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Leseprobe

 

 

 

 

JON MESSMANN

 

 

DIE TÖDLICHE TIEFE

- 13 SHADOWS, Band 28 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE TÖDLICHE TIEFE 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

 

Das Buch

Candy Nolan war mit ihren Nerven am Ende. Niemand glaubte ihr, dass sie grauenvolle Stunden draußen im Atlantik erlebte, als ein riesiger Wal ihr Charterboot angriff und die Besatzung in die Tiefe riss. Doch dann häuften sich die Schreckensmeldungen aus verschiedenen Teilen der Welt: Hummerfänger wurden getötet, und Tintenfische griffen in riesigen Massen italienische Fischerboote im Mittelmeer an. Krabben wurden zu menschenmordenden Bestien, und auch für andere Phänomene gab es keine rationale Erklärung.

Eines Tages jedoch machte Professor Aran Holder eine Entdeckung, die auch die wildeste Phantasie noch als harmlos erscheinen ließ. In diesem Augenblick erkannte er voller Entsetzen, dass niemand ihm auf der Welt Glauben schenken würde...

 

Der Roman DIE TÖDLICHE TIEFE von JON MESSMANN wurde in Deutschland erstmals im Jahr 1977 veröffentlicht (unter dem Titel Tausend Stunden Todesangst als Band 51 der Taschenbuch-Reihe VAMPIR-HORROR-ROMAN).

DIE TÖDLICHE TIEFE erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  DIE TÖDLICHE TIEFE

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

AP 6-7

CHARTERBOOT GESUNKEN

EINZIGE ÜBERLEBENDE BEHAUPTET:

BOOT WURDE VON WALFISCH ANGEGRIFFEN!

ZUSTÄNDIGE BEHÖRDEN ERMITTELN

 

Das Mädchen lag auf dem Dach des Bootes und sonnte sich. Sie spürte die Blicke des jungen Matrosen und hätte etwas darum gegeben, wenn sie das Oberteil ihres Bikinis hätte abnehmen können.

Dann hätte er wenigstens Grund zum Gucken, dachte Candy Nolan.

Sie war stolz auf ihre Brüste. Tolle Dinger, sagte Harry immer wieder.

»Die Stelle hier taugt nichts!«, grölte Harry in diesem Moment. »Steuern Sie den Scheißkahn gefälligst woanders hin!«

»Geduld, Mr. Owens«, rief Tom Peterson aus dem Steuerhaus.

Nach gut einem Dutzend Charterfahrten mit Harry wusste der Kapitän, dass er die Anfälle von Arroganz einfach ignorieren musste. Candy hatte es in den ganzen drei Jahren nicht gelernt. Sie setzte sich auf. Ralph Gunetta hieß der Matrose. Er stierte immer noch auf ihren Busen.

Harry saß achtern in dem Drehstuhl, die dicke Angel fest in der Hand. Sein Nacken war von der Sonne verbrannt. Die einzige empfindliche Stelle. Sonst hatte Harry ein dickes Fell. In jeder Beziehung.

Candy cremte sich die Beine ein und überlegte, was eigentlich in letzter Zeit mit ihr los war. Sie hatte Harry satt. Auch im Bett. Aber da gab es wenigstens keine Zeugen für seinen brutalen Egoismus. Drei Jahre. Anfangs hatte er ihr die Ohren vollgesäuselt und hatte sie mit Geschenken überschüttet. Das hatte sich mittlerweile gelegt. Aber immer noch besser die Geliebte eines Harry, als dauernd jobben zu müssen: Kellnerin, Garderobenfrau, Zigarettenverkäuferin mit Bauchladen, Kartenabreißerin im Kino. Schließlich kostet alles seinen Preis.

»Es hat was angebissen!«, schrie Harry.

Candy stand auf, schwang sich vom Dach und stellte sich hinter Harry.

»Scheiße!« schimpfte er. »Weder ein Schwertfisch noch ein Segler.«

Der Fisch sprang aus dem Wasser und wand sich in der Luft. Candy sah blaue Streifen auf dem blassgelben Bauch.

»Verdammt, ein Thunfisch«, brummte Harry. »Kann ich nicht gebrauchen.«

Tom Peterson kam dazu. »Holen Sie ihn ein«, sagte er, »dann schneide ich ihn ab.«

»Und der Haken bleibt drin«, sagte Candy angewidert.

»Genau«, sagte Harry.

»Tierquälerei ist das«, sagte Candy.

Harry warf einen bösen Blick über die Schulter. »Verzieh dich!«

Candy kletterte wieder aufs Kajütendach. Hoffentlich fängt er nichts, dachte sie. Oder besser doch. Sonst lässt er seinen Frust heute Nacht an mir aus und ich muss wieder die Hampelfrau spielen.

Viele beneideten sie. Aber die kannten eben Harry nicht.

Plötzlich sah sie die Delphine. Harry fluchte natürlich schon wieder. Für ihn gab es bloß Segler und Schwertfische. Sie beobachtete, wie die Tiere aus dem Wasser sprangen, einen Satz machten und wieder eintauchten. Einen Moment später kamen sie vor dem Boot aus dem Wasser, segelten graziös durch die Luft und tauchten senkrecht wieder ein. Nachdem sie ihr fröhliches Spiel eine Zeitlang betrieben hatten, waren sie so plötzlich wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht waren.

Candy versank erneut in Gedanken. Der Matrose war bestimmt gut im Bett. Zärtlich und gleichzeitig voll Feuer. Es war wirklich an der Zeit, dass sie sich wieder einmal verführen ließ. Sie wusste schon gar nicht mehr, ob es ihr am Anfang mit Harry wenigstens Spaß gemacht hatte. Wahrscheinlich schon.

»Mann!« hörte sie Harry rufen. »Da drüben!«

Candy suchte die Wasseroberfläche ab. Keine fünfzig Meter vom Boot entfernt schien eine kleine Insel aus dem Meer aufzutauchen. Eine Fontäne schoss plötzlich aus ihrer glatten, bläulichen Oberfläche.

»Mann, ist das ein Biest!«, rief Harry.

»Ein Blauwal«, sagte Peterson. »Der muss gut seine hundert Tonnen wiegen.«

Candy fror plötzlich in der Hitze der Karibischen Sonne. Sie beobachtete, wie der Wal immer weiter aus dem Wasser kam. Er drehte sich dem Boot zu und kam mit erstaunlicher Geschwindigkeit näher.

»Was soll denn das?«, schrie Harry.

»Weiß ich auch nicht«, sagte Peterson. »Sie kommen doch sonst nich so nah ran.«

»Verdammt, der hat es auf uns abgesehen.« Angst schwang in Harrys Stimme, und Candy genoß es. Sie hatte ihn noch nie ängstlich gesehen. »Der rammt uns. Schmeißt die Scheißmaschine an!«

Die Geräusche, die Stimmen, das Aufheulen des Motors - alles klang, als käme es aus fremden Sphären. Candy war voll auf das Ungetüm konzentriert, das stetig näher kam. Sie war wie hypnotisiert und glaubte gleichzeitig, einen spaßigen Traum vor sich ablaufen zu sehen. Die graublaue Masse war von Narben und Kratzern gezeichnet. Harry schrie, Peterson fluchte, der junge Matrose betete. Das Boot vibrierte, die graublaue Masse bäumte sich auf. Candy wachte plötzlich aus der Hypnose auf. Sie sprang in die Höhe, und genau in dem Augenblick rammte der Wal das Boot. Candy wurde in die Luft geschleudert. Holz zersplitterte, Planken rissen sich aus dem Rumpf.

Candy tauchte in das Wasser ein, sank in die Tiefe, drehte sich wie eine Schlange und schwebte der Oberfläche entgegen. Als sie den Kopf wieder aus dem Wasser hatte, sah sie das Boot - eingedrückt und auslaufend wie ein Ei. Der junge Matrose hing verzweifelt an der Brücke, Harry und Peterson lagen auf dem Deck und hielten sich krampfhaft an der Reling fest. Der Wal, den das Meer einen Moment lang verschluckt zu haben schien, wurde plötzlich wieder ausgespuckt. Er richtete sich auf und wuchs und wuchs, bis er auf der Schwanzflosse zu stehen und den Himmel zu verdunkeln schien. Das Wasser strömte von seinen gewaltigen Flanken. Er drehte sich um die eigene Achse und kam wie ein Schlaghammer nach unten gesaust. Das Boot brach in der Mitte entzwei. Alles wurde unter der wahnsinnigen Masse begraben und mit dem Sog in die Tiefe gerissen.

Ein paar Sekunden später war nichts mehr da. Der Wal war verschwunden. Nach allen Himmelsrichtungen hin nur noch die weite blaue See. Es war, als sei nichts geschehen.

Eine Planke tanzte auf den Wellen an Candy vorbei.

Sie klammerte sich daran fest und ließ sich treiben. Die Sonne brannte ihr auf den Kopf, und langsam schwanden ihr die Sinne.

Candy Nolan wurde kurz vor Einbruch der Nacht von einem Boot gesichtet und aus dem Wasser gezogen. Man brachte sie nach Key Largo in ein Hospital. Sie hatte einen schweren Schock erlitten. Nach den ersten Behandlungen wurde Candy von der Polizei verhört und berichtete, was passiert war. Man glaubte ihr kein Wort.

»Miss Nolan«, sagte Jack Matthews geduldig, »das entspricht nicht der Verhaltensweise von Walen.« Er war Lieutenant der Küstenwache. »Selbst verletzte Wale greifen nur in den allerseltensten Fällen an.«

»Glauben Sie vielleicht, ich lüge Sie an?«, sagte Candy mit zusammengebissenen Zähnen.

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte der Lieutenant. »Aber vielleicht waren Sie zu lange in der Sonne und haben phantasiert. Das Boot kann ja auch explodiert sein.«

»Das Boot ist nicht explodiert«, sagte Candy, »sondern von einem Wal zerstört worden.«

Der Lieutenant schüttelte den Kopf. »Unmöglich, Miss Nolan. Wale greifen nicht an.«

»Der hat aber angegriffen. Vielleicht ist er verrückt. Ich weiß es auch nicht. Ich weiß bloß, was passiert ist. Er hat das Boot angegriffen und total zerstört. Verdammt noch mal, ich habe es schließlich mit eigenen Augen gesehen.«

Der Lieutenant gab es auf. Er bedankte sich und ging.

Zwei Tage später verschwand die Roberta II mit vier Männern an Bord. Sie hatte knappe zwanzig Meilen von der Stelle entfernt, an der man Candy Nolan aus dem Wasser gezogen hatte, ihre Netze ausgelegt gehabt.

Lieutenant Matthews konnte sich die beiden Fälle nicht erklären.

Wale griffen nun einmal nicht an.

 

UPI 8 - 7 - 1976

HUMMERFÄNGER AUF SELTSAME WEISE GETÖTET

 

Die Bürger von Chittam im Staate Maine waren entsetzt. Nicht so sehr wegen Efrem Getz, den keiner gemocht hatte, sondern wegen des Vorfalls an sich. Sie verstanden es einfach nicht, und die Haare standen ihnen zu Berge. Ein letztes Mal schüttelten sie den Kopf.

»Seltsame Menschen sterben eben auf seltsame Weise«, meinte einer.

Efrem Getz war zweifellos der unbeliebteste Mann an der ganzen Küste gewesen. Zugegeben, er hatte die dicksten Hummer gefangen. Wie er das angestellt hatte, war allen immer ein Rätsel gewesen. Aber das war nicht der Grund gewesen. Wo bei normalen Menschen Blut durch die Adern fließt, war bei ihm schiere Bosheit geflossen. An keinem hatte er ein gutes Haar gelassen. Und seine Launen hatte jeder gefürchtet. In einem kleinen, einfachen Haus auf einem windigen Felsen hatte er gewohnt, ein gutes Stück außerhalb, und war einmal pro Woche zum Einkäufen in das Städtchen gekommen.

Und eines Tages war Efrem nach Portland gefahren, war eine Woche geblieben und mit einem jungen Mädchen zurückgekommen, das ihm den Haushalt geführt hatte. Hübsch war sie gewesen und kaum über zwanzig. Sie hatte eine sehr dunkle Haut gehabt, und jemand hatte angeblich gehört, dass er sie aus dem Gefängnis geholt hatte. Auch sie war einmal pro Woche zum Einkaufen gekommen, war immer freundlich gewesen, hatte aber mit niemand geredet. Bald hatte jeder mit eigenen Augen sehen können, dass Efrem Getz das Mädchen in regelmäßigen Abständen verprügelte. Und an einem eisigen Apriltag war das Mädchen dann in das Büro des Sheriffs gekommen.

»Mr. Getz ist hingefallen und hat sich verletzt«, hatte es gesagt. »Schicken Sie einen Arzt und einen Krankenwagen raus.«

Der Sheriff hatte Doc Hansen angerufen, und sie waren zusammen zu Efrem gefahren. Sie hatten ihn in der Küche auf dem Fußboden gefunden, und keiner von beiden hatte auch nur einen Moment daran gezweifelt, dass die klaffende Wunde am Kopf von einem Schürhaken stammte. Das Mädchen hatte dann niemand mehr gesehen. Es war spurlos verschwunden. Man hatte Efrems Kopf zusammengeflickt und ihn nach einem Monat wieder aus dem Krankenhaus entlassen. Durch den Vorfall war er nicht etwa weniger unsympathisch gewesen, aber er hatte noch zurückgezogener gelebt - was allen nur recht gewesen war.

Wenn Billy Hoggins nicht gewesen wäre, hätte vielleicht niemand je erfahren, was mit Efrem Getz an dem Morgen des 8. Juli passiert war. Billy Hoggins, gerade vierzehn geworden, war hinausgerudert, um Krabben zu fangen. Plötzlich hatte er gesehen, wie unweit von ihm Efrem in seinem Beiboot aufgetaucht war. Wie immer am frühen Morgen, hatte ein angenehmes Lüftchen geweht. Und was sich dann keine fünfzig Meter vor Billy abgespielt hatte, hatte er einfach nicht glauben wollen.

Efrem war zu seinem ersten Korkenschwimmer gerudert und hatte den Weidenkorb aus dein Wasser gezogen. An die fünfzehn Hummer hatten sich in der Falle verfangen gehabt. Alle von außen. Efrem, der natürlich nicht ein Stück aus der großen Beute hatte verlieren wollen, hatte gleich den ganzen Korb mit den Hummern ins Boot geworfen. Noch in der Luft hatten zwei von den Dingern losgelassen und waren auf Efrem gelandet. Der eine Hummer hatte sich mit der einen Schere am Kragen festgehalten und mit der anderen angegriffen. Billy Hoggins hatte die Schmerzensschreie gehört und hatte gesehen, wie Efrem den Hummer gepackt und vom Kragen gerissen hatte. Der andere war im Rücken der dicken Jacke verkrallt gewesen.

Dem aber nicht genug. Jetzt hatten auch die anderen Hummer angegriffen. In Efrems Waden hatten sie sich verbissen, in die Knöchel hatten sie ihm die Zangen gebohrt und in die Füße. Efrem war schließlich ausgerutscht und in sein Boot gefallen, und dann hatten sie sich über das Gesicht hergemacht. Die Schreie des gequälten Mannes waren grauenvoll gewesen. Billy Hoggins hatte schnell sein Krabbennetz eingeholt und war wie besessen zum Beiboot des Hummerfängers gerudert. Efrem war auf dem Grund des Boots gelegen, von Hummern bedeckt. Sein Gesicht war kein Gesicht mehr gewesen, sondern eine blutige Masse ohne Augen, Nase und Mund. In seine Eingeweide hatten sich die Hummer eingefressen, und die Schreie waren verstummt.

Als die Hummer von Efrem abgelassen hatten und nun Billy Hoggins überfallen wollten, hatte der Junge die Flucht ergriffen.

Die Geschichte hatte sich wie ein Lauffeuer in Chittam verbreitet. Der Sheriff hatte Billy Hoggins verhört und auch den Deputy zugezogen. Niemand hatte ihm glauben wollen. Als man jedoch Efrems Boot eingeholt hatte, war alles verstummt. Von Efrem war nur noch das Skelett übrig gewesen.

Es war ein Bericht an die State Police gegangen. Ein Reporter war nach Chittam gekommen und hatte versucht, Billy Hoggins zu interviewen, aber es war nichts dabei herausgekommen. Auch die anderen hatten kaum etwas gesagt. Die Bürger von Chittam waren verschwiegene Leute. Sie behielten ihre Meinung über Efrem und den Vorfall für sich.

Als am Tag darauf zwei weitere Hummerfänger von ihrer Beute angegriffen wurden, blieben sie auch dann verstockt. Tom Osgood verlor einen Finger, und Sam Damt kam halbtot vor Angst zur Küste zurück. Ein Hummer hing ihm noch am Handgelenk. Sam Damt hatte ihn mit einem Hammer erschlagen.

