PETER VAN GREENAWAY
BRUDER DER GORGONEN
- Galaxis Science Fiction, Band 15 -
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
BRUDER DER GORGONEN
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
Das Buch
Der Gerichtsmediziner hat John Morlar für tot erklärt.
Aber der letzte Lebensfunke ist noch nicht erloschen. Mit einer unglaublichen Willensstärke klammerte sich Morlar verzweifelt an diesen schwachen Lebensfunken. Inspektor Cherry von Scotland Yard, der mit der Aufklärung des ungewöhnlichen Beinahe-Mordfalls betraut worden ist, beschäftigt sich auf unkonventionelle Weise mit der Vergangenheit dieses Mannes – und erfährt erstaunliche, Besorgnis erregende Einzelheiten. So beschreibt ein Psychologe Morlar als den gefährlichsten Mann der Welt, womit er durchaus Recht haben könnte, denn Morlar scheint über Kräfte zu verfügen, die ihn in den Augen aller anderen zu einem Übermenschen mit unheimlichen Fähigkeiten machen...
Bruder der Gorgonen ist der fünfte Roman des britischen Schriftstellers Peter van Greenaway (1929 – 1988) und wurde erstmals im Jahre 1973 veröffentlicht. Jack Gold verfilmte den Roman 1978 unter dem Titel The Medusa Touch (deutscher Verleihtitel: Der Schrecken der Medusa) mit Richard Burton als John Morlar und Lee Remick als Dr. Zonfeld.
Bruder der Gorgonen erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.
BRUDER DER GORGONEN
»Das, was man sich vorstellen kann, ist das, was möglich ist.«
- Parmenides
»Die Wirklichkeit ist der harte Kern des Mythos.«
- P. V. G.
1.
Napoleon lag dicht neben dem Körper. Ein aus Bronze gegossener Napoleon, mit eingetrocknetem Blut überzogen. Seine kaiserliche Majestät würde zur genauen Untersuchung in das Labor gebracht und danach in einem Plastikbeutel versiegelt werden... der Gipfel an Würdelosigkeit.
»Er hat sich nicht einmal zu wehren versucht.« Inspektor Cherry starrte auf das, was einmal das Gesicht gewesen war, mit Abscheu und fast vorwurfsvoll, als wollte er dem Opfer zum Vorwurf machen, dass es seinen Angreifer nicht zurückzuhalten vermocht hatte.
Napoleon würde ihm nichts verraten. Keine Fingerabdrücke, sagte Jackson. Jackson musste es wissen. Er konnte Fingerabdrücke riechen, und das auf mehrere Meter Entfernung. Einige wollten sogar wissen, dass er Fingerabdrücke von der Oberfläche eines Teichs abheben konnte.
Sergeant Duff sah Cherry zu, wie er nachdenklich vor dem Angesicht des Todes verharrte. Auf Mord reagierte sein Chef etwas seltsam. Das war jedes Mal so. Als wäre er, Cherry, persönlich beleidigt worden.
Duff sagte daher nichts und beobachtete nur.
Der Mörder hatte Handschuhe getragen. Eine Art von Dünkel. Warum auch nicht? Sie lebten im Zeitalter des Dünkel, der Titel und Etiketten. Und wer wagte es schon, einen Napoleon ohne Handschuhe anzufassen?
Cherry vergaß seine zufälligen Gedanken, während er sich unwillkürlich hinabbeugte; er sah nicht auf, sondern durch den Rest von Morlar, wobei er sich wünschte, dass dieser sich wenigstens einige Zentimeter aufrichten möge, und lang genug, um ein Geheimnis zu verraten. Aber wo war der Mund?
»Ein oder zwei solche Schläge hätten gereicht... das ist Wahnsinn in sechs Akten.«
»Und mit den zwei Füßen des Bronze-Napoleons«, bemerkte Duff. Als wollte er sagen: Was anderes erwartet?
»Ein stumpfes Instrument mit scharfer Beobachtungsgabe... ich frage mich, ob diese Symbolik etwas bedeutet.«
»Nicht, wenn es sauber ist. Jackson bezweifelt...«
»Jackson hat Recht. Es wird sich als sauber erweisen. Sehen Sie sich nur einmal die Eingangstür an. Der Mann dürfte vor Wut gekocht haben, hat dann aber ganz kaltblütig gehandelt. Der Mörder hat nur deshalb eine Spur von Blut hinterlassen, weil er seine Finger hinter den Türknauf gelegt und die Tür so geöffnet hat - er war zu vorsichtig.«
»Alles deutet auf Vorsatz hin, Sir.«
»Oder auch nur auf ein Übermaß an Vorsicht - was eine Panikreaktion sein kann.«
Aber er dachte dabei: Es liegt etwas Bösartiges im bleichen Weiß zerschmetterter Knochen, eingefasst in Rot.
