Cover

Leseprobe

 

 

 

 

ERROL LECALE

 

 

BLUT VON MEINEM BLUT

- 13 SHADOWS, Band 34 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

BLUT VON MEINEM BLUT 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigsten Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

 

Das Buch

Harowice sagte nichts mehr, denn als er in die Augen des Alten starrte, kroch ein sonderbares Gefühl der Betäubung in ihm hoch.

Er versuchte sich abzuwenden und davonzulaufen, die Augen zu verschließen vor dem seltsamen glühenden Blick des Fremden. Aber kein einziger Muskel seines Körpers gehorchte seinem Willen.

Und bald war auch sein Wille dem alten Mann unterworfen. Verrückte Gedanken schossen ihm durch den Kopf, dunkle Gedanken, furchterregende Gedanken.

Sein Kopf sank nach hinten, das Mondlicht fiel auf seinen Hals, auf die pulsierende Halsschlagader.

Langsam kam der dunkelgekleidete Fremde auf ihn zu. Harowice schloss die Augen. Die letzte Erinnerung, die er aus seinem Leben mit hinübernahm, war das Lächeln des Alten. Ein Lächeln, wie er es nie zuvor gesehen hatte.

 

BLUT VON MEINEM BLUT von Errol Lecale wurde in Deutschland erstmals im Jahre 1975 als VAMPIR-HORROR-TASCHENBUCH Nr. 56 veröffentlicht (unter dem Titel DER BLUTKELLER).

BLUT VON MEINEM BLUT erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  BLUT VON MEINEM BLUT

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Das Wolfsrudel kam im Mondlicht über den Hügel, glitt lautlos durch die dunklen Tannenalleen. Manchmal spiegelte sich der Mondschein in den Augen der fünf Tiere, und dann glühten sie rot - in einem gierigen, hungrigen Rot.

Es war ein frostklirrender Winter gewesen in diesem Teil von Transsylvanien. Seit drei Tagen hatten die Wölfe nicht mehr getötet, und das letzte Mal hatten sie nur ein junges, halbverhungertes Reh erbeutet.

Eine alte Wölfin mit grauem Maul führte das Rudel an. Die anderen vier waren ihre Söhne, ausgewachsene Wölfe, die ihre Mutter noch bis zur Paarungszeit begleiten würden. Sie hatte ihnen beigebracht, auf die Jagd zu gehen, den Fallen der Förster und den Gewehren der Jäger auszuweichen. Und sie hatte ihnen ein tiefes Misstrauen gegen die menschliche Rasse vererbt.

Und jetzt rannten sie wie graue Schatten zwischen den Bäumen hindurch, eine lebendige, zerstörerische Hungersnot. Was immer sich bewegte, würden sie jagen. Und was sie erjagten, würden sie töten.

Seit dem Morgengrauen waren sie unterwegs, weit entfernt von ihren üblichen Jagdgründen im öden Norden. Der Wildmangel hatte sie in den Süden getrieben, in dieses langgestreckte, breite Tal, in dem es nach Mensch roch. Manchmal bebten ihre Nasenlöcher, und sie fletschten die stahlharten Fänge, wenn der verhasste Menschengeruch von den fernen Hütten und Bauernhöfen herüberwehte.

Einmal witterten sie einen Bären, und sie folgten der Geruchsspur viele gnadenlose Stunden lang. Normalerweise hätten sie es nicht gewagt, sich mit einem Bären zu messen. Aber der Hunger hatte ihre Angst besiegt. Nun gab es kein Wesen mehr, mit dem sie es nicht aufnehmen würden. Und wenn sie den Bären aufstöberten, würde er in einer Höhle oder in einem hohlen Baumstamm seinen Winterschlaf halten und von dem Fett zehren, das er sich im vergangenen Sommer angefressen hatte. Er würde schläfrig und benommen sein. Ein blitzschneller, harter Schlag, reißende Fänge - und sie würden sich an seinem Fett stärken.

