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Leseprobe

 

 

 

 

LOUIS L'AMOUR

 

 

Das Gesetz der Wüste

 

Erzählungen

 

 

 

Apex Western, Band 17

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DAS GESETZ DER WÜSTE (Law Of The Desert Born) 

DIE VIEHDIEBE (Riding On) 

DER REVOLVERMANN (The Black Rock Coffin Makers) 

TOD IN DER WÜSTE (Desert Death Song) 

ÜBERFALL AUF DEM TONTO RIM (Ride, You Tonto Raiders!) 

EINE KERBE IM COLT (One Last Gun Notch) 

DAS FALSCHE BRANDZEICHEN (Death Song Of The Sombrero) 

WENN REVOLVER SPRECHEN (The Guns Talk Loud) 

DER EINSAME REITER (Grub Line Rider) 

DER MARSHAL VON PAINTED ROCK (The Marshal Of Painted Rock) 

TÖDLICHE SCHATTEN (The Hills Of Homicide) 

UNBEDACHTER AUGENBLICK (Unguarded Moment) 

MORGANS ERSTER FALL (Dead Man's Trail) 

MORGAN HILFT EINEM FREUND (With Death In His Corner) 

 

DAS GESETZ DER WÜSTE - Bibliografische Notiz von Dr. Karl Jürgen Roth 

 

Das Buch

Die Sammlung Das Gesetz der Wüste von Louis L'Amour ist ein literarischer Hybrid: Neben zehn herausragenden Western-Storys – jenes Genre also, für das der Autor bekannt und berühmt ist – enthält das Buch vier Krimi- und Action-Erzählungen, geschrieben im harten Stil der amerikanischen Schule: Erzählungen, die Louis L'Amour ganz und gar auf Augenhöhe mit Dashiell Hammett, Raymond Chandler und Cornell Woolrich zeigen.

 

Der Apex-Verlag veröffentlicht Das Gesetz der Wüste in seiner Reihe APEX WESTERN, ergänzt um ein Essay von Dr. Karl Jürgen Roth. 

  DAS GESETZ DER WÜSTE (Law Of The Desert Born)

 

 

 

Shad Marone kroch fluchend aus dem Wasser und glitt ins Mesquitegestrüpp. Plötzlich und zum ersten Mal, seit die Verfolgungsjagd begonnen hatte, wurde er wütend. Er war durch und durch wütend.

»Zum Teufel damit!«

Er kam auf die Beine, und seine Augen funkelten.

»Jetzt bin ich aber weit genug gerannt!«, knirschte er. »Wenn sie den Black River überqueren, haben sie sich die Folgen selbst zuzuschreiben!«

Seit drei Tagen war er auf der Flucht und benutzte jede Strategie, die den Männern der Wüste bekannt war. Aber sie hatten sich wie Blutegel an seine Fersen geheftet. Das kam davon, wenn man den Bruder eines Sheriffs getötet hatte, und die Tatsache, dass es Notwehr gewesen war, half da kein bisschen. Und schon gar nicht, wenn der Killer Shad Marone war.

Das konnte man wohl auch kaum anders erwarten, wenn man der letzte Mann auf der Verliererseite in einem Weidekrieg war. Alle seine Freunde bis auf Madge waren tot.

Die besten Leute von Puerto de Luna waren bei dieser Auseinandersetzung nicht gerade die härtesten und zähesten gewesen - und sie hatten verloren.

Und Shad Marone, der immerhin einer der rauesten Männer gewesen war, hatte zusammen mit ihnen verloren. Seine Waffen hatten nicht ausgereicht, um denen der anderen Seite überlegen zu sein.

Natürlich gestand er sich ehrlicherweise ein, dass die Männer auf seiner Seite nicht gerade Engel gewesen waren. Er selbst hatte ab und zu ein paar Kälber gebrandmarkt, und wenn Bargeld knapp gewesen war, hatte er oft auch ein paar Stiere über die Grenze getrieben. Aber hatten das nicht alle getan?

Truman und Dykes waren gute Männer gewesen, aber Dykes war schon am Anfang getötet worden, und Truman hatte gekämpft wie ein Gentleman, aber auf diese Weise konnte man im Black River Country keinen Kampf gewinnen.

Seitdem hatte es für Shad Marone nur noch sehr wenige friedliche Tage gegeben.

Nachdem man Clyde Bowman zum Sheriff gewählt hatte, war sich Shad Marone im Klaren gewesen, dass man auch ihn noch erledigen wollte.

Bowman hasste ihn, und er war einer der Schlimmsten im Weidekrieg gewesen.

Das Dumme war eben nur, dass Shad Marone ein Gunfighter war, und das wussten alle.

Bowman war schnell mit einem Schießeisen und konnte sich bei einem Kampf auch recht gut behaupten und durchsetzen. Er war auch klug genug gewesen, Shad Marone strikt in Ruhe zu lassen. Also wartete man einfach, beobachtete und plante.

Dass man Shad Marone nicht leiden konnte, hatte er als Lauf der Dinge hingenommen. Es brauchte raue Männer, um ein raues Land zu besiedeln, und wenn man erst mal zu schießen anfing, wurde eben jemand verletzt. Nun, Shad Marone dachte gar nicht daran, zu denen zu gehören, die verletzt wurden. Für seinen Geschmack war schon viel zu viel geschossen worden.

Er wollte Puerto de Luna verlassen, aber Madge lebte immer noch auf dem alten Anwesen. Er wollte sie nicht allein hier zurücklassen. Also war auch er geblieben, obwohl er gewusst hatte, dass es nicht von langer Dauer sein konnte.

Dann war Jud Bowman in die Stadt geritten.

Shad war sehr nachdenklich geworden, als er dies gehört hatte.

Jud war dafür berüchtigt, streitlustig zu sein. Wie man sagte, sollte er bereits zwölf Kerben in seinem Revolverkolben haben.

Shad hatte das Gefühl, dass Jud keineswegs rein zufällig in die Stadt gekommen war.

Jud war erst zwei Tage in der Stadt, als der Klatsch bereits zu blühen begann. Sehr schnell verbreitete sich die Geschichte, dass Jud im Gegensatz zu Clyde und Lopez keine Angst davor habe, Marone aus der Stadt zu jagen.

Das hätte Jud Bowman auch gelingen können, wenn Tips nicht gewesen wäre.

Tips Hogan bediente schon sehr lange hinter der Bar von Puerto de Luna. Er war als Wagenboss für Shads Old Man über den Trail gekommen. Mit Ausnahme von Shad und Tips selbst hatte das inzwischen jedermann vergessen.

Tips sah die Waffe in Bowmans Schoß und warnte Marone. Es war nur ein einziges Wort. Tips bewegte dabei nicht einmal die Lippen, während er mit einem Lappen den Tresen abwischte.

Nach einem Moment drehte sich Shad um. Er hielt sein Glas in der linken Hand und sah, wie Bowman dasaß, so dass die Tischplatte die Waffe im Schoß verbarg. Doch selbst dann, als Shad gewusst hatte, dass man ihn töten wollte, hatte er noch keinen Ärger haben wollen. Er beschloss, das Lokal zu verlassen, solange er dazu noch Gelegenheit hatte.

Doch dann sah er Slade neben der Tür und Henderson auf der anderen Seite des Raumes.

Shad Marone saß in der Klemme.

Diesmal wollte man offenbar keinerlei Risiko eingehen.

Tips Hogan wusste, was wahrscheinlich passieren würde, und deshalb arbeitete er sich möglichst unauffällig an der Theke entlang.

