RICHARD NEELY
Der Mörder
und sein Schatten
Apex Crime, Band 2
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER MÖRDER UND SEIN SCHATTEN
LAMBERT POST
CHARLES WALTER
MAURY RYAN
LAMBERT POST
MAURY RYAN
LAMBERT POST
Nachwort: MAURY RYAN
Das Buch
Lambert Post, der kleine, unscheinbare Anzeigenwerber aus New York findet einen Freund: den großen, den unvergleichlichen Charles Walter. Charles steht zu ihm, ergreift Partei für ihn und rächt ihn vor allem an den Frauen, die ihn zurückgewiesen haben...
Der Mörder und sein Schatten - ein brutales und düsteres Psycho-Thriller-Meisterwerk aus der Feder von Richard Neely!
DER MÖRDER UND SEIN SCHATTEN
LAMBERT POST
1.
Als ich den Namen Charles Walter im Sommer 1938 zum ersten Male hörte, wusste ich gleich, dass er kein gewöhnlicher Mensch war. Schon der Name klang irgendwie bedeutend. Charles, Herzog von Walter. Oder Sir Charles Walter, der große Gutsherr. Oder - was in dieser verrückten Gegend New Yorks vielleicht noch besser war - Charles Walter, König der Playboys. Der Name strahlte Autorität und weltmännische Gewandtheit aus, aber er hatte auch einen irgendwie gefährlichen Unterton.
Wie anders klang da mein eigener elender Name. Lambert Post. Herr im Himmel, wieviel Ärger hatte ich doch mit diesem Namen immer gehabt! Lam Post, Lamppost, Laternenpfahl riefen mich die Kinder. »He, Laternenpfahl, hab ich nicht gehört, dass sich die Besoffenen an dir festhalten?«
»Hallo, Laternenpfahl, haben dich in letzter Zeit wieder Hunde angepisst?« Sehr lustig.
Charles Walter trug viel dazu bei, das alles zu ändern. Ihm verdanke ich es, dass ich etwas fühlte, das ich mein ganzes Leben lang nie gekannt hatte: Selbstachtung, Zuversicht, Männlichkeit, Freude. Ihm verdanke ich auch Angst und Entsetzen, doch das kam erst später.
Ich erinnere mich noch genau an seinen ersten Tag bei der Anzeigenabteilung unserer Zeitung. Mit einem ironischen Lächeln um die Mundwinkel und einem stolzen Ausdruck in den tiefliegenden Augen verkündete er den in der Nähe Sitzenden: »Ich bin Charles Walter. Möblierte Zimmer.« Dann ließ er sich wie ein König auf seinem Thron auf dem komischen kleinen Stühlchen mit der geschwungenen Rückenlehne nieder, das man auf Rollen unter den Schreibtisch schieben konnte. Eigentlich war es ein einziger langer Schreibtisch für drei Personen, unterteilt durch holzgerahmte Glasscheiben. Auf beiden Seiten des großen Raums standen je zehn Reihen solcher Tische, so dass insgesamt sechzig Arbeitsplätze für Anzeigenwerber vorhanden waren. Manchmal quatschten alle gleichzeitig in ihre Telefone, besonders dann, wenn die Aufsichtsdame, Jean Hooper, an ihrem erhöhten Tisch am Kopfende des Raumes saß und sich in die Gespräche einschaltete. Sie konnte jedes Telefonat abhören, ohne dass es der Betreffende merkte. Deshalb sparten sich die meisten Annoncenwerber ihre aussichtsreichsten Kunden für die Zeit auf, in der sie die Anrufe kontrollierte. Dann gaben sie sich ganz besondere Mühe, weil es ja immerhin sein konnte, dass Jean Hooper mithörte. Das Stimmengewirr übertönte beinahe noch das Dröhnen der Druckpressen im Erdgeschoss.
Charles Walter saß in der letzten Reihe dicht vor den braungestrichenen Heizungsrohren, gleich am Fenster, das man durch Kippen öffnen und mit einer Kette sichern konnte. Die Kette sah so aus, als stammte sie von einem altmodischen WC. Neben ihm, auf dem mittleren Platz, saß Henrietta Boardman, die für Stellenangebote zuständig war. Die kleine Henrietta hatte schwarzes Haar und Brillengläser, die so dick waren wie Colaflaschen. Aber die Brille vergaß man, wenn man ihren vollen roten Mund sah, der allerlei Spaß verhieß, ihre Brüste, über die sich der rosa Pullover spannte, oder das Wackeln ihres runden, festen Hinterns, wenn sie einen Anzeigentext abliefern ging. Den äußeren Platz zum Gang hin nahm Dottie Friedlander ein. Sie sammelte Immobilieninserate. Sie war ein richtiger Trampel, gebaut wie ein Kühlschrank, mit struppigem zimtblonden Haar und einem leichten Bartanflug. Ständig zupfte sie vor einem Vergrößerungsspiegel mit einer Pinzette an den Barthaaren herum.
Es war kurz vor neun an einem warmen Montagmorgen. Henrietta, Dottie und Charles Walter begannen wie die meisten anderen in dem großen, länglichen Saal ihr Arbeitsmaterial zu sichten - die Suchanzeigen in Konkurrenzzeitungen. Schon früh am Morgen hatten ein paar Mädchen diese Inserate ausgeschnitten und auf gelbe Papierbogen geklebt. Wo es nötig war, wurden die Telefonnummern danebengeschrieben. Charles Walter wusste, was er zu tun hatte, obgleich es sein erster Tag als Telefonwerber war. Davor hatte er im Außendienst gearbeitet und alle Adressen zwischen der 14. und 34. Straße im New Yorker Westen abklappern müssen, die telefonisch nicht erreichbar waren. Es war ein schwieriger Bezirk mit trostlosen rotbraunen Mietskasernen. Hier konnte es einem Vertreter oft passieren, dass er einen nassen Lappen ins Gesicht bekam. Charles Walters Misserfolg war besonders auffallend. Das lag nicht etwa daran, dass er nicht verkaufen konnte; nach mehreren Zusammenstößen mit solchen Hausdrachen weigerte er sich einfach, noch einen Fuß in dieses Gebiet zu setzen. Warum, zum Teufel, sollte er es auch tun - für mickrige zehn Dollar pro Woche plus fünf Dollar Spesen, die er niemals überzog? Da war es schon vernünftiger, den Zaster einzustecken, so lange es ging, und die Vormittagsvorstellungen im Paramount oder Capitol zu besuchen, wo er für einen Vierteldollar Frank Sinatra oder Tommy Dorsey persönlich sehen konnte; oder zu Minsky zu gehen, wo Ann Corio ihre Kurven bewundern ließ. Das hatte er zwei Monate lang gemacht in dem Bewusstsein, dass die Zeitung ihn drei Monate halten würde, bevor sie ihm den blauen Brief schickte. Seine einzigen geschäftlichen Bemühungen hatten darin bestanden, dass er am frühen Morgen und am späten Nachmittag im Büro erschien und irgendwann im Laufe des Tages den vorgeschriebenen Telefonbericht an seinen Vorgesetzten durchgab.
