RICHARD NEELY
Zersplittert
Apex Crime, Band 14
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
ZERSPLITTERT
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Epilog
Das Buch
Dan Merrick verunglückt schwer mit dem Auto an einer Steilküste. Während seine Frau Judith aus dem Wagen geschleudert wird und den Unfall nahezu unverletzt übersteht, erleidet Dan schwere Verletzungen, die ihn entstellen und einen Gedächtnisverlust auslösen. Nach einer Reihe von Operationen wird sein Gesicht wiederhergestellt, der Gedächtnisschwund jedoch bleibt. Judith kümmert sich um ihn und versucht, ihn behutsam wieder in sein bisheriges Leben zurückzuholen.
Als Dan schließlich mit seiner Frau Judith bei seinem Geschäftspartner Jeb und dessen Frau Jenny eingeladen ist, erfährt er von seinen früheren Eheproblemen. Hinweise auf einen Liebhaber seiner Frau tauchen auf, und er stellt fest, dass er kurz vor seinem Unfall noch den Privatdetektiv Gus Klein auf seine Frau angesetzt hatte. Als Jenny ihrerseits andeutet, mit Dan ein Verhältnis gehabt zu haben und dass die Umstände des Unfalls vielleicht nicht ganz so seien, wie er glaube, kommen ihm Zweifel an dem angeblichen Unglück...
Zersplittert von Richard Neely – erstmals im Jahr 1969 veröffentlicht – gilt als Klassiker des Noir-Thrillers und wurde 1991 von Wolfgang Petersen unter dem Titel Tod im Spiegel verfilmt: Mit Tom Berenger, Greta Scacchi und Bob Hoskins in den Hauptrollen.
ZERSPLITTERT
Erstes Kapitel
Das Geräusch der sich öffnenden Tür war der Auslöser für meine Befreiung aus einem Alptraum - und es ließ mich durch Rauch, Flammen und Erdbrocken fliegen, während Metall auf Holz krachte. In wohlvertrauter Lage kam ich wieder zu mir: auf dem Rücken liegend, die rechte Faust gegen das weiße Kopfteil des Krankenbetts gestemmt, die linke Hand schweißnass auf der Brust liegend, in der mein Herz wie ein ängstlicher Vogel gegen einen Käfig aus Rippen pochte.
Ich holte tief Luft, atmete langsam aus und spürte dabei, wie sich die Mullbinden, die mein Gesicht verbargen, bewegten. Ich starrte die blassgrüne Zimmerdecke an und fühlte eine unerklärliche Angst.
Die Tür zum Bad wurde geöffnet und wieder geschlossen; dann raschelte gestärktes Leinen, und Schritte näherten sich dem Fenster. Diese Geräusche hörte ich jeden Morgen – und das bereits seit sieben Monaten. Die Wirklichkeit verdrängte die Erinnerung an meinen Alptraum.
»Wie spät ist es?«, fragte ich, weil ich die Anstrengung scheute, mich nach dem tickenden Wecker auf meinem Nachttisch umzudrehen. Meine Schulter war morgens noch immer steif, obwohl der Gipsverband schon vor Wochen abgenommen worden war.
»Oh!«, sagte Miss Dewar überrascht. »Ich dachte, Sie schliefen noch. Es ist Viertel nach sieben.« Sie kam heran und blieb am Fußende des Betts stehen. »Heute ist der große Tag, Mr. Marriott«, erklärte sie mir mütterlich lächelnd.
Der Name klang immer noch fremd. Marriott. Ich hatte ihn monatelang gehört - von meiner Frau Judith, von Dr. Stryker, von Miss Dewar, von Dr. Ragensburg, dem Psychiater -, aber ich konnte mich nicht mit ihm identifizieren. Ich hatte ihn schon stundenlang wiederholt und ihm dabei Dutzende verschiedener Betonungen gegeben, weil ich verzweifelt hoffte, eine von ihnen würde mir plötzlich jenen Mann vor Augen führen, der ich gewesen war. Aber der Name blieb eine Kombination von Silben, auf die ich automatisch reagierte. Marriott - Daniel Marriott. Oh, ja, das bin ich. Hier!
»Ja«, sagte ich zu Miss Dewar, »der große Tag.« Die Banalität ihrer Redewendung war aufreizend, aber dann schämte ich mich. Sie war gut zu mir gewesen, freundlich und geduldig. War der frühere Daniel Marriott ein Zyniker gewesen?
Miss Dewars Lächeln wurde noch breiter, während sie mein Bett richtete und aufzuräumen begann.