Marone nahm die Sache leicht. Er wusste, was kommen würde, und es war für ihn keine neue Sache. Das war - so dachte er - sein größter Vorteil. Er hatte schon mehr Kämpfe hinter sich als einer der drei anderen. Zwar wollte er keinen Ärger, aber wenn er mit heiler Haut aus dieser Sache herauskommen wollte, dann nur direkt hinter einem Sechsschüsser. Die Hintertür war versperrt, und das Fenster war geschlossen.

Jud Bowman blickte plötzlich auf. Er hatte einen dichten, blonden, derben Haarschopf, und die Augen unter den buschigen Brauen glitzerten.

»Was habe ich da gehört, Marone?«, sagte er. »Sie haben gedroht, mich zu töten?«

Das also war ihr Vorwand!

Shad hatte Jud Bowman überhaupt nicht gedroht; er kannte ihn ja kaum. Aber so wollte man ihn ins Unrecht setzen, um dann auf Notwehr plädieren zu können.

Shad ließ den Blick zu Bowman wandern und sah, wie gespannt und verkrampft das Gesicht des Mannes war. Widerspruch würde garantiert zu einer Schießerei führen. Juds Fingerspitzen lagen an der Tischkante. Er brauchte also nur eine Hand sinken zu lassen und zu feuern.

»Häh...?«, sagte Shad stupide, als wäre er soeben aus einem Tagtraum aufgeschreckt. Er machte einen Schritt auf den Tisch zu, und sein Gesicht zeigte einen verwunderten Ausdruck. »Was haben Sie da eben gesagt? Ich hab's nicht richtig mitbekommen.«

Sie hatten alles sehr sorgfältig geplant. Marone würde abstreiten; Bowman würde behaupten, dass Marone ihn einen Lügner genannt hatte. Dann würde es zu einer Schießerei mit tödlichem Ausgang kommen. Alle drei waren aufs äußerste angespannt und darauf vorbereitet, blitzschnell den Revolver zu ziehen.

»Häh...?«, wiederholte Shad perplex.

Das brachte die drei aus dem Konzept. Schließlich konnte man ja nicht kaltblütig einen Mann erschießen. Man konnte nicht auf einen Mann schießen, der einen verschlafenen Eindruck machte. Die meisten Männer im Saloon waren zwar gegen Marone, aber einen Mord würde man nicht hinnehmen.

Die drei waren handlungsbereit, aber nichts geschah.

Shad blinzelte sie wie benommen an.

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich muss wohl geträumt haben. Ich hab' Sie nicht gehört.«

Bowman schaute sich unsicher um und befeuchtete mit der Zunge die Lippen.

»Was ich gesagt habe? Ich hab' gehört, dass Sie gedroht haben, mich zu töten!«, wiederholte er. Es hörte sich sehr lahm an, und das wusste er auch. Aber Shads Reaktion war zu unerwartet gekommen. Doch was dann geschah, war noch unerwarteter.

Marones linke Hand zuckte nach vorn, und bevor sich jemand auch nur bewegen konnte, wurde der Tisch vor Bowman weggefegt. Jetzt sah jedermann die nackte Waffe in Bowmans Schoß liegen.

Jedermann im Saloon wusste, dass Jud Bowman trotz seines Rufes Angst gehabt hatte, es ehrlich und offen mit Shad Marone auszuschießen. Was er vorgehabt hatte, wäre glatter Mord gewesen.

Bowman wurde total überrascht und blinzelte dumm. Doch dann kehrte seine Geistesgegenwart zurück. Das Blut schoss ihm jäh ins Gesicht. Er packte seine Waffe.

»Also, du - du...«

Danach schoss Marone auf ihn. Er jagte ihm eine Kugel in den Bauch. Bevor die beiden anderen reagieren konnten, wirbelte er herum, aber nicht in Richtung Tür, sondern zum geschlossenen Fenster. Mit einer Schulter zertrümmerte er das Fenster und segelte hindurch ins Freie. Draußen landete er auf beiden Händen, kam aber sofort hoch und rannte los. Dann saß er auch schon im Sattel und war unterwegs.

Im Saloon waren Männer, die die Wahrheit gesagt hätten; mindestens zwei, wenngleich beide nicht allzu viel von Marone hielten. Aber Marone wusste, dass er niemals bis vor Gericht gekommen wäre. Dafür hätte Clyde Bowman als Sheriff schon gesorgt. Marone wäre mit dem Hinweis, sich einer Verhaftung widersetzt zu haben, getötet worden.

Drei Tage lang war er auf der Flucht. Während dieser Zeit waren seine Verfolger nie mehr als eine Stunde hinter ihm. Bei Forked Tree waren sie sehr nahe herangekommen. Marone konnte zwar entkommen, aber man hatte sein Pferd angeschossen. Der Rotschimmel blieb auf den Beinen und gab alles, was er hatte, wie es Pferde stets für Marone getan hatten. Doch am Flussufer war es dann gestorben, nachdem es bis zum letzten Atemzug gekämpft hatte.

Marone nahm sich nur noch die Zeit, Sattel und Zaumzeug zu verstecken, dann setzte er seinen Fluchtweg zu Fuß fort. Er schaffte es bis zum Fluss, und seine Verfolger hofften, dass ihn der Fluss stoppen würde, denn Marone konnte nicht schwimmen. Aber er fand einen im Wasser treibenden Baumstamm, setzte sich darauf, hielt seine Waffen hoch und stieß ab. Er benutzte die Strömung und half mit kräftigem Beinstrampeln nach. So gelangte er ans gegenüberliegende Ufer, und zwar ein gutes Stück stromabwärts.

Was ihn am meisten beunruhigte, war die Art, wie man sich an seine Fersen geheftet hatte. Bowman war eigentlich nicht der Mann, der einem so schwachen Trail folgte, wie Marone ihn zurückließ. Doch der Mann folgte ihm beharrlich wie ein Apache.

Apache!

Warum hatte er daran noch nicht gedacht? Lopez würde diesem Trail folgen, nicht Bowman. Bowman war eine Bulldogge, aber Lopez war listig wie ein Fuchs und blutdürstig wie ein Wiesel!

Shad kam auf die Beine und schüttelte wie ein Hund das Wasser von sich ab. Er war ein großer, derbknochiger, sonnengebräunter Mann. Sein Hemd war halb zerfetzt und weggerissen. Ein Patronengurt war über eine Schulter und über die Brust geschlungen. Der Sechsschüsser befand sich an der Hüfte. Das Gewehr hielt er in der Hand.

Er schüttete das Wasser aus den Stiefeln. Nun, jetzt war Schluss mit der Herumspielerei! Wenn man einen Trail haben wollte, dann würde er dafür sorgen, dass sie auch einen bekamen.

Lopez bereitete ihm die größten Sorgen. Alle anderen könnte Shad abschütteln, aber Lopez war einer der Männer, die dieses Land aufgebaut hatten. Er war hässlich, tötete gern und oft und war absolut erbarmungslos, aber er hatte Nerv. Das musste man ihm lassen. Der Mann war nicht ehrlich und anständig. Er tötete auch viel zu schnell. Aber Männer wie er waren notwendig gewesen, um dieses wilde, einsame Land zu zähmen. Es war ein Land, das sich nicht so leicht zähmen ließ.

Nun, jetzt würde es nur noch ein Ende für sie alle geben, nämlich den Tod. Sogar für Lopez. Das hatte sich Shad Marone bisher aufgespart.

Grimmig wandte er sich dem steilen, wenig benutzten Pfad zu, der vom Fluss aus nach oben führte.

Sie hatten gedacht, ihn am Fluss gestellt zu haben, und nun würden sie glauben, ihn bei den Lavabetten erneut zu haben.

