen Wissenschaftler und Konzern-Treiber auch.« 

Hados lachte verlegen. Alles in allem war sein Gesicht mit den weit auseinanderstehenden blauen Augen, der kurzen Nase und dem aufgeworfenen Mund nicht unsympathisch. 

»Ich rede schon wieder zu viel«, rief er. »Das passiert mir ständig. Natürlich habt Ihr Recht. Ich werde mich danach richten. Es war ja auch nur ein Vorschlag. Ich will Euch auch nicht länger belästigen. Wenn Ihr mir sagen könnt, wer mich zu den Labors führt und mich in meine Arbeit einweist, werde ich Euch sofort verlassen.« 

»Nun, nun«, meinte Growan besänftigend. »Ich habe mich vielleicht etwas scharf ausgedrückt. Selbstverständlich bist du willkommen. Clint Gayheen, mit dem du ja schon zu tun hattest, und ich werden dich zu den Labors führen. Dort arbeiten noch drei Wissenschaftler, die dir alles sagen können, was du wissen musst. Die nötige Autorität, ihre Arbeit und die der Treiber einzuteilen und zu koordinieren, musst du natürlich selber aufbringen.« 

»Natürlich«, versicherte Hados. »Ähnliche Aufgaben hatte ich schon bei V/O Kultura zu erfüllen. Ich bin immer gut zurechtgekommen. Gehen wir?« 

Growan erhob sich seufzend aus seinem bequemen Sessel. Er war beileibe kein Morgenmensch, und schon kurz nach dem Aufstehen zu Entscheidungen und Aktivitäten gezwungen zu werden, verdarb ihm die Laune für den ganzen Tag. 

Myriam stand vor dem wohnungsinternen Computer und überlegte, welches Kleid sie anziehen sollte. Sie lächelte ein wenig trübe bei dem Gedanken, dass es für die Zukunft wahrscheinlich ihre Hauptsorge sein würde, Kleider auszusuchen und anzuziehen. Die reichhaltige Auswahl, die Growan ihr zur Verfügung gestellt hatte, erlaubte ihr, so ziemlich an jedem Tag des Jahres andere Sachen zu tragen, dennoch fiel ihr die Auswahl für diese besondere Gelegenheit schwer. 

Mar-Estos hatte sie gebeten, sich mit ihm in Ultima Thule zu treffen, in einem kleinen, diskreten Speisehaus, in dem weder Graue noch Bewohner des Palastes verkehrten. Es war nicht anzunehmen, dass Mar-Estos seine früheren Beziehungen zu ihr wieder aufnehmen wollte, obwohl Luzia sich Asen-Gers Begleiter Djinders angeschlossen hatte und nach Berlin abgereist war. Vermutlich verbrachte sie ihre Zeit jetzt damit, sich in die Nähe von Asen-Gers Bett zu pirschen, um herauszufinden, ob die herausfordernde Kleidung des Summacums seinem Verhalten unter einer Decke Rechnung trug. 

Myriam wählte eine lange, schwarze Robe mit silberfarbener Kapuze, die ihr Gesicht verbarg. Bevor sie den Raum verließ, warf sie einen Blick in die aktivierte Spiegelwand. Die schwarze Farbe machte sie blass und ließ sie älter aussehen, aber schließlich ging sie nicht aus, um einen Liebhaber zu besuchen. 

An der ihr gegenüberliegenden Seite des Ganges lehnte ein Grauer, der sich sofort straff aufrichtete und höflich grüßte, als er sie erblickte. Myriam murmelte eine Antwort und eilte an ihm vorbei. Warum war der Mann vor ihren Wohnräumen postiert worden? Zufall oder Absicht? 

Eine schräge Fließrampe führte zu den Kabinen des Gleiterabstellplatzes, die für die Privatmaschinen des Generalmanags und seiner engsten Vertrauten reserviert waren. 

Vor Kabine IV trat Myriam von der Rampe herunter und hielt ihre ID-Karte vor das Sensorauge der magnetischen Sperre. Das Warnlicht erlosch, aber bevor sie in die Kabine gehen konnte, leuchtete der rote Kennkreis des Minigleiters auf, den Growan ihr geschenkt hatte, und die Maschine glitt rückwärts in die Ausflugschleuse. Die Einstiegluke schwang auf. Myriam erkannte einen Grauen, der hinter dem Steuerpult saß und ihr zuvorkommend eine Hand entgegenstreckte. 

