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Leseprobe

 

 

 

 

VICTOR SAMUELS

 

 

ZU GAST BEI DRACULA

- 13 SHADOWS, Band 31 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

ZU GAST BEI DRACULA 

 

Das Buch

Das Schloss stand hoch im Gebirge über einer felsigen Schlucht. Viele Menschen hatten zwischen seinen Mauern gelebt, und viele waren gestorben. Jetzt wohnte niemand mehr dort. Seit vierzig Jahren war es verödet und leer geblieben, und in der ganzen Welt interessierte sich kein lebendes Wesen dafür, ob es bestehen blieb oder zerfiel.

Kein lebendes Wesen...

 

ZU GAST BEI DRACULA von Victor Samuels (= Victor J. Baris) wurde in Deutschland erstmals im Jahre 1976 als VAMPIR-HORROR-ROMAN Nr. 348 veröffentlicht.

ZU GAST BEI DRACULA erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  ZU GAST BEI DRACULA

 

 

 

  Das Schloss stand hoch im Gebirge über einer felsigen Schlucht. Viele Menschen hatten zwischen seinen Mauern gelebt, und viele waren gestorben. Jetzt wohnte niemand mehr dort. Seit vierzig Jahren war es verödet und leer geblieben, und in der ganzen Welt interessierte sich kein lebendes Wesen dafür, ob es bestehen blieb oder zerfiel.

Kein lebendes Wesen...

 

*

 

 

VICTORIA HAMILTONS TAGEBUCH

 

 

3. Oktober

Heute sind wir zu der letzten Etappe einer anscheinend endlosen Reise angetreten: Beinahe dreitausend Meilen von der Westküste nach New York, dann über den Atlantik, anschließend tausend Meilen quer durch Europa nach Budapest, und noch immer haben wir eine beachtliche Strecke vor uns, bis wir endlich an unserem Bestimmungsort sind. Trotz meiner Abneigung gegen das Fliegen würde ich, wenn ich es noch einmal tun müsste, Johns Rat befolgen und ein Flugzeug nehmen.

Der gute John. Er ist bestimmt einer der angenehmsten Ehemänner, die man sich vorstellen kann. Eben hat er mich angesehen und beim Schreiben ertappt. Er meinte: »Du hattest also wirklich die Absicht, ein Tagebuch zu führen.«

»Wenn du ein Tagebuch hast«, sagte ich, »ist es nur recht und billig, dass ich auch eins habe. Bekanntlich hat jedes Ding zwei Seiten, und diesem Tatbestand sollte man Rechnung tragen.«

Er lächelte verschmitzt. Vermutlich amüsierte er sich über die Vorstellung, dass meine Aufzeichnungen von wissenschaftlichem Wert sein könnten. Er behielt seine Ansicht für sich.

»Mir bleibt nichts anderes übrig«, sagte er. »Immerhin befinden wir uns nicht auf einer Vergnügungsreise.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte Carolyn, beugte sich vor und spähte aus dem schmutzigen Eisenbahnfenster. Draußen auf dem Perron der kleinen Station, durch die wir krochen, starrten uns einige Männer neugierig an.

»Richtig finstere Typen! Ob das Slowaken sind?«

»Ich habe eher den Eindruck, dass sie Hunnen sind«, sagte John abwesend und wandte sich wieder seiner Zeitschrift zu. »Vielleicht sind ihre Väter von Attilas Armee übriggeblieben.«

»Durchaus möglich«, erwiderte Carolyn. »Die Augen dieser Leute jagen mir Angst ein.« Sie schüttelte sich, als hätte sie plötzlich eine Gänsehaut, und lachte. Für Carolyn ist diese Expedition nicht viel mehr als eine Vergnügungsreise, im Gegensatz zu John, der beruflich hier ist. Er ist Mitglied der International Geophysical Society und hat sich, obwohl er erst neunundzwanzig Jahre alt ist, in Fachkreisen schon einen beachtlichen Namen erworben. Professor Barton in Tech hat mir mitgeteilt, dass John auf dem Gebiet der Erdbebenerforschung als Kapazität gilt.

Zu meinem Bedauern verstehe ich von seiner Arbeit so gut wie nichts.

 

Ich habe keinen wissenschaftlichen Verstand. John hat oft und geduldig versucht, mich in die Materie einzuführen, aber für mich bleibt sie undurchsichtig wie ein Morast. Jedenfalls scheinen Erdbeben zum Teil mit Bewegungen des Grundwassers zusammenzuhängen. Experten der I. G. S. haben weltweit Erdbeben erforscht, und eine Reihe von Erschütterungen in den Karpaten haben Rumänien ins Spiel gebracht.

