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Leseprobe

 

 

 

 

MIKE DOLINSKY

 

 

Die PSI-Droge

 

 

 

Roman

 

Apex Science-Fiction-Klassiker, Band 48

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE PSI-DROGE 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

 

Das Buch

Als bei der neuen, eben erst entwickelten Droge Diazo-L, einer pharmazeutischen Zwangsjacke für aggressive Patienten von Nervenheilanstalten, seltsame Nebenwirkungen auftreten, sind die beteiligten Wissenschaftler zunächst irritiert und dann in wachsendem Maße besorgt: Es zeigen sich nämlich Symptome, welche auf die Fähigkeit des Gedankenlesens hindeuten...

 

Die PSI-Droge ist einer von nur vier Romanen, die der US-amerikanische Drehbuch-Autor und Schriftsteller Mike Dolinsky (eigentlich: Meyer Dolinsky, geboren am 13. Oktober 1923 in Chicago; gestorben am 29. Februar 1984 in Los Angeles) geschrieben hat. Weit bekannter ist er für seine Drehbücher zu TV-Serien wie z. B.  Star Trek, The Outer Limits, Bonanza und Science Fiction Theatre. 

DIE PSI-DROGE

 

 

 

 

  

  »Was ist Wahrheit?«, frug Pilatus im Scherz und harrte keiner Antwort.

 

- Francis Bacon, Essays, Bd. I (1625)

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Pater Kevin erreichte die riesigen Blumenbeete, die Mosaikspringbrunnen und langen Säulenbauten von Tooeys Haçienda als letzter. Kevin war müde. Er hatte soeben erst seinen allmonatlichen Dienst auf der Intensivstation beendet. Zwar hatte er ausrichten lassen, er könne nicht kommen, doch Tooey war es gelungen, die Klinikverwaltung umzustimmen. Was, so fragte sich Kevin, mochte Tooey von ihm wollen?

Tooeys hochgewachsener, stets gutgelaunter Hauswart führte Kevin durch den Gesellschaftsraum, der verschwenderisch mit Gegenständen der Schönen Künste ausgestattet war, ins Allerheiligste, worin sich auch die Bar befand, auf der Rückseite des Hauses. Kevin trat ein und blieb wie angewurzelt stehen. Er vermochte seinen Augen nicht recht zu trauen. Die Teakholztäfelung, die wundervoll gemaserten Tische, die weichen Ledersessel, den unzüchtigen elisabethanischen Trinkspruch über der Bar, die vertrauten Gesichter jener Personen, die das Forschungsprojekt mit ihm teilten, bemerkte er nur beiläufig, falls überhaupt. Vom ersten Moment an galt seine Aufmerksamkeit restlos seinem flüchtigen Schützling Bert Roland, der ihn aus einer ziemlich beneidenswerten Stellung angrinste, die er auf dem Schoß von Dr. Sarah Heidt einnahm, der Psychologin des Projekts. Bert hielt Sarahs Hand und führte sie sanft über sein Gesicht. Warum erlaubte Sarah ihm diese berufsfremde Vertraulichkeit? Weshalb stand sie nicht einfach auf und ließ den Paranoid-Schizo auf den Boden rollen?

»Nenn' mich nicht so!«, wies Bert Roland den jungen Jesuiten verärgert zurecht. »Nenn mich nie wieder so!« Kevin war zu verblüfft, um antworten zu können.

»Bitte, Kevin, nehmen Sie Platz«, forderte Sarah ihn mit sanfter Stimme auf. Dunkel und wohlgestaltet, gekleidet in Khaki und weichen weißen Jersey, wies sie auf eine Ledercouch.

Bert jedoch sprang auf die Füße und starrte ihr aus unmittelbarer Nähe ins Gesicht. »Ich hasse dich! Du denkst, ich sei ein Kind! Also gut, dann verhalte ich mich wie ein Kind!« Er schob den Daumen in den Mund und begann daran zu lutschen.

»Bitte nicht«, bat Sarah.

»Du kannst mich!« Anklagend deutete Bert mit dem Finger auf Kevin. »Du möchtest ihn auf deinem Schoß sitzen haben und dass er so... so Dinge mit dir macht! Ja, so ist es! Du... du bist verdorben!« Bert schrie aus vollem Hals. »Hör' auf, daran zu denken, oder ich bekomme auf der Stelle einen neuen Anfall!«

Sarah errötete, schwieg jedoch. Kevin begriff nicht, was hier vorging. Mit trübsinniger Miene ließ er sich auf der Ecke der ledernen Couch nieder und schaute in die Runde. Was war los? Seine Kollegen starrten in dumpfem Schweigen auf den Boden oder an die Decke und warfen Bert Roland nur verstohlen Blicke des Ärgers zu. Wie konnte ein Ausreißer und Schizo wie Bert sie alle so einschüchtern, und was tat er überhaupt auf Tooeys Haçienda?

Bert grinste selbstzufrieden, wandte ruckartig den Kopf und schielte Kevin an. Das Rosa der Wangen in Berts runzligem, ledrigem Gesicht wirkte, als sei er für eine Aufführung von Marat/De Sade geschminkt. »Pater!« Berts Stimme klang scharf. »Sie müssen pissen. Also gehen Sie pissen!«

Kevin, den Umgang mit Psychopathen gewöhnt, wusste genau, dass man auf so etwas nicht antwortete; allerdings verspürte er in der Tat starken Harndrang. Deshalb war er nervös. Bert gehörte zu jenen Schizophrenen, an denen man ein neuartiges Medikament erprobte: Diazo-L. Kevin hatte ihn niemals sonderlich feinfühlig oder fantasievoll gefunden.

Bert kicherte rücksichtslos. Priester oder nicht - Kevin empfand das Bedürfnis, ihn zu schlagen; doch er bereute seine Schwäche sofort. Irgendwie bemerkte Bert es. Er schüttelte eine Faust gegen Kevin. Dann, in plötzlich völlig veränderter Stimmung, trat er zu einer Vase voller Blumen, nahm eine Tulpe heraus und reichte sie der anmutigen Psychologin. »Sarah, bitte... bitte, Doktor... so darfst du nicht von mir denken. Es tut mir leid. Du kannst nichts für deine Gefühle, und ich kann nichts für meine!«

Sarah wandte sich ab. In ihren Augen standen Tränen. Kevin blickte hinüber zu Phil Langner. Der hagere, gutaussehende Biochemiker, der die neue Droge entwickelt hatte, schloss die Augen und nagte angestrengt am Mundstück seiner Pfeife.