Diesem Telefonbericht hatte er den Job im Büro zu verdanken. Der Abteilungsleiter erklärte immer wieder, seine Stimme sei leise und eindringlich - »echt sexy wie die von Ronald Colman, aber ohne den Akzent« und genau das richtige für die Telefonwerbung. Er hatte sich erst gegen das Angebot gesperrt, weil er keine Lust verspürte, in einem tristen Büroraum zu hocken und unter den wachsamen Blicken von Jean Hooper zu arbeiten, der jeder nachsagte, sie sei eine ausgemachte Xanthippe. Dann erfuhr er, dass dieser Job zwanzig Dollar pro Woche eintrug. Zwanzig Dollar! Großer Gott! Er konnte es kaum erwarten, bis er sich den Kopfhörer aufsetzen und die schwarze Sprechmuschel umhängen durfte. Später erinnerte sich Charles Walter daran, wie ihm an diesem Montagmorgen vor seinem ersten Telefonanruf zumute war. Er wusste, dass Dottie Friedlander und Henrietta Boardman ihn aus den Augenwinkeln beobachteten. Als er den Kopf hob, bemerkte er, dass sich Jean Hooper mit einem großen Kamm durch das lockere, graugesprenkelte Haar fuhr und ihn neugierig musterte. »Vor den drei Frauen kam ich mir richtig nackt vor«, erzählte er später und lachte in seiner herzlichen, ansteckenden Art. »Die haben alle drei gedacht, dass ich es nicht schaffe.« Aber als er sich die Hörer überstülpte und die Sprechmuschel ansah, fühlte er sich geborgen. Er, Charles Walter, war nichts weiter als eine körperlose Stimme, die sanft, überzeugend, sehr persönlich klingen konnte und offenbar einem gutaussehenden, selbstsicheren Mann gehörte. Als er jedoch mit dem Bleistift die aufgeklebten Inserate entlangfuhr, wählte er sicherheitshalber eine Adresse aus, die ihm zumindest halbwegs bekannt vorkam.
Er entschied sich für eine Pension in der 23. Straße. Er kannte das Haus nicht, aber die Adresse lag irgendwo westlich vom Chelsea-Hotel. Eine ärmliche Gegend. Vielleicht ging es der Besitzerin dreckiger als den meisten anderen.
Er spielte eine Weile mit den Knöpfen an der Seite seines Schreibtisches herum und drückte dann auf den Knopf für eine Amtsleitung. Daneben befand sich ein kleiner schwarzer Hebel, den er nach rechts schob. Eine Telefonistin meldete sich. Er nannte ihr die Nummer. Während er auf den abgehackten Summton lauschte, kritzelte er auf einem linierten Schreibblock herum. Er wollte gerade auflegen und keine Antwort notieren, da hörte er eine Stimme.
»Hallo!«
Es war eine schrille Stimme, die dieses eine Wort fast wie einen Fluch ausspuckte.
»Guten Tag, hier spricht Charles Walter.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Sie sollen ein Zimmer zu vermieten haben?«
Die weibliche Stimme begann sofort hoffnungsvoll zu schnurren. »Oh, ja, Mr....«
»Walter, Charles Walter. Sind Sie die Geschäftsführerin?« Das klang viel besser als das Wort Vermieterin.
»Ja, ja doch. Außerdem die Besitzerin. Mein Name ist Mrs. Sloat. Es ist wirklich ein ganz entzückendes Zimmer. Im ersten Stock, nach vorn hinaus. Es ist...«
»Einen Augenblick bitte, Mrs. Sloat, ich glaube, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.«
»Entschuldigen?«
»Ja. Da fällt mir gerade ein - das Telefon hat so lang geläutet, vielleicht habe ich zu einer unpassenden Zeit angerufen? Ich könnte es später noch einmal versuchen.«
»Aber nein, Mr. Walter, ich war zwar oben im dritten Stock beim Aufräumen, und das Telefon ist hier im Erdgeschoss...«
»Das ist wirklich außerordentlich freundlich von Ihnen, Mrs. Sloat«, sagte Charles Walter sehr aufrichtig.
»Danke, Mr. Walter.« Mrs. Sloats Stimme schmolz dahin und klang fast wie die eines jungen Mädchens. »Ich glaube, Sie könnten mir als Mieter ganz gut gefallen.«
Keine Frage: Charles Walters aufregende Stimme war bei Mrs. Sloat vom Ohr bis tief in ihre Lenden gedrungen.
»Mrs. Sloat, ich habe heute Morgen in der Times Ihre Anzeige gesehen. Jetzt, wo ich mit Ihnen spreche, habe ich immer mehr das Gefühl, dass Sie eine Frau von ungewöhnlich gutem Geschmack sind.«
Sie erwiderte bescheiden: »Nun, das hoffe ich sagen zu dürfen.«
»Dann glaube ich, dass auch Ihr Zimmer, das Sie zu vermieten haben, diesen Geschmack widerspiegelt. Aber es steht nichts davon in Ihrem Inserat. Da wird nur angegeben, dass es sich um ein großes, luftiges Vorderzimmer mit Küchenbenützung handelt, verkehrsgünstig gelegen und preiswert. Sagen Sie: Ist nicht an der Möblierung etwas ganz besonders nett?«
»Oh, ja, das kann man wohl sagen. Ich habe Gardinen und Vorhänge selbst genäht und erst gestern aufgehängt. Die Matratze ist funkelnagelneu. Auch der Teppich sieht noch gut aus, er ist gar nicht abgetreten.« Ihre Stimme klang stolz, aber eine leise Unsicherheit war doch herauszuhören.