Deswegen ist John nun unterwegs nach Rumänien, und da ich mit ihm verheiratet bin, hatte ich natürlich das Gefühl, an seine Seite zu gehören. Im Augenblick wäre ich allerdings lieber in unserem Haus in Kalifornien. Carolyn ist meine kleine Schwester (ich sollte sie nicht klein nennen, sie hasst diesen Ausdruck, überdies ist sie nur drei Jahre jünger als ich, nämlich zwanzig), und sie hat sich uns angeschlossen, weil sie das Leben hinter dem Eisernen Vorhang kennenlernen wollte.

»Dazu wirst du nicht viel Gelegenheit haben«, hatte John zu bedenken gegeben. »Die Gegend, in die wir wollen, ist ziemlich einsam.«

»Das macht nichts. Ich bin entschlossen, alles aufregend zu finden«, hatte sie erwidert, und John hatte nachgegeben. Die Vereinbarung, die zwischen Rumänien und der Society getroffen worden war, erlaubte John, seine Frau und eine Assistentin mitzubringen, und als Carolyn davon erfuhr, hatte sie sich flugs zu seiner Assistentin ernannt. Dadurch hatte John natürlich mehr Arbeit, als wenn eine richtige Assistentin uns begleitet hätte, denn Carolyn ist bei Johns Tätigkeit von geringem Nutzen. Aber sie hat darauf bestanden, sich uns anzuschließen, und mir gefiel die Vorstellung, ein wenig Gesellschaft zu haben. Daher begleitet uns Carolyn.

Ihr macht die Reise erheblich mehr Freude als mir. Während ich allmählich unleidlich werde, weil wir uns allzu langsam fortbewegen, belagert Carolyn beinahe Tag und Nacht das Fenster und findet alles bemerkenswert oder sogar überwältigend. Ich habe den Eindruck, dass nicht einmal die Zigeunertypen an den Bahnhöfen, die wir passieren, ihr eigentlich missfallen.

 

 

 

6. Oktober 

Ich bin völlig erschöpft und kann mir nicht vorstellen, dass es Menschen gibt, die ständig reisen und noch Freude daran haben. Wahrscheinlich verbringen sie nicht ganze Tage in ratternden alten Bahnwaggons und klapprigen Bussen. Wir sind jetzt in einem Bus, der außer dem Namen nicht viel mit den modernen Fahrzeugen gemein hat, an die wir in den Vereinigten Staaten gewöhnt sind. Unser Bus ist so alt, dass ich mich wundere, wie er überhaupt die steilen Straßen überwindet. Einige überwindet er nur mit Mühe, und Carolyn konnte sich eine spitze Bemerkung nicht verkneifen.

»Zu Fuß wäre ich schneller auf dem Berg«, flüsterte sie.

»Aber nicht mit Gepäck«, wandte ich ein. »Übrigens hat John mich gestern Abend darauf aufmerksam gemacht, dass wir wahrscheinlich einen Teil der Reise auf einem Pferdewagen zurücklegen werden. In diesem Land bestehen immer noch Transportschwierigkeiten.«

Ich flüsterte ebenfalls, denn der Bus ist vollgestopft mit schwarzhaarigen, dunkeläugigen Bauern, außerdem befinden wir uns in der Gesellschaft eines finsteren uniformierten Gentlemans, der den Auftrag hat, uns zu unserem Bestimmungsort zu bringen.

Und zu welch einem Bestimmungsort? Schloss Dracula! Der Gedanke, monatelang in einem Schloss zu wohnen, hat etwas Verführerisches, doch nach allem, was ich mir aus Bruchstücken der Unterhaltung zusammenreimen konnte, ist dieses Schloss noch ungewöhnlicher als Schlösser im Allgemeinen zu sein pflegen.

Vorgestern Abend sind wir an unserer letzten Bahnstation angekommen – Bistrita. Dort wurden wir von unserem militärischen Begleiter empfangen. Er heißt Skinsky. Ich bezweifle, dass ich den Namen korrekt geschrieben habe, aber so hört er sich an, und der Mensch ist so unfreundlich, dass ich zögere, mir von ihm seinen Namen buchstabieren zu lassen.