»Das sieht mehr nach einem Ausradieren aus. Ich habe das Gefühl, dass unser Unbekannter, hätte er einen Radiergummi von entsprechender Größe gehabt, um Mr. Morlar schmerzlos aus dieser Welt radieren zu können, er diesen auch benützt hätte. Aber das ist vielleicht nur so ein Gefühl.«
»Ich würde mir ein bisschen albern Vorkommen, wenn ich nach einem übergroßen Radierer suchen müsste. Ich meine, er könnte ja inzwischen nach Hackney Wick oder so gesprungen sein.« Albernheiten brachten den Chef manchmal wieder auf den Boden. Cherry lachte nicht, also wechselte Duff zu professionelleren Dingen über.
»Der Arzt schätzt nicht mehr als zwei Stunden. Ist wohl richtig - er ist noch nicht steif.«
Auf einem kleinen Tisch vor ihnen stand ein Transistorradio, aus dem leise Musik rieselte. Cherry hörte auf die Musik, wurde sich erst jetzt dessen bewusst, dass sie seit einer halben Stunde an diesem Mordfall arbeiteten, und das vor dem Hintergrund von Trauermusik.
Nichts berühren, bis man sicher ist. Nichts berühren, bis man zu Ende gedacht hat. Die Vorschriften. Also?
»War dieses Gerät eingeschaltet, als sie ihn gefunden haben?«
»Ja. Heute sitzt jeder vor dem Fernseher oder hat wenigstens das Radio an.«
Natürlich. Das hatte er fast vergessen. Seltsame Dinge geschahen - anderswo. Wie um ihn daran zu erinnern, verstummte die Gedenkmusik, und der Ansager zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, während sie eigentlich an andere Dinge zu denken hatten.
»Wir kehren jetzt zum Raumfahrtzentrum in Houston zurück, um das Neueste von Achilles 6 zu hören. Lester Marquand berichtet.«
»Und das Neueste ist die Bestätigung von früheren Berichten, nach denen Achilles 6 unerklärlicherweise die vorgesehene Umlaufbahn verfehlt hat, in Richtung auf die Mondoberfläche stürzt und jetzt eine Stunde und fünf Minuten nach der planmäßigen Zeit noch immer nicht von der erdabgewandten Mondseite zurückgekehrt ist. Unter den Wissenschaftlern und Technikern hier hat sich an diesem Abend eine düstere Stimmung verbreitet, die sich bis zur Verzweiflung steigert. Sie können die Frage: Was ist falsch gelaufen? nicht beantworten, da kein Teil der Ausrüstung, kein Telemeter, kein Computer des fehlerhaften Funktionierens überführt werden konnten...
Eines ist sicher: Die drei Astronauten, Fergusson, Hennis und Drake, werden nicht zur Erde zurückkehren. Der Präsident der...«
»Stellen Sie das Ding ab!«
Duff durchquerte den Raum und schaltete ab.
»Einer ist genug«, erklärte Cherry.
»Was denn, Sir?«
»Ein Toter! Wir können das Rätsel von denen da oben nicht auch noch lösen.«
Duff wandte sich um und war nur wenig überrascht, dass sich in Cherrys Ausdruck seine eigenen Gefühle spiegelten. Die besorgte Miene eines Mannes, der nicht weiß, was er mit neuen und erschreckenden Situationen anfangen soll, die in einem Ausmaß zunehmen, das über das Verständnis eines vernunftbegabten Wesens hinausgeht.
»Mordfälle werden immer wissenschaftlicher, immer intellektueller, Sergeant. Ich meine, ob es sich da oben wohl auch um einen Mordfall handelt?« Er polierte seine gehassten Brillengläser in der schwachen Hoffnung, dass sie ihm helfen könnten, endlich wieder klar zu sehen. Er suchte nicht nur die Lösung für diesen Fall - sondern den Grund, warum alles auf einmal geschah.
Er deutete auf die blutige Masse, die einmal Morlar gewesen war.