In einer Viertelstunde würde ich ein leichtes Frühstück bekommen: Tee und trockenen Toast. Der Grund dafür war auch ohne Erklärung verständlich. Um acht Uhr sollte der Verband abgenommen werden. Vielleicht würde ich mich übergeben, wenn ich anschließend mein Gesicht sah. Ich erinnerte mich noch lebhaft an meine Reaktion, als der erste Gips abgenommen worden war. Obwohl Dr. Stryker nicht damit einverstanden gewesen war, hatte ich darauf bestanden, mich in einem Handspiegel zu betrachten. Das Spiegelbild hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einem Gesicht gehabt; es war eine grotesk entstellte purpurrote Fleischmasse mit deutlichen Narben gewesen. Ich war ohnmächtig geworden.
Beim Gedanken daran zitterte ich. Aber dann wurde ich wieder ruhiger, als ich an Dr. Strykers Gesichtsausdruck dachte, mit dem er mir am Vortag dieses Ereignis angekündigt hatte. Er hatte so stolz gelächelt, als sei er ein Bildhauer, der ein Meisterwerk zu enthüllen habe.
War sein Stolz gerechtfertigt? Ich drehte mich um (das linke Bein, das unter dem Knie gebrochen gewesen war, reagierte darauf mit einem schmerzhaften Stechen) und betrachtete die beiden Fotos auf meinem Nachttisch. Ich sah Judith nur kurz an, stellte wieder fest, dass der intensive Blick ihrer dunklen Augen nicht recht zu ihrem heiteren Lächeln passte, und konzentrierte mich auf den Mann, der ich gewesen war. Ein gutaussehendes Gesicht mit hervortretenden Backenknochen, kurzer gerader Nase, klaren Augen und dichtem schwarzen Haar, das damals noch keine grauen Strähnen aufgewiesen hatte. Das Bild war vor acht Jahren aufgenommen worden; damals war ich dreißig gewesen. Dieses Gesicht war mir so fremd wie eines im Schaufenster eines Fotografen - aber ich würde mich bestimmt daran gewöhnen können. Was war jedoch, falls alle ärztlichen Bemühungen und ein monatelanges Krankenlager nur zu einem monströsen Ergebnis geführt hatten? Nun, dann würde ich eben als Ungeheuer leben müssen. Ich spürte, dass ich in meinem früheren Leben anpassungsfähig gewesen war, vielleicht auch eitel, weil ich mir Judiths Anwesenheit bei der Enthüllung meines neuen Gesichts verbeten hatte. Oder war ich nur rücksichtsvoll darauf bedacht, ihr einen Schock zu ersparen? Das wusste ich nicht, weil ich mich an nichts erinnerte, das derartige Rückschlüsse auf meinen Charakter zugelassen hätte.
Ich schaute auf die Uhr. Halb acht.
Etwa dreihundert Meilen nördlich von hier würde Judith jetzt unser Haus in Kentwood verlassen, um über die Golden Gate Bridge zum Flughafen San Francisco zu fahren. Sie würde dort frühstücken und um neun nach Santa Barbara fliegen, dort ein Auto mieten und durch die Hügel zur Klinik fahren. Um Viertel nach zehn würde sie dann hereinkommen, sich besorgt um mich kümmern und sich heiter geben, obwohl ihr nicht danach zumute war. An dieser Routine hatte sich in den sieben Monaten meines Klinikaufenthalts nicht das Geringste verändert. Judith kam dreimal pro Woche vormittags, blieb zum Mittagessen und ging am Spätnachmittag. Aber heute stand eine erregende Neuerung bevor - wenn Judith die Klinik verließ, würde ich sie begleiten. Falls mein Gesicht noch zu entstellt war, würde ich es mir vorher wieder verbinden lassen. Aber ich würde unter allen Umständen mitfahren. Ich wollte hier heraus!
Miss Dewar zog die Jalousie des großen Fensters mir gegenüber hoch und ließ die Julisonne ins Zimmer. Dann ging sie und wurde von einem Krankenpfleger abgelöst, der mein Frühstück brachte. Ich aß nur wenig Toast, trank aber den Tee aus, weil ich einen rauen Hals hatte. Beim Schlucken hatte ich noch leichte Schmerzen an der Stelle, wo meine Luftröhre verletzt worden war. Judith hatte mir erklärt, meine Stimme klinge dadurch weich und etwas heiser. »Ganz und gar ungewöhnlich«, hatte sie lächelnd gesagt, »und wirklich angenehm.« Ich hatte eher den Eindruck, Kiesel über ein Blech rollen zu hören.