In den Lavabetten gab es weder Wasser noch Bäume. Es war eine verlassene, trostlose Gegend. Man glaubte allgemein, dass dort keinerlei Leben existierte. Es gab nur Sand, zackige Felsen, die wie Flammen geformt waren - grotesk, unwegsam, schrecklich. Diese Gegend war mehr als siebzig Meilen lang und nie weniger als dreißig Meilen breit. Das Gelände war derartig rau, dass ein Paar Schuhe nicht einmal fünf Meilen aushielten. Für Pferde war ein Überqueren so gut wie unmöglich.

Am Rande der Lava setzte sich Marone hin und zog seine Stiefel aus. Er band sie an den Schlaufen zusammen und hängte sie an seinen Gurt. Dann holte er ein Paar Mokassins hervor, die er ständig bei sich trug, und streifte sie über die Füße. Die Mokassins waren leicht und nachgiebig. Sie würden sich dem rauen Gestein gut anpassen und auf diesem Terrain viel länger halten als Stiefel. Dann stand er auf und ging in die Lava hinein.

Die nackte Lava strahlte die enorme Hitze zurück, die Marone nun wie ein Gluthauch ins Gesicht wehte. Schweiß begann an seinen Wangen hinabzulaufen.

Er kannte die Wüste und wusste, wie man in großer Hitze leben konnte. Deshalb versuchte er erst gar nicht, sich irgendwie zu beeilen. Das wäre verhängnisvoll gewesen. Weit vor ihm ragte ein Felsmassiv wie ein Kirchturm empor. Marone schlug diese Richtung ein und behielt eine gleichmäßige Gangart bei. Er unternahm keinerlei Versuch, seinen Trail zu vertuschen, um seine Verfolger abzuschütteln. Er wusste, wohin er ging.

Eine Stunde verstrich, dann noch eine. Marone kam nur langsam voran. Er hatte den turmartigen Felsen erreicht und hinter sich gelassen. Einmal sah er eine Spur einer winzigen Kreatur, vielleicht einer Krötenechse.

Als er einmal einen Steilhang erklommen hatte, hielt er an und schaute zurück.

Die Verfolger kamen immer noch; sie hatten noch nicht aufgegeben.

Lopez. Natürlich. Er würde niemals aufgeben.

Da lächelte Shad, aber seine Augen verrieten dabei keinen Humor.

Okay! Sie waren so scharf darauf, ihn zu töten, dass sie nicht einmal vor den Lavabetten zurückschreckten. Sie würden auf die harte Tour lernen müssen, ohne allerdings jemals von dieser Lektion profitieren zu können.

Shad Marone arbeitete sich ständig weiter nach Norden vor und benutzte sorgfältig jeden sich bietenden Schatten. Davon gab es wenig genug, allenfalls einmal hinter einem Felsen. Aber Shad hielt jedes Mal an, um sich ein bisschen abzukühlen. Bisher hatte er noch keinen Schluck getrunken.

Nach der dritten Stunde befeuchtete er die Lippen und spülte sich den Mund aus. Danach nahm er zweimal nur einen Löffel Wasser und spülte sich jedes Mal den Mund gründlich aus, bevor er schluckte.

Gelegentlich hielt er an und schaute sich um, um sich zu orientieren. Wenn er dabei an Bowman dachte, lächelte er grimmig. Der Sheriff war ein schwerer, untersetzter Mann. Davis würde bei ihm sein. Lopez war schlank und drahtig. Er würde durchhalten und nicht so leicht umzubringen sein.

Als Shad zum letztenmal gezählt hatte, waren noch acht Männer übriggeblieben. Vier hatten bei den Lavabetten kehrtgemacht. Das war ein kleiner Vorteil für Shad Marone.

Gegen drei Uhr nachmittags hielt er schließlich an. Es war ein schöner, schattiger Platz, und bald würde es hier noch kühler und angenehmer werden. Das Gelände war flach. In einer Ecke gab es so etwas wie eine Nische. Hier grub Shad mit beiden Händen, bis er auf feuchtes Erdreich stieß. Dann legte er sich auf den Sand zurück, um zu schlafen.

Er machte sich keine Sorgen. Seit vielen Jahren war er stets zur gewünschten Zeit aufgewacht. Seine Sinne waren geschärft und warnten ihn rechtzeitig vor Gefahr.

Er hatte mindestens eine Stunde Vorsprung vor seinen Verfolgern. Diese Ruhepause würde er dringend brauchen. Was ihm noch bevorstand, würde ihm alles abverlangen, was er hatte. Das wusste er.

Seine Verfolger würden durch ihre wundgelaufenen Füße jetzt grausam bestraft werden. Drei von ihnen hatten immer noch ihre Pferde bei sich und führten sie am Zügel.

Er ruhte sich eine volle Stunde aus und stand dann wieder auf. Er hatte die Zeit sehr knapp bemessen. Durch eine Lücke in den Felsen konnte er die Verfolger sehen, keine dreihundert Meter entfernt.

Wie er es ganz richtig vermutet hatte, war Lopez an der Spitze.

Wie leicht wäre es doch jetzt für Shad Marone gewesen, einen nach dem anderen mit einem wohlgezielten Schuss zur Strecke zu bringen!

Aber nein, er wollte und würde nicht wieder töten. Sollten sich seine Verfolger doch von ihrem Drang, ihn zu töten, umbringen lassen.

In einer Entfernung von hundert Metern hatte er zwei Haufen Felsbrocken zwischen sich und seinen Verfolgern aufgeschichtet. Dann ging er ein Stück weiter und hielt an.

Vor ihm befand sich eine steile Geröllhalde dicht am Rande einer großen Mulde.

Von seinem Standort aus konnte er in weiter Ferne einen purpurnen Dunst über den Bergen sehen. Dazwischen gab es weiter nichts als eine immense, weiße Fläche und darüber in der Hitze flirrende Luft.

Er glitt die Halde hinab und richtete sich unten auf. Er wusste, dass er sich jetzt zwanzig Meter unter dem Meeresspiegel befand. Als er weiterging, stiebte bei jedem Schritt eine kleine, trockene, pulvrige Staubwolke auf. Dieser feine Staub verklebte die Nasenlöcher und die Wimpern. Die Kleidung wurde von weißlichem Alkalistaub überzogen. Weit hinter der Mulde mit der Bezeichnung Sink befand sich Window in the Rock, vom Bergkamm hinter Marone kaum zu erkennen. Er ging in gleichmäßiger Gangart darauf zu. Wenn man geradeaus ging, betrug die Entfernung etwa zehn Meilen.

»Bisher hat dieser Navajo recht behalten«, sagte sich Shad. »Und er hat auch gesagt, dass man's bis zur Dunkelheit schaffen muss, andernfalls...«

Shad Marones Lippen waren trocken und rissig. Nach einer Meile hielt er an und kippte die Wasserflasche so, dass er mit einem Finger ins Wasser langen konnte. Dann befeuchtete er sorgfältig die Lippen und träufelte sich anschließend nur ein, zwei Tropfen in den Mund.

Alle diese Männer kannten sich in der Wüste aus, aber keiner von ihnen - vielleicht mit Ausnahme von Lopez - würde etwas von Sink wissen. Sie würden Wasser brauchen. Sie würden wissen müssen, wo Wasser zu finden war. Bei Tage konnten sie seinem Trail folgen, aber wenn die Dunkelheit hereinbrach?

Und dann, so hatte der Navajo weiter gesagt, würde der Wind zu wehen beginnen.

Shad betrachtete den weißen Pulverstaub unter seinen Füßen. Nur allzu lebhaft konnte er sich vorstellen, welch grauenvolle, erstickende Wolke der Wind dann aufwirbeln würde. Das könnte kein Mann überleben!

Hitzewellen zeichneten bizarre, groteske Muster an den Horizont. Gluthitze stieg aus dem weißen Staub unter Marones Füßen auf und peitschte sein Gesicht. Dieser Staub war meistens fast knöcheltief, mitunter sogar beinahe knietief.