Und zum ersten Mal verzichtete Tooey Thomas, Herr der Thomas Pharmaceuticals, auf sein Vergnügen, Sarah mit lachenden Augen und Kennergrinsen in seiner Vorstellung ihrer Kleidung zu entledigen, Er musterte Kevin mit einem Anflug von Mitgefühl. »Ich glaube, Sie können jetzt einen anständigen Schluck vertragen«, sagte er und zog an seiner Zigarre. Seine Stimme hatte einen seltsam gepressten Klang, der Kevin beunruhigte. Er entschied sich für Brandy. Er benötigte etwas, um seinen Adrenalinfluss zu regulieren.

Während Tooey sich hinter der hohen Bar mit dem Kupfergeländer ebenfalls ein Glas füllte, begann Rolands dünne, knabenhafte Stimme plötzlich wieder zu kreischen. »Aufhören! Was soll das?« Er meinte Sarah.

Verlegen drehte sie sich um, schüttelte den Kopf und zog es erneut vor zu schweigen. Ein merkwürdiges Kribbeln kroch durch Kevins Schläfen. Warum hatte er sich jemals von Dean Frisch beim Loyola Med dazu überreden lassen, als Berater an diesem Projekt mitzuarbeiten!? Sein Fachgebiet war Innere Medizin und nicht Psychiatrie. Aber der Dekan wollte das kleine Loyola-Institut für Medizin in die Großforschung einbezogen haben und suchte die Zusammenarbeit mit Tooeys Pharma-Konzern. Kevin war der Repräsentant des Instituts beim Projekt.

Dean Frisch hatte es sich ziemlich einfach gemacht. Waren Priester nicht seit jeher erfahrene Psychiater? Kevin, so hatte er sich wohl gedacht, müsste etwas davon verstehen, zumal die Welt heutzutage ohnehin so etwas war wie ein großes Irrenhaus. Kevin, einer der besten Männer seines Absolventenjahrgangs, würde diesen kleinen Sonderauftrag selbstverständlich ohne große Schwierigkeiten meistern. Nur keinen Kleinmut!

»Lassen Sie's, ja, Pater?« Bert schien am ganzen Körper Juckreiz zu verspüren. Er kratzte sich mit grimmiger Selbstvergessenheit unter den Armen und im Nacken. »Was haben Sie schon zu jammern? Nichts! Nichts!«

Wieder! Das war doch unmöglich! »Meinst du mich? Ich habe nichts gesagt.« Kevin versuchte eine unbeteiligte Miene zu ziehen.

»Aufrichtigkeit vor Gott? He, piss nicht in die Hosen. Schon einmal in die Hosen gepisst?« Bert kicherte wiederum höhnisch und verstummte urplötzlich. Sein Kopf ruckte mit knappen, hektischen Bewegungen nach allen Seiten. Anscheinend vermochte er seiner Meinung nach nicht genug auf einmal zu erfassen und wünschte sich Augen im Hinterkopf. Er drückte einen imaginären Abzug, als halte er eine Pistole in der Hand, in Langners Richtung. »Wollen Sie nicht endlich den Fleischfetzen aus Ihren Zähnen holen? Sie machen mich verrückt!«

Langner massierte seine Augenhöhlen; ein leises Stöhnen der Verzweiflung entfuhr ihm. Kevin war dankbar für Tooeys Brandy. Die Situation wurde allmählich unerträglich. Was auch mit Bert los sein mochte, er hatte ihn noch nie so gereizt erlebt. Seine Lippen, sein ganzes Gesicht zitterten, als leide er an der Parkinson'schen Krankheit. Beständig stocherte er mit den Fingern in den Ohren, rieb sich die Lider, kratzte sich am Kopf. »Sie vollgefressener fetter Sack!«, schrie er Tooey an. »Rühren Sie sie an, und ich gieße Ihnen Arsen in das eine Loch und Strychnin ins andere! Lachen Sie nicht, ich kenne mich aus mit Gift! Sie wissen das genau!«

Tooey massierte langsam seinen Nacken, aber er wandte tatsächlich seinen Blick von Sarah.

»Saufen Sie nur!« Plötzlich kehrte Bert seinen Zorn erneut gegen Kevin. Dann zog er - ohne ersichtlichen Grund - eine Fliegerkappe und eine Schutzbrille aus seiner Jackentasche und streifte beides trotzig über den Kopf.

Kevin fiel auf, dass eben erst eine lächerliche Vorstellung durch sein Bewusstsein gezuckt war, nämlich die, wie Bert auf seinem Motorrad zurück in die Klinik fuhr, gekleidet in die ölbefleckte Cordhose und die ausgebeulte Lederjacke, die er im Sommer wie im Winter trug, mit zugeknöpfter Kappe, die Schutzbrille über den Augen.

»Besser als das Hundehalsband und das schwarze Gelumpe, in dem Sie jeden Tag herumlaufen!«, kreischte Bert zu Kevin hinüber.

Kevin fragte sich, was er wohl - zum Teufel! - in Berts Gegenwart noch denken durfte oder ob er wohl besser zu denken aufhörte. Er blickte Sarah an, weil es ihn nach Rückversicherung, nach Verständnis und nach einer Erklärung verlangte.

Sie schüttelte betrübt den Kopf. Zögernd wandte sie sich an Bert. »Ich glaube, du verhältst dich nicht fair gegenüber Pater Kevin.«

»Halt den Mund!« schnauzte er sie an.

»Du solltest ihm wenigstens sagen...«

»Ich will ihm aber nichts sagen!« Bert drehte sich um und forschte in Sarahs Augen. »Du... du warst es... wirklich. Wenn ich... ich... ihnen sagte...! Du... ich glaube dir nicht!« Er streckte ihr die Zunge heraus und vollführte eine obszöne Geste. Hilflos musterte sie ihn.