»Morgen fährt ein Bus nach Bukowina«, erläuterte er uns auf dem Weg zum Hotel. Er spricht fließend Englisch. »Ich habe für uns Plätze reservieren lassen. Wir steigen am Borgo-Pass aus.«

Er wandte sich an John, wobei er anscheinend voraussetzte, dass John mit diesen Ortsbezeichnungen etwas anfangen könne. Er hatte recht. John hat einen erheblichen Teil seiner freien Zeit über rumänischen Landkarten verbracht.

»Dann sind wir also bereits in den Karpaten«, meinte er.

Skinsky nickte. Er war nicht übertrieben gesprächig. Da er sich weder für Carolyn noch für mich zu interessieren schien, betrachtete ich das Dorf, durch das wir fuhren. Wir saßen in einem Taxi – aber was für ein Taxi! Zu meiner Überraschung war es ein Ford, doch den Jahrgang konnte ich nicht einmal raten. Bestimmt stammte der Wagen aus der Epoche vor dem Krieg.

Als wäre es mir eben erst eingefallen, drehte ich mich zu Skinsky um und fragte: »Wir werden doch in einem Haus unterkommen, nicht wahr?«

Er lächelte gönnerhaft. »Meine Regierung stellt Ihnen das Schloss Dracula zur Verfügung. Ich hoffe, es ist Ihnen geräumig genug.«

»Wenn nicht zu groß«, sagte John und runzelte die Stirn. »Alle Leute glauben, Amerikaner könnten nichts groß genug kriegen, aber ein Schloss ist doch erheblich mehr, als wir beanspruchen.«

»Es gibt dort kein anderes Gebäude, das wir Ihnen anbieten können«, sagte Skinsky. »Dieser Landesteil ist sehr dünn besiedelt.«

»Aber wenn das Schloss bewohnt ist...«, sagte John.

»Das Schloss ist unbewohnt. Es gehört seit vielen Jahren der Regierung, und soviel ich weiß, ist es in annehmbarem Zustand.«

John war mit dieser Auskunft zufrieden, aber Carolyn nicht. Mir war aufgefallen, dass sie Skinsky nachdenklich ansah, als er den Namen des Schlosses nannte. Sie benutzte eine Gesprächspause dazu, sich an Skinsky zu wenden.

»Wie, haben Sie gesagt, heißt das Schloss?«

Er lächelte spöttisch. »Dracula. Haben Sie davon schon gehört?«

»Ein berühmter Name«, sagte sie. »Er ist mir aus Büchern und Filmen geläufig – aus nicht sehr angenehmen Büchern und Filmen.«

»Dracula!«, rief ich. »Er war ein Werwolf oder etwas Ähnliches...«

»Ein Vampir«, behauptete Carolyn.

»Was für ein Zufall«, sagte ich unsicher. »Der Name kommt doch bestimmt nicht häufig vor.«

»Ob es wirklich nur eine zufällige Namensgleichheit ist?«, meinte Carolyn.

Skinsky wurde immer heiterer. Er sprach mit uns, als hätte er eine Gruppe nicht sehr aufgeweckter Schüler vor sich.

»Graf Dracula war ein Adliger aus der Walachei und hat im fünfzehnten Jahrhundert gelebt«, sagte er. »Er war ein bedeutender Krieger und hat mehrere Feldzüge gegen die Türken geführt, aber sein Privatleben war ein wenig – freizügig, nicht anders als das anderer sogenannter Adliger.

Wer kein Adliger war, galt mehr oder weniger als Sklave, und diese Verhältnisse haben zu Perversionen der Oberklasse geradezu eingeladen. Seine Untertanen haben Dracula gehasst und gefürchtet; für sie war er ein Ungeheuer. Als ein gewisser Bram Stoker, eine Art Schriftsteller, in einem alten Buch die Berichte über Dracula las, hat er das Wort Ungeheuer allzu buchstäblich genommen und einen Roman verfasst, in den er Mythen und Phantasien verwoben hat. Damit hat er einen berühmten Namen verunglimpft, obwohl er ihn ein wenig verändert hat, nämlich in D-R-A-C-U-L-A.« Er blickte mich und Carolyn scharf an. »Ich hoffe sehr, dass die Geschichten dieses Stokers Sie nicht beunruhigen.«

John hatte scheinbar nicht zugehört, aber nun schaltete er sich ein. »Meine Assistentin und ich sind Wissenschaftler, und meine Frau lässt sich von Spukerzählungen nicht verwirren.«

Skinsky nickte und betrachtete mich kritisch. Ich hatte den Eindruck, dass John ihn nicht hatte überzeugen können. Sein Misstrauen war begründet. Der Gedanke, in einem Schloss zu leben, das zum Mittelpunkt einer Schauergeschichte geworden war, machte mich zunächst nervös. Mittlerweile ist es mir gelungen, diesen Gedanken zu verdrängen, und jetzt bin ich neugierig auf das Schloss. Ich bin wirklich neugierig!