»Es geschehen seltsame Dinge. Sehen Sie sich all diese Bücher an - ein Mann wird inmitten einer Bibliothek zum Tode befördert. Er ist intelligent. Also hat man seinen Geist getötet. Ich werde ihm den Schädel einschlagen! - diese uralte Drohung. Warum? Weil es jemandem nicht gefällt, was er denkt?«
Der Chef war wieder einmal in Umlaufbahn. Duff starrte das Ding auf dem Teppich an, verstand nicht, worauf er hinauswollte, und gab deshalb einen Gemeinplatz von sich: »Die Welt fällt auseinander, Sir.«
»Da könnten Sie recht haben.«
»Jedenfalls - dieser Fall sollte Sie glücklich machen.« Duff deutete auf die Bücherregale, die den größten Teil der Wandfläche einnahmen. »Ich meine, Sie mögen doch Bücher.«
Das war so unbestreitbar wie die freudige Erregung, die er beim ersten Betreten des Raumes verspürt hatte.
Sorgfältig steckte er ein paar Teppichfasern in eine Cellophan-Tüte.
Bücher.
Ja. Und das leichte Schuldgefühl, während er seinen Blick über die dicht nebeneinander in den Regalen stehenden Bücher hatte schweifen lassen, bevor er sich dem Leichnam zuwandte.
»Ich mag Bücher dort, wo sie hingehören, Duff. In Büchereien oder Räumen wie diesem, solange sie keine Leiche umgeben.«
»Dieser Kerl hat sie geschrieben.«
»Wie?«
»Ein Romanschreiber - das erste Mal, dass so einer zu einem Fall für uns wird.« In Duffs Vorstellung ließen sich Schriftsteller nicht ermorden, sondern schrieben zumeist Bücher über das unrühmliche Ende anderer Leute. Wer würde es nicht vorziehen, gefährlich zu leben - auf dem Papier?
Es wurde Zeit, mit der Routine zu beginnen.
»Sie sagten, dass der Mann von nebenan den Nachtportier gerufen hat?«
»Stimmt.«
»Dann nehmen wir uns den Portier zuerst vor.«
Nicht, dass er viel hätte hinzufügen können. »Mr. Pennington kam herunter und sagte, dass Mr. Morlars Tür weit offen stünde und ob ich da nichts unternehmen wolle. Also kam ich hier herauf und... und fand ihn...«
»Sie haben nichts berührt?«
»Nein, Sir - nichts außer dem Radio.«
Cherry starrte über den Kopf des Portiers hinweg. »Das Radio?«
»Ich - ich habe es angedreht, um mehr über dieses Weltraumdrama zu erfahren. Es wurde gerade spannend. Schrecklich, dass so etwas passieren musste, Sir.«
Cherry ließ den Portier zu seinen Pflichten zurückkehren. Pennington von nebenan erwies sich als kaum interessanter. Er würde bald eine Glatze haben, war mager, geschäftig und machte den Eindruck eines Mannes, der etwas verloren hatte, sich aber noch nicht sicher war, ob er danach suchen sollte.
Sein wässriger Blick schien den Inspektor zu umfließen.
»Sie haben Mr. Morlar gekannt?«
Die Frage schien Pennington zu überraschen, sogar zu beunruhigen. »Gekannt? Nein, das könnte man nicht sagen. Wir waren Nachbarn, das ist alles.«
»Dann wissen Sie also nicht, ob er Besucher hatte, die regelmäßig kamen?«
»Ich kümmere mich nicht um anderer Leute Angelegenheiten.« Mit einem Anflug von Stolz.
»Sonst irgendwas?«
Pennington zuckte mit den Schultern. »Er war ruhig - er blieb für sich selbst auß-«
Cherry sah zu, wie blutlose Lippen den Rest des Wortes formten, aber keinen Laut mehr hervorbrachten.
»Ja, Mr. Pennington?«
»Nichts.«
Cherry entschied sich, im Augenblick nicht weiterzubohren. »Sie haben ihn ruhig genannt, obwohl Sie ihn eigentlich kaum bemerkt haben.«
»Das ist richtig.«
»Nicht einmal so sehr, wie er Sie bemerken musste?«
Pennington sah unsicher drein. »Wie meinen Sie das?«
»Ich kann Ihr Fernsehgerät von hier aus deutlich hören - Sie nicht?«
»Doch.«
»Also müssten Sie auch jedes laute Geräusch aus diesem Raum hören.«
»Nicht, wenn das Fernsehen eingeschaltet ist - Sie verstehen, diese Weltraumtragödie - und ich wollte die Zehn-Uhr-Nachrichten nicht verpassen.«
Cherry sah zu Duff hinüber.
»Wie haben Sie es dann überhaupt entdeckt?«
»Ich habe die Milchflaschen etwa eine Stunde später ’rausgestellt.«
»Das ist alles für den Augenblick.«
Pennington zögerte eine Sekunde lang, sah auf den Körper Morlars hinunter und schlurfte dann in seinen Pantoffeln davon.
»Das Fernsehen wird noch das Ende jeder Verbrechensaufklärung sein, Duff.«
»Wie das, Sir?«
»Es gibt niemanden mehr, der noch etwas hört.« Er ging durch den Raum, stieß die Tür zum Bad auf. Was er sah, ließ ein Grinsen auf seinem Gesicht erscheinen. »Morlar hatte die richtige Idee - sein Apparat steht im Klo.«
Aber Duff beschäftigte sich noch immer damit, dass niemand mehr etwas hörte.
»Nichts«, erklärte Cherry, »das nicht elektronisch erzeugt wird. Alle Ohren sind auf eine einzige Frequenz eingestellt, und jeder nächtliche Lärm wird gehört als Softly, Softly oder Late Night Hang-up.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Sir - und das ist eine Tatsache.«
»Da liegt unser Problem. Dieser Mann hat Literatur gemacht.«
Etwas davon lag auf Morlars Schreibtisch. Eine Seite, die rechts oben eine Nummer trug. Zwei-fünf-fünf. Er las sie noch einmal durch, und diesmal sorgfältig...
...wie eine elektrische Entladung, ein Wechselstrom, das Negative ewig andauernd, das Positive flüchtig.
Auf was läuft das Leben hinaus denn auf nichts, gefolgt von etwas? Der Mensch durchläuft eine Folge von Mutterleibern, wird zuletzt nicht geboren, sondern bewegt sich weiter. Der Schoß nicht mehr als der Warteraum eines Reisenden - nein - keine Geburt, sondern ein Fortschreiten von einer abgelegenen Pension zum nächsten Motel - siste viator! auf den Lippen eines Liebenden, und was ist das, was wir neun Monate später haben?
Versteh' das mal.
Der Mensch! Auf der Durchreise.
Gottgleich also, legt eine Verkleidung nach der anderen an.
Solche Gedanken bewegten sich durch Lamberts Bewusstsein, als er durch die Lichtjahre hinab auf seine Schöpfung sah. Zu schade, dass er sich selbst nur im Splitter eines zerbrochenen Spiegels erspähen konnte.
Ah! Sich selbst als ein stumpfes Instrument erkennen mit scharfer Wahrnehmung.
In diesem Augenblick erstarb schmerzvoll das Gefühl der absoluten Erhabenheit.
Obwohl er vielleicht ein Amateur-Gott werden konnte, seine Rolle aus Liebe spielend, vermochte Lambert doch niemals professionellen Status erreichen. Er sah mit Fassung auf den Körper und wusste dabei, dass die Hand eines professionellen Gottes niemals zittern würde.
2.
Kriminalinspektor Cherry wandte sich um, damit er den Autor besser betrachten konnte, dessen Leiche nahe der gegenüberliegenden Wand ausgestreckt lag.
»Meine prophetische Seele«, murmelte er. »Das könnte fast die Ankündigung eines Selbstmords sein.«
»Selbstmord!« Damit konnte Duff erst recht nichts anfangen.
»Schade, dass wir das Ende dieser Geschichte niemals werden erfahren können.«
»Ich glaube, ich unterhalte mich noch ein bisschen mit dem Portier. Vielleicht weiß er etwas von Besuchern.«
Cherry stimmte zu, wie ein geistesabwesender Professor vielleicht die Existenz von Äpfeln auf Birnbäumen zugeben mochte. Er war weit mehr an dem Schreibtisch interessiert.
Flach wie ein Altar und mit einem grünen Lederüberzug. Sauber und ordentlich; alles so, wie der Schreibtisch eines Autors auszusehen hatte, nahm Cherry an.
Vielleicht ein bisschen zu ordentlich. Die Stöße mit Schreibpapier waren methodisch arrangiert, der Stoß mit den fertigen Seiten lag ganz links. Ganz rechts waren drei weitere Schreibstifte abgelegt. Im Hintergrund dominierten Wörterbücher und Lexika wie Gründungsbausteine - und ein Tagebuch war mathematisch genau in der linken oberen Ecke platziert.
Er nahm es auf und blätterte durch die Seiten bis zum letzten Eintrag.
Solschenizyn und Co. sind noch eine Menge Antworten schuldig. Sie malen die Schrecken ihrer bourgeois-sowjetischen Existenz in byzantinischen Farben und verhökern ihre Ikonen dort, wo sie ihnen den größten Preis an falsch platzierter Sympathie einbringen.
Sie schreiben von Wirklichkeit und nennen es Erniedrigung, erflehen bekümmert den Applaus des Systems, das sie ausgebrütet hat, indem sie Freiheit rufen.
Intellektuelle.
Männer, die von stinkendem Fisch lamentieren und dabei wissen, dass die Fädenzieher im Westen das mit Freude hören und sagen werden: »Hallo, ihr Pöbel in den Fabriken, ihr Strolche, die ihr zum Stempeln geht, ihr Heimatlosen, die ihr durch die Gnade der Demokratie auf unseren goldenen Wegen geht, ihr ratenzahlenden Klitschenkäufer - lest Solschenizyn und Co. und glaubt, ihr seid glücklich.«
So leisten gewisse sowjetische Intellektuelle in ihrer Welt - zu blöd, um zu sehen, dass Freiheit der universelle Mythos ist - die Wahrheit das erste Opfer des universellen Todeswunsches - die halbe Arbeit für diese philisterhafte Propagandamaschine.
Sie sehnen sich nach der westlichen Freiheit, um ihre Wahrheit aufs Papier bringen zu können. Sie sollen sie haben. Und sie werden sehen, wie weit sie das bringt.
Die Wirklichkeit, gegen die sie kämpfen, ist Sibirien. Sollen sie sich in einer westlichen Demokratie versuchen, und wenn die Schleier von ihren Augen fallen, dann werden sie entdecken, dass unser Sibirien nicht weniger kalt, nicht weniger abtötend für die Sinne, nicht weniger frostig für die Seele ist.
Bei allen Heiligen, das war wirklich interessant. Cherry lehnte sich zurück und versuchte, sich ein Bild von dem Menschen hinter dem Autor zu machen. Starke Überzeugungen, Verachtung für das intellektuelle und alles oberflächliche Denken, politisch; ein Kommunist?
Bringt auch nicht weiter. Er erinnerte sich an die Zeit, als er selbst ein Tagebuch hielt. Er hatte eine Menge am Dienstag geschrieben, was ihn bereits am Mittwoch auf die Palme gebracht hätte.
John Morlar... der Name ließ etwas klingeln, aber nur einmal. Er hatte nichts von ihm gelesen, da er an moderner Literatur nicht allzu interessiert war. Trotzdem, Morlar... der Name hatte eine Art von Nische in seinem Gedächtnis besetzt.
Cherry wandte sich wieder dem unvollendeten Manuskript zu und las erneut den letzten Absatz. Schlussfolgerung: Ein Mord war begangen worden, und der Mörder hatte seine Tat aus übermenschlichen Gesichtspunkten heraus für gerechtfertigt befunden. Eine blässere Version von Schuld und Sühne? Ah - das konnte ganz interessant sein. Aber S und S konnte nie wieder geschrieben werden.
Jedenfalls, die Literatur hatte zu warten. Möglicher Informationen wegen wandte er seine Aufmerksamkeit dem Tagebuch zu und bemerkte soeben den Namen Zonfeld, der in langen Abständen und isoliert immer wieder auftauchte, als Duff hereinkam. Er ging auf Zehenspitzen, um einen möglichen Tagtraum seines Chefs nicht unvermittelt zu unterbrechen.
Erst viel später bemerkte Cherry, dass er ganze fünfzehn Minuten in Duffs gleichmütiger Gegenwart verbracht hatte, ohne ihn zu bemerken.
»Wegen der Besucher, Sir.«
»Ja?« Cherry fuhr fort, auf den Namen Zonfeld zu starren.
»Die schlichte Antwort ist, dass er keine hatte.«
»Er hatte einen in dieser Nacht.«
»Jedenfalls keine, die bemerkt wurden. Der Portier meint, dass man da nie sicher sein kann.«
»Wie das?«
»Zwei Eingänge - den Haupteingang zur Collier Street und einen zur Fine Street.«
»...und der nie vor elf Uhr geschlossen wird.«
»So ungefähr.«
Cherry ging die Buchreihen durch und fand mühelos, was er suchte. Alle sieben Romane von Morlar stachen deutlich heraus in den orangefarbenen Schutzumschlägen eines wohlbekannten Verlagshauses.
»Schon von ihm gehört, Sergeant?«
»Könnte ich nicht sagen.«
Cherry ging den Text auf der Umschlagklappe von Morlars Erstling durch, der 1959 erschienen war. »Das Krematorium.« Kurze Angaben über den Autor. John Morlar wurde 1921 in London geboren und so weiter. Kaum mehr als Stichworte. Der Verlagstext begeisterte sich für die Werke Morlars, die noch zu erwarten waren.
Aber was den Inspektor am meisten interessierte, das war Morlar, eine Fotografie, die wenigstens einen schwachen Eindruck davon gab, wie er einmal ausgesehen hatte. Alles war besser als dieses unförmige Gebilde, das man nicht mehr als Gesicht ansehen konnte...
»Ist der Wagen unterwegs?«
»Sollte jede Minute hier sein.« Duff hatte einen kleinen Schrank geöffnet und untersuchte Morlars Trinkgewohnheiten. Offensichtlich Brandy.
Cherry starrte auf eine Aufnahme von Passfotogröße auf der Rückseite des Buchumschlags... eine schlechte Reproduktion - verschwommen. Ein ausdrucksvoller Mann so um die dreißig, mehr angedeutet denn gezeigt, dunkles Haar und... Augen - außergewöhnlich leuchtende Augen. Die Gesichtszüge verleiteten zu keinem zweiten Blick, aber selbst auf einer so armseligen Fotografie waren diese Augen von einer unglaublichen Intensivität...
»Sehen Sie sich das mal an.«
Duff trat neben ihn, und die beiden Männer verharrten in einer längeren Betrachtung des Bildes, das den Ermordeten zeigte, wie er vor langer Zeit ausgesehen haben mochte - bis es geschah. Als Duff eben einen Kommentar von sich geben wollte.
Etwas wie ein Seufzen, ein schmerzvolles Ausstößen von Luft, gerade noch hörbar in dem jetzt stillen Raum.
Cherry und Duff sahen sich gegenseitig an, teilten sich stumm ihren beiderseitigen Unglauben mit, bis Cherry schließlich den ersten Schritt unternahm und auf die Gestalt zuging, die mit dem Gesicht nach oben auf dem Boden ausgestreckt lag.
Er kniete an ihrer Seite und wartete. Duff näherte sich von der anderen Seite. Weil sie nichts anderes tun konnten, warteten sie.
Ein Lebenszeichen - oder Signale des Todes. Aber der Augenblick dauerte nicht an. Die Uhr irgendwo hinter ihnen tickte einen präzisen Kontrapunkt zu ihrer Spannung. Und sie warteten noch immer. Bis sie beide darüber zu spekulieren begannen, wie leicht man sich täuschen kann.
Bis sich die Vorräte ihres Mutes erschöpften. Es zehrt an den Nerven, in eine unförmige Masse mit herausragenden Knochen zu starren und darauf zu warten, dass sie vielleicht zu lächeln beginnt und »Guten Abend« wünscht.
Sie atmeten kaum, verhielten sich so reglos, dass sie sich nur wenig von dem unterschieden, was Morlar war.
Duff begann zu schwitzen und wollte etwas über eine Täuschung sagen, als sie das Geräusch erneut hörten, und die geringfügige Bewegung des Kopfes ließ sie beide zusammenzucken.
»Mein Gott.« Leise, wie um den Toten nicht aus seinem Schlaf zu wecken.
Und »Das kann ich nicht glauben!« von Duff. Wie um seinen Unglauben zu entschuldigen, fügte er hinzu: »Der Arzt sagte, er wäre...«
Aber das kann passieren. Cherry wusste, dass es das Dilemma eines jeden Arztes war; der Tod spielt manchmal das Spiel eines Narren, macht eine lange Nase auf sein eigenes Ebenbild, um die Lebenden in schmerzerfüllter Spannung erstarren zu lassen.
Duff - nur zu froh, entkommen zu können - eilte zur Eingangstür und wies den gelangweilten Polizeibeamten an, einen Notarztwagen kommen zu lassen und das nächste Krankenhaus zu verständigen.
Weitere drei Minuten vergingen. Zwei Männer kamen mit einer Bahre und beendeten das erschreckende Schauspiel mit behutsamen Bewegungen. Vorsichtig trugen sie Morlar davon.
Duff und sein Unglauben folgten dem kleinen Wunder. Zunächst würde Cherry niemand anders bei Morlars verbliebenem Leben zurücklassen. Wenn so etwas wie Worte aus dem, was einmal der Mund gewesen war, entfliehen sollten, dann war Duff der Mann, um sie zu hören.
Eine verlorene Hoffnung.
»Doktor Zonfeld wird Sie jetzt empfangen, Inspektor.«
Die Empfangsdame lächelte ein Hochzeitskuchen-Lächeln, während er an ihr vorbeiging. Er dachte dabei an Morlar und die Nachrichten, die er an diesem Morgen aus dem St. Mary’s erhalten hatte.
Morlar, bewaffnet mit den wirkungsvollsten Waffen, die die moderne Medizin kannte, führte seinen Kampf in einer Intensivpflegestation weiter. Ob er um sein Leben oder dagegen kämpfte, hatten sie allerdings nicht gesagt.
Zonfeld schwamm mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.
»Ich habe von Ihnen gehört, Inspektor. Es ist mir ein großes Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Die Spur eines Akzents, wie um jedermanns Vorstellung von einem Psychiater zu bestätigen.
»Bitte.«
Cherry fühlte sich freundlich in Richtung eines Sessels bewegt. Entweder nahm Zonfeld an, dass er es mit einem neuen Patienten zu tun hatte, oder er konnte seine Berufsgewohnheiten einfach nicht so leicht abschütteln. Cherry kämpfte gegen die einlullende Bequemlichkeit des Sessels und dachte an Morlar, der eine andere Art von Kampf durchzustehen hatte.
»Es geht um einen Ihrer Patienten, Doktor.«
Er legte eine Pause ein und wartete auf eine Reaktion.
Zonfeld nickte höflich. Nichts weiter.
»John Morlar.«
»Ach ja! Der Schriftsteller. Ja - ich kenne ihn.«
Cherry beobachtete den silbernen Stift in Zonfelds Hand. Zonfeld spielte mit ihm - eine Gewohnheit.
»Er wurde in der letzten Nacht in seiner Wohnung gefunden.«
Wieder wartete er. Und diesmal funktionierte sein kleiner psychologischer Trick zu seiner eigenen Überraschung.
»Tot?«
Cherry zeigte ein Fast-Lächeln. »Nein, aber es hat ihn ziemlich schwer erwischt.«
Zonfeld sah auf die Zeitung, die vor ihm auf dem Tisch lag. Große Schlagzeilen berichteten schreiend vom Tod auf dem Mond. Auf der Erde war seither offenbar nicht viel geschehen.
Der Psychiater, der eben etwas sagen wollte, änderte seine Absicht. Der Stift in seiner Hand tanzte auf und nieder.
»Ich fand Ihren Namen in seinem Tagebuch. Es schien mir offensichtlich...« Cherry brach ab und zuckte mit den Schultern.
»Und Sie dachten, dass ich Ihnen Feinde Morlars benennen könnte? Tut mir ja leid, Inspektor, wenn ich Sie enttäuschen muss, aber nach meinem besten Wissen hatte er keine - jedenfalls keine, von denen ich annehmen würde, dass sie ihn töten wollten.«
»Ich bin nicht sicher, dass ihn irgendjemand töten wollte - noch nicht.«
»Oder glauben Sie vielleicht, dass er das Opfer eines wirklich gewordenen Verfolgungswahns wurde?« Eine Frage mit der Absicht, abzulenken oder zu verärgern.
»Ich glaube noch gar nichts, Doktor. Ich möchte mehr über ihn wissen, und deshalb komme ich zu Ihnen. Ich nehme an, dass er bei Ihnen in Behandlung war?«
Zonfeld nickte, aber mit Bedacht. Jede seiner Regungen schien von einer sorgfältigen Kalkulation oder möglichen Konsequenzen auszugehen.
»Er war ein gefährlicher Mann.«
Eine bloße Feststellung, die dem Charakter dieses Raums und Zonfeld selbst widersprach.
»War gefährlich?«
»Der gefährlichste Mann der Welt.« Eine Feststellung, die alles oder nichts bedeuten konnte. Worauf wollte Zonfeld hinaus? Cherry sagte nichts, um nicht die Wirkung zu stören, die Zonfeld erreichen wollte.
»Das dachte er jedenfalls.«
»Eine Selbsttäuschung also - deshalb kam er zu Ihnen?«
Zonfeld nickte. Er hatte einen verhältnismäßig großen Kopf, eine hagere Figur, tadellose Kleidung. Seine grauen Augen sahen weit über Cherry hinaus, schienen die nächste Biegung eines nahen Weges zu suchen. Einer seiner Mundwinkel zuckte sichtbar. Wieviel von der geistigen Deformation eines Patienten übertrug sich auf den Mann, der ihn behandelte?
Seine Nervosität verschwand - wenn es sie jemals gegeben hatte - und er sprach mit mehr Sicherheit weiter.