Charles Walter sagte mit leisem Tadel: »Da haben Sie es, Mrs. Sloat. Sie brauchen nur einen einzigen Satz hinzuzufügen, um dieses Inserat viel wirkungsvoller zu gestalten. Ich schreibe diesen Satz gerade nieder: Neu möbliert und dekoriert. Würden Sie nicht auch sagen, dass das sehr ansprechend klingt, Mrs. Sloat?«
»Ja, ich glaube schon.« Jetzt hörte man den Argwohn deutlich heraus. »Mr. Walter, sind Sie daran interessiert, das Zimmer zu mieten?«
Das war der entscheidende Augenblick. Charles Walter sagte forsch und bestimmt: »Ja, genau, daran bin ich interessiert. Ich bin nämlich von der Zeitung, Mrs. Sloat, New York Journal, die größte Abendzeitung der Stadt. Mein Spezialgebiet sind möblierte Zimmer...«
»Ach so!« Das klang mehr enttäuscht als abweisend.
»Sagen Sie, Mrs. Sloat, liest Ihr Mann eigentlich das Journal?«
»Ich bin Witwe.« Und dann sehr reserviert: »Und außerdem habe ich viel zu tun, Mr. Walter.«
»Das ist aber seltsam.«
»Seltsam? Was ist daran seltsam, wenn man viel zu tun hat?«
»Nein, dass Sie Witwe sind.« Er senkte die Stimme. »Ich kann Sie so gut verstehen, wissen Sie, ich habe meine Frau auch erst kürzlich verloren.«
Vorn im Saal ertönte ein unterdrückter Aufschrei. Charles Walter hob den Blick von seinem Gekritzel und sah, wie Jean Hooper sich hinter ihrem Kontrollpult vor Lachen krümmte. Offenbar hörte sie das Gespräch mit. Bei einem Anfänger war das auch zu erwarten.
Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Schließlich sagte Mrs. Sloat leise: »Das tut mir sehr leid, Mr. Walter.« Nach dem Klang ihrer Stimme mochte sie Mitte Dreißig sein, Charles Walter war zweiundzwanzig.
Seine Stimme bekam einen philosophischen Unterton. »So etwas geht vorbei.« Er wurde fröhlicher. »Sagen Sie, Mrs. Sloat, spielen Sie irgendein Musikinstrument?«
Wieder dieser Juchzer am vorderen Ende des Saals.
»Wie bitte?«
»Nun - Klavier, Violine, Harfe?«
»Ich hab früher mal ein bisschen Klavier gespielt.«
»Großartig, ich spiele nämlich Klarinette, das Saxophon des armen Mannes. Wir müssen irgendwann mal zusammen musizieren.«
»Aber Mr. Walter, Sie sind mir einer!« Fast konnte er durch das Telefon ihr geschmeicheltes Lächeln wahrnehmen.
»Aber kümmern wir uns erst einmal um die Vermietung des Zimmers. Ich werde das Inserat umschreiben, dann kann es ab morgen in der Zeitung stehen. Über sechshunderttausend Menschen werden es in die Hand bekommen. Soll ich es b. a. W. notieren?«
»B. a. W.?«
»Entschuldigen Sie bitte, das war Fachjargon, Mrs. Sloat. Es bedeutet: Bis auf Widerruf. Mit anderen Worten, wir lassen die Anzeige laufen, bis das Zimmer vermietet ist. Dann rufen Sie mich an und bestellen das Inserat ab. Wir berechnen nur die erschienenen Anzeigen. Es dürfte sich lediglich um wenige Tage handeln.«
»Ich weiß nicht recht.«
»Ich werde wieder anrufen und mich erkundigen, wie es Ihnen geht.«
»Oh, ja...«
»Jetzt brauche ich noch Ihren Vornamen. Ich muss ihn auf dem Auftrag notieren.« Er lachte vielsagend. »Außerdem hätte ich ihn auch so gern gewusst.«
Nach ganz kurzem Zögern kam die Antwort: »Eunice.«
»Vielen Dank. Überlassen Sie alles andere mir.« Das klang, als sei er willens und fähig, ihr jede Last von den schwachen Schultern zu nehmen.
Als er das Gespräch beendet hatte und den Anzeigenauftrag ausfüllte, spürte er die bewundernden Blicke von Henrietta Boardman und Dottie Friedlander. Mit einem energischen Ruck riss er das Formular vom Block, behielt die Kopie, stöpselte sein Telefon aus, schob sich den Kopfhörer in den Nacken und erhob sich. Groß und beherrschend stand er da. Er trug keine Jacke und lockerte die bunte Krawatte, die grell von der weißen Hemdbrust abstach. Dann lächelte er auf Henrietta herab, die sich mit der Zunge über die roten Lippen fuhr, damit sie leuchteten.
»Richtig gemacht?«, fragte er.
Sie lachte. »Ich bin nur froh, dass es nicht meine Mutter war; die würde jetzt losrennen und schwarze Unterwäsche kaufen.«
Dottie Friedlander hielt ihre Pinzette bereit, blinzelte in den Vergrößerungsspiegel und sagte nur: »Mr. Walter, Sie haben's erfasst.« Dann zupfte sie sich ein schwarzes Härchen vom Kinn und betrachtete es zufrieden.
Charles Walter marschierte den Gang entlang und warf das Anzeigenformular in den Holzkasten, der auf einem Tisch in
der Nähe von Jean Hoopers Kontrollpult stand. Es war überhaupt der erste Auftrag an diesem Morgen.
»Mr. Walter«, sagte Jean Hooper hinter ihm.
Er drehte sich um und hob überrascht die dunklen Augenbrauen, als hätte er sie gar nicht bemerkt. Jean Hooper zeigte ihm lachend ihre gleichmäßigen, weißen Zähne. Es ging das Gerücht, diese weißen Zähne hätten schon gewisse männliche Körperteile bearbeitet, die nicht zu ihrem Mann, einem Versicherungskaufmann, gehörten. Auch dass Jean Hooper hier ihren Mädchennamen gebrauchte, deutete darauf hin, dass sie gegenüber außerehelichen Abwechslungen nicht völlig immun war.
»Verdammt gut gemacht«, sagte sie mit ihrer strengen Stimme. »Genau im richtigen Augenblick aufgehört. Noch ein wenig länger, und Sie hätten sie am Telefon vergewaltigt und das Inserat vergessen.«
Ein Gefühl der Macht überkam ihn, vielleicht, weil sie ihn Mr. Walter genannt hatte. Möglicherweise schuf auch das Wort »vergewaltigt« eine bestimmte vertraute Atmosphäre. Er trumpfte auf: »Mit einer einmaligen Insertion hätte ich mich nie zufriedengegeben.«
Jean Hoopers Lächeln wurde breiter. »Ich weiß, b. a. W. - ich hab's gehört. Sie sind der geborene Telefonwerber. Der Außendienst war nichts für Sie.«
Als er sich später an dieses Gespräch erinnerte, gestand sich Charles Walter ein, dass er ihr am liebsten diese blitzendweißen Zähne eingeschlagen hätte. Aber jetzt zwang er sich zu einem schiefen Lächeln.