Weit entfernt waren die Berge wie eine purpurne Linie zu sehen, die vage in der Nachmittagssonne zu zittern schien.

Marone ging weiter auf Window zu; er ließ sich mehr vom Instinkt als von Blicken leiten.

Staub quoll in einer dichten, erstickenden Wolke auf, ausgelöst von den Schritten des Mannes. Er stolperte, bekam die Füße wieder unter Kontrolle und ging weiter. Das Gehen in diesem tiefen, weichen Staub war wie ein mühsames Dahinschleppen durch zähen Schlamm. Bei jedem Schritt schien der Staub die Füße einzusaugen. Marone kam nur langsam voran.

Seine Kehle brannte vor Durst, und der Mund schien wie mit Watte gefüllt. Die Zunge war stark angeschwollen, die Lippen waren aufgeplatzt und ebenfalls dick geschwollen. Er schien überhaupt nicht mehr schlucken zu können.

Er konnte nicht drei Meilen in einer Stunde schaffen. Die Dunkelheit würde hereinbrechen, bevor er die andere Seite erreichen würde. Aber er würde nahe genug herankommen. Glücklicherweise blieb der Himmel zu dieser Jahreszeit sehr lange hell.

Nach langer Zeit blieb er stehen und schaute zurück.

Ja, sie kamen immer noch. Aber es gab nicht nur eine einzige, zusammenhängende Staubwolke. Es gab mehrere.

Aus rotgeränderten und gegen die Sonne blinzelnden Augen beobachtete Shad Marone seine Verfolger.

Die Männer bewegten sich weit auseinandergezogen. Jeder Mann, der zurückblieb, würde sterben. Das wusste Marone. Nun, sie hatten es sich selbst zuzuschreiben!

Staub bedeckte Marones Kleidung. Nur seine Waffen hielt er sauber. Jede halbe Stunde blieb er stehen und wischte die Waffen so gut wie möglich ab. Zweimal zog er eine verknotete Schnur durch den Lauf.

Schließlich verbrauchte er den letzten Rest seines Wassers. Alle halbe Stunden hatte er seine Lippen befeuchtet. Er warf die leere Wasserflasche jedoch nicht weg, sondern nahm sie weiter mit. Er würde sie später noch brauchen - später, wenn er zum Nest gelangte.

Seine Füße waren bleischwer, und die Beine schienen einem Automaten zu gehören.

Shad Marone hielt den Kopf gesenkt und trottete stur weiter. Trotz seiner Müdigkeit schaffte er zwei Meilen in einer Stunde.

 

Es gibt Zeiten, da scheint die menschliche Natur nicht mehr imstande zu sein, etwas auszuhalten. Es gibt eine Zeit, da scheint die Kraft bis zum letzten Jota weggebrannt zu sein.

Dies war jetzt schon der vierte Tag der erbarmungslosen Verfolgungsjagd. Vier Tage ohne warme Mahlzeit. Vier Tage lang war man geritten, gegangen und gerannt.

Und nun dies. Shad Marone brauchte nur anzuhalten. Dann würde man ihn einholen, und alles wäre vorbei.

Ihm kam auch der Gedanke, wie leicht es sein würde, jetzt einfach aufzugeben. Er zog diesen Gedanken in Betracht. Aber er dachte nicht daran, jetzt schon aufzugeben. Er hätte genauso wenig aufgeben können, wie eine Biene aufgeben kann, Honig zu sammeln. Voraus lag Leben, und er musste leben. Jetzt war es nur noch eine Frage des Überlebens. Der Mann mit dem größten Lebensdrang würde als einziger überleben.

Diese Männer hinter ihm würden sterben. Sie würden aus drei Gründen sterben. Erstens wusste nur er allein, wo es Wasser gab, und zum richtigen Zeitpunkt würde er seine Verfolger abschütteln.

Und zweitens hatte er einen Vorsprung. Nach Einbruch der Dunkelheit würden die Verfolger keine Fährte mehr haben, der sie folgen könnten. Falls sie die Nacht überlebten, würde es morgen früh überhaupt keinen Trail mehr geben.

Drittens wehte zu dieser Jahreszeit nachts der Wind. Das war immer so. Jeder Verfolger würde diesen weichen, weißen Staub in Augen und Mund bekommen. Ihre Ohren würden verstopft werden. Falls sie sich hinlegten, würden sie unter der aufgewirbelten Staubwolke begraben werden.

Dann würden sie sterben. Jeder einzelne von ihnen.

Sie hatten sich diese Suppe selbst eingebrockt. Bowman verdiente es, desgleichen Davis und Gardner, vor allem aber

Lopez. Sie waren alle dort hinten. Er hatte sie gesehen. Lopez war ein Killer. Der Vater des Mannes war von spanisch-irischer Abstammung gewesen, seine Mutter eine Apachin.

Wäre Lopez nicht gewesen, hätte Shad Marone die anderen längst abgeschüttelt.

Shad Marone versuchte zu lachen, aber es wurde nur ein heiserer, halberstickter Laut.

Nun, sie waren Lopez bis zu ihrem Tod gefolgt, alle von ihnen. Außer Lopez waren alle schwache Schwestern!

Er schaute noch einmal zurück. Sein Vorsprung hatte sich vergrößert. Die erste Staubwolke war jetzt weiter hinten, und der Abstand zwischen den anderen wurde immer größer. Eigentlich war es eine Schande, dass Lopez ebenfalls sterben musste. Der Mann war zäh und besaß viel Trail-Verstand.

Shad Marone ging weiter. Irgendwie schaffte er es, noch einmal innere Kraftreserven zu mobilisieren. Er beobachtete die Sonne. Solange es hell war, hatten die anderen eine Chance.

Was würde man wohl in Puerto de Luna denken, wenn acht Männer nicht zurückkamen?

Wieder schaute Marone nach der Sonne. Sie stand jetzt schon sehr tief, fast direkt über den purpurnen Bergen, die näher zu sein schienen.

Noch einmal verlängerte Shad Marone seine Schritte.

Der Navajo hatte ihm erzählt, wie der Stamm einmal von Apachen verfolgt worden war; der Indianer hatte den gesamten Kriegstrupp der Apachen zur Sink geführt. Dort waren sie von der Dunkelheit überrascht worden. Man hatte keinen von ihnen jemals wiedergesehen. So jedenfalls hatte die Story des Indianers gelautet.

Shad geriet ins Stolpern und fiel hin. Sofort wurde er von einer dichten Staubwolke eingehüllt und bekam kaum noch Luft. Langsam, wie ein angeschlagener Boxer, zog er die Knie an, benutzte sein Gewehr als Stütze und zog sich wieder auf die Beine.

Er ging weiter, angetrieben von irgendeinem blinden, brutalen Verlangen, unbedingt am Leben zu bleiben. Als er erneut hinstürzte, konnte er Gestein unter seinen Händen spüren. Noch einmal rappelte er sich mühsam auf.

Er erklomm den steilen, gewundenen Pfad zum Window in the Rock. Unterhalb der hinteren Ecke vom Window war das Nest. Und im Nest gab es Wasser. So jedenfalls hatte es der Navajo erzählt.

Auf halbem Wege nach oben drehte er sich um und schaute zurück über die Sink. Er konnte die weit entfernten Staubwolken sehen. Insgesamt vier. Eine war größer als die anderen. Wahrscheinlich waren dort zwei Männer zusammen.

»Kommen also immer noch!«, murmelte er grimmig. »Und Lopez führt sie an!«

Lopez! Der Teufel sollte seine rabenschwarze Seele holen!

Aber Mumm hatte der kleine Teufel, das musste man ihm lassen.