Aber dann verloren sie die Geruchsspur. Vielleicht war der Bär für ein paar Stunden aus seinem Winterschlaf erwacht, streifte umher, um an Baumrinden zu nagen und Schnee zu lecken. Denn ein Tier, das seinen Winterschlaf hielt, war meist sehr durstig. Der Schnee hatte die Witterung zerstört, und die Wölfe konnten sie nicht mehr aufspüren.

Sie zogen durch das Tal, und bald mischte sich der Geruch der Menschen mit der Ausdünstung ihrer Haustiere - der Kühe und Kälber, der Pferde und Fohlen, der Hühner, Enten und Gänse.

Als einer der Wölflinge auf das nächstbeste Haus zustrebte, in dem der Förster Jan Harowice wohnte, holte ihn die alte graue Wölfin zurück, denn sie konnte den Menschengeruch nicht ertragen.

Sie zogen weiter, kamen an einer kleinen, halbverfallenen Kirche vorbei. In dem winzigen Friedhof neigten sich die Grabsteine einander zu, wie gebeugte alte Männer, die über die neuesten Klatschgeschichten schwatzten. Auf den grauen Köpfen saßen weiß schimmernde Schneeperücken.

Die Wölfe blieben stehen, als ein seltsamer Geruch in ihre Nasen drang. Es roch nach Mensch - und doch roch es irgendwie anders.

Die Wölfin hob den Kopf, und ihr klagendes, schauriges Geheul erfüllte das Tal. Das ganze Rudel begann zu heulen, und ihr Jammern drang durch das drohende Dunkel der Bäume.

Das Geheul der Wölfe zerriss die Stille des Tals, erreichte das große, alte Schloss, das sich wie eine Theaterkulisse vor dem mondhellen Himmel abzeichnete. Es war ein furchterregendes Heulen, in dem sich der qualvolle Hunger der Wölfe ausdrückte - und die wilde Entschlossenheit, diesen Hunger zu stillen.

Das Heulen blieb nicht unbemerkt. Die Männer erwachten in ihren Betten und legten schützend die Arme um ihre Frauen. »Ein harter Winter - jetzt kommen sogar schon die Wölfe.«

Und die Hunde bellten. Die Jagdhunde des Schlossherrn antworteten auf das Klagelied der Wölfe. Und mit ihrem wütenden Kläffen teilten sie den wilden Artgenossen mit, dass sie dem Menschen untertan waren und ihn bis zu ihrem letzten Blutstropfen verteidigen würden.

Die Wölfe verstummten, als sie die Antwort auf ihr herausforderndes Heulen vernahmen. Die Hunde, ihre Blutsverwandten, die Abkömmlinge jenes ersten Wolfes, der mit eingezogenem Schwanz in die Behausung eines Höhlenmenschen gekrochen war, bewachten die Rinder und Schweine und Hühner in diesem Tal. Und sie waren gute Wächter. Die Wölfe würden noch eine Weile warten müssen, bis sie ihren Hunger stillen konnten.

Die alte Wölfin nahm eine neue Geruchsspur auf - eine frische, warme Witterung. Schnell und lautlos folgten sie der Spur des Fuchses, den sie normalerweise nie jagen würden, weil sein Fleisch schlecht schmeckte.

Auch der Fuchs war hungrig - so hungrig wie die Wölfe. Er grub sich durch den Schnee, zum Eingang eines kleinen Baus, in dem ein paar Mäuse überwinterten. Unter dem Schnee war der Boden weich, denn die gefallenen Tannennadeln vieler Jahre bedeckten den Lehm.

Er schob seine spitze Schnauze in das Loch, begann mit scharfen kleinen Zähnen zu töten und zu fressen. Immer tiefer grub sich sein Kopf in die Erde, und so hörte er die Wölfe nicht herankommen, ahnte nichts von der Gefahr, und dann war er tot, als die harten Fänge der alten Wölfin ihm das Genick brachen.