»Miss Hooper...«
»Nennen Sie mich Jean!«
»Jean, wenn Sie mal trübsinnig sind, schalten Sie einfach Charles Walter ein.«
Ihre Miene wurde ernster. »Was haben Sie eigentlich zum Frühstück geraucht? Das war erst ein Anruf, und es war ein leichter Fall.«
»Weil ich ihn zu einem leichten Fall gemacht hab'.«
Jean Hoopers rosa Bäckchen sanken ein wenig herab, als sie ihr schmales Kinn vorschob. »Kommen Sie ja nicht auf dumme Gedanken - persönlich nachfassen und so.«
»Jean, Sie kränken mich.« Lächelnd wandte er sich ab, spielte mit seiner Telefonschnur und kehrte mit federnden Schritten auf seinen Platz zurück.
Manche mögen es vielleicht gar nicht so großartig finden, was Charles Walter getan hatte: erst eine arme Vermieterin überfahren, dann seine Chefin von oben herab behandeln. Aber wenn Sie an meiner Stelle gewesen wären, als Lambert Post, dann hätten Sie in ihm eine Art Supermann gesehen. Weiß Gott, ich hätte das nie fertiggebracht. Schon beim Gedanken daran bekam ich Bauchgrimmen, und meine Kehle wurde trocken, als hätte ich einen Socken verschluckt. Ich war mehr ein stiller, in sich gekehrter Typ - intellektuell, wie manche Leute sagten -, und Frauen jagten mir eine panische Angst ein. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass es nur eine Möglichkeit gab, an Aufträge zu kommen: eine Million Anrufe machen, das eingelernte Sprüchlein heruntersagen und sich dann auf das Gesetz der großen Zahl verlassen. Aber das war nichts für Charles Walter. Für ihn galten die Regeln nicht. An seinem ersten Vormittag hatte er bis zehn Uhr fünf Inserate verkauft, und zwar jedes einzelne kraft seiner Persönlichkeit. Acht Telefongespräche genügten ihm, dann hörte er auf. Nach den Vorschriften hatte jeder Telefonwerber pro Tag achtzig bis hundert Nummern anzurufen. Die trägt man auf einer langen Liste ein und liefert sie am Abend ab. Auch die Telefongesellschaft registriert die Anrufe und teilt sie der Zeitung zusammen mit der Monatsabrechnung mit. Dagegen hatte Charles Walter vorgesorgt. Sobald Jean Hooper ihren Kontrollstand verlassen hatte, wählte er ganz einfach immer wieder dieselbe Nummer - ME 7-1212, die Zeitansage - und trug für jeden Anruf eine falsche Nummer ein. Er hatte schnell herausbekommen, dass nicht die einzelnen Nummern kontrolliert wurden, sondern nur die Gesamtzahl der Anrufe. Verstehen Sie nun, warum ich ihn von Anfang an so sehr bewunderte? Er war ein ausgefuchster Bursche.
Beim Mittagessen lernte ich Charles Walter näher kennen. Erst erzählte er mir lachend von seinem Gespräch mit Eunice Sloat, dann wies er mich auf etwas hin, woran ich noch nie gedacht hatte. Nach seiner Meinung war das Leben ganz große Scheiße.
Er sagte: »Nehmen wir zum Beispiel Sie, Lambert Post. Wo sind Sie zur Schule gegangen?«
»East Orange High School in New Jersey. Das College hab ich nicht geschafft.«
»Dann haben Sie als ein Nichts angefangen. Aber stellen Sie sich einmal vor, Sie würden den Leuten sagen, dass Sie in Harvard studiert haben. Dann wären Sie sofort ein großer Mann. Und Sie könnten das ohne weiteres behaupten, denn Sie haben mir ja gesagt, dass Sie Proust lesen und nicht Comic Books. Wer könnte Sie schon einen Lügner nennen?«
»Die Leute in East Orange.«
»Na klar«, sagte er, »aber hier niemand. Das ist der ganze Trick. Sie sagen den Leuten hier, dass Sie in Harvard waren; in East Orange sagen Sie, Sie seien Redakteur beim New York Journal. So sind Sie in jedem Fall ein Held. Jetzt wissen Sie, wie man bei diesem Scheißspiel gewinnen kann.«
Für mich war dieses Spiel nichts, wohl aber für Charles Walter. Das bewies er gleich in der Mittagspause: Er ging zu einem Trödler an der Bowery und erstand für sechs Dollar eine Uhrkette mit dem Schlüsselabzeichen der ruhmreichen Studentenverbindung pi-beta-kappa. Als er ins Büro zurückkam, zog er seine Weste an und ließ die Kette mit dem Abzeichen aus der Tasche baumeln. Es fiel weder Henrietta noch Dottie auf, dafür aber Jean Hooper, als er einen weiteren Auftrag ablieferte.
»Sagen Sie bloß nicht, das ist ein Pi-Beta-Schlüssel!«
Er lächelte gequält, als hätte er schon tausendmal auf einen solchen Ausruf geantwortet. »Na schön, dann werde ich's nicht sagen«, murmelte er, trat aber näher.
Sie war zu beeindruckt, um ihn zu tadeln. »Großer Gott, das ist es tatsächlich! Wo haben Sie ihn her? Liegt so was jetzt in Keksschachteln?«
»In Harvard isst man keine Kekse.«
»Harvard sagt er!« Sie schüttelte ungläubig den Kopf mit dem Flederwischhaar. »Und ein kluger Mann wie Sie bemüht sich um Kleinanzeigen?«
»Vergessen Sie nicht: Wir leben in einer Depression. In diesem Jahr nennt man es, glaube ich, Rezession. Börsenmakler verkaufen Zeitschriftenabonnements, Bankiers gehen mit Bürsten hausieren; ich verkaufe Zeitungsanzeigen. Und recht erfolgreich, würde ich sagen.« Er warf einen Blick auf den hölzernen Kasten. »Das ist heute mein siebtes Inserat.«
»Ich habe Ihnen zugehört«, sagte sie und fügte sarkastisch hinzu: »Sie könnten den Namen der Zeitung wenigstens einmal erwähnen.«
»Welcher Zeitung?«, fragte er unschuldig und begab sich grinsend an seinen Platz zurück.