Solche gutgemeinten Feststellungen unterstrichen eigentlich, dass wir uns fremd waren. Oder vielleicht nicht vollkommen fremd. Das herzförmige Gesicht und die schulterlangen schwarzen Haare erweckten in mir bestimmte Assoziationen. Judith war eine hübsche, fast schöne Frau in meinem Alter (aus irgendeinem Grund scheute ich mich, danach zu fragen), und je weiter meine Genesung fortschritt, desto mehr begehrte ich sie. Vor einigen Wochen hatte Judith diese unausgesprochene Sehnsucht zum ersten Mal gespürt; sie hatte mich zum Abschied geküsst und dann geflüstert: »Bald, Dan, bald.« Seitdem gehörte dieses Versprechen zu jedem Abschied, und ich stellte mir oft vor, wie wir uns früher leidenschaftlich geliebt haben mochten. Aber ich sprach nie davon.
Dafür hatten wir Zeit in dem Haus, das Judith südlich von Los Angeles am Strand gemietet hatte. Wir wollten dort ein paar Wochen bleiben. Das Haus sollte eine Station auf meinem Rückweg nach Kentwood sein; ich sollte mich dort auf eine Rückkehr zu dem Ort vorbereiten, an dem ich meine körperliche und geistige Identität eingebüßt hatte.
Dr. Ragensburg, der Psychiater, hatte Judith aufgefordert, mir die Ereignisse jener schrecklichen Nacht wiederholt zu schildern. Der Unfall war um halb drei am Neujahrsmorgen passiert, als wir von einer Silvesterparty bei Ginny und Jeb Scott, unseren besten Freunden, nach Hause fuhren. Es war neblig trüb und regnerisch, als ich die Bergstraße mit ihren bekannten Aussichtspunkten hinauffuhr. In dreihundert Meter Höhe, als wir weniger als eine Meile von unserem Haus entfernt waren, kam der Wagen auf einem Ölfleck ins Schleudern. Ich konnte das Lenkrad nicht festhalten. Das Auto schleuderte über den Straßenrand. Judith fiel aus dem Wagen und kam mit Hautabschürfungen davon. Ich war vom Aufprall gegen das Lenkrad bewusstlos, als der Wagen sich mehrmals überschlagend hundertfünfzig Meter weit den Berg hinunterstürzte und erst von einer dicken Eiche aufgehalten wurde, die er halb aus dem Boden riss.
Judith hatte es irgendwie geschafft, zu mir hinunterzuklettern und mich aus dem Wagen zu ziehen. Sie hatte ihren Unterrock in Streifen gerissen, um mich notdürftig zu verbinden. Wir waren völlig allein; unser leeres Haus war das einzige in weitem Umkreis, und auf der Straße herrschte selbst tagsüber nur wenig Verkehr. Judith hatte getan, was sie tun musste: Sie hatte mich zurückgelassen, war mühsam zur Straße hinaufgeklettert und hatte von unserem Haus aus die Polizei benachrichtigt. Ich war halbtot geborgen worden: Das Nasenbein und der Unterkiefer waren gebrochen, acht Zähne fehlten, die Luftröhre war schwer verletzt, Schulter, Arm und die rechte Hand waren gebrochen, vier Rippen und das linke Bein wiesen ebenfalls Brüche auf, und die Milz war gerissen. Dass ich noch lebte, grenzte an ein Wunder.
Nach zwei Wochen in der Intensivpflegestation des Kentwood Hospitals, wo ich stumm, unbeweglich und ohne Erinnerung an den Unfall gelegen hatte, wurde ich mit einem Krankenwagen dreihundert Meilen weit nach Süden gefahren. Dieser Transport nach Santa Barbara war nötig, damit Dr. Vincent Stryker, eine Kapazität auf dem Gebiet der plastischen Chirurgie für Unfallverletzte, mich in seiner Klinik operieren konnte.
In den folgenden Monaten machte ich eine Erfahrung: Ich konnte auch über längere Zeit hinweg erstaunlich viel Schmerzen ertragen. Ich musste eine Operation nach der anderen über mich ergehen lassen, mit denen Dr. Stryker meine schweren Gesichtsverletzungen zu reparieren versuchte. Dann lag ich schließlich in Gips, hatte das linke Bein im Streckverband und konnte den rechten Arm nicht mehr von der Brust nehmen. In dieser Haltung blieb ich auf dem Rücken liegend in einem geistigen Vakuum, das nur nachts von. Alpträumen erfüllt war.
Dr. Ragensburg erklärte mir auf mein Drängen hin meinen Gedächtnisverlust. Der Psychiater war ein kleiner, dicklicher Mann, der eher wie ein bebrillter Drogist als wie ein Arzt aussah. Er saß neben meinem Bett und bemühte sich, den Sachverhalt auch für einen Laien verständlich auszudrücken.
»Der Unfall und Ihre Verletzungen erklären Ihren Gedächtnisverlust nur zum Teil. Ihr Gehirn hat keinen Schaden erlitten. Natürlich hat die erlittene schwere Gehirnerschütterung ein Trauma zur Folge, aber dadurch dürften nur die jüngsten Erinnerungen verlorengehen; Sie müssten sich also an Ereignisse aus der Vergangenheit erinnern. Aber Ihr Fall liegt anders - Sie haben nicht nur Ihre Identität, Ihren Beruf, Ihr Alter und Ihre Adresse vergessen, sondern erkennen nicht einmal Ihre Frau, mit der Sie seit sechzehn Jahren verheiratet sind, wieder.« Er lächelte melancholisch. »Ein typisches Paradoxon. Alle Erinnerungen sind verschwunden, aber die Gewohnheiten bleiben. Sie können sprechen, schreiben und denken; Sie sind ganz normal, wenn man von dem Gedächtnisverlust absieht.«
»Was hat ihn hervorgerufen, wenn die Kopfverletzungen ausscheiden?«
»Oh, die Kopfverletzungen haben zweifellos dazu beigetragen. Aber ich glaube, dass Ihr Fall psychogene Ursachen hat. Das Material Ihrer Erinnerungen ist noch da, aber Sie haben es ins Unterbewusstsein verdrängt, weil Sie es nicht länger ertragen konnten.«
Ich warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Soll das heißen, dass ich mein Leben vor dem Unfall vergessen will?«
»Entweder Ihr Leben oder eine einzelne unerträgliche Situation - einen emotionellen Schock, der in Ihrem Leben eine Krise ausgelöst hat.«
»Können Sie beurteilen, wie lange dieser Gedächtnisverlust anhalten wird?«
Er schob die Lippen vor. »Ich möchte nicht, dass Sie die Zukunft zu optimistisch sehen, Mr. Marriott, aber Sie sollen auch keine Depressionen bekommen. Es gibt unzählige Menschen, die jahrelang ihre persönlichen Erinnerungen vergessen haben. Soviel ich feststellen konnte, ist Ihr Gedächtnis massiv blockiert. Wir haben freie Assoziation, Drogen und Hypnose versucht - erfolglos. Unter Umständen kann eine Rückkehr in die gewohnte Umgebung erstaunliche Heilerfolge bringen. Aber ich möchte Sie bitten, sich nicht darauf zu verlassen.«
»Kann der Gedächtnisverlust dauerhaft bleiben?«, fragte ich besorgt.
Er nickte. »Ja, das ist möglich.«
»Weiß meine Frau das alles?«, erkundigte ich mich mühsam beherrscht.
»Ich habe es für meine Pflicht gehalten, sie darüber zu informieren.«
Jetzt machte ich mich von diesen trübseligen Gedanken frei, griff nach der Zeitung neben dem Frühstückstablett und schlug den Wirtschaftsteil auf. Das schien eine Angewohnheit aus meinem früheren Leben zu sein, in dem ich als Börsenmakler in der Firma Scott & Marriott der Partner meines besten Freundes Jeb Scott war. Ich las den Börsenbericht, in dem von einer leichten Erholung die Rede war, stellte fest, dass der Dow-Jones-Index um einige Punkte gestiegen war, und studierte die Kurse, ohne etwas mit ihnen anfangen zu können. Ich hatte das Gefühl, ein Haus nur von außen, ohne die Einrichtung und die Bewohner zu kennen. So war es mir auch bei Jeb Scotts drei Besuchen ergangen: Jebs Börsensprache, die er offenbar absichtlich gebrauchte, war mir unverständlich gewesen - sehr zu Jebs Enttäuschung, der sich davon eine Wiederherstellung meines Gedächtnisses versprochen zu haben schien.
Ginny Scott, seine Frau, hatte mehr Verständnis bewiesen - allerdings nicht mit Worten. Sie hatte Judith nur einmal begleitet. Sie hatte wenig gesprochen, mich mitleidig betrachtet und dann plötzlich leise zu weinen begonnen. Ich hatte den Eindruck, sie leide unter dem Gedanken, dass der Unfall nicht passiert wäre, wenn ihre Party nicht stattgefunden hätte. Ginny hatte mir später einen kurzen Brief geschrieben und sich für diese Szene entschuldigt.
Die Tür wurde geöffnet. Dr. Stryker erschien auf der Schwelle. Sein hageres, sommersprossiges Gesicht trug einen gespannten Ausdruck.
Ich richtete mich auf.