Plötzlich wünschte sich Marone, dass Lopez es schaffen würde. Der Mann war wie ein Wolf. Ein Killer-Wolf. Aber er hatte Mumm. Und es waren nicht gerade die ehrenhaften und anständigen Leute gewesen, die aus diesem Land das gemacht hatten, was es heute war.

Wären Killer, Viehdiebe und Banditen nicht gewesen, hätte man den Westen vielleicht nicht so schnell gewonnen. Shad erinnerte sich an einige von ihnen. Wilde, gefährliche Männer, die sich in ein Land gewagt hatten, das niemand sonst zu betreten riskiert hatte. Sie hatten geraubt und getötet, um sich am Leben zu erhalten, aber sie waren dort geblieben.

Das hatte schon eisenharte Männer erfordert: Männer wie Lopez, der ein Bastard vom Santa Fé Trail war. Lopez hatte viele Male Wasser aus einer Büffelfährte getrunken. Nun, das habe ich auch! sagte sich Shad Marone.

Er nahm seinen Sechsschüsser heraus und wischte sorgfältig den Staub ab. Erst dann setzte er seinen Weg fort.

Shad Marone fand das Nest, eine Höhlung zwischen den

Felsen, gut vor dem Wind geschützt. Das Window befand sich jetzt immens und gigantisch oberhalb von Marone.

Shad stolperte und rannte ins Nest. Er ließ das Gewehr fallen und warf sich beim Wasserloch auf den Boden, um zu trinken.

Doch dann starrte er ungläubig.

Leer!

Der Erdboden war trocken. Die Stelle, wo sich Wasser befunden hatte, war hart verdorrt. Jetzt gab es dort nur noch rissiges Erdreich.

Shad Marone konnte es nicht glauben. Das konnte doch nicht sein! Das durfte doch nicht sein!

Marone kam auf die Beine und schaute sich wild um. Seine Augen waren entzündet und rotgerändert. Das Gesicht glühte von der Sonnenhitze, und der schwarze Bart war von einer weißlichen Pulverschicht wie grau gefärbt.

Marone versuchte zu lachen.

Irgendwo da unten würde Lopez sterben - und hier oben würde er selbst - Shad Marone - den Tod finden! Die harten Männer des Westens, diese rauen, zähen Männer! Er verspottete sich selbst. Jetzt würden beide hier sterben. Er an diesem vertrockneten Wasserloch, Lopez da unten im dicken, tiefen Alkalistaub!

Shad Marone schüttelte den Kopf. In sein von der Hitze entflammtes Gehirn kehrte allmählich der gesunde Menschenverstand zurück.

Hier hatte es Wasser gegeben. Der Indianer hatte Recht gehabt. Das zeigte der rissige Erdboden. Aber wo?

Vielleicht eine trockene Jahreszeit? Aber, nein - es war keine trockene Jahreszeit gewesen. Gewiss nicht trockener als in anderen Jahren um diese Zeit.

Shad Marone starrte über die Stelle hinweg, wo der Wassertümpel gewesen war. Felsbrocken, ein paar verkrüppelte Bergkiefern und ein Haufen Steine nach einem offenbar kleinen Bergrutsch.

Marone stolperte hinüber und machte sich am aufgehäuften Geröll zu schaffen. Er riss Steine los und warf sie beiseite.

Da, ganz plötzlich - Wasser quoll aus einigen Ritzen!

Shad Marone packte einen großen Felsbrocken und riss ihn unter Aufbietung aller Kraft los.

Ganz plötzlich schoss ein Wasserstrahl hervor!

Shad Marone bekam noch einen sehr großen Felsbrocken zu fassen, strengte sich aufs äußerste an und riss ihn heraus. Dann strömte das Wasser so plötzlich und heftig heraus, dass Shad davon umgerissen wurde und auf die Knie sank.

Er kroch aus der Bodenvertiefung heraus und plätscherte im Wasser. Dann legte er sich mit dem Gesicht nach unten hin und trank lange und gierig.

Schließlich wälzte er sich herum und lag keuchend ganz still da. Nur sehr vage wurde er sich bewusst, dass der Wind zu wehen begann.

Shad kroch abermals zum Wasser und wusch sich das Gesicht, um Schmutz und Dreck zu entfernen. Sorgfältig wie immer füllte er anschließend seine Flasche mit dem frischen Wasser, das aus der Quelle hervorsprudelte.

Wenn er jetzt doch bloß etwas Kaffee hätte! Aber er hatte seinen gesamten Lebensmittelvorrat in den Satteltaschen zurückgelassen.

Nun, mit Madge wäre fortan alles in Ordnung. Er konnte zu ihr zurückgehen. Nach dieser Sache hier würde man ihn nicht mehr belästigen. Er würde mit Madge fortgehen. Sie würden zu den Blue Mountains in Oregon ziehen. Diese Gegend hatte ihm schon immer sehr gut gefallen.

Der Wind wehte jetzt schon wesentlich kräftiger. Shad konnte deutlich genug Staub riechen.

Dieser Navajo hatte nicht gelogen. Unten im Sink würde die Hölle los sein. Shad aber befand sich jetzt etwa eine Meile entfernt ziemlich weit oberhalb.

Er starrte in die Dunkelheit hinab und überlegte, wie weit Lopez es wohl noch geschafft haben würde. Die anderen zählten gar nicht mehr; sie waren Schwächlinge, die stets nur von der Kraft besserer Männer zehrten. Sollten sie nicht dort unten sterben, würden sie eben irgendwo anders sterben. Der Westen konnte gut und gerne auf sie verzichten und ohne sie auskommen.

Shad Marone kam auf die Beine.

Lopez würde nur höchst ungern sterben wollen. Seine Ranch, die er so sorgfältig in einem der wildesten, rauesten Teile dieses Landes aufgebaut hatte, ging zu gut. Es brauchte schon einen Mann mit viel Mumm, um sich an dieser Stelle niederzulassen und die Sache lohnenswert zu machen.

Shad Marone rieb sich das stoppelige Kinn.

»Jene letzten dreißig Rinder, die ich für ihn gestohlen hatte, brachten den besten Preis, den ich jemals bekommen habe!«, erinnerte er sich nachdenklich. »Zu schade, dass es nicht mehr Männer wie ihn gibt!«

Nun, nach dieser Nacht würde es einen weniger geben. Lopez konnte jetzt dort unten keinerlei Anhaltspunkte mehr finden, die ihn irgendwie leiten könnten. Für einen Mann, der sich in einer dichten, undurchdringlichen Staubwolke befand, gab es keinerlei Landschaftsmerkmale mehr. Allenfalls bloßer Instinkt könnte ihn noch einmal aus dieser lebensbedrohenden Situation befreien.

Die Navajos waren damals sehr clever gewesen, als sie die Apachen in diese Todesfälle geführt hatten. Merkwürdig, dass Lopez' Mutter ebenfalls eine Apachin gewesen war.

Aber Lopez hatte ganz entschieden sehr viel Mumm, sagte sich Shad Marone. Der Mann hatte sich von ganz unten heraufgearbeitet, bis er eine der besten Ranches hatte.

Shad Marone beschäftigte sich damit, dürres Zedernholz zu sammeln. Nach wenigen Minuten hatte er ein kleines Feuer brennen.

Marone trank noch einmal. Irgendwie fühlte er sich ruhelos. Er stand auf und ging zum Rand des Nestes.

Wie weit war Lopez gekommen? Angenommen...

Marone packte seinen Revolver und ging plötzlich den Berg hinab.

»Zum Teufel damit!«, knurrte er vor sich hin.

Ein Stein klapperte.

Marone erstarrte und hielt den Revolver schussbereit in der rechten Faust.

Lopez tauchte wie ein grauer Schatten im vagen Licht von der Klippe auf; auch er hatte eine Waffe in der Hand.

Eine volle Minute lang starrten sich die beiden Männer wortlos an.