Nach Feierabend stand ich mit Charles Walter mitten in der Menschenmenge und wartete auf den klapprigen Bus, der zwischen unserem gewaltigen steingrauen Zeitungsgebäude und der Park Row hin- und herpendelte. Ich sah hinüber zur breiten, schmutzigen, kopfsteingepflasterten South Street mit den Piers des East River im Hintergrund und hinauf zu den dunklen Eisenbögen der Brooklyn Bridge, über denen sich purpurn und orangen der Abendhimmel wölbte. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich so etwas wie Freiheit, Hoffnung und die Zuversicht, dass man mit seinem Schicksal fertig werden oder es sogar meistern kann. Eine romantische Anwandlung vermutlich, aber gleichzeitig kalte Wirklichkeit. Es war ein triumphierendes Gefühl, hervorgerufen zwar durch Charles Walters Gegenwart, aber es gehörte dennoch mir. Plötzlich wünschte ich mir, weit weg von all den Menschen und mit Charles Walter allein zu sein.
Wir warteten nicht auf den Bus, sondern gingen hinauf bis zum Chatham Square und fuhren mit der Stadtbahn zur 8. Straße. Dann schlenderten wir gemütlich durch Greenwich Village und genehmigten uns ein paar Drinks in einer Bar. Aus purem Übermut spendierte ich einen Dollar für eine Flasche Gin, und wir gingen zu meiner Kellerwohnung in der 12. Straße West. In der kleinen Küche neben dem Wohnraum mixte ich Drinks aus Gin, Wasser und Zitronenschale. Dann saßen wir nebeneinander auf der rostfarbenen breiten Couch, lehnten uns an die Wand und starrten durch die vergitterten, halbmondförmigen Fenster auf das verblassende Tageslicht, das vom Bürgersteig hereinfiel.
Eine seltsame Erregung packte mich. Erst nach vier Drinks und einer Stunde Unterhaltung mit Charles Walter begriff ich den Grund: zum ersten Mal, so lange ich denken konnte, war ich nicht allein.
Ich wünschte mir nur, dass mich Charles Walter nie wieder verließ.
2.
Für Charles Walter war ich der aufmerksamste und dankbarste Zuhörer, den er sich wünschen konnte. Deshalb blieb er bei mir. Es war, als hätte man mir plötzlich einen Bruder geschenkt. Einen viel älteren Bruder (obwohl wir gleichaltrig waren), einen großen, starken Beschützer, der trotzdem mit mir wie mit seinesgleichen redete und von aufregenden Abenteuern berichtete, an die ich, Lambert Post, nicht einmal im Traum zu denken gewagt hätte. Jeden Abend lehnte ich neben ihm auf dem Sofa, trank Gin und besprach mit ihm die Ereignisse des Tages. Eindrücke, Gedanken und Erlebnisse aus seiner Vergangenheit taten sich vor mir auf. Und allmählich formte sich daraus das Gesamtbild des Menschen Charles Walter.
Charles war ein Einzelkind wie ich. Aber abgesehen davon war sein Leben ganz anders verlaufen als meines. Das begann schon damit, dass seine Eltern ihn liebten und bewunderten. Sie bewohnten ein geräumiges Haus in Maine, und Charles war unter Hunden, Katzen und Pferden aufgewachsen. Er besaß ein eigenes Boot, mit dem er an der zerklüfteten Küste Neuenglands entlangsegelte. Sein Vater war ungeheuer reich.
Charles brauchte eigentlich gar nicht zu arbeiten. Aber er war entschlossen, auf eigenen Beinen zu stehen (ich dachte mir oft, wie stolz seine Eltern auf ihn sein mussten). Zu meiner Freude erfuhr ich, dass er tatsächlich in Harvard studiert hatte, dass er tatsächlich ein Mitglied von pi-beta-kappa war, dass er sich also des kleinen Tricks mit dem Trödler aus der Bowery nicht zu schämen brauchte. In Charles Leben hatte es viele Mädchen gegeben, reiche Mädchen, die Internatsschulen wie Vassar, Wellesley und Smith besuchen konnten. Mit einigen von ihnen hatte er geschlafen, sich aber nie ernsthaft gebunden. Frauen gegenüber galten seine Bedingungen und nicht ihre, denn Frauen waren seiner Meinung nach nur darauf aus, sich einen reichen Ehemann zu angeln, ihn herumzukommandieren und dicke rosa Babys zu kriegen, mit denen sie angeben konnten, die sie im Übrigen aber vernachlässigten. Charles war empfindsam und freundlich, wenn man ihn erst einmal so gut kannte wie ich, aber er gehört keinem anderen Menschen als nur sich selbst. So ist es verständlich, dass manche Leute - egoistische, grausame Menschen - ihn distanziert oder arrogant fanden.
Nun könnte man vielleicht denken, dass Charles mich mit seinem Gerede von dem Scheißspiel nur einwickeln wollte. Aber ich weiß es besser. Zunächst einmal hatte ich ein auffallend hübsches Foto von ihm im Jahrbuch seiner High School gesehen, und darunter stand der Name der Universität, die er besuchen wollte: Harvard. Ich weiß natürlich, dass viele Schüler die tollsten Universitäten unter ihre Namen geschrieben haben und dann, nachdem ihre Väter während der Depression Pleite gemacht hatten, von Glück sagen konnten, wenn sie nach der Schule irgendwo als Mechaniker unterkamen. Aber bei Charles war das anders. Die Schriftsteller, die er gelesen hatte - Plato, Nietzsche, Schopenhauer, Racine, Dostojewski, Shaw -, bewiesen seine Bildung. Seine Sprache war kultiviert, präzise, ruhig und selbstsicher. Der überzeugendste Beweis für seine Aufrichtigkeit war jedoch die Art und Weise, wie er mich in sein Vertrauen zog und mich an seinen ganz persönlichen Gedanken und Gefühlen teilhaben ließ: zum Beispiel sein Ekel nach einem feuchten Traum, seine mühsam unterdrückte Wut beim Anblick einer aufgedonnerten Frau, sein Gelübde, dass er sich niemals würde von jemandem herumstoßen lassen, schon gar nicht von einem weiblichen Wesen. Wenn Sie jetzt immer noch nicht glauben, dass er es ehrlich meinte, dann überlegen Sie nur einmal, warum ein Mann wie Charles Walter es nötig haben sollte, vor einer Null wie Lambert Post anzugeben.
Durch Charles änderte sich mein Leben auf einschneidende Weise. Zunächst wurde das Essen besser. Während ich mich früher mit Bohnen, Spaghetti und billigen Würstchen zufriedengegeben hatte, gab es jetzt gegrillte Hähnchen, Lammkeule und Lendensteaks. (Falls Sie das bei einem kleinen Gehalt für unmöglich halten, dann denken Sie daran, dass ein Lendensteak damals pro Pfund nur neunundzwanzig Cents kostete.) Die Wohnung, die ich für dreißig Dollar im Monat gemietet hatte, wurde hübsch eingerichtet. Auf dem Fußboden lagen keine Kleidungsstücke mehr herum, in der Spüle stand kein schmutziges Geschirr. Den Teppich drehte ich so, dass die abgetretene Ecke von der Couch verdeckt wurde. Ich strich die Wände dunkelgrün und schmückte sie mit van-Gogh-Drucken, die ich in der 4th Avenue gekauft hatte. An die Kellerfenster hängte ich neue, gelbe Vorhänge, damit man die Beine der Passanten nicht mehr sehen musste. Bei einem Ausverkauf erstand ich kupferne Lampen, die ein sanftes Licht gaben. Jetzt konnte ich, ohne mich schämen zu müssen, jeden hereinführen, selbst einen Mann wie Charles Walter, der aus einem reichen Elternhaus stammte. Sogar meine Kleidung änderte ich. Ich hob von meinem dürftigen Sparkonto Geld ab, ging zu Browning King und leistete mir zwei Anzüge, englischer Schnitt, mit ausgepolsterten Schultern und nach unten enger werdenden Hosen. Dann kaufte ich mir bei Regal ein Paar modische Schuhe. Als ich schließlich tipptopp angezogen, mit einem Drink in der Hand, in meinem tadellos aufgeräumten, geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer saß, kam ich mir vor, als gehörte ich tatsächlich zu Charles Walters gutbürgerlicher Welt.
Durch Charles änderte sich auch meine innere Einstellung. Er gab mir vor allem ein Gefühl der Sicherheit. Es mag vielleicht seltsam klingen, aber soweit ich zurückdenken kann - seit meiner frühesten Jugend -, hatte mich stets ein Gefühl der Angst beherrscht, als könnte ich schon im nächsten Augenblick von irgendeinem unbekannten Verhängnis zermalmt werden. Solche Verhängnisse hatte es tatsächlich gegeben, und sie waren in der Vorstellungswelt eines Kindes enorm. Ich erinnere mich an das alles nur noch sehr vage. Einmal fiel ich aus dem Bett und brach mir den Arm. Ein andermal stürzte ich schlafwandelnd die Kellertreppe hinunter und erlitt dabei so schwere Verletzungen, dass ich ins Krankenhaus gebracht werden musste. Kurz danach hielt ich mich am Küchenherd fest, griff nach irgendetwas und verbrühte mich ganz schrecklich mit einem Topf kochenden Wassers. Herrgott, es schmerzt heute noch, wenn ich daran denke! So ist es wohl kein Wunder, dass ich ständig in der Angst vor irgendeinem Missgeschick lebte, obwohl ich mir später, als ich größer geworden war, nicht einmal mehr den Knöchel verrenkte.
Aber was mich so unsicher machte, war mehr als nur die Angst vor Knochenbrüchen und Fleischwunden. Ich war auch gefühlsmäßig gehemmt und fürchtete, irgendjemand oder irgendetwas könnte mich so deprimieren, dass ich als Mann nicht mehr funktionieren würde. Das Problem muss seinen Ursprung irgendwo in meiner Kindheit haben. Sicher haben mich meine Eltern falsch behandelt. Ist das nicht immer so? Ich will mich hier nicht als Psychiater auf spielen, aber es ist eine Tatsache, dass ich mir immer schrecklich einsam und unerwünscht vorkam. Ich hatte einen Stiefvater (mein richtiger Vater war, als ich zwei Jahre alt war, bei einem Betriebsunfall ums Leben gekommen), und von ihm konnte man auch nicht allzu viel Liebe erwarten. Er liebte mich wirklich nicht, sondern behandelte mich wie Ungeziefer. Wahrscheinlich war er eifersüchtig, weil ich ihn ständig an den Mann erinnerte, mit dem meine Mutter früher geschlafen hatte. Natürlich gab ihm Mutter nicht den geringsten Grund zur Eifersucht. Jedes Mal, wenn er auf mir herumhackte - und das tat er fast immer -, stand meine Mutter auf seiner Seite und schrie mich ebenfalls an.
Ich erinnere mich noch gut, wie Mutter und ich einmal auf dem kleinen Tisch, den mein Stiefvater zu Weihnachten beim Trödler erstanden hatte, Billard spielten. Immer wenn meine Mutter an der Reihe war, beugte ich mich über sie und tat so, als wollte ich ihr zeigen, wie man den Queue hält und den Ball anvisiert. Aber es war nur ein Vorwand, um einen Blick in ihren Ausschnitt zu werfen und ihre weißen Brüste zu sehen. Unbemerkt von uns beiden war Vater nach Hause gekommen, stand in der Tür und beobachtete uns Als ich mich umdrehte und die Wut in seinen Augen sah, spürte ich, wie alles Blut aus meinen Wangen wich. Er hob seine mächtige Faust und ging auf mich zu. Ich war ganz sicher, dass er mich töten oder zum Krüppel schlagen würde. Aber da schrie meine Mutter: »Polizei! Polizei! Schlag ihn nicht!« Zögernd sank sein Arm herab, und einen Augenblick lang war ich meiner Mutter dankbar. Ich liebte sie sogar. Aber nachdem er ihr gesagt hatte, wofür ich bestraft werden sollte, schrie auch sie mich an, und ich wurde eine Woche lang in meinem Zimmer eingesperrt.
Dann war ich eines Tages nach der Schule mit ihr allein zu Hause. Der Heimweg war übel gewesen, weil mich ein paar Schulkameraden geärgert hatten; und darum ertrug ich es nicht, dass sie mich nun ausschimpfte, weil ich ein paar Sachen achtlos auf den Fußboden geworfen hatte. Es klang fast, als hätte ich auf den Teppich gekotzt. Ich brach jedenfalls zusammen und schluchzte, als wollte ich nie wieder aufhören. Das war mir wegen einer so unwichtigen Sache noch nie passiert.