»Guten Morgen, Mr. Marriott. Wir sind jetzt fertig.«
In Dr. Strykers Behandlungszimmer waren die Jalousien geschlossen. Ich saß mit dem Rücken zum Fenster in einem Ledersessel mit Kopfstütze. Miss Dewar stand irgendwo rechts im Halbdunkel, Dr. Stryker genau vor mir.
Ich schloss die Augen.
Die Schere schnitt unerwartet laut an meinem linken Ohr entlang. Ich hörte, wie sie klirrend fortgelegt wurde. Dann wickelte der Arzt die Mullbinden ab. Ich hatte das Gefühl, mir werde eine schwere Last vom Gesicht genommen. Mit jeder Schicht, die entfernt wurde, wurden auch die Empfindungen meiner Haut deutlicher.
Dann spürte ich plötzlich einen kalten Luftzug. Der Verband war abgenommen.
Ich öffnete die Augen und blinzelte in den bleistiftdünnen Lichtstrahl hinein, hinter dem Dr. Stryker undeutlich erkennbar war. Seine Finger glitten über meine Stirn, die Nase entlang, über die Backen und bis zum Kinn.
»Bewegen Sie Ihr Gesicht, Mr. Marriott.«
Ich schnitt vorsichtig eine Grimasse. Mein Herz schlug heftig. Mein Gesicht spannte wie eine große aufgesprungene Lippe.
»Gut«, meinte der Arzt. »Die Wucherungen sind jetzt verschwunden. Deformierungen sind nicht zu befürchten.« Er schaltete das Licht aus. »öffnen Sie bitte die Jalousien, Miss Dewar.«
Als Tageslicht in den Raum flutete, sah ich, dass Dr. Stryker mir einen runden Handspiegel entgegenhielt.
»Erwarten Sie aber keine Perfektion, Mr. Marriott.«
Ich biss die Zähne zusammen und hielt den Spiegel einen Augenblick an mich gepresst. Dann hob ich ihn langsam.
Diesmal war ich auf einen Schock vorbereitet, so dass meine erste Reaktion angenehme Überraschung war: Mein Gott, er hat mir mein Gesicht zurückgegeben! Aber es war fleckig, verschiedenfarbig und von dünnen roten Narben durchzogen.
»Die Schwellung ist völlig abgeklungen, Mr. Marriott. Die Verfärbung und die einzelnen Flecken verschwinden noch. Dann fallen auch die Narben nicht mehr auf. Sie sehen später wieder ganz normal aus.«
Ich hörte die Stimme des Arztes wie aus weiter Ferne. Ich starrte mich schweratmend an und hatte das Gefühl, einen Mann zu sehen, den ich gut, sehr gut kannte - und dessen Name mir im Augenblick nicht einfiel. Die Fragmente meiner Erinnerung begannen ein kaleidoskopartiges Bild zu formen. Dann fielen sie wieder auseinander.
Aber zuvor hatte ich noch eine nicht identifizierbare Frau gesehen, die von einer Aura des Todes umgeben war.
Zweites Kapitel
Das Ferienhaus in San Clemente stand auf einer hohen Düne. Von der Sonnenterrasse aus führte ein Dutzend Holzstufen zum Strand hinunter. Im Haus gab es zwei Schlafzimmer, einen großen Wohnraum mit Hausbar sowie eine daran anschließende Küche.
Ich hatte gleich nach unserer Ankunft die Vorhänge zugezogen, damit die grelle Nachmittagssonne mir nicht ins Nachte Gesicht schien. Jetzt saß ich auf einem Hocker an der Theke, trank Bier und drehte das Gesicht zur Wand, obwohl Judith im Schlafzimmer unsere Koffer auspackte. Ich hatte so lange unter Verbänden gelebt, dass ich mir jetzt fast als Exhibitionist vorkam. Auf der zweistündigen Fahrt nach Süden war ich selbst in Los Angeles tief in meinen Sitz zurückgesunken und hatte das Kinn im hochgeschlagenen Kragen meiner neuen Sportjacke vergraben. Allerdings konnte ich Judith nicht für diesen Drang, mein Gesicht zu verstecken, verantwortlich machen. Sie hatte nur einmal kurz zu Boden gesehen, ohne sonst Widerwillen zu zeigen, als ich ihr in einem halbdunklen Raum gegenübertrat. Ganz im Gegenteil - sie hatte das Ergebnis der Operationen sogar bewundert. »Nur ein bisschen Sonne, Dan«, hatte sie mir lächelnd versichert, »dann bist du in Form für Hollywood.«
Judith hatte mich überrascht, indem sie in einem weißen Thunderbird Kabriolett erschien - dem Ersatz für den bei dem Unfall zerstörten Wagen. Sie brachte mir neue Kleidungsstücke mit; das war notwendig, weil ich in der Klinik abgenommen hatte. Auf der Fahrt von Santa Barbara nach Süden war unsere Unterhaltung sporadisch und einseitig gewesen. Judith hatte das lange Schweigen aufgelockert, indem sie mir versicherte, wie froh sie über meine Entlassung sei und wie glücklich wir in den nächsten Wochen miteinander sein würden. Dieser Gedanke hatte etwas Erschreckendes für mich. Mein narbenbedecktes Gesicht war noch zu empfindlich für jede Berührung, und ich genierte mich wegen des Anblicks, den es bot (ich hatte es abgewandt, als Judith in der Klinik auf mich zueilte und mir um den Hals fiel). Vielleicht würde sie nicht gleich in den ersten Tagen erwarten, dass ich sie liebte - zumindest erst dann, wenn ich im Gespräch mehr über unsere früheren Gewohnheiten erfahren hatte. Dieser Gedanke war erleichternd.
Jetzt stand ich nervös auf und trat mit der Bierdose in der Hand ans Fenster. Ich schob den grünen Vorhang vorsichtig zur Seite und sah hinaus. Das Strandstück unterhalb des Hauses war auf einer Breite von dreißig Metern rechts und links mit zweieinhalb Meter hohen Bretterzäunen abgegrenzt. Wir hatten also wirklich einen Privatstrand, wie Judith mir versichert hatte. Über den Wogenkämmen stand eine große dunkelrote Sonne. Ich sah auf die Uhr. Zehn vor fünf. »Cocktails um fünf«, hatte Judith gesagt, als kündige sie eine Hinrichtung an. Ich schüttelte den Kopf. Dann hatte ich plötzlich einen leichten Anfall von Platzangst, ging zur Tür und trat ins Freie.
Auf der breiten Sonnenterrasse standen zwei Campingstühle und zwei zusammengeklappte Liegen. Aus irgendeinem Grund interessierte ich mich für die Liegen mit ihrem dunklen Holzgestell und den blauen Polstern. Bei diesem Anblick fiel mir das Wort Mexiko ein. Dann Acapulco. Aber weitere Assoziationen wollten sich nicht einstellen, bis ich bewusst versuchte, diesen Ortsnamen geographisch zu betrachten. Puerto Vallarta. Da! Acapulco wurde von diesem neuen Wort absorbiert, und ich hatte eine Vorstellung davon, was Puerto Vallarta bedeutete. Eine kleine mexikanische Küstenstadt, Häuser auf einem grünen Hügel, riesige Wellen, die gegen den Strand donnerten. Ein seichter Swimming-Pool unter tropischen Bäumen mit lang herabhängenden Zweigen. Und an seinem Rand Liegen wie diese hier. nachts am Swimming-Pool. Eine auf der Liege ausgestreckte Frau, die hastig nach dem Verschluss ihres Bikinis griff. »Jetzt!«, flüsterte sie. »Es muss jetzt sein!«
»Kommst du mit zum Schwimmen?«, fragte Judith hinter mir. »Die Drinks schmecken anschließend besser.«
Ich drehte mich nach ihr um und verdeckte mein Gesicht mit einer Hand. Sie stand lächelnd an der Terrassentür. Ihr schwarzes Haar fiel locker auf den Rüschenkragen ihrer Strandjacke herab, unter der sie einen winzigen rosa Bikini trug.
»Vielleicht morgen«, antwortete ich zögernd. »Heute ist es schon etwas spät.«
Judith war offensichtlich enttäuscht. Ich sah mich nach der Sonne um und stellte fest, dass die Abenddämmerung bald einsetzen würde. Ich ließ meine Hand sinken, lächelte Judith zu und brachte den Mut auf, ihr zu antworten: »Gut, warum eigentlich nicht? Irgendwann muss ich schließlich wieder an die Sonne.«
Während ich mich im Schlafzimmer umzog, dachte ich über die verschwommenen Erinnerungen nach, die der Name Puerto Vallarta in mir wachgerufen hatte. Vielleicht waren sie gar keine echten Erinnerungen. Judith hatte mir in der Klinik erzählt, wo wir letztes Jahr im Herbst in Mexiko gewesen waren: Mexiko City, Acapulco, Puerto Vallarta (dort waren die Scotts zu uns gestoßen). Vielleicht hatte sie auch von den Liegen am Swimming-Pool gesprochen - aber ich wusste bestimmt, dass sie diese verführerische Szene nicht erwähnt hatte. Bloße Einbildung, überlegte ich mir, Phantasien eines unbefriedigten Mannes. Ich zog rasch meinen Bademantel an (weiß wie mein ganzer Körper) und lief hinaus.