Marone sprach zuerst.

»Ist 'ne mörderische Hitze«, sagte er.

Lopez sagte: »Wieso hast du etwas von diesem Wasserloch gewusst?«

»Ein Navajo hat's mir erzählt«, erwiderte Marone. Er beobachtete Lopez wie eine Raubkatze auf der Lauer. »Du siehst noch gar nicht mal so schlimm aus«, fügte er hinzu. »Hast du 'ne volle Wasserflasche?«

»Nein. Ich wäre erledigt gewesen. Aber meine Mutter war eine Apachin. Eine Schar von ihnen wurde mal im Sink erwischt. Das passiert einem Apachen kein zweites Mal. Dann fanden sie diese Wasserstelle hier sowie eine andere weiter unten. Ich schaffte es zu der Wasserstelle da unten. Danach war ich allerdings so gut wie erledigt. Das Wasserloch war ausgetrocknet. Doch dann begann Wasser aus einer Felsspalte zu rieseln.«

»Yeah?« Marone schaute ihn wieder an. »Hast du Kaffee?«

»Klar.«

Shad Marone schob seinen Revolver ins Holster und sagte: »Na, und ich hab' ein Feuer.«

 

 

 

 

 

  DIE VIEHDIEBE (Riding On)

 

 

 

Die Reiter bewegten sich gemeinsam nach vorn.

»Reiß' mal 'n Zündholz an, Reb!«

Nathan Embrees Stimme zitterte vor Triumph.

»Endlich haben wir einen erwischt! Ich hab' ihn fallen hören!«

Reb Farrell glitt aus dem Sattel.

»Ich sehe ihn! Ist direkt da drüben!«

Er riss ein Zündholz an seinen Jeans an; das Flämmchen flackerte auf.

Alle verdrehten sich den Hals und starrten nach vorn.

Der Mann auf dem Boden hatte ein Kugelloch im Kopf, aber sein Gesicht zeigte einen ganz ruhigen Ausdruck. Es war ein Gesicht, das von Jahren gezeichnet war, die nicht gerade freundlich gewesen waren. Das Gesicht eines Mannes, der vom Kampf ums Leben müde geworden war.

Es war das Gesicht von Reb Farrells Vater.

Reb war vor Entsetzen wie benommen, als er auf den Mann hinabstarrte, den er getötet hatte; auf den Mann, der sich solche Mühe gegeben hatte, dem Sohn ein wenig Bildung und Ehrgefühl beizubringen. Dieser Mann hatte so hart gekämpft und verloren. Jetzt war er tot - getötet vom Sohn, den er so geliebt hatte.

»Mein Gott!«, rief Dave Barbot leise. »Doch nicht Jim Farell! Das kann doch nicht sein!«

Nathan Embrees Schock verwandelte sich plötzlich in bittere Wut.

»So war das also? Deshalb konntest du für mich keine Viehdiebe finden, Reb? Vielleicht erklärt das, warum sie immer wussten, wann und wo wir zuschlagen würden! Vielleicht erklärt das, warum sie uns immer um eine Nasenlänge voraus waren!«

Reb Farrell starrte ungläubig auf den Toten. Für Reb war es ein doppelter Schock. Einmal die Anwesenheit seines Vaters, zum anderen das Gefühl, ihn erschossen zu haben. Er hörte gar nicht, was Nathan Embree sagte. Er hörte auch nicht Dave Barbots ungläubigen Ausruf, mit dem er heftig widersprach.

»Das glaubst du doch selbst nicht, Nathan!« Jetzt klang Daves Stimme sehr scharf. »Reb ist härter gegen sie vorgegangen als sonst jemand. Immerhin hat er zwei Herden für dich zurückgeholt.«

»Hmhm...« Nathans Stimme verriet kalte Sicherheit. »Und wieso hat er sie gefunden, während niemand sonst sie gefunden hat, he? Vielleicht, weil er gewusst hat, wo er nach ihnen suchen sollte? Wann haben denn diese Viehdiebstähle begonnen? Nachdem ich Reb zum Vormann gemacht hatte, nicht wahr? Unmittelbar danach!«

Reb Farrell blickte auf.

»Was war das? Was hast du da eben gesagt, Nathan?«

Nathan Embree war ein gerechter Mann, aber er war auch hart und erbarmungslos.

Der Mond war hinter einer Wolke hervorgekommen, so dass Embree das Gesicht seines jungen Vormannes sehen konnte.

»Du bist gefeuert, Reb! Gefeuert! Pack deine Sachen und verschwinde von der Ranch! Ich kann dir zwar nichts beweisen, aber wenn du nach vierundzwanzig Stunden immer noch in dieser Gegend bist, werden wir dich jagen und aufknüpfen!«

Reb war eine volle Minute lang vor Staunen sprachlos. Erst als die Reiter sich anschickten, ihre Pferde zu wenden und fortzureiten, fand der junge Mann die Stimme wieder.

»Willst du mir Viehdiebstahl vorwerfen, Nathan?«, fragte Reb, und jetzt begannen seine Augen zu funkeln. »Das lasse ich mir von keinem Mann gefallen! Bezeichne mich nicht als Viehdieb, wenn du nicht bereit bist, nach dem Schießeisen zu greifen!«

Embree drehte sich nach ihm um.

»Ja«, sagte er verächtlich, »das würdest du versuchen! Mich zu einer Schießerei herausfordern, damit du mich töten kannst! Oh, wir alle wissen, dass du ein Revolverschwinger bist! Aber nachdem du jetzt durch allzu freien Gebrauch der Schusswaffe deinen eigenen Vater getötet hast, solltest du eigentlich zur Vernunft kommen!«

Reb starrte den Rancher an und konnte nicht glauben, was er eben gehört hatte. Embree selbst hatte ihm doch zugeschrien, zu schießen, als man die Hufschläge gehört hatte. Reb hatte auf die Silhouette eines Mannes im Sattel gefeuert.

Bitternis quoll in Reb Farrell auf.

»Du meinst, ich soll nicht mal 'ne Chance haben, diese Sache näher zu untersuchen? Du verurteilst mich und meinen Vater ohne Gerichtsverhandlung?«

»Gerichtsverhandlung?« Nathan Embree war außer sich vor Wut. »Wir erwischen die Viehdiebe, die eine Herde treiben. Du schießt, und ein Mann stürzt aus dem Sattel - und es ist dein Vater! Was für Beweise braucht man denn sonst noch? Von Rechts wegen solltest du jetzt hängen. Dass es nicht so ist, hast du nur meiner Tochter zu verdanken! Aber verschwinde! Und lass dich nie wieder in der Nähe meiner Ranch blicken, verstanden?«

Der Rancher riss sein Pferd herum und führte die Gruppe fort.

Nur Dave Barbot zögerte noch.

»Tut mir leid, Reb«, sagte Dave leise. »Tut mir wirklich aufrichtig leid.«

Dann stand Reb Farrell allein neben dem Leichnam seines Vaters in der Dunkelheit und lauschte auf die rasch verklingenden Hufschläge.

Wie ein Schlafwandler ging er zu seinem Pferd und holte das Pferd seines Vaters. Er legte den Leichnam über den Sattel und machte sich auf den Heimweg. Er ritt langsam, ließ den Kopf hängen und vermied jeden Gedanken. Für ihn war es das Ende von allem. Vorbei mit dem Job auf der Ranch, die er so liebte. Aus mit Laura. Alles aus und vorbei.

In der alten Hütte, wo er seine Knabenzeit verbracht hatte, war es dunkel und still.