Unterdessen waren wir vor dem Hotel angelangt, in dem wir die Nacht verbringen sollten. Das Hotel war altmodisch und hatte einen gewissen romantischen Reiz, für den ich nach der anstrengenden Reise dankbar war. Eine fröhliche dicke Frau und ein fröhlicher dicker Mann empfingen uns. Sie benahmen sich, als freuten sie sich, uns zu sehen. In diesem Winkel der Welt sind Reisende eine Seltenheit. Wir erhielten saubere, bequeme Zimmer.

Unser Begleiter war beim Abendessen nicht bei uns. Wieder gab es Paprikahähnchen, aber sie wurden nicht so genannt. Jetzt brachte Carolyn das Schloss Dracula zur Sprache.

»Ist das nicht komisch«, sagte sie und biss in das Geflügel mit einem Appetit, der mir längst abhandengekommen war, »ich habe immer gedacht, die Dracula-Geschichten wären reine Erfindung. In meinen wildesten Träumen hätte ich nicht erwartet, dass wir in Draculas höchsteigenem Schloss logieren würden.«

Ich wollte etwas erwidern, doch die Frau, die uns begrüßt hatte und nun bei Tisch bediente, entschied sich, ausgerechnet diesen Augenblick dazu zu benutzen, eine Porzellanplatte auf den Boden zu werfen. Die Platte zersplitterte mit Getöse und schickte Fragmente und gekochte Karotten in sämtliche Winkel des Speisesaals. Erhebliche Verwirrung entstand, der Ehemann der Frau erschien auf der Bildfläche, und eine aufgeregte Auseinandersetzung, von der ich kein Wort verstand, war die Folge. Vermutlich schimpfte der Mann mit der Frau, weil sie so ungeschickt war. Beide schauten immer wieder in unsere Richtung. Sie redeten über uns, und einmal hörte ich den Namen Dracula. Ich nahm an, dass die Frau dem Mann berichtete, wohin wir wollten, woraufhin er ihr befahl, den Mund zu halten.

Als sie später unseren Nachtisch brachte, einen gelben Pudding mit roter Soße, erkundigte ich mich, ob sie etwas über Schloss Dracula wüsste. Sie benahm sich seltsam. Sie bekreuzigte sich, obwohl sie doch in einem kommunistischen Land lebte, und beteuerte, der englischen Sprache nur unvollkommen mächtig zu sein. Bis zu diesem Augenblick hatte sie Englisch gesprochen, als hätte sie es in Oxford gelernt.

Als sie fort war, sagte ich zu John: »Das gefällt mir nicht. Ich könnte schwören, dass die Frau erschrak, als Carolyn das Schloss erwähnte.«

John warf mir einen ungeduldigen Blick zu. Sogar er war von der langen Reise erschöpft und ein bisschen gereizt.

»Du darfst nicht vergessen, dass der Graf in dieser Gegend den Ruf genossen hat, ein Ungeheuer zu sein. Die alten Geschichten sind bei den Bauern von Generation zu Generation weitergegeben worden, und mit der Zeit hat man sie bis zur Unkenntlichkeit ausgeschmückt. Wahrscheinlich ist sein Name heute ein Synonym für den Teufel.«

Er legte die Gabel aus der Hand und wurde ernst und sachlich.

»Victoria«, sagte er streng, »du hast doch wohl nicht die Absicht, auf diese Angelegenheit abergläubisch zu reagieren? Unter diesen Umständen müssten wir nämlich unverzüglich deine Heimreise einleiten.«

Ich lachte und beteuerte, lediglich neugierig zu sein. Gespenstergeschichten könnten mich nicht verwirren. Er lachte mit, und wir schweiften von dem heiklen Thema ab.

Danach konnte ich ihm einfach nicht mitteilen, dass die Frau am Morgen, ehe wir weiterfuhren, zu mir kam und mir dringend nahelegte, unsere Reise nicht fortzusetzen. Plötzlich sprach sie wieder fließend Englisch. Sie hatte große Angst. Über ihr Gesicht liefen Tränen.

»Bitte, Lady, reisen Sie nicht dorthin«, sagte sie schluchzend und drückte mir beide Hände.