Bert, ihren Blick zu ertragen außerstande, sprang auf, presste die Ballen der Hände gegen seine Schläfen, begann ziellos durch den Raum zu laufen, trat gegen Möbelstücke, kippte Gläser um, spuckte auf die Bar. Er nahm eine Statuette, einen trunkenen Satyr, und warf sie in eine Reihe alter Bierkrüge. Während Porzellanscherben und Bierkrüge zu Boden krachten, fuhr er herum und begann erneut unter Einsatz aller Lungenkraft zu brüllen. »Aufhören! Alle aufhören! Ihr täuscht euch in mir! So einer bin ich nicht, ihr Lumpen, so nicht!« Bevor Kevin und die anderen ihn zu packen vermochten, brach er unverständlicherweise in Tränen aus. »Ich halte es nicht aus«, murmelte er und verbarg sein Gesicht an einer Sessellehne.

Tooey, der nicht nur den Babyspeck eines Millionärs aufwies, sondern tatsächlich einer war, beugte sich über Kevin. »Pater, ist es nicht ergreifend? Ein Stück des Himmels auf der Erde. Ein Fußabdruck Gottes auf seinen rätselhaften Wegen.«

Eine für Tooey typische Äußerung. Kevin reagierte nicht. Er sah zu, wie Sarah zu Bert ging, sich neben ihn setzte und eindringlich zu ihm flüsterte.

Dennoch beherrschte Bert aufgrund seiner Launenhaftigkeit und Unberechenbarkeit die bizarre Situation völlig, wie ein abwegiger Corrigan oder Sirhan Sirhan, und es war unmöglich, ihn zu ignorieren. Die Atmosphäre im Zimmer glich der eines OP-Wartesaals.

Kevin suchte Zuflucht in Berts Krankengeschichte. Er hatte sie noch gut in Erinnerung. Darin hatte er nachschlagen müssen, als er nach Berts Verschwinden das Polizeiformular ausfüllte. Berts Mutter war eine ehrgeizige Hochschullehrerin gewesen, sein Vater ein freundlicher, tölpelhafter Hilfsgärtner im Dienste des Forstamts.

Kevin hegte die feste Überzeugung, dass Berts Wahnsinn ein Resultat der mütterlichen Erziehung war, falls man das so nennen durfte, und dessen war er keineswegs sicher. Berts Mutter hatte das schlichte Gärtnerdasein ihres Ehepartners entschlossen dadurch ausgeglichen, dass sie Klein-Bertie in ein Genie verwandeln wollte. Sobald er reden konnte, begann sie ihn zwangsweise mit Wissen zu füttern. Mit vier Jahren vermochte Bert das halbe Handbuch der Technik aufzusagen - Logarithmen, Härtewerte, Schmelztemperaturen; außerdem das menschliche Skelett beschreiben, die wesentlichen Grundlagen der Zoologie darstellen und die wichtigsten Erkenntnisse der Biologie ausführen. Die Mutter führte ihr programmiertes Wunderkind vor - dem Kolonialwarenhändler, dem Milchmann und dem Briefträger sowie allen anderen Personen, denen sie regelmäßig oder zufällig begegnete.

»Gottloser Pfaffe!«, brüllte Bert herüber. »Was wissen Sie schon? Wer das eigene Licht unter den Scheffel stellt und nicht den Schnabel aufreißt, muss das größte Arschloch aller Zeiten sein! Sie könnten nicht mal im Zirkus auftreten, also schweigen Sie von meiner Mutter!«

»Nicht, Bert«, unterbrach Sarah.

»Meine Mutter war schön. Sie hat aus mir gemacht, was ich bin, und darüber gibt's nichts zu lachen. Ja, gut, ich höre Stimmen, aber in unserer Familie haben viele Stimmen gehört. Na und?! So ging's der Hälfte aller Heiligen, oder? Sogar einigen Priestern!«

»Du wolltest das Zanken unterlassen«, mahnte Sarah leise, aber nachdrücklich. »Du hast selbst gesagt, dass niemand für seine Gedanken kann, auch du nicht.«

»Ja, sicher, aber er ist ein Priester. Er hat kein Recht auf unverschämte Gedanken über dich! Kein Recht! Du bist mein. Sag's ihm! Sag ihm, dass ich gesund werde und dich heirate!«

Er war so naiv, so entwaffnend einfältig. Kevin durchlitt einen moralischen Schrumpfprozess.

Langner schüttelte den Kopf, sah Kevin an und hob sein Glas. Die beiden tranken aus. Dem armen Bert entging nichts. Er bedeckte sein Gesicht mit einer Hand. »Ich bin ein Wurm«, stöhnte er, »nur ein elender Wurm!«

Kevin sann über die Gabe des Freien Willens nach, einer der Säulen des Katholizismus, und begriff plötzlich, wie begrenzt die menschliche Entscheidungsfreiheit war. Er bemühte sich, seine Überlegungen anderen Dingen zuzuwenden, aber unweigerlich kehrten seine Gedanken zurück zu Bert.

Ihm fiel ein, dass Bert es trotz seiner geistigen Erkrankung geschafft hatte, ein Laborantendiplom zu bekommen, und in der Tat hatte er einmal für die Thomas Pharmaceuticals gearbeitet. Langner, der sämtliche Labors leitete, war gezwungen gewesen, ihn zu entlassen, als er zu halluzinieren begann und ein lebensgefährliches Gebräu zur Produktion empfahl, das hauptsächlich aus Tetrazyklenol bestand, einem Antibiotika, das man zur Infektionsbekämpfung einsetzte.

Zum Unglück für Bert gab es keine Möglichkeit, diese psychopathischen Anwandlungen vorauszusehen. Die Polizei griff ihn regelmäßig am South Broadway auf, wo er umherirrte und gebärdenreich mit seinem imaginären Peiniger schalt, Bodo dem Balsamierer, einer Art von Schatten, dem er sich zu entziehen suchte. Natürlich beförderte man Bert jedes Mal zum Psychiater, und dort bekam er stets eine neue Serie von Elektroschocks verpasst.

Der Gedanke an diese Heilbehandlung des Schreckens erzürnte Kevin. Er betrachtete sie als Verstoß gegen göttliches Gesetz, und zwar als grobschlächtigen Verstoß.