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie scharf. »Ich kann den Gleiter selbst bedienen und wünsche heute Abend keine Begleitung. Steig aus!« 

»Tut mir Leid«, sagte der Graue freundlich. »Ich habe meine Befehle, und die lauten, Euch überallhin zu begleiten. Es ist nur zu Eurer Bequemlichkeit. Hier ist das Rufgerät, mit dem Ihr mich jederzeit benachrichtigen könnt, wenn Ihr wünscht, den Palast zu verlassen.« 

»Von wem kommt die Anordnung?« 

»Soviel ich weiß, vom Generalmanag persönlich. Manag Gayheen hat sie mir überbracht.« 

Myriam presste in ohnmächtiger Wut die Lippen zusammen. Der Graue war ein junger Mann, und Gayheen hatte sich offensichtlich alle Mühe gegeben, aus der dem Konzern zugeteilten Truppe den attraktivsten Gardisten auszuwählen. Sein Hintergedanke dabei war nur allzu deutlich. Wenn sie an Growan terGorden keinen Gefallen finden konnte, war es besser, wenn sie sich mit einem Grauen tröstete, den Gayheen kontrollieren konnte, als mit irgendeinem anderen Mann, der dem Konzern nicht verpflichtet war. 

Sie trat von dem Gleiter zurück. 

»Ich habe es mir anders überlegt«, sagte sie. »Ich werde heute Abend nicht ausgehen.« 

»Wie Ihr wollt. Nehmt das Rufgerät, falls Ihr mich doch brauchen solltet.« 

»Ich glaube kaum! Behaltet das Ding, und überbringt Gayheen meinen herzlichsten Dank für seine Fürsorge.« 

»Das werde ich tun.« 

Die Einstiegsluke schloss sich, und der Gleiter schwebte in die Kabine zurück. 

Vor ihrer Wohnungstür stand immer noch ein Grauer. Es war schwierig, die einförmig uniformierten Männer auseinanderzuhalten, aber da man Myriam nicht als besonders gefährlich einschätzte, trugen sie keine Helme. Die Treiberin konnte sich erinnern, dass beim Verlassen ihrer Räume ein dunkelhaariger Wächter vor der Tür gestanden hatte. Dieser hier war weißblond, und sein gelangweiltes Gesicht wurde von einer langen Narbe entstellt. 

»Du kannst schlafen gehen«, sagte Myriam mit überspitzter Freundlichkeit. »Bis morgen früh werde ich meine Wohnung nicht mehr verlassen.« 

Der Graue beachtete sie gar nicht, sondern starrte unentwegt auf eine Stelle über der Tür. 

Myriam wartete ab, bis die Tür sich hinter ihr völlig geschlossen hatte, und eilte durch den Vorraum in das riesige Wohnzimmer, das für eine Feier mit mindestens fünfzig Gästen Platz bot. Eine einzelne Person konnte sich darin verlaufen. Sie berührte den Sensor, der einen ganzen Wandabschnitt zur Seite gleiten ließ und eine reichhaltig ausgestattete Bar sowie die Kommunikationsanlage freigab. 

Kennung des Gästehauses, Quartier 311. Nichts. Der Bildschirm blieb dunkel, nicht einmal das Betriebssignal erschien. 

Labor. Dafür gab es nur eine Taste. Die Anlage reagierte nicht. 

Growan. Sie drückte die Taste mit dem Mistelsymbol, obwohl sie wusste, dass der Manag nicht im Hause war. Sofort flammte das Betriebssignal auf. »Der Schirm ist nicht besetzt«, schnarrte die Computerstimme. 

Myriam raffte das lästige Gewand in die Höhe und kniete sich auf den Boden. Die Frontplatte wurde von zwei Klammern gehalten, die nur hochgeschoben werden mussten. Sie verstand kaum etwas von dem Innenleben einer Kommunikationsanlage, aber selbst ein völliger Laie konnte erkennen, dass eine ganze Code-Schiene entfernt worden war. Welche, das brauchte sie nicht zu fragen. Man hatte sie von der Außenwelt abgeschnitten. Wahrscheinlich konnte sie jedes Modeatelier auf ganz Terra erreichen, aber keinen einzigen Bezirk, in dem man Treiber auch nur vermuten konnte. 

Sie überlegte einen Augenblick und ging dann wieder zur Tür. Der Graue starrte immer noch an die Wand. 

Nachdenklich kehrte Myriam in den Wohnraum zurück. Eine doppelflüglige Tür führte in ihr Schlafzimmer, dessen Boden dick gepolstert war, sodass der ganze Raum ein einziges Bett bildete. Ein Handgriff löschte die Beleuchtung und verdunkelte die Fenster. Myriam legte sich auf das Polster und schloss die Augen. 