Der Körper des Fuchses gab nur zwei Bissen her für jeden Wolf. Die Wölfin holte die restlichen beiden Mäuse aus dem Loch, die nicht aus ihrem Winterschlaf erwacht waren.

Die wenigen Happen hatten ihren Appetit angeregt, den Hunger nicht gestillt. Sie zogen weiter, kamen noch einmal an dem kleinen Friedhof vorbei, und wieder zitterte die Nase der Wölfin, als dieser Geruch zu ihr drang, der an die Menschen erinnerte und doch anders war. Irgendein Element fehlte in dieser Witterung, ein Element, das sie sonst stets im Menschengeruch aufspürte.

Die Wölfe hielten an, als die Alte fragend zum Friedhof hinübersah. Dann schüttelte sie den Kopf und trabte weiter.

Als das Rudel weitergezogen war, bewegte sich etwas auf dem Friedhof - etwas unter dem Schnee, unter der Erde, unterhalb eines kleinen Grabsteins. Requiescat in Pace stand auf dem Stein - Ruhe in Frieden.

Aber unter diesem Grabstein war kein Friede. Da war ein seltsamer Aufruhr - ein Aufruhr, der nicht von dieser Welt war. Primitive Gewalten kämpften mit menschlichen Zwängen, und die stummen Würmer in der Erde rings um das Grab krochen davon, als könnten nicht einmal sie, die vom Tod lebten, ertragen, was an diesem Ort des Todes geschah.

Wenn die Wölfe beim Friedhof geblieben wären, sie hätten seltsame Dinge gesehen. Sie hätten gesehen, wie der Grabstein erzitterte, wie er sich zu erheben schien.

Und dann hätten sie eine dunkle Gestalt gesehen, die ins Mondlicht emportauchte. Und ihre Nasen hätten erkannt, dass der Geruch, der dem Menschengeruch verwandt war, sich verstärkte.

Aber die Wölfe waren weitergezogen, durchstreiften die Wälder in jener kalten Nacht, und kein Auge erblickte die dunkle Gestalt, die sich aufrichtete und streckte, die Gliedmaßen bog und ein paar unsichere Schritte tat.

Nur ein einziges Augenpaar befand sich im Friedhof - die Augen des Wesens, das langsam umherging, glühende Augen, von innerem Feuer erfüllt. Die Augen glitten hinab zu der dunklen Kleidung, eine Hand strich über rauen Stoff. Und es war, als hätten die Augen die Hand nie gesehen. Das entsprach bis zu einem gewissen Grad der Wahrheit.

Das Wesen stand im Friedhof und sah sich um, nahm jede Einzelheit seiner Umgebung in sich auf. Hierher würde es in angemessener Zeit zurückkehren müssen.

Ein sanftes, freundliches Gesicht zeigte ein Lächeln, das weder sanft noch freundlich war. Und dann begann das Wesen sich über den Schnee zu bewegen, so leichtfüßig, dass die glatte weiße Fläche kaum zerstört wurde.

Die Grabsteine warfen scharf gezeichnete Schatten in den Schnee. Aber kein Schatten folgte der dunklen Gestalt, die selbst schattengleich war. Sie verlor sich in der Finsternis des alten Waldes, blickte sich suchend um, schlug dann den Weg ein, den sie gesucht hatte...

 

Das Heulen der Wölfe hatte Jan Harowice, den Förster, geweckt. Er rüttelte seine kleine dicke Frau wach. »Wölfe«, sagte er. »Hast du sie gehört?«

»Da sind keine Wölfe«, antwortete sie. »Du weißt doch, dass seit zehn Jahren kein Wolf mehr in unserem Wald war. Du hast den letzten getötet. Erinnerst du dich nicht?«

»Ich weiß, was ich gehört habe«, sagte er eigensinnig.