»Aber ich muss!«, sagte ich und versuchte angesichts dieses Gefühlsausbruchs die Ruhe zu bewahren. »Mein Mann hat einen wichtigen Auftrag auszuführen, und mein Platz ist an seiner Seite.«

»Aber Sie wissen ja nicht, was für ein Gebäude das ist, zu dem Sie wollen!«

Ich lächelte und rang mich zu der Erkenntnis durch, dass John sich nicht geirrt hatte. Die Erzählungen über den alten Grafen hatten in der Tat auf diese einfachen Menschen eine verheerende Wirkung ausgeübt.

Als die Frau begriff, dass ihr Zureden keinen Erfolg hatte, nestelte sie ein schlichtes Kreuz an einer Kette vom Hals und bestand darauf, es mir umzuhängen. Ich wusste, dass John mir wegen meines Aberglaubens Vorwürfe machen würde, aber ich fühlte mich mit dem Kreuz wohler und revanchierte mich bei der Frau mit einem großzügigen Trinkgeld und dankte ihr herzlich, ehe ich mich von ihr verabschiedete.

Gestern Mittag sind wir mit dem antiken Bus aufgebrochen. Eine Menge Leute aus dem Dorf hatten sich versammelt, um unsere Abreise mitzuerleben, weil Fremde, so vermutete ich, hier wirklich alles andere als alltäglich waren. Einer der Männer bekreuzigte sich und deutete mit zwei Fingern auf uns. Als wir unterwegs waren, erkundigte ich mich bei Skinsky, was es mit dieser Geste auf sich habe.

»Sie schützt gegen den bösen Blick«, erklärte er und lächelte ironisch.

Ich stellte keine weiteren Fragen. Ich finde Skinsky unsympathisch. Hoffentlich bleibt er nicht bei uns im Schloss. Meint die Regierung, uns bewachen lassen zu müssen? Ich werde nervös, wenn mir ständig jemand über die Schulter blickt.

Wir sind mit Schneckengeschwindigkeit den Tag und die Nacht hindurch gefahren und haben nur einige Male vor ländlichen Gasthäusern angehalten. Mittlerweile ist es schon wieder beinahe Abend, die Sonne geht bald unter, und wir befinden uns nach wie vor in dem ratternden Bus. Einige Male wollte ich von Skinsky wissen, wann wir endlich den Borgo-Pass erreichen würden, und jedes Mal sagte er nur: »Bald.«

Ich habe in der vergangenen Nacht kaum geschlafen. Wenn wir im Schloss sind, so fürchte ich, werde ich eine volle Woche im Bett verbringen, und es wird mir gleichgültig sein, ob eine ganze Legion Werwölfe und Vampire und das Frankenstein-Monstrum in den Korridoren ihr Unwesen treiben.

Ich finde die Landschaft nicht mehr schön. Ich habe sie satt.

 

*

 

JOHN HAMILTONS JOURNAL

 

 

7. Oktober

Endlich sind wir da. Die Reise war eine Tortur, und Victoria sieht man die Strapazen deutlich an. Wahrscheinlich ergeht es mir nicht anders. Carolyn ist frisch und munter wie immer. Sie ist zwar reichlich mager, aber sie hat eine erstaunliche Energie.

Nach Einbruch der Dunkelheit hat unser Fahrer aus seinem Vehikel herausgeholt, was an Kraft in ihm steckte. Wir wurden durchgeschüttelt wie ein Schiff auf einer stürmischen See. Ich wusste, dass wir uns der Wasserscheide näherten. Die Menschen im Bus wurden allmählich nervös. Einige waren neugierig, andere wirkten verschüchtert. Der Grund für dieses Verhalten dürfte in den albernen Sagen um den walachischen Grafen Dracula zu suchen sein. Ich weiß, dass über dieses Thema einige Bücher geschrieben worden sind, die ich nie gelesen habe, auch die Filme, die nach diesen Büchern gefertigt wurden, habe ich nicht gesehen. Mit derlei Dingen kann ich nichts anfangen. Ich bin zu sehr Wissenschaftler, um mich für Ausgeburten der Phantasie zu interessieren.

Endlich hielt der Bus an, und Skinsky bedeutete uns, rasch auszusteigen. Der Fahrer ließ den Motor laufen und redete in rasend schnellem Rumänisch auf

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Victor J. Baris/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Unsplash.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: K. H. Poppe (OT: The Vampire Woman).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 18.06.2019
ISBN: 978-3-7487-0752-3

Alle Rechte vorbehalten

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