Sie versuchte, sich ganz auf Mar-Estos zu konzentrieren und in die Dunkelheit hinter ihren geschlossenen Lidern sein Gesicht zu zeichnen. Es war noch schwieriger, als sie gedacht hatte. Immer wieder entglitten ihr ihre Gedanken und wanderten zu Gayheen, Growan, Asen-Ger, dem Grauen vor ihrer Tür. Außerdem stellte sie fest, dass sie Mar-Estos’ Gesicht schon fast vergessen hatte. 

Endlich hatte sie Erfolg. Sie formte Psi-Impulse zu seinem Namen und wiederholte sie ohne Pause. Manchmal glaubte sie zu spüren, dass sie sich ihm näherte, zumindest so weit, dass sie die Echos seiner Gedanken auffangen konnte, aber einen Weg in sein Bewusstsein fand sie nicht. Entweder hatte er eine Sperre aufgerichtet, oder ihre Kraft reichte nicht aus. 

Sie wartete einige Minuten und versuchte es dann mit Shadow. Diesmal war es leichter. Sein Gesicht sprang förmlich in ihre Erinnerung, aber als ihre Gedanken nach ihm tasteten, fand sie nichts. Trotzdem fühlte sie, dass es ihr gelungen war, in sein Bewusstsein einzudringen. Das Fehlen aller Signale konnte bedeuten, dass er schlief. 

Myriam hatte nie gewusst, dass man mit Gedanken schreien konnte, aber es ging. Es waren teils Überraschung und teils Furcht, die ihr die Kraft gaben. Überraschung, dass ihr Vorhaben gelungen war, Furcht, weil es etwas Bedrohliches an sich hatte, eine so enge telepathische Verbindung mit einem anderen Menschen einzugehen. Myriam hatte gelernt, starke Emotionen, Befehle oder Informationen wie Blitze in ein fremdes Bewusstsein zu schleudern, aber einen richtigen Austausch von Gedanken hatte sie noch nie versucht. 

Shadows Bewusstsein erwachte jäh. 

Myriam fand sich in einem Wirbel aus Gedanken und Gefühlen wieder, der sie abzudrängen drohte. 

»Shadow!«, rief sie. »Ich bin Myriam! Verstehst du mich?« 

Das Durcheinander beruhigte sich. Anscheinend hatte Shadow den Schock überwunden. Sie spürte den zögernden Versuch, mit dem er nach ihr tastete. »Myriam? Bist du in Gefahr?«  

»Nicht direkt. Aber ich werde von Grauen überwacht. Unmöglich, den Palast unauffällig zu verlassen. Meine Kommunikationsanlage ist manipuliert worden, ich kann keinen von euch erreichen. Sag Mar-Estos Bescheid. Er wartet in Amrahs Speisehaus auf mich.« 

Es war schwierig, für alles, was sie in Worten auszudrücken gewohnt war, die passenden Bilder zu finden, aber Shadow schien zu begreifen. 

»Ich kann jetzt nicht«, antwortete er. »Ich bin nicht allein.«  

»Graue?« 

»Nein. Ich liege im Bett.«  

»Kannst du sie nicht loswerden?«  

»Nicht so schnell. Es würde auffallen. Hat es Zeit bis morgen früh?«  

»Gut. Aber vergiss es nicht.«  

»Bestimmt nicht. Gayheen?«  

»Ja. Er will mich isolieren.«  

»Keine Angst. Wir werden uns schon etwas einfallen lassen.« 

Myriam wollte noch etwas antworten, aber ihre Kraft nahm schnell ab. Shadows Gesicht rückte von ihr ab, bis es nur noch ein heller Fleck war, und auch der verschwand, als Myriams Bewusstsein sich gegen die Überanstrengung wehrte und ohne ihr Zutun in tiefen Schlaf glitt. 

 

*

 

Die Astra setzte in dem Oval der roten Landelichter auf. Mar-Estos stieg über die Sensorenfelder hinweg, die seine Bewegungen registrierten. Die Lichter erloschen, und die Platte mit dem Gleiter senkte sich knarrend in die unterirdische Kabine, während sich gleichzeitig die Deckelhaube über die Öffnung schob. 

Von der Gleiterkabine bis zum Eingang zu seinen Wohnräumen waren es nur wenige Schritte. Ein kalter Wind zerrte an Mar-Estos’ Umhang, und er war froh, als die Türflügel hinter ihm zusammenglitten. In der kleinen, gewölbten Eingangshalle, von der Türen zu seinen Schlaf- und Aufenthaltszimmern führten, war es stockfinster. Die Beleuchtungsanlage, die durch das Öffnen der Tür aktiviert wurde, hatte nicht funktioniert. 