Judith stand bereits im Wasser und hatte ihre Strandjacke im Sand zurückgelassen. Sie winkte mir zu. Ich eilte die Treppe hinunter, rannte über den warmen Strand zum Wasser und stürzte mich in die erste Woge. Aber ich hatte sie falsch berechnet, verlor den Boden unter den Füßen und schluckte sogar etwas Salzwasser. Aber ich biss die Zähne zusammen, wartete die nächste Welle ab und warf mich hinein. Diesmal blieb ich oben. Als ich wieder stand und mich nach Judith umdrehte, erwiderte sie mein triumphierendes Lachen. Wir stürzten uns gemeinsam in die nächsten Brecher und warteten dann mit dem Gesicht zum Strand auf einen besonders großen. Er riss uns mit, schob uns durch die Gischt vor sich her und ließ uns endlich im Sand zurück.
Ich blieb auf dem feuchten, harten Untergrund liegen, beobachtete die Sonne und fühlte mich geradezu wunderbar erschöpft. Judith ging zu ihrer Jacke, kam mit zwei Zigaretten zurück und gab mir eine. Dann setzte sie sich neben mich, schlang ihre Arme um die Knie und betrachtete mich lächelnd. Ich schämte mich jetzt nicht mehr wegen meines Gesichts; ich hatte nicht mehr das Gefühl, es verbergen zu müssen. Ich schloss die Augen.
Dann spürte ich plötzlich weiche Lippen auf meinen. Judiths Kuss schmeckte nach Salz. Ich öffnete die Augen, schloss sie gleich wieder und ließ meine Zigarette fallen. Ich hob die Hand, als wollte ich Judith zurückdrängen - aber dann streichelte ich nur ihre Schulter. Sie öffnete mit einer Hand den Verschluss ihres Bikinis, ließ das Oberteil in den Sand fallen und drückte mein Gesicht sanft zwischen ihre Brüste. »Liebster, oh, Liebster«, flüsterte sie dabei. Ihre Hand glitt meinen Körper hinab.
Ich machte mich instinktiv frei. Angst? Nein, vermutlich wollte ich nur keine ausschließlich passive Rolle spielen. Ich suchte stockend nach Worten. »Ich... ich weiß nicht, was... was wir waren.«
Ihr Blick wurde weicher, und sie lächelte sogar. Dann sah sie aufs Meer hinaus. »Sagen wir einfach: Wir waren ein Liebespaar«, antwortete sie ausweichend.
Sie drehte sich wieder nach mir um. Ich betrachtete sie aufmerksam und versuchte das Unbekannte in ihr zu ergründen. Aber ich wandte mich schließlich kopfschüttelnd ab und dachte an die Realität - eine seltsame halbnackte Frau und ein Mann ohne Gedächtnis und mit einem Narbengesicht. Ich stand verlegen auf und zog meinen Bademantel an.
»Ein Liebespaar«, wiederholte ich, während sich Judith resigniert ihre durchsichtige Strandjacke umhängte. »Nach sechzehn Ehejahren? Das nenne ich eine überdurchschnittliche Entwicklung.« Zu meiner Überraschung benützte ich diesen Ausdruck aus der Börsensprache.
Judiths Antwort klang leicht spöttisch. »Wie du vielleicht schon gemerkt hast, bemühe ich mich, dir das ganze Angebot vorzuführen.«
Im Haus überließ ich die Dusche zuerst Judith. Als ich später im Bademantel auf die Sonnenterrasse kam, lag sie in einem scharlachroten Morgenrock auf einer Liege und trank einen Martini. Sie mixte auch mir einen. Ich probierte ihn und nickte zufrieden - er war sehr trocken und eiskalt.
»Noch ein Talent«, stellte ich lächelnd fest.
»Wir haben das erste bisher kaum auf die Probe gestellt.«
Judith wollte nicht davon aufhören. Sie schien mich reizen und einen Beweis meiner Männlichkeit fordern zu wollen. Ich leerte mein Glas, stand auf und trat an ihre Liege. Judith sah erwartungsvoll zu mir auf. Sie rückte zur Seite, um mir Platz zu machen, schlang mir die Arme um den Hals und küsste mich. Ich schob sie fort, weil ich nicht wieder eine passive Rolle spielen wollte, und stand auf. Judith klammerte sich an mich und löste den Gürtel meines Bademantels. Dann ließ sie ihren Morgenrock ebenfalls zu Boden gleiten, bedeckte meinen Körper mit warmen Küssen und drängte sich gegen mich.
Ich vergaß alles um mich herum. Als ich wieder zu klarem Bewusstsein kam, sah ich Judith rittlings auf mir sitzen und dachte: So war es in Puerto Vallarta. Aus irgendeinem Grund war dieser Gedanke alarmierend.