»Ausnahmsweise haben Sie einmal Recht!« Bert, der Sarahs Hand hielt, näherte sich Kevin. »Man wacht auf und weiß nicht, wer oder was man ist, ob alle Knochen noch beieinander sind. Man ist niemals der gleiche wie vorher; lassen Sie sich nichts anderes einreden.«

Unglaublich, aber wahr - Sarah hatte Bert zu beruhigen vermocht. Er stand vor Kevin wie ein Schuljunge, der Unbehagen verspürt, weil er sich rechtfertigen soll. Bert musterte Kevin und kochte offenbar in seinem Innern, aber irgendwie gelang es ihm, sich zu bezähmen.

»Du musst Pater Kevin erzählen, wie es anfing«, drängte Sarah ihn ruhig. »Es ist wichtig, dass er es von dir hört.«

Bert zögerte; Priester brachten Bodo den Balsamierer zurück. Doch schließlich setzte sein Redebedürfnis sich durch. Obwohl er die Geschichte vor einer Stunde schon einmal erzählt hatte, begannen seine Kiefer auch diesmal zu beben, und die Zunge glitt über seine Oberlippe.

»Ich wusste nicht, was es war. Während der Nacht fühlte ich mich komisch... schwindlig; mein Herz klopfte so - dann stachen Nägel und Nadeln in meinen Körper, zahllose, immer wieder. Trotzdem schlief ich irgendwie ein, denn plötzlich war es heller Morgen, ich rieb mir die Augen, und ringsum war alles erfüllt mit verrückten Gedanken, irrem Zeug, flüchtigen Gefühlen und dann Befehle an Muskeln, überall Schmerzen, Weinen und Lachen, halbe Begriffe und eine Art unfertiger Bilder - alles aus den Köpfen von fremden Leuten. Bekam ich da einen Schreck! Obwohl gerade niemand hinter mir her war, dachte ich, das sei eine neue Gemeinheit, bis ich mich auf Mrs. Deseverio einstimmte, diese nette alte Einwanderin. Zuerst wurde ich nicht schlau aus ihr - nur Fetzen von gespenstischem Kram, kuriose, fremdartige Einfälle und so etwas wie ein Gefühl von Garn oder ähnlichem. Dann fing ich an zu begreifen. Sie saß im Gemeinschaftsraum und strickte und hatte einen Tagtraum von Pasta- und Lasagne-Zubereitung für die Totenfeier ihres Mannes - ganz Sizilien schwirrte da herum. He, Dr. Sarah, wie viele Leute werden zu meiner Beerdigung kommen?« Bert wandte sich um und starrte sie an, entsog ihrem Bewusstsein die begehrte Antwort.

Kevin empfand Mitleid für Sarah. Die gesamte Belastung des Umgangs mit Bert ruhte auf ihr. Bert erhielt seine Antwort und stieß ein selbstverächtliches Kichern aus. »Niemand... niemand! Nicht einmal du.«

Es schmerzte ihn. Sie tat ihr Bestes, um ihm zu versichern, so werde es keineswegs sein. Er schob den Daumen in den Mund und beschimpfte sie in Worten und mit Gesten, dann, gerührt von ihrer Reaktion, brach er erneut in Tränen aus. Sie brauchte zehn Minuten, um ihn mit Entschuldigungen und Beteuerungen wieder aufzurichten. Dann erging er sich in einer albernen, sinnlosen Abschweifung über Statistiken.

Schließlich entlockte Sarah ihm den Rest der Geschichte.

»Dazu hätte es nicht kommen dürfen.« Bert stampfte mit einem Fuß auf den Parkettboden. »Als ich anzugeben anfing, wäre es mir fast dreckig gegangen. Ich tastete mich mit meinem Gehirn zu diesem Psychiater, diesem dürren Burschen mit dem schwarzen Schnurrbart, der wie eine Fahrradlenkstange aussieht, wie heißt der Kerl doch gleich, Bill Soundso, Bill Fawcett, so heißt er! Er beschäftigte sich gerade mächtig damit, wie er noch mehr Leute in seine Football-Wetten verwickeln könnte. Also rufe ich ihn und sage, ich würde gerne wetten, dass SC gewinnt, aber nicht beide Spiele. Na, Sie hätten seine Miene sehen sollen und wie sein Schnurrbart zitterte. Er sagt zu mir, er wisse gar nicht, wovon ich rede. Ich lache nur und sage, er finde sicher genug Blödmänner in der Klinik, denen er mit seinen Wetten gutes Geld aus der Tasche ziehen könne. Er wird ganz verrückt und schreit, ich sei wohl zu heiß gebadet worden. Er würde nichts dergleichen machen.« Bert knetete Sarahs Hand in der seinen, dann berichtete er weiter. »So lächle ich nur und sage, er stehe vor einem der klügsten Patienten des Hauses. Ich kann Gedanken lesen, kein Witz. Er überlegt, ob er mich in die Schnauze hauen oder bestechen soll, denn die Wetten sind verboten. Dann zweifelt er daran, ob er einem Dummkopf wie mir trauen kann. Falls ich den anderen Psychos von seinen Wetten erzähle, kann es böse für ihn ausgehen. Er wurde verdammt sauer!

Sie hätten seinen Kopf sehen sollen; darin wirbelte es wie in einer Waschmaschine. Dieser Bertie kommt mir in die Quere... muss ihm die Rübe zurechtrücken... vorbelastet... Arger will, kann er ihn haben. Kann gar nicht schaden... hat schon so viel Saft in die Knochen bekommen, dass er nachts leuchtet... einmal mehr kann nicht schaden. Niemand wird davon erfahren... er halluziniert... Gedankenlesen, wie? Werden sehen, wie ein kleiner Stromstoß dem Arsch die Birne ausputzt. Na, ich konnte mir nicht recht vorstellen, wie er das arrangieren wollte.« Bert blickte zu Kevin auf. »Doch andererseits hat er viele Freunde, und warum etwas riskieren. Ich versteckte mein Gesicht im Kissen. Als er es endlich satt war, mich anzugaffen, und mich allein ließ, stand ich auf, sagte an der Pforte, ich wolle mir eine Zuckerstange holen, ging hinaus und kehrte nicht mehr zurück.«

»Hätte ich nur davon gewusst«, sagte Kevin. »Wohin bist du gegangen?«

»Jemand nahm mich zur Heilsarmee mit, in der Nähe der Stadtbibliothek, ich bekam eine Mahlzeit - Würstchen mit Bohnen - und wanderte dann durch die Stadt. Die erste Nacht schlief ich in einem Lastwagen. Ich hatte ein paar gute Ideen, wie etwa nach Vegas zu gehen und die Tricks der großen Kasinobesitzer auszuspionieren oder irgendwelche Trottel ausfindig zu machen und durch sie leicht zu Geld zu kommen. Vielleicht hätte ich sogar Händler werden können - die Wanderkarten fürs Naturschutzgebiet, die gibt das Forstamt in Kommission. Oh, ich war gar nicht so dumm.« Seine wichtigtuerische Miene verschwand, als er sich an das Weitere erinnerte, und er biss verbittert die Zähne aufeinander. »Aber es wurde zu viel für mich. Es war schaurig, ich meine, richtig gruselig, diese Sachen, die sich in den Leuten abspielten. Ich meine, wenn man pausenlos die Gedanken anderer wahrnimmt, es in ihren Därmen krachen hört, ihren Herzschlag, und man spürt den Schmerz ihrer Hühneraugen, und ihre Stimmen kollern aus den Kehlköpfen, wie die eigene sich anhört... aber es ist nicht die eigene. Und eine Menge ganz gewöhnlicher Tölpel... mehr als Sie glauben... sind insgeheim so verrückt, dass sie einen umbringen würden, sobald man ihnen allein unter die Augen gerät. Ich konnte es nicht länger aushalten, aber wie soll man die Menschen am Denken hindern? Es geht nicht! Es gibt keine Möglichkeit! Früher hatte es mir nichts ausgemacht, aber nun fand ich es schrecklich, so einsam zu sein. Dreimal versuchte ich Dr. Sarah anzurufen, an drei verschiedenen Tageszeiten - niemand ging an den Apparat. Ich musste etwas tun... ich musste schnell etwas tun. Irgendwie kam ich zu der Auffassung, dass es richtig sei, Dr. Langner anzurufen. Er ist so ziemlich der beste Biochemiker, dem ich je begegnet bin. Auf diesem Gebiet kenne ich mich ein wenig aus. Ich wage mich nicht mit ihm zu vergleichen, aber wir sehen die Dinge ähnlich. Schließlich ging ich einfach zu ihm, klopfte an seine Tür und wiederholte alles, das in seinem Kopf geschah. Er sagte nicht viel, setzte mich nur in sein Auto und fuhr mit mir hinaus zu Mr. Thomas. Deshalb bin ich nun hier.«

Kevin schaute Langner an, der zur Bestätigung nickte. Dennoch vermochte Kevin seine wachsenden Zweifel nicht beiseite zu schieben. Sie mussten Opfer einer Art von Massenhysterie sein. Er suchte die Bibliothek auf, holte einen Band der Britannica, öffnete ihn unter dem Buchstaben W und stieß auf das Stichwort Wahrscheinlichkeit.

Er schirmte das aufgeschlagene Buch mit seiner schwarzen Jacke ab und forderte Bert auf, die ersten Zeilen vorzulesen. Bert lächelte und schüttelte den Kopf. Er konnte es nicht. Die Augen der Anwesenden erhellten sich. Also doch nur fauler Zauber!

Bert genoss es ausgiebig, ihre Hoffnung zunichte zu machen. »Fauler Zauber? Sie lesen den Text nicht. Sie sehen ihn nicht einmal richtig an. Sobald Sie ihn lesen, kann ich es auch.«

Kevin begann den Abschnitt zu lesen. Prompt begann Bert den Text laut vorzutragen. Um ihn zusätzlich auf die Probe zu stellen, ließ Kevin einige Male mehrere Zeilen aus, las dann zusammenhanglos die schräg übereinander stehenden Wörter quer über die ganze Seite und studierte schließlich eine Tabelle von rechts nach links und von links nach rechts. Nur einmal schien Bert zu versagen, als Kevin eine Zahl falsch las. Ansonsten jedoch verlief der Test zutiefst beunruhigend. Doch Sarah, eine strenge Atheistin in jüdischer Freidenkertradition, beharrte darauf, Bert müsse von Kevin unbewusst Hinweise erhalten und äußere nur verschrobene paranoide Projektionen. Außerdem kenne er von Kindesbeinen an alle möglichen Tabellen. Sie beschloss, ihn auf eigene Weise zu testen-er solle die Parfüms und Duftwasser nennen, an die sie denke. Er plapperte sie herunter: Shalimar, Tabu, Arpege, Chanel Nr. 5, L'Interdit, Intimate, Maja, Joy. Sarah bebte von Kopf bis Fuß. Alle Zweifel waren ausgeschlossen. Bert riet nicht bloß.

Für Sarah war es ein Schock. Kevin bedauerte sie. Immerhin trug sie es tapfer und erhobenen Kopfes - ohne Ausflüchte. Er hatte sich stets sehr bemüht, sie über Freud und Marx und anderes philosophische Menschenwerk zu erheben, um den Weg in ihr Herz für Gott zu bahnen. Vielleicht war dieses saubere, ordentliche Wunder vonnöten gewesen, um sie, Tooey und den Rest dieser selbstzufriedenen Hedoniker auf die Knie zu zwingen. Aber weshalb haderte er mit ihnen? Er war nicht minder erschüttert als sie. Bert - ein Werkzeug Gottes? Warum nicht? Sein krankhafter Zustand mochte sich auf lange Sicht als der beste Schutz erweisen.

Plötzlich bemerkte Kevin, dass noch niemand die erschreckendste aller Fragen gestellt hatte. »Wer noch?« Zwanzig anderen Schizoiden war die Droge ebenfalls verabreicht worden.

Allerdings hatte Bert, einer der herausragendsten Patienten der Klinik, ungefähr das Fünfundzwanzigfache der durchschnittlichen Dosis von Diazo-L erhalten, um andere, bei denen schädliche Nebenwirkungen zu befürchten waren, zu schonen, doch Kevin wusste zu gut über Drogen Bescheid, um daraus viel Trost zu schöpfen.

Wie er ausführte, an seine Projektkollegen gewandt, handelte es sich bei der Mehrzahl der Versuchspersonen, die man für das riskante Experiment mit Diazo-L ausgewählt hatte, um unheilbare Fälle. Vorwiegend waren es ältere, und wenn nicht bettlägerige, so doch Menschen mit ausgeprägter Bewegungsarmut. Ihre Kreislaufsysteme und Nierenfunktionen neigten zur Schwerfälligkeit. Man müsse damit rechnen, dass sich Diazo-L im Blut akkumuliere und für einen längeren Zeitraum wirke. Außerdem seien die Drogenempfänglichkeit und die Reaktion bei den einzelnen Personen außerordentlich unterschiedlich.

Langner, obwohl ebenfalls stark verunsichert, bestand darauf, es könne nicht die Droge gewesen sein. »Ich bin doch kein Anfänger, der sich an seiner ersten Grippetablette versucht. Ich arbeite seit zwanzig Jahren auf diesem Gebiet. Ich weiß, woraus Diazo-L zusammengesetzt ist.« Er bemühte sich, Kevin zu überzeugen. »Berts Telepathie, oder was es sein mag, hat eine andere Ursache. Es gibt da keinen Kausalzusammenhang!«

Kevin widersprach ihm nicht, sondern rief einen wohlbekannten Fall in Erinnerung, mit dem sich die Swerdlow-Klinik in der UdSSR befasst hatte. Infolge einer schweren Kopfverletzung während eines epileptischen Anfalls entwickelte ein ukrainisches Mädchen Tastsichtigkeit. Es konnte in der Tat Farben mit den Händen identifizieren - rot war grobkörnig, blau wellig, weiß glatt. Gewöhnliche Tageszeitungen vermochte es mit den Fingerspitzen zu lesen. »Ich frage mich«, schloss Kevin, »ob wir es hier mit einem Parallelfall zu tun haben. Auch Bert hat epileptische Heimsuchungen erfahren...«

»Wir verrennen uns da in etwas!« unterbrach Langner gereizt.

»Sie wissen genau, Phil, dass ich lediglich Mutmaßungen äußere«, antwortete Kevin, verärgert über Langners nahezu leichtfertigen Eifer, mit dem er seine Versuchsdroge verteidigte. »Fest steht, dass Bert an der leichteren Form, der petit mal, von Epilepsie leidet.«

»Nun gut, nun gut!« Langner erhob sich. Die Sorge um sein berufliches Ansehen überwand seine Schüchternheit. »Ja, als er diese telepathische Fähigkeit, diese bizarre Hellsichtigkeit, was auch immer, zum ersten Mal feststellte, litt Bert intervallmäßig an Übelkeit, Schwindelgefühl und Autoelektrisierung, alles eindeutig epileptische Symptome.«

»Und für ein halbes Dutzend anderer Leiden«, sagte Kevin mit äußerster Behutsamkeit. Er dachte an Hirnschäden - zum Beispiel Parese oder ein wuchernder Tumor.

Natürlich blieb nichts davon Bert verborgen. »Sie irren sich! Mir ging es niemals besser als jetzt! Ich muss doch, weil ich Gedanken lesen kann, kein Geschwür oder Blutgerinnsel oder so etwas im Kopf haben. Nur zu, untersuchen Sie mich! Sofort!« Bert entblößte seinen Brustkorb und begann, um von seiner Panik abzulenken, in der Luft herumzufuchteln, schnitt dazu Gesichter, rülpste laut, versuchte seine Zunge zu verschlucken.

»Warum machen Sie's nicht, Kevin?«, meinte Sarah, der die Beweise von Berts plötzlicher, extremer Furcht nicht entgingen.

»Es kann nichts schaden, Pater«, drängte auch Tooey, während er mit seinem plumpen Finger an seinem kältebeschlagenen Glas herumwischte. »Es wäre ganz gut, würden wir erfahren, ob die Ursache bei uns liegt oder bei ihm selbst.«

»Das werde ich wohl kaum dadurch herausfinden, indem ich seinen Puls fühle und mir seine Zunge anschaue«, sagte Kevin. Er mochte Tooey nicht sonderlich. Trotz allem holte er seine Arzttasche aus dem Wagen und begann Berts Körperfunktionen sorgfältig zu untersuchen. Sie erwiesen sich als normal. Auch der Test mit dem Reflexhammer ergab keine atypischen Anzeichen. Kevin nahm eine Blutprobe fürs Labor und begutachtete dann Berts Augen, ob sich die verräterischen Verengungen eines Tumors oder Aneurysmas zeigten.

»So! Ich habe es gesagt! Da! Ich habe es Ihnen gesagt!« lärmte Bert, als er Kevins Gedanken las. »Sie können nichts feststellen!«

Kevin war erleichtert. Ein Telepath ohne ernste Hirnschäden war ihm wesentlich lieber. Dennoch war er keineswegs zufrieden. Die Untersuchung konnte bestenfalls als oberflächlich gelten. »Offensichtlich bist du nicht sterbenskrank«, sagte er zu Bert. »Doch im ausschließlichen Interesse der Wissenschaft möchte ich gerne herausfinden, was in deinem Kopf vorgeht. Wir müssen zurück in die Klinik und ein EEG anfertigen.«

Tooey setzte sein Glas ab. »Bert wird nicht dorthin gehen. Er wird nirgendwohin gehen. Er darf auf gar keinen Fall zum falschen Zeitpunkt in die falschen Hände geraten. Ich wünsche nicht, dass diese Sache an die Öffentlichkeit gelangt.«

»Sie wollten, dass ich ihn untersuche, Tooey«, erwiderte Kevin. »Sagen Sie mir, wie ich Berts Zustand diagnostizieren soll, wenn ich kein EEG bekomme!?«

»Morgen, mein Bester«, versprach Tooey, »werden wir einen Elektroenzephalographen hier haben.«

Bert, der anhaltend genickt und gelächelt hatte, sprang plötzlich auf und begann zu brüllen. »Du Schweinehund! Du dreckige Sau!« Er stürzte sich auf Tooey. Der Pharma-Unternehmer packte den Gürtel von Berts Jacke und hielt ihn sich im Abstand einer Armlänge vom Leibe. Bert kratzte und schlug um sich. »Miststück! Du Stück Scheiße, du! Du elendes Stück stinkige Scheiße!«

Kevin, Sarah und Langner trennten ihn schließlich von Tooey. »Was ist los, Bert? Sag's uns bitte.« Sarah gab sich alle Mühe, um ihn zu besänftigen.

»Er macht mich kaputt! Ich weiß es!«, kreischte Bert hysterisch.

»Bert, du weißt genau, wir würden nie zulassen, dass dir jemand was antut«, beteuerte sie.

Tooey schüttelte verwundert den Kopf. »Junge, du kannst doch einen kleinen Dicken wie mich nicht grundlos schlagen.« Dann fiel ihm anscheinend etwas ein. »Oh, sicher lag es daran... aber es war nur eine flüchtige Idee, fern im Hinterkopf. Ohne jede Bedeutung...«

»Nichts als Scheißdreck in deinem Kopf!« krähte Bert. Die anderen warteten auf eine Erklärung.

Erstmals wirkte Tooey peinlich berührt. »Zum Teufel, jeder hat gelegentlich seltsame Einfälle. Na gut, für einen Moment dachte ich, dass wir womöglich gezwungen sein könnten, falls wir unter den Testpersonen noch mehr Gedankenleser ermitteln, auf die Methode von diesem Fawcett zurückzugreifen, ich meine, das Problem mit Elektrizität zu lösen...«

»Alles klar?«, schrie Bert.

»Es war bloß eine nebensächliche Erwägung«, versicherte Sarah. »Dazu wird es nicht kommen.«

Bert wies mit dem Finger auf Langner. »Er würde mich am liebsten unverzüglich mit Starkstrom braten! Er möchte nur das Experiment mit seiner dreckigen stinkenden Droge fortsetzen!«

»Im Rahmen dieses Projekts bin ich dein zuständiger Arzt, Bert«, sagte Kevin zu ihm. »Ich dürfte so etwas niemals erlauben.«

Bert stierte Kevin an und nickte langsam.

»Haarspalterei...« Tooey zündete sich eine Zigarre an und blies verärgert den Rauch zu Kevin hinüber. »Wir befinden uns in einer verdammt heiklen Lage, und mit einem Heiligenschein können wir nichts anfangen. Was glauben Sie, wie viele Schizo-Telepathen wir in der Klinik herumlaufen lassen können? Und was geschieht, wenn die Leute davon erfahren?«

Kevin gab keine Antwort. Er wusste, dass er es auf keinen Fall gestatten konnte, jemandes Bewusstsein absichtlich durch eine Schockbehandlung wesentlicher Teile der Bewusstheit zu berauben, doch eine passende Entgegnung fiel ihm nicht ein.

Mehr ließ sich vorerst nicht tun. Man kam überein, die Untersuchung fortzusetzen, sobald das EEG-Gerät auf der Haçienda eingetroffen sei. Sarah gab Kevin zu verstehen, er möge einen Moment lang warten, während sie sich von Bert verabschiedete. Bert bemerkte die Vertraulichkeit der beiden natürlich auch diesmal. Er packte Sarahs Arm und riss sie herum. »Was ist los mit dir? Wie kannst du... so etwas denken?«

»Das habe ich dir schon erklärt. Ich bin nicht bloß dein Psychologe, ich bin auch eine Frau, und die Zusammenkunft ist vorerst vertagt. Ich pflege meine Gefühle nicht zu verleugnen...«

»Aber ich liebe dich! Und du, du würdest alles, alles mit jedem machen, außer mit mir!« Es war zu viel für Bert. Seine Hand fuhr zum Mund, während er nach einer Kupferschale griff. Sarah stützte ihn, und er würgte und erbrach sich.

Tooey leerte hastig sein Glas. »Um Gottes willen«, murmelte er zu Kevin. »Gehen Sie sofort in die Klinik. Falls es inzwischen mehrere seiner Sorte gibt, müssen wir es unbedingt rechtzeitig wissen.«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Die flatternden, nach Atemluft gierenden Nüstern, deren hektische, unregelmäßige Zuckungen Furcht verrieten, bildeten die einzigen Lebenszeichen in Teresa Garcias ansonsten teilnahmslosem, reglosem Gesicht. Sie halluzinierte nicht, aber die bedrohlichen Schatten ihres Innenlebens waren längst in ihre runzlige, schuppige Haut eingegraben. Sie war kürzlich erst dreißig geworden, doch sie sah aus wie fünfzig.

Das Tablett auf dem kleinen Tisch neben ihrem Bett war fast unberührt geblieben. Lediglich die Mulde, welche Rahmspinat enthalten hatte, war geleert. Warum gerade Rahmspinat? Es schien, als habe irgendeine biologische Instanz die Herrschaft übernommen und erlaube nur die Einnahme der lebenswichtigsten Nahrungsmittel. Mahlzeit um Mahlzeit, Tablett um Tablett, nur Brei und Spinat.

Der Nachmittag mit Bert hatte Sarah in tiefe Verzweiflung gestürzt. Sie musste sich zu jeder Handlung zwingen, und nun zwang sie sich, neben Teresas Bett Platz zu nehmen. Um diese Tageszeit blätterten die meisten Patienten in ihren alten Magazinen oder hörten den Sendungen zu, die aus ihren Transistorradios kamen. Gelegentlich grunzten manche, flüsterten atemlos vor sich hin oder schrien sich irgendwelchen Unsinn von der Seele. In der Nähe hörte Sarah die alte Estelle Cavanaugh, die täglich ihre Sammlung vergilbter Zeitungsausschnitte aus besseren Zeiten durchschaute; sie schnaufte schwer, und jedem Schnaufen folgte ein asthmatisches Pfeifen. Ein paar Betten weiter setzte die rüstige Betty Ferguson sich auf und begann mit dem nackten Fuß auf den Boden zu patschen, während sie mit leiser, aber klarer Stimme endlos und immer wieder Sweet Betsy from Pike sang. Unterdessen versuchte Sarah sich mit Teresa zu verständigen. Sie nahm ihre Hand und erklärte mit der erforderlichen Eindringlichkeit, dass es nun wieder Zeit zur Untersuchung sei. Sie sei deshalb am Abend gekommen, weil man wissen wolle, wie sie sich nach den Aktivitäten eines Tages fühle. Wie es ihr gehe? Ob die Medizin helfe?

Es dauerte die üblichen Zehntelsekunden der Verzögerung, bevor ihre Worte begriffen wurden. Nach einer Weile murmelte Teresa, es ginge ihr ein bisschen besser - eigentlich nicht so übel, die Stimmen kämen nicht mehr so häufig.