Den Umhang in der Hand, verharrte Mar-Estos einen kurzen Augenblick in der Dunkelheit, dann ging er weiter in den Schlafraum, dessen Fenster abgedunkelt waren, obwohl er sich genau erinnern konnte, sie, als er die Wohnung verließ, auf Transparenz gestellt zu haben. 

»Kaum ist man einen Tag nicht da, geht alles drunter und drüber«, sagte er scheinbar mürrisch vor sich hin, tappte zum Kleiderkabinett, schob den Umhang zwischen zwei Halteplatten und tastete nach dem Waffengürtel. 

Lautlos zog er den HP-Stunner von der Magnetplatte und wandte sich der handbedienten Lichtanlage zu, die am Fußende seines Bettes angebracht war. Die Leuchtfelder flammten auf, und Mar-Estos stand mit einem Satz unter der Wohnraumtür, den HP-Stunner in beiden Händen. Die schmale Gestalt in dem Sitzelement ihm gegenüber hatte beide Hände gehoben, um sich gegen die plötzliche Helligkeit zu schützen. Mar-Estos war ebenfalls geblendet. Er legte den Finger auf den Auslöser, ohne abzuwarten, bis er seinen Besucher erkennen konnte. Der Stürmer gab einen hohen, pfeifenden Ton von sich. Mar-Estos drückte den Finger fester gegen den Sensor. Wieder das gequälte Geräusch, aber keine Entladung. 

»Mit dieser Reaktion hatte ich gerechnet«, sagte Clint Gayheen mit leichtem Tadel in der Stimme. »Deshalb habe ich mir gestattet, dies hier zu entfernen.« Er hob die Hand und drehte die würfelförmige Energiezelle zwischen den Fingern. 

»Meine Hochachtung«, knurrte Mar-Estos, legte den Stunner aber trotzdem nicht aus der Hand. »Die Vorsichtsmaßnahme wäre aber überflüssig gewesen, wenn du wie ein normaler Besucher, nach vorheriger Anmeldung, durch die Tür gekommen wärest.« 

Gayheen lachte leise. »Ich war mir nicht sicher, ob du mich auch empfangen würdest«, erklärte er. »Außerdem wollte ich dir vor Augen führen, dass man auch dich überrumpeln kann, wenn man es darauf anlegt.« 

»Das ist dir gelungen. Und wozu das Ganze?« 

»Ich bin gekommen, um dir einen guten Rat zu geben: Lass deine Finger von Myriam!« 

Mar-Estos gab vor, den respektlosen Ton, in dem Gayheen zu ihm sprach, zu überhören. 

»Was bringt dich zu der Annahme, dass ich meine Finger nach ihr ausgestreckt hätte?« 

»Meine Beobachtungen. Du bist oft mit ihr zusammen. Mit ihr und diesen Treibern. Erst heute Abend warst du mit ihr verabredet. Hast du dich nicht gewundert, warum sie nicht gekommen ist?« 

»Nicht besonders. Vielleicht hatte sie keinen Appetit auf ein gutes Essen.« Leugnen hatte keinen Zweck. Gayheen hatte ihn und Myriam gründlich bespitzeln lassen. 

»Vielleicht hatte sie auch keinen Appetit mehr auf dich. Und wenn doch, werde ich dafür sorgen, dass es damit ein Ende hat. Sie ist Growan terGordens Verlobte.« 

»Was geht mich das an? Mein Interesse an ihr und den Treibern ist rein wissenschaftlicher Natur.« 

Gayheen schlug die Hände zusammen. »Wissenschaftlicher Natur! Du würdest dir die Hände drei Stunden lang in Desinfektionslösung waschen, wenn du etwas angefasst hättest, das auch nur im Entferntesten nach Arbeit aussähe. Du bist hinter Myriam her, und ich handle ganz in Growans Interessen, wenn ich das unterbinde. Du wirst sie nicht mehr sehen, und das Gleiche kannst du deinen Treibern weitersagen.« 

»Ich weiß nicht, ob sie oder ich uns danach richten werden. Und was ist mit Myriam selbst?« 

»Sie wird sich fügen. Notgedrungen. Es kann für sie nur schlimmer werden, wenn ihr euch nicht nach meiner Anweisung richtet.« 

»Nach deiner Anweisung? Weiß Growan davon?« 

»Du kannst ja versuchen, dich bei ihm zu beschweren.« 

»Das werde ich, und jetzt noch etwas Grundsätzliches: Wenn du mich noch einmal in dem Ton anpöbelst, den du dir die ganze Zeit herausgenommen hast, wirst du mich bald von einer anderen Seite kennen lernen! Dann werde ich mir auch die Hände in Desinfektionslösung waschen, weil ich gezwungen war, dich anzufassen. Verstanden?« 

»Große Worte! Halte dich nur daran fest, wenn du das brauchst. Für diesen Abend habe ich von dir auch genug. Ich werde mich jetzt verabschieden.« 

Gayheen steckte die Energiezelle für den Stunner in seine Tasche und ging an Mar-Estos vorbei, der mit dem Stunner ausholte und ihn auf Gayheens Hinterkopf sausen ließ. 