Er schwang die Beine über den Bettrand, biss die Zähne zusammen, als eisige Kälte ihn einhüllte. Das Feuer in dem großen Eisenherd, der die Hälfte des Wohnraums einnahm, war beinah ausgegangen.

Rasch schlüpfte Harowice in seine Kleider und warf Holz auf die Asche im Herd. Dann stellte er den Kaffeetopf auf das auflodernde Feuer, damit er bei seiner Rückkehr etwas Heißes zu trinken hatte.

Er holte sein Gewehr aus dem Eckschrank. »Ich muss nach den Schweinen sehen. Wenn du mir nur erlauben würdest, sie näher beim Haus zu halten...«

Er sprach nicht weiter. Wegen der Schweine hatte er sich schon oft genug mit seiner Frau gestritten. Sie konnte den Gestank nicht ertragen. Deshalb hatte er die Tiere in einem Stall untergebracht, der eine Viertelmeile vom Haus entfernt lag. Es war ein festgefügter Stall mit einer massiven Tür.

Aber er kannte die Stärke der Wolfsfänge, und er wusste auch, wie schlau diese Biester waren. Ein ledernes Seil verschloss die Tür, und ein Wolf war klug genug, um zu wissen, dass dieses Seil der Schlüssel zu dem Fleisch war, das hinter der Stalltür wartete. Er konnte das Seil durchbeißen und die Tür öffnen.

Das Seil war stark genug, um die Schweine einzusperren. Aber würde es die Wölfe aussperren können?

Langsam stapfte Harowice durch den Schnee. Als er sich dem Stall näherte, hörten die Schweine seine Schritte. Wenn er zu ihnen kam, pflegte er ihnen Futter zu bringen. Sie begannen hungrig zu grunzen - doch sie grunzten vergeblich.

Der Förster schichtete schwere Baumstämme, die er im Herbst gefällt hatte, vor die Tür, verbarrikadierte sie so, dass nicht einmal der stärkste und klügste Wolf sie aufbrechen konnte. Es bereitete ihm fast Vergnügen, sich die Enttäuschung der Wölfe auszumalen, wenn sie das Grunzen der Schweine hörten, ihren verlockenden Geruch witterten und den Hunger doch nicht stillen konnten.

Er nahm sich vor, am Morgen Gift auszustreuen. Wenn sie so hungrig waren, dass sie in seinen Wald gekommen waren, würden sie gierig die Köder verschlingen. Und er würde das Kopfgeld kassieren, das auf die Wölfe ausgeschrieben war. Und schöne Wolfsfelle ließen sich gut verkaufen. Jeder Mann in dieser Gegend, der etwas auf sich hielt, pflegte Wolfspelzkappen zu tragen. Vielleicht ist es doch ein Segen, dass die Wölfe gekommen sind, dachte er, als er den Stall ein letztes Mal inspizierte. Seine Frau wünschte sich doch schon so lange dieses blaue Kleid...

Er hatte sich umgedreht und wollte gerade zu seiner Hütte zurückgehen, als er den Mann im Schatten der Bäume stehen sah.

»He!«, rief er. »Haben Sie die Wölfe nicht gehört? Wissen Sie denn nicht, wie gefährlich es ist, sich hier in der Nacht herumzutreiben?« Langsam ging er auf die Gestalt zu. »Kommen Sie lieber mit mir in mein Haus. Bei mir sind Sie sicher, denn ich habe ein Gewehr. Sie können bis zum Sonnenaufgang an meinem Feuer sitzen, und ich wärme Ihnen ein Gulasch auf... Was ist denn eigentlich los mit Ihnen? Was machen Sie hier - mitten in der Nacht und ganz allein? Haben Sie sich verirrt?«

Ein Landstreicher, dachte Harowice, der Mann muss ein Landstreicher sein. Er rümpfte die Nase, als er den Gestank wahrnahm, der von der seltsamen Gestalt ausging. Jetzt sah er, dass es ein alter Mann war, der einen breitrandigen Hut trug. Und doch - noch nie hatte sich ein Landstreicher mitten im eisigen Winter im Wald verirrt. Um diese Zeit pflegten sie sich in den Städten zu verkriechen, in Kellern und verfallenen Häusern.

