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Leseprobe

 

 

 

 

NELL MARR DEAN

 

 

ENTLASSUNG AUF EHRENWORT

- Arztroman-Klassiker, Band 1 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

ENTLASSUNG AUF EHRENWORT 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

 

Das Buch

Sie war als Assistentin und Partnerin Dr. Fosters in das Morningstar-Hospital gekommen. Carol war eine Frau, nach der die Männer sich umdrehten. Aber sie war auch eine tüchtige Ärztin in ihrem Spezialfach der plastischen Chirurgie. Immer bereit zu helfen, bekam sie dennoch einen Schock, als sie von Dr. Fosters Plan hörte, die Insassen eines benachbarten Zuchthauses von entstellenden Gesichtsschäden zu befreien...

 

Entlassung auf Ehrenwort erschien erstmals im Jahre 1964; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1966. Der Roman erscheint in der Reihe ARZTROMAN-KLASSIKER aus dem Apex-Verlag, in der klassische Arztromane aus der goldenen Ära dieses Genres als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden. 

  ENTLASSUNG AUF EHRENWORT

  Erstes Kapitel

 

 

Wenn Dr. Carol Colby den langen Krankenhauskorridor entlangging, drehten sich die Leute nach ihr um. Sie war sehr schlank, ging aufrecht, und ihr Haar glänzte wie heißer Teer. Ihre großen samtblauen Augen kündeten von Verständnis für alle Ängste und Enttäuschungen; sie hatte hart um ihr Studium kämpfen müssen, und das hatte sie tolerant gemacht. Aber nichts beeindruckte ihre Kollegen und Patienten so sehr, wie das warme, liebenswerte Lächeln, mit dem sie so verschwenderisch war.

Doch heute lächelte sie nicht; Dick Foster, ihr Partner in der Praxis, hatte ihr soeben seinen Plan erklärt, den Häftlingen des nahen Gefängnisses die kostenlosen Dienste ihrer plastisch-chirurgischen Praxis anzubieten.

War er verrückt geworden? Wenn er schon seine - und ihre - Zeit für wohltätige Zwecke zur Verfügung stellen wollte, dann konnte er doch schließlich ebenso gut körperlich missgebildeten Kindern den Weg in ein normales Leben erschließen.

Aber nein! Sie mussten Tätowierungen, Fledermausohren und unförmige Nasen von Sträflingen korrigieren, und das alles ohne Honorar! Und gerade jetzt brauchte sie Geld so nötig wie noch nie zuvor. Erst vor einem Jahr hatte sie ihre zweijährige kostspielige Ausbildung in plastischer Chirurgie abgeschlossen und hätte jetzt eher Geld verdienen müssen, statt es wegzuschenken.

Und dazu noch Strafgefangene! Warum eigentlich die Gesichter von Räubern, Mördern und Notzuchtverbrechern verschönen? Und wenn Foster schon das dringende Bedürfnis verspürte, Gesetzesbrechern zu helfen, weshalb hatte er ihr das nicht gesagt, ehe sie Chicago verließ, um seine Partnerin zu werden? Sie war zwar nur seine Juniorpartnerin, und ihre Stimme mochte nur wenig Gewicht haben; aber wenn es sich um etwas handelte, das ihr Leben so sehr beeinflusste...

Obwohl sein jugendliches Aussehen, seine Sicherheit, seine samtweiche Stimme Dick äußerlich nachgiebig und beeinflussbar erscheinen ließen, war er hart wie Stahl. Hatte er sich erst einmal zu etwas entschlossen, dann blieb er unbeirrbar bei seiner Meinung; so hielt er es auch bei Operationen. Er war einfach nicht zu überreden, davon abzugehen. Vielleicht machte ihn gerade dieser Charakterzug zu einem so tüchtigen, fleißigen Chirurgen. Sie hatte es als Auszeichnung empfunden, seine Assistentin zu werden.

Aber sie war wirklich nichts anderes als seine Assistentin; er war der Chirurg - sie seine Helferin. Doktor Zee, der Psychiater des Krankenhauses, unterbrach sie in ihren Gedanken. »Hallo, Fräulein Doktor«, rief er, »ich komme gerade von einem Ihrer Patienten, Billy Parks. Er ist ein alter Collegefreund von mir.«

»Wirklich?«, sagte sie und wunderte sich darüber, dass Dr. Zee nicht von Dicks Patienten gesprochen hatte, denn alle Fälle plastischer Chirurgie waren Dicks Patienten. »Dann erledigen Sie Ihre Besuche nur ziemlich schnell, denn es geht ihm so gut, dass er bald von hier verschwunden sein wird.«

»Ja. Er sagte, er würde nächsten Samstag nach Hause kommen. Himmel, das ist ja unwahrscheinlich, was ihr Gesichtschirurgen für die seelische Verfassung eines Menschen tun könnt, indem ihr sein Profil verschönt.«

»Schöne Ohren oder eine neue Nase heben das Selbstbewusstsein eines Mannes ebenso wie ein neuer Hut die Stimmung einer Frau.«

»Alles Eitelkeit«, meinte er lachend. Dann wandte er sich an das Mädchen hinter dem Empfangspult: »Meine liebe Rafferty, würden Sie bitte ein Taxi für mich bestellen?«

»Aber natürlich, Doktor«, antwortete sie liebenswürdig. Die Schwestern waren an die netten Floskeln von Dr. Zee gewohnt und akzeptierten sie als Ausdruck seiner warmherzigen, gefühlsbetonten Persönlichkeit. Meist nannte er seine weiblichen Patienten beim Vornamen, auch wenn sie zehn Jahre älter waren als er, und er war schließlich schon fünfundsechzig Jahre alt.

»Machen Sie sich nicht die Mühe, Miss Rafferty«, warf Carol ein. »Ich fahre jetzt und werde Dr. Zee auch mitnehmen.«

Dr. Zee pfiff durch die Zähne. »Fein! Wer würde nicht gern mit einer reizenden Doktorin fahren!«

»Vielleicht hätten Sie doch besser ein Taxi genommen«, scherzte Carol, als sie durch die Halle gingen. »Ich bin heute nicht besonders gut aufgelegt.«

»Nein.«

»Nein. Ich wundere mich fast, dass ich meinen Patienten heute nicht die Köpfe abreiße.«

»Sie sehen aber nicht gerade wie ein gefährliches Untier aus. Und am meisten überrascht mich, Carol, dass eine so hübsche Frau mit so verdammt viel Charme noch immer ledig ist. Ich verstehe nicht, dass nicht schon längst so ein junger, netter Arzt oder Assistent darauf gekommen ist, Sie zu schnappen. Wenn ich dreißig Jahre jünger wäre...«

»Reden Sie heute lieber nicht von Männern«, fauchte sie, und ihr ganzer Zorn richtete sich gegen Dick. »Besonders nicht von Ärzten!«

»Oh, je, Sie haben uns also den Krieg erklärt.«

»Na, ja. Eines möchte ich Ihnen sagen«, erklärte sie todernst. »Wenn ich je heiraten sollte, dann bestimmt keinen Arzt. Ich bin überzeugt, dass sie die schlechtesten Ehemänner abgeben. Sie sind Tyrannen. Genauso gut könnte man einen Reisevertreter heiraten.«

Er lachte. »Ich glaube, Julia, meine Frau, würde Ihnen sofort beipflichten. Sie zählt mit Vorliebe, wie viele Stunden in der Woche wir zusammen verbringen.«

»Ich wette, die sind ziemlich dünn gesät.«

»Das muss ich leider zugeben«, antwortete er und grinste sie mutwillig an. »Aber ich sage ihr immer, das sei ganz gut so. Man hat dann das Gefühl, die vierzig Ehejahre seien eher eine Liebesgeschichte statt dieser trübsinnigen Gewohnheit, zu der die Ehe in so vielen Fällen wird.«

»Vielleicht ist es für eine berufstätige Frau die beste Art, Komplikationen zu vermeiden, wenn sie die Ehe wie die Pest fürchtet und ihr aus dem Weg geht.«

»Meine Liebe, Sie sind aber heute wirklich sehr reizbar.«

Während Carol sich in den Verkehr einordnete, sagte Dr. Zee, als ob sie eine seiner Patientinnen sei: »Brauchen Sie keinen in Zucker eingewickelten Rat von einem ziemlich guten Psychiater, damit Sie mit dem Problem zurechtkommen, das Ihnen auf die Seele drückt?«

Sie lachte. »Vielleicht sollte ich eine so goldene Gelegenheit ausnützen, Doktor«, antwortete sie und seufzte, »aber ich glaube, soviel Zeit habe ich heute gar nicht, um Ihnen die vollständige Liste meiner Kümmernisse aufzuzählen. Vielleicht wäre es am besten, den ganzen Tag einfach aus dem Kalender zu streichen und zu denken, es habe ihn gar nicht gegeben.«

»Aber, aber, meine Liebe, tun Sie das nicht!«, rief er lachend und fuhr fort: »Es geht nicht, jetzt einfach einen Tag auszulassen und ihn dann später wieder einzusetzen. Man muss ihn nehmen, wie er kommt.«

»Das habe ich auch nicht wörtlich gemeint«, entschuldigte sie sich.

»Aber Sie holen aus dem Heute nicht heraus, was darin steckt, wenn Sie es nicht voll ausschöpfen. Wenn Sie sich wünschen, der Tag möge schon vorbei sein, dann tun Sie es nicht.«

Sie zuckte die Achseln.

»Denken Sie daran, meine Dame, eine ausgeglichene junge Frau weiß genau, wie sie das Leben anlachen muss. Ihr berühmtes Millionen-Dollar-Lächeln habe ich heute, seit ich Sie getroffen habe, noch gar nicht gesehen.«

Sie tat ihm den Gefallen, lächelte und hob das Kinn. Na, schön, ich werde mir also eine bessere Laune zulegen. Und vielen Dank für den guten Rat; kostenlos noch dazu. Passt es Ihnen, wenn ich Sie Ecke Main und Fifth Avenue absetze?«

»Ausgezeichnet«, antwortete er, und als Carol wenige Minuten später an den Gehsteig der Main Street fuhr, gab er ihr ein weiteres kostenloses Stückchen Lebensweisheit mit: »Wenn Ihnen das Leben eine Zitrone serviert, dann gibt es nur eines: Zitronenlimonade daraus machen.«

Sie lachte laut auf und winkte ihm noch mal zu. Dieses Wort beeindruckte sie. Nun, genau das musste sie tun: Limonade daraus machen.