Der Vertraute Growan terGordens stolperte gegen die Wand und röchelte krampfhaft. Der milde Schlag hatte ihn nicht betäubt, verhinderte aber jede Gegenwehr, als Mar-Estos sich den Energiewürfel zurückholte. Dann packte er Gayheen an dem breiten Ziergurt, der den einteiligen Anzug um die Hüften zusammenhielt, hob ihn mit einer Hand hoch und lehnte ihn neben der Eingangstür an die Außenwand. 

»Du hast bestimmt eine Leibwache bei dir, die dich ins Bett bringt«, verabschiedete er sich. 

An der zusammengleitenden Tür brachte er die Sicherheitsverriegelung an und kehrte in den Wohnraum zurück. 

»Das ist also das Ergebnis unseres klugen Plans!«, murmelte er bitter. »Eine Gefangene! Und dafür habe ich Myriam dem Alten geopfert! Ein fürstlicher Preis für – nichts!« 

 

*

 

Zur gleichen Zeit, als Mar-Estos sich mit Clint Gayheen befasste, hockte Jonsson in Devarieux’ Haus unter der Seen-Arkade und näherte sich dem Stadium der Trunkenheit, in dem jeder Wein gut und jedes Mädchen hübsch ist. 

Nüchtern betrachtet war beides in dem Haus nicht der Fall. Für Leute, die Mark Devarieux persönlich kannten, gab es allerdings einen Anbau, in dem es zuging wie in den feinsten Speisehäusern Berlins. Die Mädchen, die dort bedienten, wurden sorgfältig ausgesucht und geschult. Es bedurfte eines erfahrenen Auges, um festzustellen, dass sie den gleichen Beruf ausübten wie ihre überarbeiteten Kolleginnen im Gemeinschaftsraum. 

Ultima Thule war weder eine Männerstadt wie Berlin, noch eine Stadt der Frauen wie Edinburg. Die Geschlechter lebten gleichberechtigt nebeneinander, und es lag an jedem einzelnen, was er aus sich machte. 

Deshalb gab es Vergnügungshäuser für Frauen und Männer gleichzeitig. Es war keine Seltenheit, dass ein Mann mit seiner Gefährtin gemeinsam speiste, und anschließend gingen beide ihren eigenen erotischen Interessen nach, um anschließend zusammen nach Hause zurückzukehren. 

Jonsson schob einen seiner Getränke-Chips in die vielarmige Fontäne auf seinem Tisch, die sich gehorsam drehte und einen Strahl seines bevorzugten Getränks in den Protopbecher spie. 

Als er den Kopf in den Nacken legte, um auch den letzten Tropfen noch aus dem Becher herauszubekommen, sah er die vier Grauen, die durch die Tür kamen. Sie trugen Uniform und waren bewaffnet. Trotzdem setzten sie sich an einen der länglichen Tische, zogen Becher aus den Vorratsbehältern in der Tischplatte und ließen sie vollaufen. 

»Schade, dass Carenno nicht mitkommen konnte«, sagte einer von ihnen. 

»Er hat Dienst.« Ein anderer grinste. »Dank seiner braunen Locken ist er jetzt der persönliche Chauffeur dieser Myriam.« 

»Eine Treiberfreundin als Frau eines Konzern-Manags. Hat es so was überhaupt schon mal gegeben?« 

»Nie. Und es sollte es auch nicht geben. Aber sie ist ja nicht nur eine Treiberfreundin, sondern Carenno muss darauf achten, dass sie vor der Hochzeit nicht noch von verbotenen Misteln nascht.« 

»Mar-Estos-Misteln meinst du?« Der weißblonde Graue mit der Narbe im Gesicht lachte rau. »Überhaupt – diese Treiber. Kein Wunder,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Eva Christoff/Apex-Verlag. Published by arrangement with Thomas R. P. Mielke and Rolf W. Liersch.
Bildmaterialien: Chrisian Dörge/Apex-Graphixx. DIE TERRANAUTEN-Logo by Arndt Drechsler.
Cover: Chrisian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 26.06.2019
ISBN: 978-3-7487-0825-4

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /