JOHN CRAWFORD
DIE DUNKLE LEGION
- 13 SHADOWS, Band 27 -
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE DUNKLE LEGION
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Das Buch
In Redforde sterben Menschen auf mysteriöse Weise...
Die rätselhaften Todesfälle lösen eine Panik aus. Malcolm Amberley stirbt mit einem Dolch in der Brust, als er erforschen will, was nachts auf dem nahen Hügel vor sich geht. Dort treffen sich die Teufelsanbeter zu ihren verbotenen Schwarzen Messen. Alte Legenden berichten von Spuk und Zauberei. Drei unerschrockene Männer finden auf dem Friedhof Malcolms Sarg. Er ist leer, denn er wurde aufgebrochen - und zwar von innen.
Der Roman DIE DUNKLE LEGION von JOHN CRAWFORD wurde in Deutschland erstmals im Jahr 1973 veröffentlicht (unter dem Titel Der Geisterhügel als Band 1 der Taschenbuch-Reihe VAMPIR-HORROR-ROMAN).
DIE DUNKLE LEGION erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht.
DIE DUNKLE LEGION
Erstes Kapitel
Das Gewitter, das fast die ganze Nacht drohend über dem Horizont gehangen hatte, brach kurz nach drei Uhr morgens los und ergoss sich über die dunkle Landschaft. Blitze zuckten über den Himmel, und das Grollen des Donners und kurz darauf das Platschen des Sturzregens an der Windschutzscheibe verschluckten das Geräusch des Motors.
Nur mit Mühe konnte sich Terry Amberley dazu zwingen, seine Gedanken nicht in die finsteren, lautlosen Tiefen abgleiten zu lassen. Er wusste schließlich, dass er eine unmenschlich lange Strecke hinter sich gebracht hatte, ohne auch nur einmal anzuhalten. Er reckte den krummen Rücken und konzentrierte sich wieder ganz auf die schlechte Straße, über die der Strahl der Scheinwerfer tanzte.
Seiner Schätzung nach war er noch an die fünfzig Meilen von seinem Ziel entfernt. Trotz der nervösen Hast, die ihm wie ein lauerndes Tier im Nacken saß, ging er ein wenig mit der Geschwindigkeit herunter.
Vor einer halben Stunde war er von der Fernverkehrsstraße abgebogen und hatte sein Auto über die kurvenreiche Landstraße gesteuert, die in einem regenüberströmten Nichts zu enden schien. Seine Glieder waren steif und schmerzten, das hohle Gefühl in seinem Magen machte sich immer unangenehmer bemerkbar.
Jetzt, dachte er, passt wenigstens auch noch das Wetter dazu: Vorspiel zu einer Beerdigung, die Natur in Aufruhr.
Irgendwie konnte er es immer noch nicht ganz glauben, dass sein Bruder tot war. Er schien etwas verloren zu haben, das kostbar und gleichzeitig lebensnotwendig war, und empfand eine ungeahnte Leere.
Dem Telegramm hatte er herzlich wenig entnehmen können. Er wusste also nicht, was ihn erwartete.
Vor zwei Tagen hatte es ein Ermittlungsverfahren gegeben, also konnte Malcolm keines natürlichen Todes gestorben sein. Dazu kamen andere, seltsame Details, die sich nicht zu einem erklärlichen Ganzen zusammenfügen ließen und ihm mehr Sorgen machten, als er sich im Moment eingestehen wollte.
Er streckte kurz die müden Finger, dann umfasste er das Steuer wieder mit festem Griff und riss es eine Sekunde später plötzlich herum. Fast hätte er die Kurve, die ihn aus der nassen Dunkelheit anzuspringen schien, übersehen. Er durfte sich nicht durch wirre Gedanken ablenken lassen. In Redforde würde er bestimmt auf seine unzähligen Fragen Antwort bekommen. Treherne, der beste Freund seines Bruders, der das Telegramm geschickt hatte, musste Bescheid wissen.
Eine Stunde später fiel die Straße plötzlich steil ab. Am Fuß des Hügels schimmerte ein Wirrwarr von orangefarbenen Lichtern. Ein Schild am Straßenrand: Trenterton. Jetzt hatte er es fast geschafft. Eine sehr lange Fahrt von London hierher.
Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er sich um die Beerdigung gedrückt. Malcolm war sein einziger Bruder gewesen, aber seit mindestens drei Jahren hatten sie sich nicht gesehen und auch nichts voneinander gehört. Zumindest nicht persönlich. Dass sich Malcolm hier in diesem kleinen Dorf in Mittelengland mit seltsamen Dingen beschäftigt hatte, war ihm zu Ohren gekommen. Er war damals, als man ihm davon erzählt hatte, ziemlich schockiert gewesen.
Und heute war er es erst recht. Wenn etwas an den seltsamen Gerüchten dran war, dann erklärten sich damit vielleicht die mysteriösen Umstände, unter denen sein Bruder gestorben war.
Er sah auf die Uhr. Fünfunddreißig Minuten nach vier. Über dem Wald in der Ferne bereits ein schwacher Lichtschein. Die Hügel allerdings, die ihn umgaben und wie bucklige, alte Männer aussahen, waren noch schwarz.
Die Morgendämmerung breitete sich schnell aus. Ihr grauer Schein verjagte das Gewitter. Tropfende Hecken säumten die Äcker. Zuweilen traf sein Blick auf ein Bauernhaus am Fuß eines saftigen Hügels.
Über den Rand eines flachen Hügels hinweg sah er Redforde liegen. Viele der Häuser waren hinter den uralten, hohen Bäumen versteckt, die die Main Street einsäumten, die sich wie eine graue Narbe durch die Landschaft fraß und am Ende der Ortschaft einen Hang hinauf kroch.
Es war fast fünf Jahre her, seit er zum letzten Mal in Redforde gewesen war, aber kaum etwas schien sich verändert zu haben. Ein verlassenes Nest mit einer Geschichte, die fast zwölf Jahrhunderte zurückreichte, von der Außenwelt unberührt und vergessen.
Er fuhr an den großen Steinpfosten des Tores vorbei, hinter dem am Ende der Wageneinfahrt das finstere Herrschaftshaus stand, lenkte sein Auto durch die verlassene Main Street und zog vor dem efeubewachsenen Haus neben der Kirche aus dem 12. Jahrhundert die Bremse.
Er schaltete den Motor ab, und die totale Stille, die ihn plötzlich umgab, war ihm unheimlich.
Er stieß die Autotür auf und stieg aus. Die Kirchturmuhr schlug. Viertel nach fünf. Er hatte länger gebraucht als vermutet. Nur widerwillig ging er auf
die Haustür zu. Er musste sich erst einen Idioten schimpfen und tief Luft holen, bevor er klopfte.
Drei Minuten später wurde aufgemacht, und Ralph Treherne stand vor ihm. Mit seinem Vollbart, der ihm das Gesicht verfinsterte, sah er seltsam fremd aus. Er bat Amberley herein und schloss mit einer fast verstohlen wirkenden Bewegung die Tür.
»Bin ich froh, dass du so schnell kommen konntest, Terry!«, sagte Ralph und schob den jungen Mann in den Salon. »Ich hätte dir nie zugemutet, die Nacht hindurch zu fahren, aber jetzt, wo du da bist, bin ich heilfroh. Setz dich. Ich hole dir etwas zu trinken. Du scheinst einen ordentlichen Schluck gebrauchen zu können.«
»Richtig.«
Terence Amberley ließ sich in einen Sessel neben dem Kamin fallen, in dem die Asche noch leicht glühte. »Soviel ich deinem Telegramm entnommen habe, ist die Beerdigung doch schon am frühen Nachmittag, und ich wollte rechtzeitig da sein.«
Ralph Treherne kam mit einem Drink zurück und wartete, bis Amberley fast die Hälfte getrunken hatte, bevor er sprach. Eine Schulter gegen den Kaminsims gelehnt, machte er eine zögernde Handbewegung.
»Unter den gegebenen Umständen«, sagte er, »wusste ich nicht, was ich tun konnte. Ich fand deine momentane Adresse unter Malcolms Papieren und habe dir dann gleich nach dem Ermittlungsverfahren das Telegramm geschickt.« Er sah Terry Amberley von der Seite an. Offensichtlich wartete er auf ein ermutigendes Wort. »Ich hatte den Eindruck«, fuhr er fort, als es ausblieb, »dass Malcolm und du, dass ihr in den letzten Jahren wenig zusammen gewesen seid. Er hat ein- oder zweimal von dir gesprochen, aber auch nicht mehr.«
»Jeder hatte mit sich und seiner Arbeit genug zu tun, und Malcolm hat es vorgezogen, sich hier in Redforde zu vergraben und seinen seltsamen Recherchen nachzugehen.«
Terry beobachtete seinen Gesprächspartner genau und wartete auf seine Reaktion. Er sollte nicht enttäuscht werden. Bei der Erwähnung der seltsamen Recherchen1, die Malcolm angestellt hatte, blickte Treherne auf sehr schuldbewusste Weise zu Boden, und Terry war sich plötzlich sicher, dass mehr hinter dem Ganzen steckte, als er bisher geglaubt hatte.
Er war müde nach der langen, anstrengenden Fahrt, aber nicht so sehr, dass er nicht gemerkt hätte, wie sehr sich dieser Mann hinter seinem ruhigen Äußeren zu verstecken suchte.
Er ging nervös im Salon auf und ab, die rechte Hand um sein Whiskyglas geklammert. Der Teppich verschluckte seinen Schritt. Endlich blieb er vor dem Fenster stehen, schob den schweren Vorhang zur Seite und sah auf die Straße hinaus.
»Willst du mir nicht sagen, wie mein Bruder gestorben ist?«, fragte Terry, als -das drückende Schweigen anhielt und Ralph keine Anstalten machte, davon zu erzählen. »Nachdem ein Ermittlungsverfahren angestrengt worden ist, nehme ich an, dass die äußeren Umstände etwas außergewöhnlich waren.«
»Vieles, was im Zusammenhang mit Malcolms Tod steht, war mehr als außergewöhnlich.«
»Zum Beispiel?«
Treherne zuckte mit den Schultern und leerte sein Glas.
»Der Ort, an dem seine Leiche gefunden wurde, die Art, wie er gestorben ist, und wohl vor allem die Natur der Dinge, die er überprüft hat.«
»Ich fürchte, ich verstehe dich nicht.« Terry lehnte sich in seinem Sessel zurück. Die Worte des jungen Mannes erschreckten ihn.
Ralph Treherne setzte sich und ließ die Hände zwischen den Knien nach unten hängen. Er starrte eine Zeitlang auf das leere Glas, als sei die Antwort auf so manche Fragen in die glatte Oberfläche geschrieben. Dann hob er endlich den Kopf, und jetzt erst fiel es Terry auf, wie sehr Ralph in den letzten zwei Jahren gealtert war. Die Ränder unter den Augen und die Falten in der Stirn waren wie mit dem Messer eingekerbt. Außerdem wurde er an den Schläfen schon grau. Und das mit knapp dreißig.
»Terry«, begann er zögernd, »bevor du überhaupt einiges von dem Grauenvollen verstehen kannst, das sich ereignet hat, musst du gewisse Dinge als gegeben hinnehmen. In dieser Grafschaft regiert der Aberglaube. Er ist hier tiefer verwurzelt, als sonstwo. Es gibt hier unerklärliche Erscheinungen, die sich aus dem Mittelalter in unsere Zeit herübergerettet haben. Sie gehören zum Leben der Menschen, und nicht einmal die Kirche hat es geschafft, sie auszumerzen, wobei sich jeder neue Vikar noch fieberhafter ins Zeug gelegt hat als sein Vorgänger. Die alten Ideen sind unsterblich. Hexerei, die Auferstehung der Toten, Geister, Übernatürliches - nenn es wie du willst. Hier läuft alles unter einem Namen: Schwarze Magie.«
»Und du glaubst, dass Malcolm etwas damit zu tun hatte?«
Wenn Ralph nicht so ernst geblieben wäre, hätte Terry frei hinausgelacht. Aber es war ihm nicht nach Lachen zumute, denn die Angst des jungen, früh ergrauten Mannes war spürbar.
»Ich glaube es nicht, sondern ich weiß es. Er hat damit zu tun gehabt, aber nicht so, wie du meinst. Er hat die alten Legenden lediglich auf rein wissenschaftlicher Basis untersucht. Er wollte den Fortbestand des Bösen durch die Jahrhunderte hindurch beweisen.« Er überlegte kurz, dann wurde seine Stimme ungeduldig. »Schau mich doch nicht so an. Ich weiß, dass sein Tod ein schwerer Schock für dich gewesen; ist, aber ich weiß auch, was ich sage. Diese Gegend ist verpestet, und nirgends ist das Böse mehr zu Hause als zwischen den drohenden Steinen draußen vor der Ortschaft, wo die Leiche deines Bruder vor vier Tagen gefunden wurde.«
»Weiter«, sagte Terry, als Ralph zögerte. »Was ist geschehen?«
»Er muss spät am Abend hinausgegangen sein. Wahrscheinlich hat er etwas gesucht. Er war überzeugt, dass es gewisse psychische Kräfte gibt, die dort draußen noch wirksam sind, und ist deshalb oft stundenlang herumgewandert zwischen den Gesteinsbrocken, die wie drohende Finger in den Himmel weisen - daher der Name. Als er am nächsten Morgen noch nicht wieder zurück war, habe ich nach ihm gesucht. In der Dunkelheit kann man leicht fallen und sich ein Bein brechen, habe ich gedacht.«
Terry hatte das vage Gefühl, dass Ralph auf etwas Bestimmtes hinauswollte, aber nicht den richtigen Anfang fand.
»Ich habe ihn sofort gefunden«, fuhr Ralph fort. »Er lag mit dem Gesicht nach unten in einem Rund, das von Felsblöcken umgeben ist. Ich dachte zunächst, dass er gestürzt sei und sich am Kopf verletzt habe. Ich habe ihn umgedreht und dann...«
Er brach ab und schüttelte sich vor Entsetzen.
»Es war grauenvoll! Ich werde das Gesicht mein Leben lang nicht vergessen! Aber es war nicht das allein. In seiner Brust steckte ein Messer, bis ans Heft hineingetrieben, und seine Finger umklammerten den Griff.«
Terry Amberley spürte, wie ihm ein Schaudern durch den Körper ging. Es war ihm, als habe sich eine fremde Angst seiner bemächtigt.
»Willst du damit sagen, dass er sich umgebracht hat?«, fragte er fassungslos.
Ralph Treherne sah ihn mit starrem Blick an, seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich in seinem Gesicht. »Du hast Malcolm genauso gut gekannt wie ich. Er hätte sich nie das Leben genommen.«
»Sondern? Meinst du, dass er ermordet worden ist?«
»Der Ermittlungsrichter glaubt nicht an Mord. Die Möglichkeit wurde kurz erwähnt, aber sofort abgetan. Alle Beweise sprachen dagegen. Die einzigen Fingerabdrücke auf dem Messer waren seine eigenen. Dr. Harmon hat angegeben, dass er praktisch auf der Stelle tot war und es für einen anderen unmöglich gewesen wäre, ihm die Finger in der Weise um den Messergriff zu legen. Ganz abgesehen davon wurde die Frage der Fußspuren aufgeworfen. Am frühen Abend hatte es geregnet, und der Boden war durchnässt und weich. Außer Malcolms Spuren hat man nichts entdeckt. Und meinen, natürlich.«
»Dann scheint der Fall doch völlig klar zu liegen«, sagte Terry Amberley und goss sich noch einen Whisky ein.
Das graue Licht der Dämmerung war vom gelben Schein des neuen Tages vertrieben worden, und in dem Salon war es hell. Terry bemühte sich krampfhaft, die Müdigkeit zu verscheuchen, aber sie wollte nicht weichen.
»Ich wollte, ich könnte mir dessen so sicher sein wie der Ermittlungsrichter«, sagte Ralph und stand mühsam auf. »Der Fall hat so viele lose Enden, und niemand scheint in der Lage zu sein, die richtigen miteinander zu verknüpfen. Von der Tatsache, dass Malcolm kein Mensch gewesen ist, der Selbstmord begeht, einmal abgesehen, ist auch das Messer absolut nicht zufriedenstellend erklärt. Ich habe es nie in seinem Besitz gesehen. Dabei habe ich deinen Bruder besser gekannt als sonst jemand. Wenn es zu seiner außergewöhnlichen Sammlung gehört hätte, wäre es mir aufgefallen. Davon bin ich überzeugt. Nein, Terry, ich hatte genug Zeit, über diesen Fall nachzudenken, und bin von Stunde zu Stunde fester überzeugt, dass dein Bruder ermordet worden ist.«
»Du willst mir doch hoffentlich nicht einreden, dass ihn jemand erstochen haben soll, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen, und es obendrein noch geschafft hat, dass alles auf Selbstmord hindeutet?«
»Nein, das will ich ganz bestimmt nicht.«
»Sondern?«
Ralph Treherne lächelte schwach. »Ich kann dich gut verstehen und mache dir keinen Vorwurf, dass du so skeptisch bist, weil du eben nicht wie ich all die Jahre damit zu tun hattest. Vielleicht habe ich es sogar irgendwie kommen sehen, ich konnte nur nichts dagegen unternehmen. Ich glaube, dass Malcolm im Verlauf seiner neueren Recherchen etwas entdeckte, das vielleicht seinen Geist beherrscht und ihn gezwungen hat, sich das Messer in die Brust zu treiben.«
»Ralph - bitte, bleibe mit den Beinen auf der Erde!«
Terry Amberley ging zum Fenster und sah auf das regennasse Land hinaus. Zwischen hohen Hecken ein schmaler, sich windender Pfad, der über einen Hügel kletterte, auf dessen oberem Rand große Steinsäulen in den Morgenhimmel ragten, als müssten sie Gott und den Menschen trotzen. Dort oben hatte Malcolm den Tod gefunden.
Er schauderte zusammen. Nicht, weil es kühl war im Salon, sondern weil ein seltsam frostiger Hauch seinen Körper streifte.
»Du glaubst mir nicht.« Keine Spur von Gefühlsduselei in Ralphs Stimme. Offensichtlich hatte er damit gerechnet und wäre erstaunt gewesen, hätte der Bruder seines Freundes anders reagiert. »Du darfst aber nicht vergessen, dass wir nicht in London sind. Wir sind hier den alten Geschichten näher und verbundener mit ihnen als ihr in der Großstadt. Wer von uns klug genug ist, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und nicht so, wie wir sie gern hätten, spürt oft das, was im Bösen mitschwingt. Dein Bruder gehörte auch dazu.« .
»Ich habe nicht behauptet, dass ich dir nicht glaube, Ralph, aber - gerechter Himmel - wir befinden uns schließlich im zwanzigsten Jahrhundert und nicht im tiefsten Mittelalter!«
»Richtig.« Ralph Treherne seufzte etwas dramatisch. Er zündete sich eine Zigarette an und ging zur Tür. »Ich kann nur hoffen, dass du nach der Beerdigung noch ein paar Tage in Redforde bleiben kannst. Vielleicht änderst du dann doch etwas deine Meinung.«
Er sah Terry Amberley einen Moment mit forschendem Blick an, dann entschuldigte er sich. Terry hörte ihn die Treppe hinaufgehen. Eine Tür wurde aufgemacht und geschlossen.
Er stützte sich auf den Fenstersims und sah wieder hinaus.
Zum ersten Mal seit seiner Ankunft kam ihm alles auf seltsame Weise bekannt vor. Er war schon hier gewesen, sicherlich, aber er hatte sich nicht an die Landschaft erinnert.
Plötzlich war er verwirrt, unlogische und ihm völlig fremde Gedanken drangen auf ihn ein.
Terry hielt sich am Sitz fest, als sie durch das alte schmiedeeiserne Tor des kleinen Friedhofs fuhren, und ein Schaudern kroch über seinen Körper. Die Rotbuchen streckten die regennassen Äste in den Himmel. Die Wagen mit den Trauergästen hielten vor der efeubewachsenen Kirche.
Er stieg aus und ließ den Blick über die moosbedeckten Grabsteine schweifen. Graue Nebelschwaden zogen über die Wege zwischen den Gräbern und schienen sich um die Stämme der Bäume zu winden. Die feuchte Kühle kroch durch alle Nähte.
Der Sarg wurde aus dem Leichenauto gehoben und zu dem Grab getragen, das in der nassen Erde gähnte. Der Kies knirschte unter dem Schritt der Trauernden. Der Vikar hielt den Kopf gebeugt und sah von unten herauf auf die kleine Prozession, die näher kam. Vorsichtig wurde der Sarg in das Grab gelassen.
Amberley stand mit hängenden Armen am Grab und beobachtete die anderen aus den Augenwinkeln. Einige von ihnen erkannte er wieder. Barcroft, mit seinen undurchdringlichen Zügen. Und Dr. Harmon, grauhaarig und für seine siebenundfünfzig Jahre sehr alt aussehend.
Andere Gesichter bedeuteten ihm nichts und öffneten keine Türen in seiner Erinnerung.
Sie standen um das Grab herum. Amberley spürte den Nebel in seinem Nacken und unterdrückte ein Husten. Der Vikar trat einen Schritt nach vorn, die offene Bibel mit dem purpurroten Buchzeichen in der Hand. Er begann zu sprechen. Seine Stimme war weich und tragend.
»Die Tage des Menschen sind gezählt, und selbst mitten im Leben sind wir im Tod. Der Herr aber hat uns versprochen, uns am Jüngsten Tag zu sich ins Himmelreich zu holen. Wir werden auferstehen, die Gräber werden sich öffnen und die Toten freilassen, damit sie nach ihren Taten gerichtet werden...«
Amberley hörte die weiteren Worte wie aus unendlicher Ferne. Er hatte das Gefühl, nicht zu der kleinen Trauergemeinde zu gehören. Irgendwann fiel Erde auf das blankpolierte Holz des Sarges, der Nebel verschluckte das Geräusch. Jemand hüstelte, ein anderer scharrte mit dem Fuß.
Wieder sprach der Vikar. Genauso monoton wie. vorher: »Asche zu Asche, Staub zu Staub. Wir vertrauen unseren von uns gegangenen Bruder der Erde an, aus der er gekommen ist, mit der gläubigen Gewissheit, dass Gott in seiner unendlichen Güte seine Sünden vergeben und seine Seele zu sich erheben wird. Amen.«
Ralph Treherne stand ein paar Schritte von Amberley entfernt, den Kopf gebeugt, den Blick in das Grab gesenkt. Er wirkte wie jemand im Trancezustand. Wie jemand, der sich dessen, was um ihn herum vor sich geht, nicht bewusst ist.
Als der Totengräber näher kam, die Schaufel hinter sich herziehend, hob Treherne den Kopf. Es schien ihn Mühe zu kosten. Plötzlich stand ein völlig veränderter Ausdruck auf seinem Gesicht. Er zuckte zusammen und konnte sich kaum mehr aufrecht halten.
Einen Moment lang dachte Terry, der Kummer um den besten Freund, der da unten in seinem kalten Sarg lag, sei daran schuld, doch dann sah er zu seinem Entsetzen, dass Treherne nicht in das Grab blickte, sondern über die gebeugten Schultern des Vikars hinweg auf die kleine Baumgruppe am Rande des Kirchhofs. Amberley folgte dem angstvollen Blick. Plötzlich schien alles tödlich still zu sein.
Nichts. Nur Nebelschwaden und die dunklen Silhouetten der Bäume.
Trotzdem hätte Amberley schwören können, dass er etwas gesehen hatte. Der kalte Schweiß lief ihm über den Rücken. Sein Magen krampfte sich zusammen. Irgendetwas war da unter den Bäumen.
Aber was - in Gottes Namen? Er strich seltsam formlos durch die Bäume. Amberley hatte das Gefühl, als ob eine Nebelschwade versuche, menschliche Form anzunehmen. Ein ungewohntes Prickeln an seinen Schläfen, das sich zu einem stechenden Schmerz steigerte. Wie mit dem Boden verwachsen, mit pelzigen Armen und Beinen, starrte er auf die Nebelgestalt, die jetzt vor die Baumgruppe getreten war. Sein Atem stockte, seine Kehle war trocken.
Er hörte, wie Ralph Treherne schwer atmete. Der Beweis, dass der junge Mann dasselbe sah wie er.
Die Fingernägel in das Fleisch seiner Handflächen gebohrt, stand Amberley da und war unfähig, den Blick abzuwenden. Dass dort ein Mann stand, war für ihn inzwischen Gewissheit geworden. Ein Mann mit verschwommenem Gesicht, auf dem Kopf eine Art Kappe, die Augen so tief in den Höhlen, dass sie wie Löcher in einem Totenschädel aussahen.
Ralph Trehernes unterdrückter Schrei war kaum zu hören - ein ersticktes Rasseln in seiner Kehle, das im Aufprall der Erdschaufeln auf dem Sarg unterging. Amberley zwang sich, den Kopf von der Nebelgestalt abzuwenden und sah in das aschfahle, völlig eingefallene Gesicht des jungen Mannes. Trotz der feuchtkalten Luft standen ihm Schweißperlen auf der Stirn und liefen ihm über den Nacken in den Hemdkragen. Er drückte die Augen zu und wischte sich mit der flachen Hand über das Gesicht.
« Dr. Harmon unterbrach Terry Amberleys verwirrte Gedanken. »Geht es Ihnen nicht gut, Treherne?«, fragte er.
»Was? Ach Sie sind es, Doktor.« Ralph Treherne riss sich sichtlich zusammen. »Ja, schon. Es muss die Aufregung der letzten Tage sein.«
»Sie sehen auch nicht sonderlich wohl aus, Mr. Amberley«, sagte Harmon freundlich. »Vielleicht kommen Sie beide kurz mit in meine Praxis. Man hat mir erzählt, Mr. Amberley, dass Sie die ganze Nacht durchgefahren sind. Ich gebe Ihnen etwas zum Schlafen. Sie machen einen völlig ausgelaugten Eindruck.« -
Terry Amberley versuchte mit aller Kraft, das unkontrollierte Zittern seines Körpers zu unterdrücken. Während er den Arzt höflich ansah. schien jeder Nerv seines Körpers zu vibrieren. Er konnte nicht anders, er musste noch einmal zu der Baumgruppe hinübersehen: aber dort war nichts mehr. Nur der Nebel schien an der Stelle etwas dichter zu sein.
Dr. Harmon hakte sich bei ihm ein und führte ihn aus dem Friedhof. Ralph Treherne folgte ihnen. Hinter einem steinernen Rundbogen warteten die Wagen. Dr. Harmon sprach kurz mit einem der Fahrer. Der Mann nickte, bedachte Terry mit einem neugierigen Blick und setzte sich hinter das Steuer.
»Ich habe ihm gesagt, dass er uns direkt zur Praxis fahren soll«, erklärte der Arzt und setzte sich neben Amberley. »Ich nehme an, dass Sie keine Lust haben, mit all den anderen zu reden. Der Tod Ihres Bruders muss ein schwerer Schock für Sie gewesen sein. Unfasslich! Ich habe Malcolm gut gekannt. Er war in gewisser Weise ein seltsamer Mensch, vielleicht etwas exzentrisch, aber er hat gut hierher gepasst und wahr sehr beliebt bei den Leuten.«
»Mag sein, aber seine Recherchen scheinen mir nicht nur sehr exzentrisch, sondern vor allem höchst gefährlich gewesen zu sein.«
»Gefährlich?« Der Arzt sah Ralph Treherne mit einem schnellen Seitenblick an. »Wieso?«
»Das fragen Sie?« Terry machte aus seinem Erstaunen kein Hehl. »Jeder scheint doch der festen' Überzeugung zu sein, dass Malcolm an dem kaputtgegangen oder - um es noch stärker auszudrücken - dass Malcolm von dem zerstört worden ist, was sein ganzes Interesse in Anspruch genommen hat.«
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: John S. Glasby/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Peter Sladek.
Übersetzung: Elisabeth Simon und Christian Dörge (OT: Dark Legion).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2019
ISBN: 978-3-7487-0186-6
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