Als sie an jenem Abend auf den Klingelknopf an Dicks und Kathlynns Haus drückte, war sie mit sämtlichen Zutaten versehen.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

 

Kathlynn sah sanft und taufrisch aus; zu einem kamelhaar- farbenen Wollrock, fast von der gleichen Farbe wie ihr Haar, trug sie einen weichen babyblauen Kaschmirpullover, als sie die Tür öffnete.

»Komm herein, Carol«, sagte sie herzlich. »Ich habe dich erst gar nicht klingeln hören. Wir waren hinten im Fernsehzimmer.«

Die Räume des exotisch-orientalisch eingerichteten Hauses durchzog ein zarter Duft von Sandelholz. Carol hatte oft die ganze Aufmachung des Hauses als extravagant für eine gewöhnliche Stadt des Südwestens angesehen, wie Wheaton es war, aber Dick und Kathlynn waren schließlich auch anders als die meisten Stadtbewohner. Beide stammten aus der besten Gesellschaft von Denver und waren auf bekannten Schulen im Osten erzogen worden. Sie waren keine Kleinstadttypen, Auch dass sie keine Kinder und ein hohes Einkommen hatten, entsprach nicht ganz dem Durchschnitt. Bei den meisten Kleinstädtern war es genau umgekehrt: Sie hatten viele Kinder und wenig Geld.

Auf dem niedrigen Teaktisch standen silbernes Kaffeegeschirr und große Tortenstücke. Dick begrüßte Carol, als sie mit der Gastgeberin in den modern ausgestatteten, verglasten Fernsehraum trat und fügte dann hinzu: »Ich hoffe, dass Sie heute Ihre Lauschohren mitgebracht haben, Sie werden sie brauchen.«

»Oh, Carol, Dick wird mit dir über einen ganz großartigen Plan sprechen.«

»Ich möchte sehr gern mehr darüber hören«, entgegnete Carol und ließ sich in einen der modernen dänischen Stühle fallen.

»Heute haben wir die Sache erst in groben Zügen besprochen«, sagte Dick. »Warten Sie, bis Sie alles gehört haben. Es ist eine fabelhafte Idee.«

»Dick ist überzeugt, dass du zustimmst, wenn du erst entdeckst, wie humanitär der ganze Plan ist«, unterstützte Kathlynn ihren Mann.

Dick ging sofort zu weiteren Erklärungen über. »Es handelt sich um eine ganz neue Einrichtung auf experimenteller Basis, die im staatlichen Gefängniskrankenhaus geschaffen wird. Sozusagen ein Musterprojekt. Es wurde bereits in einem Gefängnis in Texas mit großem Erfolg ausprobiert, und der Gedanke hat sich auch in anderen Gefängnissen durchgesetzt. Um es aber zum Erfolg führen zu können, braucht man die Mitarbeit von Gesichtschirurgen.« Er machte eine kleine Pause. »Nun, und weil wir die einzigen Gesichtschirurgen in der ganzen Umgebung sind, Carol, hat sich die Gefängnisverwaltung selbstverständlich an uns gewandt. Ich gebe zu, dass es für einen Arzt eine große Belastung ist, wenn er die Zeit dafür seiner eigenen Praxis entziehen muss, aber wir müssen es eben so einrichten, dass wir einen Teil unserer Zeit für diesen Plan zur Verfügung stellen. Im ganzen gesehen, wird uns die Geschichte aber nicht schaden.«

»Aber Dick, ich arbeite doch schon zwei Vormittage in der Woche unentgeltlich auf der Station für verkrüppelte Kinder im Morningstar«, erinnerte Carol.

»Ich weiß«, wehrte er ihren Einwand ab. »Aber wir beide müssen eben unsere Zeit, die wir bisher für Wohlfahrtszwecke zur Verfügung gestellt haben, neu einteilen, wenn wir diesen Plan ausführen helfen. Glauben Sie mir, das Gefängnis rechnet bestimmt damit, dass wir unsere Unterstützung nicht versagen.«

»Ich habe gar nichts dagegen, überall dort zu helfen, wo man mich braucht«, erwiderte sie. »Aber die Arbeit bei den verkrüppelten Kindern möchte ich wirklich nicht gern zugunsten von Strafgefangenen aufgeben. Ganz ehrlich gesagt, Dick, ich habe doch erst angefangen und muss mich erst einmal auf meine Privatpraxis konzentrieren. Sie wissen doch auch, dass ich mich verpflichtete, die Kosten für meine medizinische Ausbildung an die Altersversorgung meiner Eltern zurückzuzahlen.«

»Ach, dazu ist noch genug Zeit«, erwiderte er, um ihre Ungeduld zu beschwichtigen. »Aber lassen Sie mich weitererzählen von der Idee mit dem Gefängnis. Heute Nachmittag hatte ich eine lange und ausführliche Unterredung mit einem Beamten von der medizinischen Abteilung der Strafanstalt. Er erklärte, Kriminologen hätten herausgefunden, dass einer der schlimmsten Nachteile für Entlassene der Umstand ist, dass sie nur sehr schwer Arbeit finden, weil sie wie Verbrecher aussehen.«

»Sag' mir doch, Darling«, warf Kathlynn ein, »wieso sehen Verbrecher anders aus als andere Menschen?«

»Nicht alle unterscheiden sich von der Allgemeinheit. Aber es gibt unter ihnen immer ein paar arme Teufel mit Eselsohren oder Papageiennasen. Burschen, die so grotesk aussehen, dass sie niemals Arbeit finden können, bevor man sie nicht einigen kosmetischen Korrekturen unterzogen hat.«

»Wahrscheinlich ist das einer der Hauptgründe, weshalb sie überhaupt zu Verbrechern wurden«, warf Carol ein.