Ich schloss mich in meinem Zimmer ein, vergrub das Gesicht im Kissen und versuchte, meine Tränen zu stillen. Aber sie liefen unaufhaltsam. Nach einer Weile stand ich auf und wollte ins Bad, weil ich glaubte, dass kaltes Wasser vielleicht helfen würde. Da kam mir meine Mutter gerade aus dem Badezimmer entgegen. Sie zog sich wohl um, um auszugehen, denn sie hatte nur ihre Unterwäsche an. Ich glaube, Chemise nennt man so etwas. Es war violett. Bei ihrem Anblick wurde ich ganz schwach und hilflos. Ich lief auf sie zu und schlang, immer noch schluchzend, meine Arme um sie. Für ein paar Sekunden wurde sie stocksteif, dann holte sie tief Luft, ihr Körper wurde weich, und sie drückte mich an sich. Ich wäre am liebsten in sie hineingekrochen und spürte, wie sie meinen Druck erwiderte. Ein Träger des Unterhemds glitt von ihrer Schulter, und ihre volle Brust quoll halb aus der violetten Spitze. Ich presste mein Gesicht dagegen, roch das Parfüm, mein Mund öffnete sich und... Plötzlich riss sie sich los und quiekte, als hätte ich ihr ein Messer zwischen die Rippen gestoßen. »Dieser hässliche, dreckige Mund! Wage es ja nicht, mich anzurühren! Du bist ein ganz böser Junge!« Ich sprang zurück und starrte sie zu Tode erschrocken an. Ihr Gesicht war noch rot vor Zorn, aber sie presste die Hand vor die Lippen und schien über ihre eigenen Worte erschrocken. Ich lief in mein Zimmer zurück und war wütender als je zuvor. Meine Tränen waren versiegt. Seitdem habe ich nie wieder geweint.
Solche Dinge sind mir deutlich in Erinnerung geblieben, und ähnliches schien mir immer wieder zuzustoßen. Ich hatte mit keinem Menschen Kontakt. Ich war ein miserabler Sportler, wollte aber trotzdem mitmachen und handelte mir nur einen weiteren Spitznamen ein: Stolperer. Wenn Völkerball oder etwas anderes gespielt wurde, nahm man mich nur, wenn gar kein anderer da war. Auf dem Heimweg von der Schule rempelten sie mich an, schubsten mich herum. In unserer Gegend wohnten eine ganze Menge Rüpel. Ich versuchte ihnen zu imponieren, indem ich mir von gespartem Flaschenpfand eine billige Schirmmütze kaufte, den Pappschild knickte und Tinte darüber goss. Dann zog ich mir die Mütze tief in die Stirn und markierte den harten Burschen. Aber das wirkte nicht. Ein paar Tage später riss mir ein kräftiges, schlaksiges Mädchen - ein Mädchen! - die Kappe vom Kopf und warf sie in den Rinnstein. So ein Luder! Wenn ich daran denke, bebe ich noch heute vor Wut.
Was sollte ich also tun? Ich tat genau das, was vermutlich viele Außenseiter tun: Ich gab jeden Cent, den ich in die Finger bekam, für Kino und Filmzeitschriften aus. Ich war Douglas Fairbanks als schwarzer Pirat, und Lupe Velez wurde meine exotische Sklavin. Ich eroberte als William Haines die Herzen der Frauen. Ich verwandelte mich in Ramon Novarro und Buddy Rodgers und Rod La Rocque und Rodolfo Valentino, ich liebte herrliche Geschöpfe wie Billie Dove und Mary Brian und Anita Page und Vilma Banky. Wenn ich dann nach Hause kam, schlich ich mich in mein Zimmer und starrte voller Sehnsucht die vergilbten Porträts der Stars in den Filmzeitschriften an.
Später wurde ich ein regelrechter Bücherwurm. Ich sagte mir, dass ich diese Schweine, wenn schon nicht anders, dann wenigstens mit dem Verstand schlagen konnte. Nach einer Weile ging es mir gar nicht mehr darum, klüger zu werden, da genügte mir schon die Freude, die ich ein den Büchern hatte. Mein Gott, ich habe alles gelesen, vom Robinson bis zum Kapital. Dadurch wurde mein Verhältnis zu den Schulkameraden natürlich noch schlechter, weil ich jetzt als Angeber galt. Man stelle sich vor: Sogar die Lehrer hatten offenbar etwas dagegen, obwohl sie sich gezwungen sahen, mir in allen Fächern eine Eins zu geben.
Während der ganzen Schulzeit war ich ein Einzelgänger. Ich weiß noch, wie ich auf der Treppe des Schulhauses saß und den anderen zuhörte, wie sie sich über Mädchen, Sport und ihre Pläne für das Wochenende unterhielten. Einige wollten mit ihren Freundinnen zum Strand von Jersey hinunterfahren - Asbury Park oder Sea Girt oder Spring Lake -, in das Sommerhaus einer ihrer Familien einbrechen, vor dem knisternden Kamin etwas trinken und sich dann paarweise nach oben verziehen. Andere wollten zum Tanzen nach Meadow Brook, wo Frank Daileys Band spielte. Die Reicheren fuhren zu dem Spiel Yale gegen Princeton oder ins Gien Island Casino, wo sie die Melodien von Ozzie Nelson und seiner blonden Sängerin Harriet Hilliard mitsummen konnten. Vielleicht auch nach Manhattan zum Tanztee mit Paul Tremaine im Young's Chinese-American, dann hinüber zur 52. Straße, um im Famous Door heißen Jazz zu hören, bei Leon & Eddies die erotischen Tänze von Sherry Britton zu sehen oder mitzuschreien, wenn Jack White seine Kunden im Club 18 beleidigte. (Ich kannte das alles aus den Klatschspalten der Zeitungen.) Das waren also die Wochenendpläne der anderen. Ich aber blieb zu Hause, und wenn ich nicht gerade helfen musste, schloss ich mich in meinem Zimmer ein und las Bücher wie Menckens Treatise on the Gods.
Nach dem Schulabschluss besorgte mir mein sogenannter Vater einen Job in New York. Er war was Besseres in der Versandabteilung einer Filmgesellschaft in Newark, und ich wurde Botenjunge für ein Zweigbüro in Manhattan. Es lag in der 23. Straße nahe bei der Seventh Avenue. Da ich wusste, dass mein Vater mich loswerden wollte - meine Mutter übrigens auch -, zog ich aus und mietete mir in Greenwich Village ein Zimmer von der Größe eines Besenschranks. Mein Job war verdammt langweilig. Ich hatte nichts weiter zu tun als Filme und Post von dem Zweigbüro in der 23. Straße zum Hauptbüro in der 45. zu bringen - und umgekehrt. Ich fuhr mit der U-Bahn bis zur 42. Straße, folgte dann den Leuchtpfeilen zur Stadtbahn, fuhr mit ihr bis zur Grand Central Station und gelangte durch den Tunnel zur Madison Avenue. So ging es den ganzen Tag, immer hin und her. Ich hatte genügend Zeit, also schob ich mir ein Buch in meine große Tasche, setzte mich in den Wartesaal der Grand Central Station und las.