Reb stieg ab, ging hinein und zündete eine Lampe an. Er wartete nicht auf Tageslicht, sondern suchte ein paar lose Bretter zusammen, aus denen er einen primitiven Sarg zusammenzimmerte, den er mit einem alten Poncho auspolsterte. Dann ging er, von Leid gebeugt, zu dem grünen Platz unter den Bäumen. Dort begrub er seinen Vater neben dem Grab der Mutter, die gestorben war, als Reb noch ein Kind gewesen war.

Obwohl Reb seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte, dachte er überhaupt nicht an Essen.

Langsam schaute er sich in der Hütte um, die sein Zuhause gewesen war. Was sollte er von hier mitnehmen? Männer können sterben, aber die Lebenden müssen weiterleben. Deshalb musste Reb an Proviant, Bettzeug, Munition und Waffen denken.

Waffen...

Das gute, schöne 50er Sharps-Gewehr seines Vaters... Die neue 44er Winchester, die sein Vater gehabt hatte...

Die Winchester war weg!

Reb verspürte prickelnde Aufregung. Das Sharps-Gewehr befand sich am gewohnten Platz im Waffenständer, aber die neue Winchester war weg! Und am Sattel seines Vaters hatte es keinen Scabbard gegeben. Reb kannte seinen Vater und wusste, dass dieser bei Nacht niemals ohne Gewehr nach draußen gegangen wäre, und das bedeutete das Sharps-Gewehr. Reb hatte seinem Vater zwar die Winchester geschenkt, aber der Vater hatte diese Waffe im Ständer gelassen und auch weiterhin sein vertrautes altes Büffelgewehr getragen.

Reb war sich bewusst, dass hier etwas nicht stimmte. Er stand stockstill mitten in der Hütte. Plötzlich dachte er an das sorgfältig gehütete Geldversteck seines Vaters. Nur ein paar hundert Dollar, aber dieses Geld war eine Art Versicherung für Alter oder Krankheit gewesen.

Reb ließ sich auf ein Knie nieder und schob das Brett von der Vertiefung im Fußboden.

Das Geld war ebenfalls weg!

Langsam kam Reb wieder auf die Beine. In den Taschen seines Vaters hatte es kein Geld gegeben. Und sein Vater hatte einen Revolver getragen. Das war an sich schon merkwürdig, denn Jim Farrell hatte seit Jahren keine Gurtwaffe getragen.

Aber was konnte das alles bedeuten?

Reb schaute sich abermals aufmerksam in der Hütte um, und dabei fiel sein Blick plötzlich auf die Kaffeekanne auf dem Ofen. Er ging hin und hob den Deckel hoch. In der Kanne gab es Kaffeesatz. Entweder hatte sonst jemand diesen Kaffee gekocht und die Kanne auf dem Ofen gelassen - oder Jim Farrell war von seinem Feuer fortgelockt worden, während er dabei gewesen war, Kaffee zuzubereiten. Jim Farrell hatte sich während der Jahre, die er mit seiner sehr peniblen Frau zusammengelebt hatte, peinliche Ordnung angewöhnt. Er hatte nie eine Kanne auf dem Ofen oder irgendein Gefäß ungespült gelassen.

Während Reb die noch vorhandenen Lebensmittel zusammenpackte, wuchs bei ihm die Überzeugung, dass sein Vater entweder alarmiert worden war und die Hütte verlassen hatte - oder er war gewaltsam aus ihr entfernt worden.

Und warum diese Gurtwaffe? Sein Vater hatte schon seit Jahren ein schwaches rechtes Handgelenk gehabt und deshalb kaum den schweren Colt schwingen können.

Angenommen, nur einmal angenommen, dass er sich den Gurt gar nicht selbst umgeschnallt hatte? Angenommen, dass dies ein anderer getan hatte? Aber wer? Und warum?

Es war bereits Tag, als Reb Farrell die Hütte schließlich verließ. Außer dem Pferd, das er ritt, nahm er zwei Packpferde und vier Sattelpferde mit. Es gab auch noch Rocking-F-Rinder, die ihm gehörten, aber sie würden noch warten müssen.

Reb ritt zu den Bergen oberhalb vom Indian Creek. Eins stand für ihn fest: Er würde die Gegend nicht verlassen, solange er nicht herausbekommen hatte, was sich hier genau abgespielt hatte. Er wusste, dass sein Vater nie etwas Unehrenhaftes getan hatte. Zwar hatte es viele Gelegenheiten gegeben, sich selbst zu einem stattlichen Profit zu verhelfen, ohne dass jemand etwas davon gemerkt hätte, aber Jim Farrell hatte keine einzige Sache genommen, die ihm nicht gehört hatte.

Reb ritt durch den Cañon, der immer schmaler wurde. Er dachte angestrengt über alles nach. Sein Vater hatte keine Feinde gehabt. Er war ein freundlicher Mann gewesen, der mit jedermann gut ausgekommen war. Wenn seine Hütte also ausgeplündert worden war, dann musste es sich um Zufallsdiebe gehandelt haben.

Oder - der Gedanke kam Reb ganz plötzlich - um Feinde von ihm, Reb Farrell?

Aber wer waren seine Feinde? Reb hatte keine Feinde, wenn man einmal von ein paar Faustkämpfen bei Tanzveranstaltungen absah, die aber niemals zu Feindschaft geführt hatten.

Außer... außer den Viehdieben selbst!

Reb hatte zwei gestohlene Rinderherden entdeckt und zurückgeholt. Bei mehreren Gelegenheiten hatte er die Viehdiebe meilenweit verfolgt. Eigentlich war er also der einzige Mann, den sie zu fürchten hatten. Dafür hatten sie einen guten Grund. Angenommen, dass sie sich zu dieser Methode entschlossen hatten, um zurückzuschlagen?

Reb Farrell ritt um South Peak herum in einen engen Cañon. Hinten stieg er in der Nähe eines alten Corrals ab, den er vor Jahren hier errichtet hatte. Er brachte seine Pferde hinein. Dann nahm er dem Pferd, das er geritten hatte, den Sattel ab und legte ihn einem langbeinigen Braunen auf.

Im Corral gab es üppiges, grünes Gras und einen kleinen Wasserlauf, der durch eine Ecke plätscherte.

Es gab keine Hütte, aber einen tiefen Felsüberhang, der genügend Zuflucht und Unterschlupf bot; mehr brauchte Reb Farrell nicht. Vor diesem Unterstand befanden sich mehrere Kiefern. Sie würden verhindern, dass nachts Feuerschein zu sehen war. Bei Tage würden sie den Rauch eines Feuers auflösen.

Reb hatte nicht die Absicht, diese Gegend zu verlassen.

Der Braune war ein schnelles, zähes Pferd mit viel Ausdauer, die Reb schon früher getestet hatte. Er schwang sich in den Sattel und schlug die Richtung zur Stadt ein.

Reb Farrell musste zuallererst mit Laura Embree sprechen.

 

 

In Palo Seco herrschte Ruhe, als Reb Farrell in die Stadt geritten kam. In zwei Saloons und in ein paar vereinzelten Häusern brannte noch Licht. Eins dieser Häuser war Nathan Embrees Stadthaus.

Reb kannte die Dickköpfigkeit seines ehemaligen Arbeitgebers nur allzu gut; deshalb stieg er etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt zwischen den Cottonwoods ab und ging am Lattenzaun entlang, der den Embree-Garten umgab. Er betrat den Hof und warf einen Blick durchs Fenster.

Laura saß allein am Piano.

Reb stieg schnell die Verandastufen hinauf und klopfte leise an die Tür. Er klopfte ein zweites Mal. Dann hörte die Musik auf. Reb hörte Schritte. Die Tür wurde geöffnet.