»Richtig. Sie sehen anders aus. Sie passen nicht in das übliche Schema. Und welche Chancen haben sie, wenn sie herauskommen? Bevor sie noch richtig entlassen sind, bringt man sie schon wieder ins Gefängnis zurück - manchmal wegen eines noch schlimmeren Verbrechens. Wenn wir ihnen aber helfen könnten, ihr Aussehen entscheidend zu verbessern, dann wäre das auch eine Hilfe bei ihrer Rückgliederung in die Gesellschaft.«

»Und was halten die Sträflinge davon, dass man ihr Aussehen korrigieren will?«, fragte Carol.

»Sie sind absolut dafür, sogar sehr begeistert davon. Wenn sie erst einmal gesehen haben, wie erfreulich die Veränderungen bei ihren Mitgefangenen sind, können sie es kaum erwarten, bis die Reihe an ihnen ist. Der Gefängnisarzt, Doktor Griffis, erzählte mir von einem Fall im Gefängnislazarett von Texas. Ein junger Bursche, der wegen Raubes eingesperrt war, hatte keine Ohren - nur Löcher an den Stellen, wo sie sein sollten. Die Ärzte fingen ganz unten an. Sie übertrugen Hautstücke und Knorpel aus der Rippengegend und begannen damit, Ohren zu formen. Sie sagten, er habe wie ein völlig normaler Jugendlicher ausgesehen, als er das Gefängnis verließ. Jetzt hat er eine gute Stellung als Reifenverkäufer in einer großen Firma, und vor ihm liegt eine glänzende Zukunft. Glauben Sie nicht, dass das besser ist, als ihn in eine Welt zu entlassen, in der er mit einem Froschkopf ohne Ohren keine Aussichten hat? Zweifellos wäre er ohne diese Korrektur wieder ins Verbrecherleben zurückgefallen.«

»Wahrscheinlich machen sie dort auch viel subkondylare Osteotomie«, überlegte Carol.

»Himmel, was ist das?«

»Kieferkorrektur«, erklärte Carol.

Dick lächelte seine blonde Frau an. »Ich wette, du weißt nicht einmal, was Meloplastik ist?«

»Doch, das weiß ich. Das ist Gesichtsstraffung. Erst kürzlich habe ich in einer Frauenzeitschrift über einen recht interessanten Fall gelesen.«

»Du beziehst eben deine Kenntnisse aus Frauenzeitschriften«, meinte er. »Wir in unserer Praxis geben uns aber mit Gesichtsstraffung nicht ab, die überlassen wir den Kosmetikärzten, nicht wahr, Carol? Wir werden nur Menschen helfen, die ganz einfach äußerliche Reparaturen brauchen.«

Sie nickte und lächelte innerlich. Dick sprach immer von wir, und das war ziemlich ungenau, denn sie selbst durfte keine »Reparaturen« ausführen, sondern nur die Routinearbeiten, die gewöhnlich den Assistenten zufallen.

Dick verbreitete sich nun über das Programm für allgemeine Rückgliederung, das in vielen staatlichen und Bundesstrafanstalten bereits durchgeführt wurde, unterstützt von Psychiatern, Sozialarbeitern und Berufsschulen, die wesentlichen Anteil daran hatten. Im Augenblick seien die Sachverständigen der Meinung, dass es immer einen gewissen Prozentsatz von Sträflingen geben werde, denen nicht zu helfen sei. Aber andererseits, meinten sie, könnte eine große Zahl von Verbrechern zu guten Bürgern werden, gäbe man ihnen die Chance, die Erziehung und Berufsausbildung nachzuholen, die sie in ihrer Jugend nicht gehabt hatten.

»Es tut mir wirklich sehr leid, Carol«, fuhr Dick fort, »dass ich Sie bitten muss, bei diesem zeitraubenden Experiment zu helfen. Aber ich sagte ja schon, wir werden beide davon profitieren, wenn unsere Namen in der Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang genannt werden. Außerdem wird auch der Tag kommen, an dem Sie selbst Ihre fetten Honorare als Gesichtschirurgin einkassieren werden.«

Würde sie das wirklich tun? überlegte sie. Wann würde Dick sie endlich das Skalpell selbst führen lassen?

»Ihr beide werdet viel Gutes tun!« schwärmte Kathlynn. »Ach, das ist doch ungefähr so, als würdet ihr die Seelen dieser Menschen neu formen.«

»Werde bloß nicht sentimental«, warnte Dick ernst. »Überlassen wir die Rettung ihrer Seelen lieber den Sozialfürsorgern und dem Pfarrer.« Verschmitzt lachte er Carol an. »Ich überlege mir nur, wie diese Galgenvögel darauf reagieren, von einer Ärztin behandelt zu werden.«

 

Eine Woche später lud Dick Carol ein, mit ihm zum Gefängnis zu fahren.

»Sie meinen, hinter die Mauern?«, fragte sie ein wenig naiv und schauderte bei dem Gedanken, zu ein paar tausend Kriminellen ins Kittchen zu gehen.

»Glauben Sie vielleicht, dass die Regierung außerhalb der Mauern Gefängnislazarette unterhält? Stellen Sie sich doch mal vor, man müsste jedes Mal, wenn ein gefährlicher Verbrecher eine Krankenhausbehandlung benötigt, ihn nach draußen bringen!«

»Über Gefängnisse weiß ich nicht viel«, bemerkte sie offen. »Ich bin noch nie in einem gewesen. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich schon jemals einen richtigen Verbrecher gesehen habe.«

»Sicher haben Sie das. Sie sind doch überall. In Kaufhäusern, beim Kegeln, neben Ihnen im Bus.«

Sie stöhnte leise.

Der Besuch beim Gefängnisaufseher wurde für den Nachmittag des folgenden Donnerstags festgesetzt. Carol wäre es lieber gewesen, Dick wäre ohne sie gegangen; sie hätte sich riesig gefreut, wenn die ganze Angelegenheit abgeblasen worden wäre.

Sie fuhren in Dicks Corvette zum Gefängnis. Die Landschaft lag vor ihnen in der hellen Fröhlichkeit des Frühsommers; sie kannte diese Gegend noch nicht, denn sie war diese Straße noch niemals gefahren, überhaupt noch nie in die Nähe des Gefängnisses gekommen. Es war eine Strecke von etwa vierzig Kilometern, und auf den letzten sieben Kilometern fiel ihr der eigenartige Straßenbau auf. Es war eine schmale Straße, die von der Autobahn abzweigte, ungewöhnlich kurvenreich und in den scharfen Kurven schlecht ausgebaut, so dass sie selbst bei geringer Geschwindigkeit wenig Fahrsicherheit bot. »Wer hat denn dieses miserable Stück Straße gebaut?«, meinte Carol kopfschüttelnd. »Hier wird man ja seekrank!«

»Diese Straße ist absichtlich so angelegt«, erklärte Dick.

»Absichtlich?«, rief sie ungläubig.

»Ja. Sehen Sie, wenn ein Gefangener einen Ausbruchsversuch per Auto macht, dann kann er auf dieser Straße kaum schnell fahren. Nimmt er eine der Kurven zu schnell, wird er bestimmt darüber hinausgetragen.«

»Wenn wir nicht langsamer fahren, geht es uns auch nicht anders.«

»Ich krieche ja schon«, behauptete er und zeigte auf das Tachometer.

Sie warf einen Blick darauf und staunte, »Du lieber Himmel! Fünfundzwanzig! Das ist ja eine Straße für Schnecken!«

Plötzlich sah sie vor sich eine graue, unförmige Steinmauer, die ebenso undurchdringlich zu sein schien, wie ein Berg von Granit. Ihre Eintönigkeit war nur von einem hohen Eingangstor durchbrochen, dessen einziger Anspruch auf künstlerische Formgebung eine vage Ähnlichkeit mit dem Are de Triomphe in Paris war. Eigentlich, dachte Carol, wäre es angebrachter, von einem Tor der Besiegten zu sprechen.

Dick deutete auf eine andere Straße, die nach links führte. »Dort drüben liegt die Gefängnisstadt, wo das Wachpersonal mit seinen Familien lebt. Sie haben Kirchen, Schulen, Läden und alles, was sie sonst noch brauchen.«

Sie zog eine Grimasse. »Wenn man sich vorstellt, dass Kinder in einer solchen Atmosphäre aufwachsen müssen.«

»Vielleicht sorgen die Eltern dafür, dass die Kinder besondere Grundregeln beachten«, vermutete Dick.

Am ersten Wachhaus, etwa dreißig Meter vom Tor entfernt, wurden sie angehalten. Carol hatte die schussbereiten Maschinengewehre schon bemerkt; von den Türmen aus, die wie schweigende Soldaten zu beiden Torseiten standen, konnten sie das ganze Vorfeld bestreichen. Sie seufzte laut. »Es ist doch ziemlich unheimlich, nicht wahr?«, meinte Dick.

Die Wachen überprüften ihre Erlaubnis, bevor sie den Gefängnishof betreten durften, und Carol bemerkte, dass in etwa fünfzig Meter Entfernung eine zweite Mauer vor ihnen auf ragte; es war der Zellenblock. Am Eingang befand sich eine Wachstation, hinter ihr gleich zwei Stahlzäune. Dick zeigte seinen Erlaubnisschein vor, und einer der Männer telefonierte mit dem Büro des Aufsehers, während sie warteten. Wenige Minuten später erschien der Assistent des Aufsichtsbeamten, der sie begleiten sollte. Das erste Gitter war nicht abgesperrt, und als es sich hinter ihnen geschlossen hatte, befanden sie sich in einem kleinen Zwischenhof, der von Eisenpfosten umgeben war. Erst als der Assistent dem Wachhabenden ein Zeichen machte, sperrte er das innere Gitter auf.

»Wenn einer hier durch diese Gitter auszubrechen versuchte, hätte er nicht die leiseste Chance, durchzukommen«, stellte Dick fest.

Sie schauderte. »Ich würde mich entsetzlich fürchten, wenn ich auch nur eine Minute hier eingeschlossen sein müsste«, erklärte Carol.

Das musste der Assistent gehört haben, denn er lächelte. »Wir haben auch nicht die Absicht, unseren Dauergästen das Durchbrennen leichtzumachen«, antwortete er.

Klirrend schloss sich hinter ihnen das Gefängnistor, und Carol wurde sich bewusst, dass sie in einer Festung mit zweitausend Verbrechern eingeschlossen war.

Die merkwürdigsten Schicksale und die verschiedensten Menschen sind hier eingesperrt, überlegte Carol, und sie haben eines gemeinsam: Sie haben sich gegen ihre Mitmenschen vergangen, und dafür müssen sie im Gefängnis büßen. Gibt es denn ein Leben, das noch hoffnungsloser und zweckloser sein könnte als dieses hier? Für diese Männer musste jeder Tag zu einer kleinen Ewigkeit werden.

Diese Gedanken und Gefühle unterdrückte sie, als sie in das Vorzimmer des Aufsichtsbeamten im Verwaltungsflügel geführt wurden. Zwei Schreiber in blauen Köperanzügen - Gefängnistracht vermutlich - legten an einem Aktenschrank Papiere ab. Ein anderer Mann in Gefängniskleidung tippte stenographierte Notizen ab. Ein Wärter stand am vergitterten Fenster und sah in den Hof hinaus; ein anderer erklärte ihnen, dass der Aufsichtsbeamte ihren Besuch erwarte.

Aufseher Kelly stand auf, streckte ihnen über den Tisch die Hand entgegen und begrüßte sie herzlich. »Fräulein Doktor Colby, Doktor Foster, es tut mir leid, dass Sie warten mussten. Ich hoffe, dass Sie gut hergefunden haben.«

»Es ging alles glatt«, antwortete Dick. »Wir haben gut hergefunden.«

Carol war versucht, ihn sofort zu fragen, weshalb es so schwierig sei, ins Gefängnis zu gelangen, aber sie schwieg dann doch. Aufseher Kelly bat sie, Platz zu nehmen, und blieb stehen, bis sich beide gesetzt hatten. Einen Mann von dieser Größe habe ich bestimmt noch nicht gesehen, dachte Carol, und er muss sehr viel Respekt einflößen, wenn die Gefangenen zu ihm gebracht werden. »Ich möchte beinahe behaupten«, erklärte Carol, »dass für uns ein roter Teppich ausgelegt wurde; zwei Wächter haben uns hierher begleitet.«

Dick lachte und zeigte zum Fenster hinaus. »Als wir über den Hof gingen und diese Verurteilten uns anstarrten, hatte ich fast den Eindruck, wir müssten eine Parade abnehmen.«

»Die Insassen sind immer sehr neugierig, wenn es um Besucher geht. Sie bekommen nur selten Leute von draußen zu sehen.«

Carol bemerkte, dass er von den Gefangenen als von Insassen sprach und sie nicht als »Sträflinge« bezeichnete. Sie war sehr erstaunt, einen so toleranten, väterlichen Mann als Aufseher eines so scheußlichen Gefängnisses kennenzulernen.

»Es hat mich überrascht, so viele Sträflinge hier auf dem Gelände zu sehen. Ich dachte, wie wohl die meisten Menschen, die Gefangenen seien ständig in ihren Zellen eingesperrt.«

»Zeitweise ja, aber nicht während des Tages. Am Spätnachmittag können Sie im Hof sogar noch mehr von ihnen sehen als jetzt. Sobald aber Besucher durch das Gelände gehen, haben die Wachen auf den Türmen ein besonders scharfes Auge auf sie.«

»Mein Gott«, warf Carol ein, »hätte ich das geahnt, dann wäre ich bestimmt befangener gewesen.«

Aufseher Kelly beendete plötzlich den Austausch von Höflichkeitsfloskeln und stellte eine direkte Frage: »Die Arbeit mit Gefangenen ist doch zweifellos eine völlig neue Erfahrung für Sie, Fräulein Doktor Colby?«

»Ja, so ist es. Allerdings habe ich einmal kurze Zeit mit kriminellen Geisteskranken in einer Heilanstalt in Illinois gearbeitet, als ich noch Studentin war. Bis heute bin ich aber noch nie in die Nähe eines Gefängnisses gekommen, mit Ausnahme einer Fahrt nach Joliet in der Nähe von Chicago.«

»Unser Gefängnis ist kaum halb so groß wie dieses dort. Aber wir haben die gleichen Probleme. Wir haben mit Menschen zu tun, die Mörder, Rauschgiftsüchtige, abartig Veranlagte sind - mit den geistig Kranken, den Analphabeten, diesen armen Menschen, die nichts anderes sind als ungezogene Kinder in den Körpern Erwachsener.«

»Das muss doch sehr deprimierend sein, Mr. Kelly«, meinte Carol, »wenn man nur immer die Menschen von ihrer schlechtesten Seite sieht.«