Als dann wiederum einen Tag später alle Leinen durchgebissen und die Hummerkörbe völlig zerrissen und zerstört waren, wurde im Schulhaus eine Versammlung einberufen. Dick Evans, der Bürgermeister, vertrat die Meinung, irgendwelche fanatischen Naturliebhaber oder Vegetarier seien die Täter, aber Tom Osgood und Sam Damt schüttelten die Köpfe. Am Abend versammelten sich kleine Gruppen auf den Straßen und alles sprach über die merkwürdigen Vorfälle.

An die Öffentlichkeit gelangte lediglich die seltsame Geschichte von Efrem Getz. Zumindest vorläufig. Und so fing alles an: mit zwei skurrilen Berichten in den Zeitungen.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Das Sommerhäuschen stand direkt an der Atlantikküste, nördlich der Rehoboth Beach im Staat Delaware. Es war stabil gebaut. Das Licht des Halbmonds schien durch das Fenster.

Aran Holder war noch wach, das schlanke Mädchen neben ihm ebenfalls. Ihr lustvolles Stöhnen war verstummt. Schön war es gewesen, wie immer mit Jenny. Sie passten gut zusammen, in jeder Beziehung.

Und plötzlich war Aran voll konzentriert. Wie immer hatten sie das Radio eingeschaltet, und ein Nachrichtensprecher berichtete gerade von den beiden seltsamen Vorfällen. Als die Musik wieder einsetzte, starrte Aran an die Decke und machte sich seine Gedanken.

»Du überlegst, ich spüre es«, sagte Jenny leise. »Diese beiden verrückten Geschichten beschäftigen dich, habe ich Recht?«

»Ja«, sagte Aran. »Wie alles Ungewöhnliche.«

Sie stützte sich auf die Ellbogen und strich sich die dichten aschblonden Haare aus der Stirn.

»Das bestätigt es wieder einmal«, sagte sie.

»Was?«, fragte Aran.

»Diese beiden Vorfälle«, sagte Jenny. »Nichts steht in einem logischen Zusammenhang.«

»Wie meinst du das?«

Jenny legte sich zurück und sah ebenfalls an die Decke.

»Die Welt, in der wir leben, ist aus den Angeln gehoben. Sie besteht aus lauter Abgetrenntheiten. Irgendeinen Rhythmus oder eine Begründung gibt es nicht. Man bringt uns bei, dass alles nach Plan geht und nichts geschieht, was der Weisheit dieses Plans widerspricht. Das ist kompletter Unsinn. Alles besteht nur aus Bruchstücken und Splittern. Die Verbindungen sind lediglich lokaler Natur.«

»Der Ansicht bin ich nicht«, sagte Aran. »Die Dinge stehen schon in Zusammenhang.«

Jenny setzte sich auf. Sie schüttelte den Kopf.

»Das tun sie eben nicht«, sagte sie. »Während wir uns hier lieben, werden woanders Menschen auf seltsame Weise getötet. Während wir ein kaum zu ertragendes Maß an Lust und Befriedigung empfinden, empfinden andere Menschen ein kaum zu ertragendes Maß an Leid und Schmerz. Wo ist da das Gleichgewicht? Ein Bauer schuftet sich ab, um seine Ernte zur vollen Reife zu bringen, während unter der Erde Larven nagen und sich entwickeln und zu Käfern werden, welche die Ernte zerstören. Wo ist da die Logik? Nein, alles ist aus einem Chaos von Einzelvorgängen zusammengesetzt.«

»Und trotzdem ist es ein Ganzes«, sagte Aran.

»Wie denn? Wo denn? Du bist doch der preisgekrönte Schreiber - also erkläre es mir.«

»Deswegen bin ich noch lange kein Jehova.« Aran zog Jenny an sich. »Du brauchst bloß jemand, der deine Schuldgefühle mindert. Ich kenne dich doch, Jenny Vandam. Du hast ein schlechtes Gewissen, weil jemand leidet, während du genießt. Dein Gerechtigkeitssinn ist verletzt. Übrigens ein Beweis, dass deine Instinkte richtig gelagert sind.«

»Du tust gerade so, als sei ich ein Einzeller, eine primitive Kreatur, die lediglich auf ein Stimulans reagiert.«

Er küsste sie und legte eine Hand auf ihre kleine, feste Brust. Er spürte, wie ein Schaudern durch ihren Körper ging.

»Na und?«, fragte er. »Ist das vielleicht schlecht?«

Und einen Moment später waren sie wieder eng umschlungen, bis die Nacht noch einmal zu explodieren schien.

 

Als Aran am nächsten Morgen aufwachte, stand Jenny bereits vor dem Spiegel und bürstete sich die Haare. Bis auf einen schmalen Streifen war sie tiefbraun gebrannt. Aran war seit einer Woche hier. Jenny verbrachte den ganzen Sommer an der Küste. Ihre Eltern waren wie jedes Jahr in Europa. Aran hatte schon lange keinen Urlaub mehr gemacht und war heilfroh, einmal von der Universität in Washington weg zu sein. Umso mehr, als er sich dazu hatte überreden lassen, diese Vorlesung zu halten. Bisher hatte sich Aran mit Schreiben seinen Lebensunterhalt verdient. Neue Theorien und Entdeckungen legte er in einer Art und Weise dar, dass auch der Durchschnittsleser begriff, worum es sich handelte. Und als er dann den Magnus-Preis zugesprochen bekommen hatte, war man dann mit Dutzenden von Lehraufträgen an ihn herangetreten.

Die Vorlesung, die er schließlich übernommen hatte, sollte sich mit den ethischen Aspekten neuer Wissensgebiete beschäftigen - Bioethik genannt. Zu seiner Enttäuschung hatte Aran schon nach ein paar Wochen feststellen müssen, dass seine Hörer weniger an der Bioethik interessiert waren, sondern vielmehr erwarteten, eine Kurzform dessen vorgebetet zu bekommen, was sie sich nicht selbst erarbeiten wollten.

Jennifer hatte Aran auf einem Cocktail der Fakultät kennengelernt. Sie hatten sich anschließend mehrmals getroffen, und alles hatte sich auf ganz natürliche Weise entwickelt und war von Anfang an schön gewesen.

Jenny, Jennifer... Er nannte sie bei beiden Namen, weil sie mädchenhaft, verschmitzt und voll Mutterwitz sein konnte und ein andermal elegant, überaus zurückhaltend und auf kühle Art geistvoll. Sie hatte die besten Schulen des Landes besucht, hatte mit ihren Eltern Europareisen unternommen und arbeitete - wenn sie nicht in Delaware in der Sonne lag - in einer Kleinstadt in Virginia als Volksschullehrerin. Aran war überzeugt davon, dass sie bei ihren Schülern sehr beliebt war.

Jetzt stieg sie in das Höschen ihres Bikinis und sah damit noch verführerischer aus.

»Steh auf, du Faulenzer!«, sagte sie. »Das Meer sieht phantastisch aus.«

»Sklaventreiber«, maulte er und trottete ins Bad.

Jenny, das Oberteil ihres Bikinis in der Hand, wartete vor der Tür auf ihn. Der Strand war zwar privat, aber manchmal kam doch jemand, und dann zog sie es schnell an. Die Brandung war gering. Nur kleine Wellen spülten ihre Schaumkronen an den Strand. Jenny warf sich voll Energie ins Wasser. Aran ging etwas langsamer rein und ließ sich auf dem Rücken treiben.

Ihr erster Schrei war eher erstaunt. Gleich darauf folgte jedoch ein Schmerzensschrei. Aran rollte auf den Bauch und sah, wie sich Jenny im Wasser wand.

»Ich bin gebissen worden!«, rief sie.

Sie schwamm wie vom Teufel gejagt ans Ufer. Aran ebenfalls. Sie waren nicht weit draußen, und hier gab es keine Haie. Im flachen Wasser kamen sie außerdem nirgends vor. Jenny hatte Grund und arbeitete sich halb gehend, halb schwimmend dem Ufer entgegen, als Aran plötzlich einen Fisch springen und dann verschwinden sah. Ein Barsch. Ein ganz gewöhnlicher Barsch.

Jenny ließ sich auf den Sand fallen. Aran war einen Moment später neben ihr. An ihrer rechten Hüfte, am rechten Oberschenkel und an der rechten Fessel war eine Blutspur. Er nahm sie in die Arme, und sie sah mit verschreckten Augen zu ihm auf.

»Was hat dich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jon Messmann/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Peter Sladek.
Übersetzung: Elisabeth Simon und Christian Dörge (OT: The Deadly Deep).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2019
ISBN: 978-3-7487-0188-0

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