FRANK DUWALD
Die grünen Frauen
Erzählungen
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
Vom Schreiben und den Dingen in unseren Träumen - Ein Vorwort von Richard Lorenz
Die Wörter an der Wand
Die lange Nacht
Gespräche mit der Maschine
Das Spiel kann beginnen
Die Statuette
Die grünen Frauen
Anmerkung des Autors zu Die grünen Frauen
Quellenhinweise
Das Buch
Die grünen Frauen von Frank Duwald enthält sechs Erzählungen - meisterhaft illustriert von Alexandra F./Projekt wort:rausch -, die zwischen angedeuteter Phantastik und Spiegelungen über das Leben und die Hingabe an das Schreiben/die Kunst pendeln: »Denn das Leben zeigt sich oft als Ungeheuer, als jenes Monstrum, dem wir nie begegnen wollten. Verlust, Tod, Sucht oder Angst sind die stärksten Motoren des Seins, die Maschinerie der mondlosen Nächte. Offenbarend als schlechte Träume, als Szenarien eines Herzstillstandes. Wie ein Halloween-Schrecken bereiten uns Bücher darauf vor, öffnen den Sarg schon beizeiten.« Jede dieser sechs Erzählungen erweist sich dabei als Kunstwerk, als Kleinod, dessen erzählerische Dichte den Leser von der ersten bis zur letzten Zeile in seinem Bann belässt – und so entstehen literarisch-wahrhaftige Bilder, die unvergessen bleiben.
Der Autor
Frank Duwald, Jahrgang 1965.
Frank Duwald ist ein deutscher Autor von Erzählungen.
1994 erschien Frank Duwalds erste Erzählung Wörter an der Wand, der bis 2014 weitere folgten, die allesamt in den Erzählungsband Die grünen Frauen (2019) enthalten sind.
Daneben veröffentlicht er seit Jahrzehnten Buchbesprechungen und Autorendarstellungen.
Seit 2013 schreibt er vornehmlich für die Online-Präsenz Dandelion - abseitige Literatur (https://dandelionliteratur.wordpress.com) über vergessene und zu Unrecht missachtete Literatur.
Frank Duwald lebt und arbeitet in Hamm.
Vom Schreiben und den Dingen in unseren Träumen -
Ein Vorwort von Richard Lorenz
Warum schreiben wir?
Es ist jene große und mysteriöse Frage, die uns beschäftigt – neben jener, was Erzählungen in uns bewirken. Gute Geschichten erzeugen einen Klang, einen Ton, wenn nicht sogar eine Melodie. Einen ganz bestimmten Sound des Leben und des Sterbens. Erzählungen müssen immer über die Unterhaltung hinausgehen, denn sonst droht ihnen das Vergessen, droht ihnen das Vergängliche. Dennoch verenden viele Bücher noch vor dem ersten Herzschlag. Vielleicht auch, weil ihnen das Grundsätzlichste fehlt: Eine Röntgen-Aufnahme der Seelen-Landschaften.
Denn wir schreiben vorwiegend, um Dinge unvergessen zu machen. Um Abseitigkeiten zu erklären, um Unsichtbares einzufärben. Selbst scheinbare Unterhaltungs-Romane wie Stephen Kings Shining verstecken tief verborgen eine weitere Geschichte in sich. Mit Erzähl-Technik hat das allerdings herzlich wenig zu tun – sondern mit dem Drang des Autors, den Leser zu einer Operation zu verleiten. So erhellen sich die wahren Bücher erst auf den zweiten Blick, offenbaren dabei erst die ganze Wahrheit.
Denn das Leben zeigt sich oft als Ungeheuer, als jenes Monstrum, dem wir nie begegnen wollten. Verlust, Tod, Sucht oder Angst sind die stärksten Motoren des Seins, die Maschinerie der mondlosen Nächte. Offenbarend als schlechte Träume, als Szenarien eines Herzstillstandes. Wie ein Halloween-Schrecken bereiten uns Bücher darauf vor, öffnen den Sarg schon beizeiten.
So ist es kein sonderliches Wunder, dass wir uns vor solchen Geschichten, die über die Unterhaltung hinausgehen, fürchten. Sie beleben die Dinge in unseren Träumen. Philip K. Dick skizziert unsere Zukunfts-Ängste, Cornell Woolrich die Abgründe der Gegenwart – wenngleich beide dem Genre zugeschrieben werden, beschreiben sie doch ein Implantat, tief in den Herzkammern versteckt. Damit führen sie das Genre ad absurdum und gelten zurecht als große Schriftsteller.
Auch der Autor Frank Duwald sucht nach diesen Ängsten in den Menschen, seziert mit sicherer Hand die Nervenstränge des Lebens. Dafür, um es sichtbar, erkennbar zu machen, brauchen wir im Grunde keine Untoten. Duwald nutzt vor allem die Abgründe in jedem Herzen, um die Absurdität der Liebe, des Hasses und des Verlustes zu malen. Dabei nutzt er die Form der Erzählung, auch weil sich in diesen Episoden immer wahres Können zeigen muss. Es gilt, keine Zeit zu verschwenden und dennoch einen ganzen Kosmos abzulichten. Blitzlichtaufnahmen einer merkwürdigen Welt, die uns allerdings vertraut erscheint, weil wir genau von jener Welt träumen.
Seine Erzählungen sind keine harmlosen Momentaufnahmen einer besseren Gegenwart. Sie werden sich beim Lesen nicht vollkommener fühlen. Und sie dienen auch nicht der einfachen Unterhaltung zum Einschlafen.
Duwalds Erzählungen in diesem Buch führen uns an die Abseitigkeiten heran, nehmen uns behutsam an der Hand und versprechen nichts. Und halten doch viel mehr.
Mit den Mechanismen der Phantastik gibt Duwald Auskunft über Glück und Unglück, über dunkle Orte und noch dunklere Atemzüge. Es sind keine einfachen Chiffren des Lebens, denen er sich bedient – und gerade deshalb glimmen seine Erzählungen nach. Auch, weil in seinen Figuren immer noch mehr steckt, als man auf den ersten Blick wahrhaben möchte.
Gleich einem Schwarm Leuchtkäfer erhellen seine Episoden eine Herbstnacht, bringen uns zurück an das Fundamentale und lassen uns jenes glauben: Das Leben hält immer Überraschungen für uns bereit.
Ganz bewusst entscheidet sich Duwald meist für phantastische Grundelemente, da sie unserem täglichen Streben nahe kommen. Der Glauben an ein Weiterleben fundiert in Phantastik, ebenso wie die Angst vor dem Tod, als Resümee des Verlustes. Denn letztendlich spiegeln Träume nichts anderes als das Verlangen nach Unsterblichkeit und Unverletzlichkeit. Und sind somit Wahrhaftigkeit und Phantastik zugleich.
Warum schreiben wir?
Letztendlich kann man diese Frage nicht ganz beantworten, sie vielleicht nur erahnen. Wir schreiben aus dem gleichen Grund, weshalb wir lesen. Und Musik hören, malen und lieben. Das Leben ist grundsätzlich ein Paradoxon, das uns hinter das Licht führen möchte. Vielleicht auch nur ein Theater-Spiel auf eine sehr wackeligen Bühne, gezimmert aus den Brettern von alten Leichenhallen.
Wir brauchen Kunst, um das alles erträglich zu machen. Um das Licht heller werden zu lassen.
Dazu brauchen wir Musik, Bilder, Filme. Und wir brauchen Bücher. Geschichten, die uns das eigene Versagen, die eigenen Ängste erklären und abschwächen.
Und für Bücher brauchen wir gute Autoren.
Ich bin mir sicher, Frank Duwald gehört längst zu ihnen.
- Richard Lorenz
Die Wörter an der Wand
1. Abgrund
Ich sah die Wörter an der Wand genau in dem Augenblick als ich auf der Leiter meines Lebens auf gleich mehrere angesägte Sprossen trat und in die Tiefe stürzte.
Die Idee, es gebe irgendeine großzügige Macht, die das Unglück gerecht auf alle Schultern verteilt, ist ein Trugschluss. Ich habe innerhalb einer Woche meine Wohnung, meinen Arbeitsplatz und meine Freundin verloren. Ich weiß, wovon ich spreche.
Die Nachricht meiner Vermieterin, wegen Eigenbedarfs meinen im Juli auslaufenden Mietvertrag nicht weiter verlängern zu können, nahm ich ohne große emotionale Krise auf. Ein Ortswechsel, dachte ich, würde mir gut tun. Ich hatte dieses verfluchte Neubaugebiet ohnehin satt. Eifrige, bis an ihr Lebensende verschuldete Zweifamilienhauseigner, die nichts anderes im Sinn hatten als ihren Rasen zu mähen, ihre nagelneuen Autos (noch mehr Schulden!) zu waschen und irgendwo am Haus entweder zu sägen oder zu bohren, sind nie mein Ding gewesen. Trotzdem, wohl der Bequemlichkeit wegen, hatte ich es hier in einer Art stillen Niedergeschlagenheit viele Jahre ausgehalten, ohne je den entscheidenden Anstoß erhalten zu haben, der mich auf ein anderes Gleis manövriert hätte. Insofern sah ich die Wohnungskündigung als eine Herausforderung an, der Gleichförmigkeit mit neuen Impulsen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Ich freute mich darauf, zusammen mit meiner Lebensgefährtin Agnes die Wohnungsangebote in der Zeitung durchzugehen. Vielleicht würde Agnes jetzt mit mir zusammenziehen. Ich dachte an eine ruhige Wohnung auf dem Lande, in einem Altbau aus grobem, unsymmetrischem Stein und Holz. Wir könnten uns einen Hund aus dem Tierheim holen und eine kleine Familie im Grünen gründen. Als ich Agnes am Telefon auf meine Gedanken einstimmen wollte, sagte sie, dass wir uns unterhalten müssten.
»Wir müssen uns sehen.«
»Warum?«
»Am besten jetzt gleich.«
»Muss ich dir wieder einen Lippenstift aus dem Klo fischen?« Sie ließ dauernd etwas in die Toilette fallen und hatte dann nicht den Mumm, die Sache in die Hand zu nehmen.
»Bis gleich!«, antwortete sie nur.
Da wusste ich, dass die erste Sprosse geknackt war und ich an einer Hand über der Untiefe hing.
Ich schnappte mir Schlüssel und Portemonnaie und ging den Kilometer zu Agnes' kleiner Wohnung. Sie öffnete auf mein Klingeln hin und ging sofort ins Wohnzimmer, da sie mich offenbar nicht ansehen konnte.
»Wir müssen uns trennen«, sagte sie, noch bevor ich saß. Etwa eine Minute schwiegen wir. Dann stand ich auf und ging.
»Jetzt warte doch! Ich will es dir erklären, verdammt«, rief sie mir hinterher.
»Scheiße, scheiße«, hörte ich noch, ehe die Tür ins Schloss fiel.
Bei dem Gedanken ist mir zum Lachen zumute. Während in sentimentalen Filmen die Frau dem Geliebten ein Ich werde dich trotzdem immer lieben hinterher ruft, waren die berühmten letzten Worte meiner Partnerin: »Scheiße, scheiße.«
Völlig betäubt ging ich an diesem Abend nach Hause. Die Sonne ging gerade unter und vermählte sich in einem Fest aus Orange und Lila mit dem Horizont. Es war ein warmer Abend, und ich beschloss, noch eine Runde zu drehen. Ich steckte mir eine Zigarette an und wanderte ziellos durch die ausgedehnten Eigenheimparzellen. Hier und da war noch ein Frauchen mit ihrem Hund unterwegs, aber ansonsten war ich allein.
Erst am nächsten Tag jedoch wurde mir so richtig klar, dass irgendein launischer, seniler Gott das Thema Gerechtigkeit mit einem unschönen Humor betrachtete. Mit leidender Miene, teilte mir mein Abteilungsleiter die Kündigung mit: »Sie dürfen das nicht persönlich nehmen. Das hat nichts mit Ihren Leistungen zu tun. Aber als einzigen Ledigen in Ihrer Abteilung hat es einfach Sie erwischt.«
Es gab keine theatralischen Szenen, keine Ohrfeigen, kein wütendes Herumgebrüll. Meine Arbeitskollegen waren ehrlich betroffen, aber man sah ihnen auch die Erleichterung an, selbst noch einmal davongekommen zu sein. Ich arbeitete, wie sich das gehört, mein bereits begonnenes Angebot weiter aus und wurde um kurz vor drei damit fertig. Die Auszubildende übertrug das Leistungsverzeichnis und tippte das Anschreiben, so dass es noch pünktlich rausgehen konnte.
Ich beschäftigte mich noch bis Viertel nach Vier und machte pünktlich Feierabend. Wie jeden Tag ging ich zum Parkplatz, ließ jedoch heute mein Auto stehen und nahm den Bus zum Bahnhof. Dort kaufte ich eine Fahrkarte nach Iserlohn. Da ich noch etwas Zeit hatte, bis der Zug kam, schlenderte ich in die Bahnhofsbuchhandlung und blätterte alle Zeitungen durch, die mich auch nur im Entferntesten interessierten. Ich las, dass ein katholischer Pastor einem Messdiener an den Popo gefasst und Jürgen Zeltinger eine neue Platte mit dem Titel Scheiße veröffentlicht hatte. Sehr treffend.
Ich genoss die Zugfahrt. Das wilde Klappern und Rattern des Wagons hatte etwas wohltuend Anachronistisches an sich. Die aufgeschlitzten Kunststoffsitze sagten mir, dass es tatsächlich eine Welt jenseits meines Zweifamilienhaus-Kosmos gab.
Und dann sah ich zum ersten Mal die Wörter an der Wand. Ich sah sie an und wusste, dass ich für das Leben, wie ich es kannte, verloren war.
Ein anonymer Künstler hatte ein faszinierendes Graffito an die vergilbte Wand des Wagons gesprüht. KUSS, CATHERINE, in einer seltsam geschnörkelten und geklecksten Handschrift verfasst, stand dort. Ich beschloss, sie abzumalen. Ich hatte einen Kugelschreiber dabei, und unter dem Sitz auf der anderen Seite des Ganges fand ich einen Zeitungsfetzen. Zwar war er mit kleinen, getrockneten Ringen von einer bräunlichen Flüssigkeit übersät, aber mir erschien die Botschaft zu bedeutsam, als dass ich wegen eines versyphten Stücks Zeitung auf sie verzichtet hätte.
Das Abteil war weitgehend leer. Nur ein Mann mit einem schmuddeligen grauen Anzug und weißem Rollkragenpulli (bei 30 Grad im Schatten, wohlgemerkt) saß drei Sitze vor mir. Manchmal schielte er, ohne den Kopf zu drehen, zu mir herüber, aber ansonsten schenkte er mir keine Beachtung.
Originalgetreu, Linie für Linie, Bogen für Bogen malte ich die Buchstaben ab und achtete darauf, dass ich exakt die gleichen Handbewegungen ausführte, wie der anonyme Graffiti-Sprüher wahrscheinlich vor mir. So gesehen gab es jetzt eine Art Verbindung zwischen mir und dem Sprüher.
In genau diesem Moment fasste ich den Entschluss. Wenn ich bedenke, von welcher persönlichen Tragweite dieser Vorsatz war, erstaunt es mich, wie leicht es mir fiel, ihn tatsächlich in die Tat umzusetzen. Ich beschloss, mich von der sichtbaren Welt zu verabschieden. Die Wörter an der Wand bestärkten mich in dem Gefühl, dass neben der sichtbaren Welt irgendwie eine verborgene, geheime Nische existierte.
Bis auf den Hundertmarkschein, die Scheckkarte und meine Kleidung entledigte ich mich all meines Besitzes. Mühsam zog ich das schwergängige Fenster herunter und warf nacheinander meine Schlüssel, Personalausweis, Führerschein, Bibliotheksausweis und zuletzt das nun dünne Portemonnaie in die brüllende und fauchende Welt jenseits des Wagonfensters.
Ich kann wohl nicht abstreiten, dass dies im Grunde genommen ein schrecklich pathetischer Akt völligen Selbstmitleids war. Denn ich stellte mir vor, wie Agnes, meine Arbeitskollegen, meine Vermieterin, wie sie alle mich vermissen würden. Irgendwann würde die Polizei eingeschaltet werden. Irgendein lustloser Arbeiter von der Schienenkontrolle würde meinen Pass auflesen, aber niemand würde mich finden, denn ich existierte nicht mehr. Ich war namen- und identitätslos. Das Hinauswerfen meines Besitzes kam einem Abschiedsbrief gleich, und ich denke, dass jeder schon einmal seinen persönlichen Abschiedsbrief geschrieben hat und sei es nur in seiner Phantasie. Abschiedsbriefe werden nie für andere Menschen geschrieben, sondern immer nur für sich selbst. Man will beeindrucken, man will ungeteilte Aufmerksamkeit und vor allen Dingen: man will die Vorstellung der Selbstvorwürfe der Hinterbliebenen genießen, ihre Tränen; ihre Qual, erkannt zu haben, dass es zu spät ist. Für alle Zeiten.
2. Streifzüge
Iserlohn. Diese schöne Stadt am Rande des Sauerlands, wo die Autos MK auf dem Nummernschild tragen, für Märkischer Kreis. Oder besser Merkwürdiger Kreis, wie einige vermuten.
Am Bahnhofskiosk kaufte ich mir eine Schachtel Zigaretten und Streichhölzer und ging an den Taxis vorbei über den Zebrastreifen auf den Poth zu, wo der nackte Bronzemann leer in die Gegend starrte. Nicht übel. Während andere Städte uns kunterbunte Haufen Plastikrohrschrott (Witten) oder schäbige, unförmige Steinklötze (Hagen) als Kunstwerke vor die Nase setzen, gibt Iserlohn uns einen nackten Penis.
Der Poth, diese hübsch hell gepflasterte Allee, die, obwohl ziemlich neu, den Altstadtcharakter Iserlohns unterstützt und somit einen gelungenen Brückenschlag zwischen antik und modern bildet, lud mich zur Rast ein. Ich suchte mir eine Bank im Schatten. Die meisten waren von unrasierten Brüdern in gammeligen beigen oder grauen Anzügen besetzt, die zwar nicht gerade zu den angesehensten Mitgliedern unserer Gesellschaft zählen mochten, aber trotzdem recht gut gelaunt wirkten. Ich fand eine freie Bank unter einem großen Ahorn und setzte mich. Ich zündete mir eine Zigarette an, streckte die Beine aus und genoss diesen wunderschönen Sommertag. Hektische Menschen hasteten an mir vorbei, Mütter schimpften ihre Kinder aus, Herrchen zerrten an Hundeleinen.
Ich hatte mit alldem nichts mehr am Hut.
Als mir ein eklig langbeiniges, dünnes Flugtier über das Gesicht lief, schreckte ich auf. An meiner Orientierungslosigkeit merkte ich, dass ich eingenickt sein musste. Automatisch drehte ich den linken Unterarm nach innen, um auf die Uhr zu sehen, aber natürlich hatte ich auch die aus dem Fenster geschmissen. Aber wofür auch brauchte ich eine Uhr? Ich raffte mich auf und bemühte mich, meine eingeschlafenen Knochen wieder in Gang zu kriegen. Ich hatte kein festes Ziel. Ich konnte hingehen, wohin ich wollte. Ich hatte alle Zeit der Welt.
Ich beschloss, ein wenig umherzuwandern, in der Hoffnung, auf weitere Graffiti zu stoßen. Nach Menschenmassen war mir im Moment nicht zumute, also mied ich die Fußgängerzone. Ich muss wohl auch zugeben, dass ich etwas Angst hatte, jemandem zu begegnen, den ich kannte. Nicht etwa einem Arbeitskollegen, sondern wohl eher jemandem aus einer längst verblassten Vergangenheit. Anscheinend hatte mich doch etwas mehr als die reine Intuition nach Iserlohn gezogen. In Wirklichkeit war es wohl eher ein Hauch aus der Vergangenheit gewesen, der mich gestreift hatte, eine längst verwehte Geisterstimme. Eine Stimme, die mir einmal, vor einem Leben, viel bedeutet hat.
Ich ging die dicht umwachsene Treppe hinunter in den Park rund um die Stadtkirche. Ich schlenderte die gepflegten Kieswege entlang und fand, dass es keine schlechte Idee sei, einen nostalgischen Trip in die Vergangenheit zu machen. Immerhin hatte ich die glücklichsten sieben Monate meines Lebens hier verbracht, und eine Besichtigung all der Orte, die wir zusammen aufgesucht hatten, würde möglicherweise etwas Ordnung in meine Gedanken bringen.
Ich nahm mir vor, als erstes den Seilersee aufzusuchen. Zwar hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie ich von hier dorthin kam, aber ich wusste, dass er irgendwo nordöstlich liegen musste, also machte ich mich auf den Weg. Jetzt nicht mehr allzu langsam, denn ich hatte nun ein konkretes Ziel.
Mit strammem Schritt marschierte ich los, erst einmal geradeaus nach Osten, um die Fußgängerzone zu umgehen. Als ich schätzungsweise auf Höhe des Fußgängerzonenendes war, schlug ich nach links ein, taperte steil bergauf durch ein Gässchen, in dem eine Frau mit Schürze gerade einen Eimer gelbliche Brühe aus dem Fenster kippte, und kam auf einen stark befahrenen Straßenring. Den hatte es damals noch nicht gegeben. Sah überhaupt alles recht neu aus, hier. Schöner, grauer Beton. Da muss wohl der Befürworter des Penismannes mal kurz in Urlaub gewesen sein. Die Autos donnerten zweispurig in beide Richtungen an mir vorbei, und ich brauchte ewig, um über die Straße zu gelangen. Die Ampeln führten mich zunächst auf eine Insel und ließen mich zusammen mit einer Frau und einem alten Mann dort erstmal ein Weilchen warten. Endlich ging es weiter, ein ganz Eiliger donnerte noch eben bei Rot über die Ampel, und dann war ich drüben. Ich wanderte weiter. Die Gegend wurde jetzt etwas industrieller und ruhiger. Ich ging noch etwa einen Kilometer durch triste, von Lager- und Werkshallen gesäumte Straßen. Kaum jemand war hier noch unterwegs, und jetzt bemerkte ich auch, dass es langsam dunkel wurde. Ich schwitzte fürchterlich und entschied, dass es Zeit für ein Päuschen war. Es kostete mich noch einen weiteren Kilometer, bis ich eine kleine Kneipe fand, die ein paar Tische und Stühle draußen stehen hatte. Ich setzte mich und wartete auf die Bedienung. Als sie kam, ein älterer Herr, bestellte ich ein Krefelder. Aus Desinfektionsgründen - man weiß ja nie, was an einem fremden Glas so alles klebt - noch einen Kurzen hinterher.
An dem Tisch neben mir saßen zwei alte Opas, die sich mit wackelnden Kinnen und schlabbernden Mündern (keine Zähne!) etwas scheinbar sehr Lustiges erzählten. Auf jeden Fall redeten und kicherten sie ununterbrochen. Gehörten vermutlich zum Inventar dieser drittklassigen Pinte. Ich verstand kein Wort. War aber wohl auch nicht wichtig, Hauptsache sie hatten ihren Spaß.
Durstig kippte ich das Krefelder in mich hinein. Mein Körper entgegnete der Wucht der eiskalten Flüssigkeit mit einem Schub innerer Hitze. Das Ergebnis: ich schwitzte jetzt wirklich erbärmlich. Auf der Stirn bildeten sich Schweißtropfen, die mir abwechselnd in die Augen rannen oder wahrscheinlich ins Bier tropften.
Ich hätte jetzt gern gezahlt, aber von dem Kellner war nichts zu sehen. Also steckte ich mir noch eine an und genoss die Sekunde des Aufflammens des Streichholzes, den angenehmen Geruch. Die beiden Alten gibbelten immer noch. Keine Spur vom Kellner.
3. Rausch
Ich lernte Andrea Birnstock vor gut sechs Jahren kennen. Ich hatte damals drei Wochen Urlaub von meinem langweiligen Bürojob, und ein ziemlich akutes finanzielles Minus zwang mich dazu, meine Freizeit zu Hause zu verbringen. Die erste Woche ging für das Abarbeiten des Briefberges und diverser Hausarbeiten drauf. Ich war damals Herausgeber einer kleinen hektographierten Literaturzeitschrift mit dem beziehungsreichen Titel Nachtlaub. Mit einer Gruppe von Freunden, die über das ganze Land verteilt lebten, praktizierten wir eine Art wilden Independent-Journalismus.
Wir veröffentlichten lebhafte Buchbesprechungen, leidenschaftliche Polemiken, ellenlange Interviews und düster-romantische Kurzgeschichten von recht akzeptabler Qualität. Da meine Adresse für die Abonnements herhalten musste, erhielt ich verhältnismäßig viel Post.
Hobbyschriftsteller priesen in ihren Begleitschreiben selbstsicher ihre unfassbar schlechten Kurzgeschichten an, Leserbriefschreiber beschimpften mich (»Euer Heft ist zu glatt, um sich den Arsch damit abzuwischen»), weil ich in der letzten Nummer irgendeine heilige Kuh geschlachtet hatte; andere Leser lobten uns für unser Durchhaltevermögen (stolz sahen wir dem Jubiläum der 10. Ausgabe entgegen), die Deutsche Bibliothek mahnte die ihr zustehenden Belegexemplare der letzten beiden Ausgaben an, und einige neue Leser baten um die Zahlungsbedingungen für ein Jahresabonnement. Die einen legten gleich auf Verdacht 10, 20 oder 30 Mark in Briefmarken bei, die anderen forderten selbstbewusst »ein kostenloses Probeexemplar.« Nachtlaub war trotz des recht erfreulichen Echos ein Verlustgeschäft. Jedes freie Probeexemplar stürzte mich um weitere 6 Mark dem Ruin ein Stückchen näher entgegen. In meinen klareren Momenten fragte ich mich deshalb, warum ich eigentlich so verrückt war, mein sauer verdientes Geld in ein Minderheitenprogramm zu stecken - in meinen weniger klaren Momenten hatte ich einfach wahnsinnigen Spaß an der Sache.
Diese erste Woche verging wie im Flug. Nach einer schwülen Vorwoche war es jetzt angenehm kühl, so dass ich einiges geschafft bekam. Als erstes nahm ich mir den Briefberg vor. Ich beantwortete die Briefe meiner Freunde, bearbeitete die neuen Abonnements, füllte Überweisungen für angefallene Rechnungen aus. Danach fühlte ich mich ungeheuer rechtschaffen. Der Briefberg war verschwunden. Tolles Gefühl! Dafür durfte ich mir ein kaltes Weizenbier gönnen. Für einen Tag genug geschuftet.
Am nächsten Tag wurde es schlimmer: Körperliche Arbeit! Erst lustlos, dann aber zunehmend angestachelt, machte ich mich daran, die Wohnung sauber zu fegen. Ich saugte, wischte Staub und putzte die Fenster. Schweißgebadet, aber herrlich ermattet sank ich in meinen Sessel. Ich fühlte mich wie ein fleißiger Bürger.
Den Mittwoch verbrachte ich damit, die ganzen Zeitschriften, Antiquariatskataloge und Manuskripte vom Fußboden aufzulesen, sie in ihre angestammten Stehordner einzusortieren oder wegzuschmeißen. Zeitschriftenjunkie, der ich nun mal war, saugte ich mich beim Durchblättern immer wieder an irgendwelchen Artikeln fest, so dass auch diese Tätigkeit einen ganzen Tag in Anspruch nahm. An diesem Abend gab es ein Gewitter, danach schien die Sonne und verwandelte das Regenwasser in stickigen Dampf.
Am nächsten Morgen wurde ich bereits um Sieben wach und entschloss mich angesichts der strahlenden Morgensonne spontan, meinen abgeschlafften Körper ein wenig zu ertüchtigen. Ich suchte Badehose, Handtuch, Bastmatte und diversen Kleinkram zusammen, stopfte alles zusammen mit meiner zerfledderten Taschenbuchausgabe von Sturmhöhe in meinen Rucksack. Anschließend ging ich in den Keller und kontrollierte den Zustand meines Fahrrads. Ich brauchte lediglich die Reifen aufzupumpen und die Kette zu ölen, und alles war in Butter. Die Strecke
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Frank Duwald/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge (Cover), Alexandra F./Projekt:wortschrausch (Illustrationen).
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Christian Dörge.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 02.04.2019
ISBN: 978-3-7487-0098-2
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