»Ja, manchmal trifft das zu. Aber es gibt Dinge, die noch viel schlimmer sind, als direkt mit den Kriminellen zu tun zu haben. Man muss zum Beispiel mit einer Mutter sprechen, deren Sohn in der Todeszelle sitzt und auf seine Hinrichtung wartet. Oder man schwatzt mit einem kleinen Jungen, der es einfach nicht verstehen kann, dass sein Vater nie mehr nach Hause kommen wird. Wenn man aber in dieser Arbeit steckt, muss man sich mit dem Gedanken abfinden, dass das immer wieder passiert, solange es Gesetzesbrecher gibt. Man sieht und erlebt in Wirklichkeit so vieles, dass einen nichts mehr überrascht; aber man wird dadurch nicht verbittert. Ganz im Gegenteil: man wird viel toleranter als der Mann auf der Straße. Einen Kriminellen darf man nie bedingungslos verurteilen, niemals verdammen, denn man weiß nie,. was ihn dazu gebracht hat, kriminell zu werden.«

Dick schüttelte überlegend den Kopf. »Sie haben eine unangenehme Aufgabe, Mr. Kelly«, stellte er fest.

Der Aufseher lächelte. »Nun ja, heutzutage ist die Kriminologie nicht mehr ganz so übel wie früher. Die demoralisierenden Ansichten der Kriminologen sind überholt. Heute denken wir an Rehabilitierung, nicht mehr an Rache.« Er schwieg eine Weile. »Es heißt nicht mehr: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Manchmal nennt man uns dafür sentimentale Phantasten.«

»Ohne diese neuen Ansichten über den Strafvollzug und die Rückgliederung in die Gesellschaft wäre das Programm, an dem wir uns beteiligen sollen, überhaupt nicht spruchreif geworden«, gab Dick zu.

»Niemals«, bestätigte Kelly. Er sah Carol an. »Jetzt ist Ihnen das Programm doch völlig vertraut, Fräulein Dr. Colby?«

»Doktor Foster hat mir einen kurzen Überblick gegeben. Es könnte sich sehr verdienstvoll auswirken«, antwortete sie.

Er sah ihr gerade in die Augen. »Glauben Sie mir, das wird der Fall sein«, erwiderte er nachdrücklich. »Ich möchte, dass Sie eines genau wissen: Die Tatsache, dass Sie, eine Ärztin, so aufgeschlossen und bereit sind, diesen einzigartigen Plan mit durchzuführen, hat unser aller Bewunderung gefunden. Gesichtschirurgen sind schwer zu finden, und ohne sie könnten wir unser Programm gar nicht in Angriff nehmen.«

»Wenn ein Mensch, auch eine Frau natürlich, die Verantwortung des Arztberufs auf sich nimmt, dann ist sie auch bereit, ihren Teil Arbeit zu leisten.«

»Ich kann nicht voraussagen, wie die Insassen reagieren. Das wird mindestens zum Teil von Ihnen selbst abhängen. Wenn Sie auch mit ihnen nur im Lazarett zu tun haben, so bleibt ein Strafgefangener doch immer ein Strafgefangener. Es gibt die verschiedensten Mischungen: Analphabeten, argwöhnische Tiere, aber auch intelligente, gebildete Denker. Sehr oft sind sie widerlich, manchmal bösartig. Mandl einer ist entsetzlich triebhaft. Andere sind freundlich und leicht zu beeinflussen. Sie als Ärztin genießen aber jedenfalls die gleiche berufliche Immunität wie ein Mann in Uniform. Ganz gleich, welche Geheimnisse Ihnen ein Sträfling anvertraut, Sie brauchen nie darüber zu sprechen, genauso wenig wie jeder Pfarrer oder Pastor.« Er lächelte sein warmherziges Lächeln. »Ich möchte Sie sogar warnen. Selbst wenn Sie einmal das Bedürfnis haben sollten, darüber zu plaudern - tun Sie's nicht. Lassen Sie die Wärter und mich selbst herausfinden, was wir wissen müssen, ohne, dass wir von Ihnen Informationen beziehen. Die Gefangenen müssen unbedingt das Gefühl haben, dass sie mit Ihnen alles besprechen können, was sie wollen.«

»Vielen Dank, Mr. Kelly«, sagte Carol ernst.

Die Stimme des Aufsehers klang nun ein bisschen weniger ernst, als er fortfuhr: »Na, schön, Dr. Foster und Fräulein Dr. Colby, Sie haben jetzt einen kurzen Überblick über das Gefängnis bekommen. Ich glaube, jetzt ist es an der Zeit, Sie mit einigen Leuten von unserem ärztlichen Personal bekannt zu machen.« Er drückte eine Taste an der Haussprechanlage. »Dan, bitten Sie Doktor Griffis, in mein Büro zu kommen, falls er gerade frei ist«, wies er seine Sekretärin an.

Keine fünf Minuten später stand vor Carol ein großer junger Mann, wohl kaum mehr als dreißig Jahre alt, der einen braunen, ziemlich zerknitterten Anzug trug.

Der Aufseher machte bekannt: »Fräulein Dr. Colby, Dr. Foster, Carl Griffis, einer unserer Ärzte. Wir nennen ihn hier nur Grif.«

Sie schüttelten einander die Hände. Carols Blick hing an ihm. Komisch, dachte sie, ich meinte immer, ein Gefängnisarzt müsse ein alter, ekliger, zugeknöpfter Mensch sein. Aber der hier war ganz anders. Obwohl er aussah, als könne ihn nichts mehr erschüttern, hatte er freundliche Augen, und er lächelte sie liebenswürdig an, als er ihr die Hand schüttelte.

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

Das klingelnde Telefon auf dem Nachttisch weckte Carol. Sie griff nach dem Hörer und murmelte schlaftrunken: »Doktor Colby am Apparat.« Nichts rührte sich. - Schon wieder eine falsche Nummer gewählt, dachte sie ein wenig ärgerlich. Seit die Telefongesellschaft das alte Wählsystem mit den Vorwählbuchstaben durch eine reine Nummernwählscheibe ersetzt hatte, wurden ständig falsche Nummern gewählt. Carol legte den Hörer auf die Gabel zurück und sah auf die Uhr. Halb acht. Vielleicht war es ganz gut, dass das Telefon sie aufgeweckt hatte; so konnte sie es sich erlauben, noch zehn Minuten im Bett zu bleiben. Solche gestohlenen Minuten waren ein geliebter Luxus. Sie lachte, als sie daran dachte, wie Miss Clark platzen würde, wenn sie festig stellen musste, dass die peinlich genaue Praxisroutine von der Arbeit im Gefängnis völlig durcheinandergebracht wurde.

Das Gefängnis. Sofort stand vor ihrem geistigen Auge das Bild von Doktor Carl Griffis, wie sie ihn gesehen hatte, als er unter der Tür von Mr. Kellys Büro stand und sie zu ihm auf sah; er war so groß, sah so gut und vertrauenerweckend aus. Er machte den Eindruck, als habe er jede kleinste Einzelheit seines Lebens fest in der Hand. Ihr schien, als sei es erst fünf Minuten her, dass sie mit ihm solche Dinge wie Entwöhnung von Rauschgiftsucht, neuropsychiatrische Störungen, Hautabschleifungen und vieles andere besprochen hatte. Dann waren allmählich einige Ausdrücke der Gefängnissprache in ihre Unterhaltung geschlüpft; Worte, wie Regeneration, Schwerverbrecher, Ersttäter, Gefängniskoller, Kavaliersdelikte, Falschmünzer, Taschendiebe, Polizeiüberwachung, Spitzel, Veruntreuung, Moral...

Ein Punkt wurde dabei aber nicht berührt: Weshalb begrub sich ein junger Mann wie Doktor Griffis in einem Gefängnis und verschwendete seine Zeit und sein Talent an Kriminelle?

Hatte er einen bestimmten Grund dafür, gerade diese Art von ärztlicher Tätigkeit zu wählen? Die finanzielle Seite konnte nicht gar so glänzend sein. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr hatte sie das Bedürfnis, ihn am Kragen zu packen und ins normale, wirkliche Leben zurückzuholen.

Sie drehte sich im Bett um und sah in den hellen Morgen hinaus, der vor guter Laune fast zu bersten schien. In einem Gefängnis konnte es niemals einen so strahlenden Morgen geben; es gab kein Gras, an dessen Halmen die Tautropfen hingen, keine Blumen, die ihre bunten Gesichter der Sonne entgegenhoben, keine Bäume mit Rotkehlchen, Finken und Drosseln im Gezweig. Sie stellte sich vor, dass selbst die laue Frühsommerluft an den undurchdringlichen Mauern haltmachte. Dort gab es nur harten Beton und Stein und das verkrampfte, spannungsgeladene Gefühl, das überall dort, wo keine Freiheit herrschte, eine bedrückende Atmosphäre schuf. Wie konnte ein so vitaler, lebenstüchtiger Mann wie Doktor Griffis in einer solchen Umgebung glücklich und friedlich existieren?

Eine Sekunde später rief sie sich selbst zur Ordnung. Was hatte sie damit zu schaffen, welche Art von Leben einem anderen Menschen behagte? Wenn er es vorzog, ein eingeengtes, starres Leben zu führen, seine persönliche Sicherheit von den Gaunereien und Launen von Verbrechern abhängig zu machen - was ging das sie an? Weshalb sollte sie sich darüber Gedanken machen?

Carol hörte, dass Tish, mit der sie die Wohnung teilte, draußen in der Küche das Frühstück herrichtete und dazu pfiff. »Guten Morgen!«, rief sie hinaus und fragte scherzhaft: »Ist mein Frühstück fertig, Bridget?«

»Das ist fertig, sobald du deine müden Knochen aus dem Bett hebst«, erwiderte Tish. »Und beeil' dich! Um neun muss ich im Büro sein.«

Tish Matheson, ein paar Jahre älter als Carol, arbeitete in einem Reisebüro. Ihr Haar war von der Farbe hellen Honigs; sie hatte ungewöhnlich große, strahlende Augen, eine unbändige Energie und reiste leidenschaftlich gern. Tish war der Meinung, dass nichts besser sei, als so oft wie möglich Urlaub zu machen, und sie schloss sich selbst nicht davon aus. Carol schob die

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Nell Marr Dean/Apex-Verlag/Successor of Nell Marr Dean.
Bildmaterialien: Julian Paul.
Cover: Julian Paul/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Magdalena Sobez und Christian Dörge (OT: The Trials Of Dr. Carol).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 14.05.2019
ISBN: 978-3-7487-0366-2

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