Sarah nickte beifällig und lächelte, doch hinter ihrer gekünstelten Herzlichkeit wummerten plötzlich Gedanken mit der Wucht von Schmiedehämmern. Teresa, wie konntest du Luis bloß an SIE verlieren? Sie war älter als du und fett... hässlich! Dumme Teresa! Warum warst du stets stocksteif wie ein toter Fisch? SIE hatte keine Furcht davor, zu küssen und zu lutschen und mit dem Hintern zu wackeln! 

Für einen Moment erbebten Teresas Nüstern krampfartig, und ihr Blick, irgendwie zornig, hob sich zu Sarah. Die Psychologin unterbrach. Irrte sie sich? Oder hatte Teresa ihre absichtlich traumatischen Gedanken gelesen? Sarah studierte Teresas dunkelbraune Augen, die nun, wieder gleichmütig, hinaus in die Dämmerung starrten.

Vermutungen, nichts als Vermutungen; aber sie musste Gewissheit haben. Sie wünschte, sie könnte Teresa so unzweideutig fragen wie andere Patienten, doch es würde ihre Ängste wecken, an ihren Aberglauben rühren, sie für Tage in Verstörtheit stürzen.

Sie konnte nichts anderes tun, als für Kevins weitergehende Nachforschungen einen positiven Vermerk auf Teresas Krankenblatt anbringen. Dann setzte sie ihren Weg von einem Bett zum anderen fort. Die Psychiatrie wirkte im bleiernen, verwaschenen Zwielicht der Abenddämmerung so düster wie die Stimmung war, in der Sarah sich befand.

Aus dem Bedürfnis, für einen Moment Halt im Kontakt mit einem gesunden menschlichen Wesen zu suchen, drehte Sarah sich nach Kevin um und begegnete seinem Blick. Er lächelte und winkte. Noch vor wenigen Minuten hatten bedrohliche Ahnungen ihn erfüllt, aber seine Gemütsverfassung war von dem mittlerweile eingenommenen Dexedrin - zu dem Zweck, nicht plötzlich auf lachhaft-dramatische Weise aufs Gesicht zu fallen - entscheidend verändert worden. Er fühlte sich weitherzig, unglaublich albern und unbesonnen, verspürte einen Drang, laut zu lachen, durch die Psychiatrie zu hüpfen und zu springen. Er frohlockte über Sarahs bloßen Anblick. Sie war nicht sinnlich, aber auf ästhetische Weise schön. Im Zwielicht war ihre dunkle Schönheit geradezu atemberaubend - sie wirkte wie ein wundervoll sanftes Gespenst.

Und wie empfindsam sie war. Sie verstand instinktiv. Ihre weiche Stimme vermochte die tobsüchtigsten Paranoiker zu beruhigen. Alle mochten sie. Sie war immer besorgt, aufrichtig besorgt. Kevin kannte den Grund. Ihr Vater war Maurice Heidt gewesen, Komponist der Sinfonien The End of Man und The Rodent's March. Von Schizophrenie befallen, war er in einer staatlichen Klinik gestorben.

Trotz der unterschiedlichen Welten, aus denen sie stammten, trotz ihrer gelinden gegenseitigen Verachtung, die sie füreinander empfanden - sie wegen seines Priesterrocks und des Zölibats und er wegen ihres Materialismus -, betrachtete Kevin sie als seinen besten Freund.

Tränen stiegen ihm in die Augen. Was war nur los? Er musste sich aus dieser Euphorie lösen. Er hatte zu tun. Angestrengt versuchte er, sich zu konzentrieren, zwang sich zur Aufmerksamkeit, und die ganze nebelhafte Umgebung kehrte in sein Bewusstsein zurück, um einige neue Schreckensgebilde bereichert, enthüllt durch die Wirkung des Dexedrins. Er verabscheute die Stimmungswechsel, die mit dem Gebrauch der Anregungsmittel einhergingen. Aber die Menge der Patienten, der Mangel an qualifizierten Kräften ließen dem Personal oftmals keine Wahl. Und natürlich war es heute Abend völlig unmöglich, Hilfskräfte zur Unterstützung heranzuziehen. Niemand durfte vom Bert-Roland-Syndrom erfahren.

Kevin trat an Teresas Bett und zog sich einen Stuhl heran. Er sah, dass sie zu zittern anfing. In ihrem aufgewühlten Gemüt erschienen Priester entweder als sanftmütige Christusgestalten oder als schwarze Dämonen.

Kevin zwinkerte ihr zu und sagte, dass sie gut aussehe. Ihr Blick ruhte für den unvermeidlichen, winzigen Moment der Verständnislosigkeit auf seinem Gesicht, ehe sie sich entspannte.

Der Vermerk, den Sarah auf dem Krankenblatt eingetragen hatte, veranlasste Kevin, in Gedanken gegen Teresa jene allumfassende Drohung auszustoßen, mit der jeder Patient der Klinik rechnen musste. Er beschwor die fürchterliche Schockbehandlung herauf, die Zuckungen ihres Körpers unter den Stromstößen, das Schütteln ihrer Wirbelsäule, ihre Schreie.

Dem Schein nach examinierte er sie nur physisch, stellte ihr entsprechende Fragen. Er wollte wissen, ob sie jemals irgendeine Form von Epilepsie gehabt hätte oder in letzter Zeit Kopfschmerzen, Benommenheit, das Gefühl, als werde sie von zahllosen Nadeln gestochen. Sie flüsterte, ein Arzt habe einmal Verdacht auf leichte Epilepsie gehegt, aber er sei nicht bestätigt worden. Diese anderen Sachen? Ja, die hatte sie. In der vergangenen Nacht, als sie für ein Weilchen aufzustehen versuchte, sei es sehr schlimm gewesen.

Kevin schob ihr ein Thermometer in den Mund und maß ihren Blutdruck. Kein Fieber. Ihr Blutdruck lag etwas zu hoch, aber lediglich um einen Wert, der ihrer Krankengeschichte entsprach. Schließlich entnahm Kevin eine Blutprobe und schickte sie zur umgehenden Untersuchung mit der Rohrpost hinab zu Langner ins Labor.

Als er zum Bett zurückkehrte, um seine Arztgeräte aufzusammeln, bemerkte er, dass Teresa jede seiner Bewegungen wachsam verfolgte. Sie wirkte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Meyer Dolinsky/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Sergey Nivens/123rf/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Horst Pukallus (OT: Mind One).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 21.03.2019
ISBN: 978-3-7438-9999-5

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