»Erinnerst du dich jetzt wieder an alles?«, flüsterte Judith.
Ich suchte nach einer Antwort. »Ein Teil meiner selbst erinnert sich daran«, erwiderte ich - und merkte zu spät, wie taktlos das klang.
Judith stand auf, holte Zigaretten und gab mir eine brennende. Ich atmete den Rauch tief ein.
»Ich meine, erinnert sich dein Verstand daran?« Ihre Stimme klang forschend wie die des Psychiaters in der Klinik.
»Das weiß ich nicht. Vielleicht war alles nur ein Traum. Ein Swimming-Pool unter Bäumen. Eine Liege wie diese...«
Sie legte mir eine Hand aufs Knie. »Das ist kein Traum. Wir waren in Puerto Vallarta. Du warst so... so abweisend. Und ich bin über dich hergefallen. Ich habe dich vergewaltigt.«
Ich war verwirrt, aber nicht schockiert. »Hast du dabei Jetzt, es muss jetzt sein! gesagt?«
»Vermutlich.« Judith wählte ihre Worte sorgfältig. »Wir hatten nicht mehr viel Zeit. Es war unser letzter Abend. Wir wollten am nächsten Morgen abreisen.«
»Aber waren wir nicht in einem Hotel? Hatten wir kein Bett, in dem wir...«
Sie drückte ihre Zigarette aus. »Doch, wir hatten ein Doppelbett wie in Acapulco. Aber du hast es nie mit mir geteilt.«
Ich runzelte verblüfft die Stirn. »Ich dachte, wir waren ein Liebespaar?«
Judith schien über dieses Wort nachzudenken. »In gewisser Beziehung waren wir es wohl - aber in anderer schon lange nicht mehr.«
Waren wir deshalb nach Mexiko gereist? Hatten wir unsere sexuelle Entfremdung auf diese Weise beenden wollen? Hatten wir gehofft, die tropischen Nächte würden sich als Aphrodisiakum erweisen? Mir fiel etwas anderes ein.
»War früher bei mir... etwas nicht in Ordnung?«
Sie lächelte. »Nein, nein, daran hat es nie gelegen, Liebster.«
»Aber warum...?«
»Wir wollen nicht voreilig sein, Dan. Du musst dich allmählich eingewöhnen. Freuen wir uns lieber darüber, dass wir uns jetzt verstehen.«
Ich stimmte zögernd zu und fragte mich, was ihre offensichtliche Erleichterung zu bedeuten hatte.
Am nächsten Morgen stand ich um zwei Uhr am Fenster, weil ich nicht schlafen konnte, rauchte eine Zigarette und sah auf den mondhellen Strand hinaus. Ich hatte mich ruhelos im Bett gewälzt und über meine frühere Rolle als Ehemann nachgedacht. Judiths Verhalten ließ darauf schließen, dass sie in unserer Ehe dominiert hatte. War ich einer dieser Schwächlinge gewesen, die unter dem Pantoffel ihrer herrschsüchtigen Frau standen? Hatte mich mein Beruf so beansprucht, dass meine Autorität verlorengegangen war, weil ich sie nicht mehr ausgeübt hatte? Oder war unsere sechzehnjährige Ehe so verflacht, dass Judith versucht hatte, sie wieder interessant zu machen, indem sie unsere Rollen vertauschte? Aber keine dieser Überlegungen schien wirklich zu passen.
Ich wusste jedoch, dass ich es nicht würde ertragen können, der passive Partner zu bleiben.
Drittes Kapitel
An unserem ersten Morgen in Kentwood fuhr ich zur Unfallstelle. Ich sah, wo der Wagen schließlich zum Stehen gekommen war und die Eiche halb entwurzelt hatte. Das zersplitterte Holz war inzwischen grau verwittert. Braune Blätter raschelten unter meinen Füßen, als ich näher herantrat, um die Aufprallstelle zu betrachten. Tiefe Narben und Rinnen deuteten an, mit welcher Gewalt der Wagen an die Eiche geprallt war.
Ich richtete mich auf und stellte mir vor, wie der Wagen von der Straße abgekommen und hundertfünfzig Meter weit den Steilhang hinuntergestürzt war. Der üppige Pflanzenwuchs hatte inzwischen bereits alle Unfallspuren verdeckt. Ich sah die Stelle, an der Judith aus dem Auto geschleudert worden sein musste. Genau darüber
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Richard Neely/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Christian Dörge (OT: The Plastic Nightmare).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2019
ISBN: 978-3-7438-9825-7
Alle Rechte vorbehalten