»Ja«, antwortete der Mann, »ich habe mich verirrt.« Er hatte eine heisere, krächzende Stimme, und sie klang, als hätte er lange nicht mehr gesprochen.

Oh, Gott, wie der Mensch stinkt, dachte Harowice. Seine Frau würde nicht gerade begeistert sein. Aber was sollte er tun? Kein guter Christ konnte einen Mitmenschen dieser bitteren Kälte und den Wölfen aussetzen.

»Kommen Sie mit mir«, sagte er.

Der Mann starrte ihn an, und zum ersten Mal sah Harowice, wie die Augen des Fremden glühten. Und es war nicht das Licht des Mondes, das sich in diesen Augen spiegelte.

»Wer - sind Sie?«, stammelte er. »Was...«

Er sagte nichts mehr, denn als er in die Augen des Alten starrte, kroch ein sonderbares Gefühl der Betäubung in ihm hoch.

Er versuchte sich abzuwenden und davonzulaufen, die Augen zu verschließen vor dem seltsamen glühenden Blick des Fremden. Aber kein einziger Muskel seines Körpers gehorchte seinem Willen.

Und bald war auch sein Wille dem alten Mann unterworfen. Verrückte Gedanken schossen ihm durch den Kopf, dunkle Gedanken, furchterregende Gedanken.

Sein Kopf sank nach hinten, das Mondlicht fiel auf seinen Hals, auf die pulsierende Halsschlagader.

Langsam kam der dunkelgekleidete Fremde auf ihn zu. Harowice schloss die Augen. Die letzte Erinnerung, die er aus seinem Leben mit hinübernahm, war das Lächeln des Alten. Ein Lächeln, wie er es nie zuvor gesehen hatte.

Und dann lag Stille über dem Wald. Nichts war zu hören, außer einem leise schlürfenden, saugenden Geräusch.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

»Mein Jan!«, jammerte die Witwe. »Und ich dachte, der Wolf, der ihn töten könnte, müsste erst geboren werden.«

»Sie müssen ihn überrumpelt haben«, meinte Herr Puskos, der Bürgermeister. »Sie sagten doch, er sei gerade erst aufgewacht.«

»Als die Wölfe heulten, stand er auf, zog sich an und ging hinaus.«

»Vielleicht war er noch nicht richtig wach«, sagte der Bürgermeister.

»Ja«, stimmte der Polizei-Inspektor zu, der den Fall ziemlich langweilig fand. »Zweifellos war er nicht so reaktionsschnell wie sonst. Kein Mann ist auf der Höhe seiner körperlichen und geistigen Kräfte, wenn er mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wird. Ich bin auch schon oft aus dem Bett geholt worden. Aber wenn ich keinen Kaffee trinke... Hat Ihr Mann Kaffee getrunken, bevor er hinausgegangen ist?«

Die Witwe schüttelte unglücklich den Kopf. Wenn sie doch auch aufgestanden wäre, dachte sie, und Jan einen guten, heißen Kaffee gemacht hätte...

»Er hat den Kaffeetopf auf den Herd gestellt. Ich glaube, er wollte was Warmes trinken, wenn er zurückkam...«

»Vielleicht Kaffee mit Sliwowitz?« Der Bürgermeister war ein kleiner, zarter Mann mit dunklen Augen, die wie Pflaumen aussahen, aus denen der Sliwowitz gebrannt wurde. »Das ist ein gutes, belebendes Getränk.«

»Mein Jan hat keinen Alkohol getrunken«, erwiderte die Witwe entrüstet. Sie ließ nichts auf die Würde des Toten kommen, der sich in ihren Augen bereits zu einem Heiligen transformiert hatte. Sie hatte ihm sogar schon die angebliche Affäre mit der Tochter des zweiten Wildhüters vergeben.

»Ja, natürlich«, sagte der Bürgermeister hastig. »Ich verstehe vollkommen. Ein charakterstarker Mann.«

Er verschwieg, dass er erst vor einem Monat neben Jan Harowice in der Dorf kneipe gesessen hatte. Und dabei hatte der Förster recht kräftig dem Sliwowitz zugesprochen. Aber das war natürlich an dem Wochenende gewesen, als Jans Frau ihre Verwandten besucht hatte.

Am Morgen war sie aus dem Haus gegangen, um nach ihrem Mann zu suchen. Und sie hatte ihn gefunden, in fünfzig Stücke zerrissen, in weitem Umkreis über den Waldboden verteilt. Bis auf die Gebeine war nicht mehr viel übrig gewesen. Es gab keinen Zweifel, wie der Mann gestorben war. Zwischen den Knochen, die nun im dörflichen Kühlhaus ruhten, hatte man deutliche Wolfsspuren entdeckt.

Er seufzte tief auf und dachte an den Bericht, den der Polizei-Inspektor verfassen würde und den er lesen und unterzeichnen musste. Er selbst musste auch einen Bericht schreiben, der ein lebhaftes Echo bei der Provinzregierung finden würde.

»Wenigstens habe ich einen kleinen Trost für Sie, Frau«, sagte er. »Herzog, der Erste Wildhüter, ist mit seinen Hunden den Wölfen auf der Spur. Er wird sie erlegen und Jan rächen.«

Die Witwe brach erneut in Tränen aus, sprang von ihrem Stuhl auf und rannte zur Tür des Bürgermeisteramtes. »Rache! Wird mir diese Rache meinen Jan wiederbringen?«

Herzogs Rachefeldzug war zum Scheitern verurteilt. Die Wölfe waren verschwunden, ihre Spuren führten nach Norden.

Sie sind schnell unterwegs, dachte Herzog, als er auf die Spuren im Schnee blickte. Fast, als hätten sie Angst...

Damit hatte er Recht.

Die alte Wölfin hatte den Geruch des Fremden gewittert, und sie hatte in diesem Geruch ein Element des Leblosen erkannt. Mit äußerster Vorsicht hatte sie das Rudel zu der Stelle geführt, wo der Tote lag. Und mit noch größerer Vorsicht hatten sie sich der Leiche genähert, obwohl ihr Instinkt ihnen sagte, dass der Mann wirklich tot war und keine Gefahr für sie darstellte.

Und ein Geruch hing an dem Toten, der nichts mit Menschen gemein hatte, der eine lang vergessene Erinnerung in der alten Wölfin wachrief. Doch dann besiegte der Hunger ihr Misstrauen und ihre Erinnerungen. Sie schnellte vor, ihre Fänge gruben sich in den Arm des Mannes. Dann sprang sie wieder zurück. Der Mann bewegte sich nicht. Zweimal wiederholte sie diesen Angriff, und als der Mann sich noch immer nicht bewegte, konnte sie sicher sein, dass er wirklich tot war. Das Rudel begann mit seiner grausigen Mahlzeit.

Danach verließ sie sich auf ihren Instinkt, der sie noch nie in die Irre geleitet hatte, und sie führte ihr Rudel zurück nach Norden. Rasch trabten sie dahin. Sie fürchteten sich nicht, aber sie wussten, dass es etwas zu fürchten gab, etwas, das sich ihrem Begriffsvermögen entzog.

 

Der Frühling kam zeitig in diesem Jahr, und eine Art von Wahnsinn schien die Tiere des Tals zu erfassen. Ein anderer Förster wurde tot aufgefunden, mit nackten Gebeinen, von denen das Fleisch gerissen war. Diesmal war es ein Bär, dessen Spuren die Überreste der Leiche umringten, ein Bär, dessen vom Winterschlaf geschwächter Körper Stärkung gebraucht hatte.

Die Jäger nahmen seine Spur auf, folgten ihr, erlegten das Tier und brachten es im Triumphzug nach Tzgarnic, wo der Bürgermeister tief aufseufzte bei dem Gedanken an neue Berichte, die geschrieben und gelesen werden mussten.

Eine Horde von Wildschweinen trug die Schuld am nächsten Todesfall. Sie hatten einen Kohlenbrenner in Stücke gerissen und ebenso wie der Bär deutliche Spuren hinterlassen.

Ein Luchs durchbiss die Kehle eines Hausierers. Wie der Bär und die Wildschweine wurde er erlegt. Niemand konnte sich erinnern, dass ein Luchs je zuvor einen Menschen getötet hatte. Aber die Spuren wurden neben der Leiche gefunden, und das war Beweis genug für die verängstigten Dorfbewohner.

Und eines Nachts kam der kleine Tornas nicht nach Hause, ein geistig zurückgebliebener Zwölfjähriger. Er spielte oft im Wald, und seine Eltern vermissten ihn nicht an jenem Abend, denn er hatte kein Zeitgefühl und kam stets heim, wann es ihm beliebte.

Aber schließlich machten sich seine Eltern doch Sorgen, gingen in den Wald und riefen nach ihm. Er gab keine Antwort. Wenn sie sonst nach ihm gerufen hatten, war er stets gekommen...

Hunde hatten ihn getötet - ein kleines Rudel streunender Hunde, das den Bezirk von Tzgarnic seit dem Frühlingsbeginn terrorisierte. Wahrscheinlich handelte es sich um herrenlose Hunde, die aus der großen Stadt gekommen waren, magere Biester, hungrig und schlau wie die Wölfe. Sie hatten Ziegen erlegt und Schweine, sogar Kälber. Sie hatten schon großen Schaden angerichtet, aber nie zuvor hatten sie ein Kind getötet. Die Spuren ihrer Zähne und ihrer Pfoten hatten sie entlarvt.

Und sie wurden erlegt. Das ganze Dorf rottete sich zusammen, um sie zu jagen und zu vernichten.

Und doch war es Frühling - die Zeit der Liebe.

Das Mädchen hatte sich gerade von seinem Geliebten verabschiedet, als der Mond am Abendhimmel aufging. Die beiden trennten sich, sie hatten keine Angst. Er war der Sohn eines Försters, sie die Tochter eines Wildhüters.

Der Körper des Mädchens war noch warm von den Zärtlichkeiten des Geliebten, als es durch den Wald nach Hause lief. Und die Erinnerung an ihn ließ ihr Herz schneller schlagen - die Erinnerung an ihn und an sein Versprechen, sich am nächsten Abend wieder mit ihr zu treffen. Sie überlegte, welche Lüge sie ihren Eltern erzählen sollte, damit sie Weggehen durfte, und sie wusste nicht, dass die Eltern in ihrer Jugend die gleichen Lügen und Ausreden gebraucht hatten, wenn sie den wachsamen Augen der Großeltern entfliehen wollten.

Da trat eine dunkle Gestalt zwischen den Baumstämmen hervor und versperrte ihr den Weg. Angst stieg in ihr auf. Hatte er sie beobachtet? Würde er ihren Eltern sagen, dass sie einen Liebsten hatte?

»Wer sind Sie?«, fragte sie. »Was wollen Sie?«

Die dunkle Gestalt gab keine Antwort. Aber sie sah, dass die Augen des Mannes zu glühen begannen, und sie fühlte, wie ihr Wille sich einem fremden Willen unterwarf, ging widerstrebend auf den Fremden zu, dem Tod entgegen, der sie

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Wilfred Glassford McNeilly/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Pixabay.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Dr. Eva Malsch und Christian Dörge (OT: Blood Of My Blood).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 19.06.2019
ISBN: 978-3-7487-0764-6

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /