KARL-ULRICH BURGDORF
Planet des blauen Feuers
Roman
Apex-Verlag
*) Auf Wunsch des Autors veröffentlicht der Apex-Verlag
diesen Roman in der alten Rechtschreibung.
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
Vorbemerkung von Rainer Schorm
PLANET DES BLAUEN FEUERS
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Nachwort des Verfassers
Das Buch
Als Gutachter des Interstellaren Kolonialamtes hat man es selten leicht; das ist für Rhinehart nichts Neues, arbeitet er doch bereits viele Jahren für die Behörde, die fremde Planeten zur Kolonisation frei gibt.
Die Frage ist nicht nur die, ob die neue Welt bereits intelligentes Leben trägt. Zahlreiche weitere Fragen stellen sich, und es gibt einen großen Personenkreis, der daran interessiert ist, welche Antworten Rhinehart darauf geben wird.
Dass auch der Ermittler bald vor immer mehr Rätseln steht, ist die Kehrseite der Medaille. Weshalb ist das Interesse an einer positiven Bewertung der Planeten Umbard und Tyon so ungewöhnlich groß? Welche Verbindung besteht zwischen seiner Behörde und der Hyperspace Incorporated? Was hat ein Schachgroßmeister damit zu tun und was brachte die IMMIGRANT zum Absturz?
Planet des blauen Feuers erschien erstmals im Jahr 1979 als Band 211 der Reihe Zauberkreis Science Fiction. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine vom Autor überarbeitete neue Version des Romans.
Der Autor
Karl-Ulrich Burgdorf, Jahrgang 1952.
Karl-Ulrich Burgdorf ist ein deutscher Schriftsteller und Übersetzer, der auch die Pseudonyme Henry Wolf, C. T. Bauer, Arl Duncan und Harald Münzer verwendet hat.
Er absolvierte 1971 bis 1973 bei zwei Tageszeitungen Redaktionsvolontariate und studierte ab 1973 an der Universität Münster Publizistik, Politik und Soziologie.
Seit 1982 ist er freier Schriftsteller und Übersetzer. Er veröffentlicht vor allem phantastische Romane und Erzählungen sowie Comics. Unter dem vorwiegend von Wolfgang Hohlbein benutzten Pseudonym Henry Wolf verfasste er einige Romanhefte für die Reihe Gespenster-Krimi (in der Unterserie Raven), die später unter seinem eigenen Namen mehrere Neuausgaben erfuhren. Außerdem schrieb er – teilweise ebenfalls unter Pseudonym – als Gastautor für Serien wie Vampira, Damona King, Die UFO-Akten, Die Terranauten, Erde 2000, Fantasy – Götter, Krieger und Dämonen, und übersetzte Texte von Philip K. Dick, Orson Scott Card und John Schneider (das Stück My Werewolf für das Theater im Pumpenhaus, Münster).
1980 gab er dem damals noch unbekannten Autoren Wolfgang Hohlbein den Rat, sich als Heftroman-Autor beim Bastei-Verlag (für die Heftreihe Professor Zamorra) zu bewerben, was zu Wolfgang Hohlbeins erster professioneller Veröffentlichung führte.
In den Jahren 1978 und 1979 war er Redakteur des Magazins Science-Fiction-Baustelle und von 1986 bis 1991 Mitherausgeber des Informationsdienstes science fiction media. 2001 war Burgdorf Regieassistent bei der Loco-Mosquito-Produktion Fight Club - Das Ende vom Anfang und 2002 Mit-Organisator der Patrick Wildermann-/Loco-Mosquito-Werkschau RadikalRomanzen im Theater im Pumpenhaus, Münster.
Heute lebt er in Münster und ist, nachdem er sich für mehr als 15 Jahre aus dem literarischen Leben zurückgezogen hatte, seit 2013 wieder schriftstellerisch aktiv.
Vorbemerkung von Rainer Schorm
Als Gutachter des Interstellaren Kolonialamtes hat man es selten leicht; das ist für Rhinehart nichts Neues, arbeitet er doch bereits viele Jahren für die Behörde, die fremde Planeten zur Kolonisation frei gibt.
Die Frage ist nicht nur die, ob die neue Welt bereits intelligentes Leben trägt. Zahlreiche weitere Fragen stellen sich, und es gibt einen großen Personenkreis, der daran interessiert ist, welche Antworten Rhinehart darauf geben wird.
Dass auch der Ermittler bald vor immer mehr Rätseln steht, ist die Kehrseite der Medaille. Weshalb ist das Interesse an einer positiven Bewertung der Planeten Umbard und Tyon so ungewöhnlich groß? Welche Verbindung besteht zwischen seiner Behörde und der Hyperspace Incorporated? Was hat ein Schachgroßmeister damit zu tun und was brachte die IMMIGRANT zum Absturz?
Gestrandet auf dem Planeten Umbard ist Rhinehart gezwungen, Antworten zu finden. Auch auf die Frage, was seine Misere mit den blau leuchtenden Kugeln zu tun hat, die auf dieser Welt immer wieder auftauchen.
Die Suche nach diesen Antworten hat durchaus etwas von einem Schachspiel, obwohl die Erzählung sehr gradlinig verläuft. Sie ist spannend, und wer Rhinehart bei seiner Untersuchung folgt, wird immer wieder verblüfft sein, denn Karl-Ulrich Burgdorf nimmt den Leser mit auf eine regelrechte Überraschungstour. Der Autor selbst nennt diese bearbeitete und erweiterte Wiederveröffentlichung seinen Director’s Cut – ursprünglich erschien der Roman bereits im Jahre 1979. Dass er jetzt wieder greifbar wird, wird jeden freuen, der Spaß an Romanen hat, die einen Hang zum Krimi aufweisen. Dass diese Verbindung fruchtbar ist, sollte spätestens seit Isaac Asimovs Caves Of Steel um den Robot-Detektiv R. Daneel Olivaw bekannt sein.
Sie funktioniert auch hier. Viel Vergnügen beim Rätselraten!
PLANET DES BLAUEN FEUERS
1.
Irgendwann in der Nacht hatte es aufgehört zu schneien. Die Luft war eiskalt, der Himmel klar. Keine Wolke versperrte den Blick auf die Sterne.
Sorgfältig verschloß Rhinehart die Schleuse am Fuße seines Wohnturms. Mit Genugtuung stellte er fest, daß die Robotkommandos bereits dabei waren, den Schnee von den Straßen zu räumen. Die summenden Maschinen frästen sich mit einer Geschwindigkeit durch die teilweise noch meterhohen Schneewächten, die menschliche Arbeiter wohl nie hätten erreichen können. Ohne die Roboter, dachte Rhinehart, würde Norilsk wahrscheinlich im Schnee ersticken.
Er schlug den Kragen seiner Synthofelljacke hoch und stapfte hinaus in den sibirischen Morgen. Fasziniert beobachtete er, wie sein Atem in dicken Wolken hervorquoll. Rasch setzten sich feine Eiskristalle auf seinem Schnauzbart ab. Die Temperatur mußte bei wenigstens fünfunddreißig Grad unter Null liegen.
Die Straßen der Millionenstadt Norilsk waren um diese Zeit noch menschenleer. Wer jetzt auf dem Wege zur Arbeit war, benutzte für gewöhnlich die unterirdischen Schnellbahnen, deren Haltestellen sich direkt unter den Wohntürmen befanden. Rhinehart verzichtete aus alter Gewohnheit auf diese Annehmlichkeiten. Er verbrachte ohnehin den größten Teil seines Lebens in vollklimatisierten Büros oder Raumschiffen. Wenn er sich schon einmal auf der Erde aufhielt – was selten genug geschah – wollte er wenigstens diese kleine Chance ausnutzen, der künstlichen Einheitsumwelt des 26. Jahrhunderts zu entfliehen. Zudem war der Weg von Rhineharts Wohnturm bis zum Interstellaren Kolonialamt kaum einen Kilometer lang, so daß Rhinehart ihn gut zu Fuß zurücklegen konnte.
Während Rhinehart durch die leeren Straßen marschierte, richtete sich sein Blick unwillkürlich immer wieder hinauf zu den Sternen. Dort oben – ja, das war der Große Bär... Eigentlich merkwürdig, was die Alten in den Sternen gesehen hatten. Der Große Bär... Nicht sonderlich bärenähnlich, dachte Rhinehart belustigt. Heute kannte kaum noch jemand die antiquierten Bezeichnungen. Wenn man sich im 26. Jahrhundert über die Sterne unterhielt, dann sprach man von den Epsilon-Raumkuben, von den Zonen der ersten, zweiten und dritten Besiedlungsphase...
Ein aufdringliches Summen riß Rhinehart aus seinen Gedanken. Einer der Sehneeräumer kurvte um ihn herum, offenbar auf der Suche nach einer Fläche, die es noch vom Schnee zu befreien galt. Das Summen hatte Rhinehart gegolten und sollte ihn warnen, nicht in den Bereich der Räumvorrichtungen des Roboters zu geraten.
Rhinehart blieb stehen, bis die Maschine vorüber war.
Mittlerweile hatte er sein Ziel schon fast erreicht. Der Turm, der das Interstellare Kolonialamt beherbergte, sah nicht besonders eindrucksvoll aus – ein kleines, graues und eher unscheinbares Gebäude. Obwohl das IK eine der wichtigsten Behörden der Terranischen Föderation war, benötigte es nur wenig Raum. Der hermetisch abgeschirmte Computer, das Kernstück des IK, befand sich ohnehin tief unter dem Permafrostboden. Der Turm hingegen beherbergte nur einige Büros und eine stattliche Anzahl von Repräsentationsräumen, in denen bei gegebenem Anlaß die Delegationen von den Kolonialplaneten empfangen wurden. Auf die erlesene Einrichtung dieser Räume hatte man besonderen Wert gelegt. Die Konferenzsäle waren nicht von Innenarchitekten, sondern von Psychologen entworfen worden. »Wir müssen den Leuten aus den Kolonien eine gute Show bieten«, pflegte Sergej Polestschuk, Rhineharts Chef, diesen Aufwand zu erklären. »Dann merken sie wenigstens gleich, daß wir vom IK nicht irgendwer sind.«
Am Aufgang zum IK-Turm steckte Rhinehart seine Identifikationsmarke in die dafür vorgesehene Öffnung des Robotpförtners. Unbefugten war der Zutritt strengstens untersagt. Das IK arbeitete zwar nicht im Verborgenen, aber andererseits wollte man sich auch nicht zu tief in die Karten schauen lassen. Oft genug hatten die verschiedensten Interessengruppen versucht, Einfluß auf die Entscheidungen des IK zu nehmen.
Der Robotpförtner spuckte Rhineharts Identifikationsmarke wieder aus. Die Schleuse des Turms schwang auf.
Ein Schwall warmer Luft traf Rhinehart und ließ die Eiskrusten in seinem Bart schmelzen.
Um diese Zeit war das Foyer des IK-Turms noch fast menschenleer. Nur vor dem Antigravlift standen zwei junge Männer und unterhielten sich. Rhinehart kannte sie nicht, aber die Identifikationsmarken, die an den Revers ihrer Jacken steckten, wiesen sie als Außenagenten im ersten Dienstjahr aus.
Rhinehart befestigte die Plakette nun gleichfalls an seiner Jacke und zwängte sich an den beiden Männern vorbei in den Lift, wobei er einen kurzen Gruß murmelte. Die beiden Newcomer grüßten respektvoll zurück. Rhineharts Marke war dunkelrot – und das bedeutete eine Dienstzeit von mindestens zwanzig Jahren.
Genauer gesagt, arbeitete Rhinehart schon vierundzwanzig Jahre lang für das IK. Während dieser Zeit hatte er Dutzende von Planeten besucht und Erfahrungen gesammelt, von denen die jungen Außenagenten nur träumen konnten.
Langsam glitt Rhinehart im Schacht des AG-Lifts nach oben. Im achten Stockwerk griff er routiniert nach den Haltestangen und schwang sich aus dem Lift.
Sein Büro befand sich am Ende des mit dicken Synthoteppichen ausgelegten Flurs. Rhinehart öffnete die Tür mit einem elektronischen Schlüssel und schaltete das Licht ein. Die Felljacke warf er mit einer nachlässigen Bewegung über einen Sessel.
Bevor er mit der Arbeit begann, versorgte sich Rhinehart mit einem Becher heißen Kaffees aus dem Automaten neben dem Computerterminal, um die Kälte aus seinem Körper zu vertreiben. Dann aktivierte er das Terminal und machte es sich auf seinem Lieblingssessel bequem. Ganz unvorschriftsmäßig legte er die Füße auf die Kante des Terminals. Sein Blick schweifte über die Poster an den Wänden. Es waren echte, gedruckte Poster, keine Projektionen, und sie alle zeigten irdische Landschaften – weite Wälder, Strände, das Meer. Gerade der Aufenthalt auf fernen, exotischen Planeten hatte Rhinehart gelehrt, die Schönheiten des Heimatplaneten der Menschheit bewußt wahrzunehmen – und zu lieben.
Ein leichtes Flimmern in der Luft vor seinem Gesicht verriet Rhinehart, daß der Computer das Feldmikrofon aufgebaut hatte. Er nahm noch einen kräftigen Schluck Kaffee und begann dann, den Schlußteil seines am Vortag begonnenen Berichts über die Parrol-Mission zu diktieren.
Endlich mal wieder ein erfreulicher Bericht, dachte er. Am Ende werden die Worte stehen, für die die Auftraggeber jeder Planetenerkundung Milliarden zu bezahlen bereit wären: »IK-Gutachter Rhinehart erhebt keine Einwände gegen die Kolonisation von Parrol.«
Rhinehart als Bevollmächtigter des IK hatte die Macht, grünes Licht für Kolonisationsvorhaben zu geben. Rotes Licht hingegen durfte er nur sehr eingeschränkt verhängen. Wenn er trotz gegenteiliger Berichte eines Planetenerkundungs-Kommandos befand, daß ein Planet nicht zur Kolonisation geeignet war, wurde ein unabhängiges Gutachtergremium eingesetzt, um Rhineharts Einwände erneut zu überprüfen. Diesem Gremium gehörte Rhinehart nicht mehr an, allerdings wurde er für gewöhnlich im Rahmen der Anhörungen um eine zusätzliche mündliche Stellungnahme gebeten.
Nun, bei Parrol würde das nicht der Fall sein. Rhineharts Gutachten war uneingeschränkt positiv, und damit war die Mission endgültig abgeschlossen.
Am Comanschluß des Terminals flackerte plötzlich ein Lämpchen auf.
»…kein höheres tierisches Leben«, beendete Rhinehart ungehalten den Satz. »Berichtaufzeichnung unterbrechen, Comverbindung herstellen.«
Auf einem kleinen Bildschirm erschien das Gesicht von Sergej Polestschuk.
Weil Rhinehart dauernd irgendwo zwischen den Sternen unterwegs war, sah er den Chef des IK nur selten. Dadurch konnte er genau verfolgen, wie Polestschuk von seinem harten Job aufgefressen wurde. Bei jeder Begegnung schien der cholerische Russe gleich um ein Jahrzehnt gealtert zu sein. Obwohl er kaum sechzig Jahre zählen mochte, war sein spärliches Haar schon schlohweiß. Die Bürde seines Amtes hatte tiefe Linien in das Gesicht des IK-Chefs gegraben.
»Versuch's doch mal mit einer Schlafcouch«, knurrte Polestschuk anstelle einer Begrüßung. »Das ist noch bequemer. «
Rhinehart nippte an seinem Kaffee und zog nur scheinbar indigniert die Augenbrauen hoch. Er kannte Polestschuk seit vierundzwanzig Jahren und hatte sich längst an seine bärbeißige Art von Ironie gewöhnt.
»Ich habe was Neues für dich«, fuhr der Russe übergangslos fort. »Wie weit bist du mit dem Parrol-Bericht?«
Rhinehart kratzte sich nachdenklich mit der linken Hand den Bart. »Fast fertig«, erklärte er ruhig. »In rund zwei Stunden kann ich ihn dir rüberschicken.«
Polestschuk verzog sein faltiges Gesicht zu einem unfreundlichen Lächeln. »Dann diktiere etwas schneller. In zwei Stunden startet nämlich der Zubringer zum Starliner, mit dem du fliegen sollst.«
Rhinehart unterdrückte nur mit Mühe ein sehr unanständiges Schimpfwort und nahm die Füße vom Terminal. »Und wohin geht es diesmal?«
Der IK-Chef blickte nach unten aus dem Bild. Offenbar lag ein Datenbogen vor ihm auf dem Schreibtisch.
»Zuerst nach New Star«, erläuterte er. »Das ist eine Welt der dritten Besiedlungsphase, etwa zweitausend Lichtjahre von der Erde entfernt. Die Leute von New Star haben derzeit fünf Erkundungsgruppen draußen. Zwei der Erkundungen sind abgeschlossen. Die Anträge auf die Genehmigung einer Kolonisation liegen seit gestern auf meinem Schreibtisch. Es handelt sich um die Klasse-A-Welten Umbard und Tyon. In beiden Fällen betrug die Erkundungszeit fünf Jahre. Gründliche Arbeit, wie es scheint – der Antragstext und die beigefügten Datensammlungen füllen insgesamt zwölf Speicherkristalle.«
Rhinehart pfiff durch die Zähne. »Doppelt so viel wie üblich?«
Polestschuk nickte. »Doppelt so viel wie üblich. Und das macht mich mißtrauisch.«
Rhinehart konnte dem nur zustimmten. Er wußte aus langjähriger Erfahrung, daß eine übertrieben sorgfältige Faktensammlung zur Absicherung eines Antrags oftmals dazu dienen sollte, den erwarteten Gutachter des IK von anderen, nicht mit aufgeführten Daten abzulenken.
»Darum schicke ich dich«, fuhr der IK-Chef fort. »Das ist kein Job für einen Neuling.«
»Du sagst es«, erwiderte Rhinehart alles andere als geschmeichelt. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber Polestschuk unterbrach die Verbindung ohne ein Wort des Abschieds. Im Umgang mit seinen Freunden befleißigte er sich nie besonders großer Höflichkeit. Seinen Charme sparte er sich lieber für seine Gegner auf.
Mit einem Seufzer reaktivierte Rhinehart das Feldmikrofon und diktierte konzentriert weiter.
Als er fertig war, blieb ihm keine Zeit, sich seinen Bericht noch einmal anzuhören. Er vertraute darauf, daß Polestschuk, der jedes Gutachten persönlich gegenlas, alle sprachlichen Mängel des Berichts ausmerzte, bevor der Text schriftlich fixiert und dem Kolonisationsausschuß des Parlaments zugeleitet wurde.
Sorgfältig verschloß Rhinehart sein Büro, das er nun für einige Monate nicht mehr wiedersehen würde, und machte sich auf den Weg zu seinem Wohnturm. Diesmal benutzte er die unterirdische Schnellbahn. Die Zubringerschiffe starteten pünktlich – dafür sorgte schon der Computer des Jenissei-Raumhafens. Jede Verzögerung konnte den Flugplan eines ganzen Tages durcheinanderbringen.
Vom Jenissei-Raumhafen stiegen täglich Hunderte von Raumschiffen auf: Zubringerfähren, Interplanetarschiffe und Forschungsschiffe, die die noch unbekannten Bereiche der Milchstraße jenseits der besiedelten Welten erforschten. Bei Norilsk war der größte Raumhafen errichtet worden, den es derzeit auf Terra gab. In der Stadt Norilsk selbst merkte man jedoch kaum etwas davon. Schall- und Druckschutzfelder umgaben den Raumhafen und verringerten die Belastungen für die Einwohner auf ein Minimum.
Die Schnellbahn spuckte Rhinehart an der Haltestelle unter seinem Wohnturm aus. Auf dem Bahnsteig herrschte reger Betrieb. Immerhin lebten in diesem Wohnturm nicht weniger als 12 000 Menschen. Der Turm war eine kleine Stadt für sich.
Die Reisevorbereitungen kosteten Rhinehart kaum zehn Minuten. Er hatte hinreichend Routine im Kofferpacken. Außerdem paßten die wenigen lebensnotwendigen Utensilien, die er auf seine Weltraumreisen mitnahm, bequem in eine kleine Tasche. Zuoberst legte er seinen Schachcomputer, dann zippte er die Tasche zu und verließ sein Apartment.
Während der Fahrt zum Raumhafen dachte Rhinehart nicht über die bevorstehende Mission nach. Er nutzte die Gelegenheit, um die Männer und Frauen zu beobachten, die mit ihm im gleichen Wagen fuhren. Rhinehart galt als guter Menschenkenner. Menschenkenntnis war eine Fähigkeit, die er in seinem Job dringend benötigte. Wer als Außenagent nicht fähig war, hinter die Masken seiner Gesprächspartner zu schauen, tat gut daran, sich in den Innendienst versetzen zu lassen.
Rhinehart verließ die Schnellbahn unter dem Abfertigungsgebäude für Interstellarreisende. Die Abfertigungshalle war nicht sehr groß und wohltuend leer. Nur einige nervös dreinblickende Männer und Frauen standen vor den Robotschaltern und warteten darauf, daß der Zentralcomputer ihre ID-Marken überprüfte. Technisch gesehen stand der Weg zu den Sternen zwar seit über zwei Jahrhunderten jedermann offen, aber in der Praxis konnten sich nur wenige Menschen den Flug mit den modernen Starlinern leisten. Wer auswanderte, flog mit einem der großen, wenig luxuriösen Kolonistenschiffe. Die Starliner blieben Managern, Regierungsangestellten und millionenschweren Privatreisenden vorbehalten. Obwohl Rhinehart gewiß nicht schlecht verdiente, hätte er für die Strecke Terra – New Star bestimmt ein oder zwei Jahresgehälter bezahlen müssen. Und für den durchschnittlichen Bürger durfte man getrost zehn Jahresgehälter veranschlagen.
Rhinehart stellte sich hinter einem blondhaarigen Hünen an. Ein Blick auf seinen Chrono zeigte ihm, daß er noch genug Zeit hatte.
Der blonde Hüne nahm gerade die ID-Marke aus dem Ausgabefach des Schalters. Auf dem Schalterbildschirm leuchtete eine kurze Zahlenkombination auf: 7-1-2-6. Unter den Zahlen erschien das Symbol für >Ihr Gepäck ist bereits an Bord<.
Als der Blondhaarige sich abwandte, um Rhinehart Platz zu machen, stutzte der Außenagent einen Moment lang.
Woher kannte er dieses Gesicht?
Rhinehart war sich sicher, diesem Mann noch nie persönlich begegnet zu sein. Wahrscheinlich hatte er also irgendwann einmal ein holografisches oder zweidimensionales Bild des Hünen gesehen.
Der Fremde, der Rhinehart so bekannt vorkam, schwang sich auf einen der kleinen Antigravwagen. Er schien mit der Bedienung dieser Transportfahrzeuge wohlvertraut zu sein. Ohne hinzuschauen, tippte er die vier Zahlen in die Tastatur auf der Konsole vor dem Sitz. Summend schwebte der Antigravwagen davon.
Während Rhinehart über die Identität des blonden Hünen nachgrübelte, steckte er seine Marke in den Schalter.
Die Überprüfung dauerte nur wenige Sekunden. Dann erschien die Zahlenkombination auf der Mattscheibe.
7-1-2-6. Dazu das vertraute >Ihr Gepäck ist bereits an Bord<-Symbol, das sich nur auf die Speicherkristalle mit dem Kolonisationsantrag der New Star-Regierung beziehen konnte.
Es dauerte einen Moment, bis Rhinehart begriff, daß er und der Fremde auf dem gleichen Starliner fliegen würden. Ob das Ziel des blonden Mannes wohl auch New Star hieß?
Die Wahrscheinlichkeit dafür, befand Rhinehart, war recht gering. Vermutlich flog der Starliner nicht weniger als ein oder zwei Dutzend Planeten an, bevor er wieder Kurs auf Terra nahm.
Ein weiterer AG-Wagen glitt heran. Rhinehart stieg ein, stellte seine Reisetasche neben sich auf den Sitz und programmierte die Ziffernfolge ein, die natürlich die Codenummer des Landefeldes war, von dem aus die Zubringerfähre startete.
Durch das dünne Material seiner Reisetasche hindurch spürte Rhinehart die harte Kante seines Schachcomputers.
In diesem Moment fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Natürlich! Er hatte das Bild des blonden Hünen in einer jener elektronischen Schachzeitschriften gesehen, die er regelmäßig studierte.
Der Blonde war niemand anders als Ulf Bostroem, seines Zeichens Schachgroßmeister und mehrfacher Sieger in bedeutenden Turnieren.
Rhinehart glaubte sich daran zu erinnern, daß Bostroem derzeit auf Platz zwei der Herausforderer-Rangliste des amtierenden terranischen Meisters stand. In wenigen Monaten würde er womöglich die Chance erhalten, um den Titel zu kämpfen.
Wahrscheinlich fliegt er zu einem Turnier auf einer der Kolonialwelten, überlegte Rhinehart.
Der Beruf eines Außenagenten des IK hatte Rhinehart nie Zeit gelassen, sich an Turnieren zu beteiligen. Insgeheim bedauerte Rhinehart das zutiefst. Schach war seine große Leidenschaft, und es war schon mehr als ärgerlich, daß er während seiner Missionen fast nie auf Spieler traf, die ihm ebenbürtig oder sogar überlegen waren. Manchmal spielte er gegen Wissenschaftler der Erkundungstrupps, aber diese Spiele konnten ihn selten befriedigen – er gewann sie mühelos, sozusagen mit links. Darum kämpfte er jetzt fast nur noch gegen den Schachcomputer, den er immer mit sich führte.
Aber auf diesem Flug war Bostroem an Bord, einer der wirklichen Könner. Und vielleicht – vielleicht! – hielt er es nicht für unter seiner Würde, gegen einen ihm gänzlich unbekannten Gegner anzutreten...
2.
Auf den Bildschirmen in seiner Kabine beobachtete Rhinehart den Start der Fähre.
Er war jedesmal aufs neue davon fasziniert, wie rasch der Erdboden unter dem Heck der Fähre zurückblieb. Die Außenkameras lieferten gestochen scharfe Bilder – dreidimensional und in Farbe. Der Blick aus der Vogelperspektive über das weite Areal des Raumhafens war überwältigend.
Im Osten kam jetzt der Jenissei ins Blickfeld. Jenseits des Flusses erkannte Rhinehart auch die Türme von Norilsk. Die Schutzfelder, die den Lärm und die Druckwellen der startenden Schiffe zurückhielten, waren für das menschliche Auge unsichtbar und behinderten darum den Ausblick nicht. Mittlerweile war auch die Sonne aufgegangen, ein mattroter Ball, in den man mit bloßem Auge hineinschauen konnte. Vereinzelte Wolken zogen vor dieser roten Apfelsine vorbei. Auf einem der anderen Bildschirme war die bleiche Sichel des Mondes zu erkennen. Während Rhinehart den Anblick genoß, zogen auch hier Wolken auf.
Es begann zu schneien.
Die Fähre drang mit stetig wachsender Geschwindigkeit in die Wolkendecke ein. Ohne die energetischen Schutzschirme hätte sich spätestens jetzt ein dicker Eispanzer auf der metallisch glänzenden Hülle des Zubringerschiffs gebildet. Die Wolkenschicht war der Vorbote eines ausgewachsenen Blizzards.
Dann lagen auch die Wolken unter der Fähre. Durch die letzten Ausläufer der irdischen Atmosphäre stieß das Schiff in das Nichts des Weltalls vor. Die Sonne war nun nicht länger ein mattroter, leicht abgeplatteter Ball, sondern wurde zu einem schmerzhaft grellen Lichtklumpen. Automatisch schoben sich Filter vor die Optiken der Außenbordkameras.
Rhinehart riß seinen Blick von diesem Bild los und holte den ersten Speicherkristall aus dem Transportkubus, den er in seiner Kabine vorgefunden hatte. Bis zum Erreichen des Starliners würde noch einige Zeit vergehen. Das Interstellarschiff befand sich nicht in einem Orbit um Terra, sondern bewegte sich weit draußen im All auf Warteposition.
Sergej Polestschuk hatte den Speicherkristall, der im obersten Fach des Kubus lag, mit einem Sicherheitskode versehen. Offenbar gehörte dieser Kristall nicht zu jenen, die die Regierung von New Star dem IK hatte zukommen lassen. Er schien eine persönliche Botschaft von Polestschuk zu enthalten.
Mit seiner Identifikationsmarke löste Rhinehart
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Karl-Ulrich-Burgdorf/Apex-Verlag. Copyright der Vorbemerkung by Rainer Schorm.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 17.12.2018
ISBN: 978-3-7438-9101-2
Alle Rechte vorbehalten