Das einzige Mädchen, das ich kannte, war eine hagere Rothaarige, die im Tunnel der Grand Central als Verkäuferin im Zigarettenladen arbeitete. Sie sah mich jeden Tag um dieselbe Zeit Vorbeigehen, und es dauerte nicht lange, bis wir uns zunickten und zulächelten. Dann blieb ich einmal stehen und wechselte ein paar Worte mit ihr, und schließlich lud ich sie ins Kino ein. Wir sahen in der Lexington Avenue Myrna Loy und William Powell, und danach brachte ich sie mit der U-Bahn nach Hause. Sie wohnte ganz oben in einem vierstöckigen Haus ohne Aufzug, und in der zweiten Etage beging ich meinen entscheidenden Fehler. Ich fragte sie, ob sie eine Zigarette wolle. Sie sagte ja. Dann setzten wir uns auf die Treppenstufen, und sie zündete die Zigarette an. Ich hatte noch nie geraucht, was wohl verständlich ist. Beiläufig legte ich ihr den Arm um die Schultern, und sie wurde weder steif, noch zuckte sie zusammen. Bevor ich recht wusste, was ich tat, begann ich an ihrer Bluse zu fummeln, um an ihre Brüste zu kommen. Sie wehrte sich, aber das erregte mich noch mehr. Sie brachte es fertig, sich halb aufzurichten und mir das Knie unters Kinn zu rammen. Ich krachte gegen die Wand. Halb benommen hörte ich ihren leisen Aufschrei. Ich hob den Kopf und sah, wie sie ihren weißen Faltenrock ausbreitete. Es war ein großes, schwarzes Loch darin. Von der Zigarette. Am nächsten Tag suchte ich mir einen anderen Weg durch die Central Station. Ich sah sie nie wieder.
Danach kam nur noch eine einzige andere Frau, eine Prostituierte. Einer aus unserem Lager hatte die Adresse in der 68. Straße West und versprach, mich mitzunehmen. Zuerst lehnte ich ab, dann lud er mich zu ein paar Drinks ein, und schließlich dachte ich: Zum Teufel, was soll's? Er wusste, dass immer nur einer zu ihr hinaufdurfte, und ging zuerst. Ich marschierte vor der Haustür auf und ab, spürte, wie mir das Herz gegen die Rippen hämmerte, und rechnete damit, dass im nächsten Augenblick ein Streifenwagen heranheulte. Als der Kerl dann herunterkam, fragte ich ihn, wie es war. »Mist«, meinte er.
Mein Gott, es war schrecklich. Ich war hilflos wie ein Baby. Und ich hatte Angst, dass es mir kommen könnte, noch bevor ich zur Tür drin war. Dann aber dachte ich, ich müsste einen Löffel nehmen, wenn ich überhaupt in sie eindringen wollte. Diese Schwierigkeit behob sie mit dem Mund. Als ich mich jedoch zwischen ihre Beine legte, schrumpfte einfach alles zusammen. Für mich war es, wie wenn man in ein kaltes, leeres Zimmer kommt. Während ich mich dann anzog, ging sie hinüber in die Ecke, hockte sich über eine Schüssel mit irgendeinem Desinfektionsmittel und wusch sich mit einem Lappen ab. Junge, Junge, jetzt hätte nur noch eisgekühlter Champagner und Geigenmusik gefehlt. Mein Freund wartete unten und fragte mich, wie es war. »Mist«, sagte ich.
Bis zu meiner Begegnung mit Charles waren Frauen für mich passe. Ich trieb mich wohl manchmal im Village herum und dachte daran, mir eine aufzugabeln, aber ich tat es nicht. Manchmal saß ich bei Julius an der Theke, hielt mich an einem Glas Bier fest und starrte hinauf zu den gemalten Engeln an der Decke. Oder ich stand im Pepper Pot an der Bar und sah den tanzenden Paaren zu. Ich besuchte alle Tanzlokale: den Nut Club, Jack Delaney's, Nick's, Jimmy Kelly's. Ich ging immer allein hin und nuckelte endlos lang an einem Bier, um noch Geld übrig zu haben, falls ich ein Mädchen kennenlernte. Nur einmal betrank ich mich - im Stonewall Inn am Sheridan Square. Das war in der Silvesternacht. Kurz nach zwölf spielten sie The Music Goes Round And Around, das ganze Lokal tobte, alle schrien, umarmten und küssten sich, sogar Wildfremde. Ein Mädchen in einem roten, trägerlosen Kleid kam zur Bar und wollte gerade ihren Arm um mich legen, da drehte ich mich um, sie sah mich an und fuhr zurück. »Ach, du heiliger Strohsack«, sagte sie. Danach ergriff ich die Flucht, schwankte hinüber zur 12. Straße, setzte mich auf eine Bank auf dem winzigen Abingdon Square und starrte hinüber zu dem Mädchenwohnheim auf der anderen Seite. Vor dem gewaltigen Portal bekamen die Mädchen ihren Gutenachtkuss. Ich musste an die vielen Mädchen denken, die da oben in ihren weißen, hygienischen Betten lagen, und plötzlich packte mich ein solcher Hass, dass mein Mageninhalt hochkam und ich die Bank vollkotzte.
Von diesem Tage an ging ich nur noch selten aus: einmal ins Pennsylvania-Hotel, weil ich Hai Kemp und seine Band hören wollte. Aber ich kam bald dahinter, dass ich weniger unglücklich war, wenn ich zu Hause blieb und las und mir dann spätabends im Radio die Big Bands anhörte: Abe Lyman, Vincent Lopez, Peter Van Steeden, Shep Fields, Glen Grey, Isham Jones.
Nach knapp einem Jahr gab ich meinen Job auf. Das war sicher dämlich in einer Zeit, wo intelligente, gebildete Männer an den Straßenecken Äpfel und heiße Kastanien verkauften. Aber ich hielt es einfach nicht mehr aus. Die Eintönigkeit wäre noch zu ertragen gewesen, aber nicht das Benehmen der Leute, mit denen ich zu tun hatte. Sehen Sie, viele der Männer im Büro kannten meinen Stiefvater und waren bei uns zu Hause ein und aus gegangen, seit ich ein kleiner Junge war. Sie nannten mich damals, genau wie meine Mutter, Lammie, und so
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Richard Neely/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: lassedesignen/123rf.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx/lassedesignen/123rf.
Lektorat: Peter Sladek.
Übersetzung: Norbert Wölfl (OT: The Walter Syndrome).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2019
ISBN: 978-3-7438-9670-3
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