»Ich erwarte in einer halben Stunde einen Patienten, Inspektor. Wenn Sie mir präzise sagen, was Sie über Morlar wissen wollen, dann werde ich mich bemühen, Ihnen zufriedenstellende Auskünfte zu geben.«
»Morlar hatte keine Feinde - sind Sie dessen ganz sicher?«
»Keine lebenden Feinde, von denen ich weiß. Man kann natürlich niemals sicher sein. Er hatte auch keine Freunde - wie er selber zugab.«
Jede Antwort Zonfelds war präzise, jedes Wort saß genau dort, wo es eine Funktion hatte.
Keine lebenden Feinde. Cherry wurde fast niedergedrückt vom Gewicht der Fragen, die aus diesen drei Wörtern hervorgingen.
»Familienangehörige?«
»Keine, die ihm etwas bedeuteten.«
»Er kümmerte sich nur um sich selbst?«
»Er war - sich selbst genug.«
»Dann werde ich kaum eine andere Quelle finden, aus der ich mehr über ihn erfahren kann.«
»Sein Verleger?« Ein wenig zu vorschnell.
»Das werde ich überprüfen. Alles kann von Hilfe sein. Aber« - er versuchte, bedeutungsvoll dreinzuschauen - »jemand, der die Innenwelt eines Mannes erfahren hat, kennt zumindest die Hälfte des Weges zum Wissen...«
»Ich glaube nicht, dass das daraus folgt, Inspektor. Ein Mann kann von einem völlig Fremden angegriffen werden. So etwas kommt vor - das muss ich Ihnen nicht sagen.«
»Schriftstellern geschieht das jedenfalls selten. Der einzige Fall, an den ich mich erinnern kann, geschah 1897.«
»Oh?« Zonfeld ließ sein Interesse spüren.
»Jules Verne. Sein Neffe schoss auf ihn. Lähmte ihn für sein weiteres Leben. Ohne ein Motiv.«
»Woher wissen Sie das?«
Cherry ging nicht darauf ein, da er sich nicht über die in der Frage enthaltene Implikation ärgern wollte: Von einem Polizisten wurde erwartet, dass er das umfangreiche Wissen eines Psychiaters schlicht voraussetzte. Ein angesehener Psychiater aber konnte die Augenbrauen heben, wenn ein Polizeibeamter...
»Da waren zwei Gläser, eines enthielt Brandy, das andere Scotch. Es ist wohl anzunehmen, dass man einem zufälligen Angreifer keine Drinks anbietet.«
»Vielleicht.« Cherry starrte fasziniert auf Zonfelds silbernen Schreibstift, so dass ihm sein Gesichtsausdruck entging.
»Nun, Doktor?«
»Hm? Entschuldigung.«
»Die Umstände, unter denen Sie Morlar zuerst begegneten.«
»Lassen Sie mich mal überlegen... es muss Anfang Januar dieses Jahres gewesen sein.«
»Vor sechs Monaten.«
»Es dürfte etwa der siebte Januar gewesen sein. Das Wetter war kalt, und es sah nach Schnee aus. Er war bis zu den Ohren in einem rot und grau gestreiften Schal eingewickelt, und sein langer, dunkler Umhang umhüllte ihn wie eine Decke. Es war natürlich warm hier drin, aber er behielt seine Sachen die ganze Zeit an - das war vielleicht eine halbe Stunde oder etwas mehr. Sie verstehen, bei einer ersten Konsultation kann man die Zeit nicht begrenzen - der Patient hat bei dieser Gelegenheit mehr zu sagen, als er später aus freien Stücken von sich gibt.
Er machte - einen unmittelbaren Eindruck auf mich, und das hatte vor allem mit seinen Augen zu tun. Man kann mehr oder weniger alles über einen Menschen aus ihnen erfahren - sie spiegeln eine Art Zusammenfassung all dessen, was er wahrnimmt und erfährt.«
Cherry ließ Zonfeld reden. Er war froh, endlich eine erschöpfende Antwort zu bekommen, und er war sich ziemlich sicher, dass Zonfelds Darstellung der Wahrheit entsprach.
»Wenn ich sage, dass von seinen Augen eine unglaubliche Stärke, ja Macht ausgingen, dann ist das noch schwach formuliert. Seine übrige Erscheinung kann man vernachlässigen. Ein schmales Gesicht, etwas eckig, dunkle Haare, die an den Schläfen schon leicht zu ergrauen begannen.
Aber für mich spielten nur die Augen eine Rolle - nicht nur wegen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Peter van Greenaway/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: N. N./Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Peter Sladek.
Übersetzung: Hannelore Lenzner und Christian Dörge (OT: The Medusa Touch).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 24.01.2019
ISBN: 978-3-7438-9428-0
Alle Rechte vorbehalten