»Reb!« Laura riss die Augen sehr weit auf und legte eine Hand auf den Mund. »Wenn Vater dich hier findet, wirst du getötet werden!«

»Vielleicht. Aber ich musste dich sehen.« Er blickte ihr forschend ins Gesicht. »Wo stehst du, Laura? Glaubst du, dass ich ein Viehdieb war?«

»Nein.« Die Antwort kam nach kaum merklichem Zögern. »Nein, das glaube ich nicht. Aber dein Vater...«

»Dann glaubst du also, dass er es war? Ein so freundlicher alter Mann wie er? Er hat zeit seines Lebens niemals einen unehrenhaften Cent angenommen!«

»Aber - Reb - du... Du hast geschossen... Und er... Du hast ihn getötet! Er ist mit ihnen geritten!«, protestierte sie.

»Nein«, sagte er ruhig. »Vielleicht wird mir niemand glauben, aber ich weiß, dass er schon tot war, bevor er diese Herde jemals erreichte! Tot - oder nahe daran!«

Laura zog sich ein wenig zurück.

»Tut mir leid, Reb, aber du solltest jetzt lieber wieder gehen.«

»Laura!«, protestierte er. »So hör mich doch wenigstens an!«

Laura machte eine Bewegung, als wollte sie die Tür schließen.

Reb legte rasch eine Hand dagegen.

»Ich sage dir, es ist die Wahrheit! Nachdem ich mich von deinem Vater getrennt hatte, bin ich nach Hause geritten und habe dort festgestellt, dass Vaters neue Winchester weg ist! Jemand hat diese Waffe gestohlen! Ich weiß, dass Dad sie nicht mitgenommen hatte, denn er hat dieses Gewehr niemals benutzt. Sein altes Sharps-Gewehr war ihm lieber. Und jemand hat ihm dann auch noch einen Revolver umgeschnallt... Dad hat seit Jahren keinen Sechsschüsser mehr benutzt, weil sein rechtes Handgelenk viel zu schwach geworden war!«

»Tut mir leid, Reb.« Lauras Gesicht hatte einen starren Ausdruck angenommen. »So geht das nicht. Es nutzt nichts. Es ist schwer zu glauben, dass du ein Rinderdieb warst, aber ich sehe nicht, was ich sonst glauben soll und kann. Wenn du jetzt bitte deinen Fuß aus der Tür nehmen würdest, dann werde ich...«

»Laura?« Das war Nathan Embrees Stimme. »Wer ist denn da? Mit wem sprichst du denn?«

Reb zog seine Hand von der Tür zurück.

»In Ordnung«, sagte er ruhig. »Aber selbst wenn es das letzte sein sollte, was ich jemals tun werde, so werde ich...«

Die Tür wurde ihm vor der Nase zugeschlagen. Er stand da und starrte sie an. Seine ganze Welt um ihn herum schien zusammenzubrechen.

Laura also auch!

Wie benommen wandte er sich ab und ging zu seinem Braunen zurück.

Reb Farell legte eine Hand auf den Sattelknauf und zögerte. Er runzelte heftig die Stirn. Was jetzt? Er musste irgendwo beginnen. Er wusste, dass sein Vater kein Viehdieb gewesen war. Er wusste, dass sein Vater nicht freiwillig da draußen gewesen war. Solange Reb Farrell das wusste, bestand die Chance, es sich selbst zu beweisen.

Mindestens eine, wahrscheinlich sogar mehrere andere Personen kannten ebenfalls die Wahrheit: Die Viehdiebe wussten, dass man ihm jetzt diese Sache angehängt hatte.

Aber wer verübte diese Viehdiebstähle? Höchstwahrscheinlich Lon Melchor drüben bei Tank Mesa. Melchor hatte schon früher Rinder gestohlen, war aber stets zu gerissen gewesen, so dass man ihn nie dabei erwischt hatte.

Aber irgendwie konnte Reb Farrell einfach nicht glauben, dass Lon seinen Vater getötet haben würde. Die beiden Männer hatten zwar in zwei entgegengesetzten Lagern gestanden, waren sich aber immer freundlich gesonnen gewesen.

Doch es war immerhin ein Anhaltspunkt für Reb, wo er mit seinen Nachforschungen beginnen könnte.

Nach einem harten Ritt gelangte er kurz nach Mitternacht zu Lon Melchors Anwesen.

Hier war alles dunkel und still.

Reb schwang sich aus dem Sattel und ging schnell am Hang entlang auf die Hütte zu.

Ihm wurde plötzlich höchst unbehaglich zumute. Er wurde von einer Vorahnung erfasst, die ihm gar nicht gefiel. Deshalb blieb er zögernd stehen und versuchte, sein Gefühl konkret und definitiv zu verstehen.

Dann ging er weiter und blieb an der Ecke des Hauses erneut stehen.

Die Tür stand offen. Das war ungewöhnlich, denn die Nacht war recht kühl.

Reb strengte sein Gehör an, bis er heiseren Atem, aber ansonsten keinen anderen Laut wahrnahm.

Leise sagte er: »Lon...«

Alles blieb still.

Reb betrat die Hütte, stieß die Tür hinter sich zu und lauschte. Wieder rief er leise den Namen des alten Viehdiebes, aber wieder war kein Laut zu vernehmen. Dann riskierte es Reb, ein Zündholz anzureißen.

Lon Melchor lag auf dem Fußboden und war offenbar bewusstlos; sein Hemd war blutbefleckt!

Reb ließ sich auf die Knie nieder und untersuchte schnell den alten Mann. Dann machte er sich schleunigst an die Arbeit. Er machte Feuer und stellte Wasser auf den Ofen. Dann schob er dem alten Mann ein Kissen unter den Kopf. Reb breitete eine Wolldecke auf dem Fußboden aus und wälzte den Alten darauf, um es ihm etwas leichter zu machen.

Als das Wasser heiß war, wusch Reb die Wunde aus. Es handelte sich um einen hässlichen Einschuss hoch an der linken Körperseite. Erst als Reb die Wunde verbunden hatte, dachte er daran, sich einmal gründlich umzusehen.

Lons Waffe lag auf dem Fußboden. Reb hob sie auf und sah, dass der Revolver dreimal abgefeuert worden war. Lons Gewehr war nirgendwo zu sehen und befand sich wahrscheinlich bei seinem Pferd.

Reb schlüpfte aus der Tür und sah sich um, bis er das Pferd fand. Der Sattel war nass von Blut, wo der alte Mann geblutet hatte. Reb nahm den Sattel vom Pferd und ließ es in den Corral. Dort gab es Wasser im Trog. Reb warf den Pferden etwas Heu vor, dann kehrte er in die Hütte zurück.

Lon hatte die Augen geöffnet.

»Reb!«, keuchte er. »Hast du sie gesehen? Diese Viehdiebe, meine ich!«

»Wer waren sie, Lon? Hat man auf dich geschossen?«

»Ja.« Er starrte zum jüngeren Mann empor und machte dabei ein Gesicht, das deutlich genug verriet, wie elend dem alten Mann jetzt zumute war. »Ist auch meine Schuld. Ich wusste doch, dass Joe Banta ein schlechter...«

»Joe - wer?« Reb Farrell beugte sich über den alten Mann. »Hast du eben gesagt - Joe Banta?«

»Ja. Ist hier reingekommen und wollte sich verstecken, vielleicht für drei Wochen. Ich wusste, dass er ein durch und durch schlechter Kerl ist, aber ich ließ ihn trotzdem hierblei- ben. Um genau zu sein, ich hätte ihn sowieso nicht fortjagen können. Dann hat er die Hütte verlassen, aber er kam mit einer Bande Hartgesottener zurück. Brachen zur Herde auf. Als ich protestieren wollte, drehte sich Joe direkt nach mir um und schoss, dann ließ er mich fallen und verließ mich.«

Der Alte machte erschöpft eine kleine Pause.

»Ich kam in den Sattel, wie, das weiß ich selbst nicht.«

Die Stimme des alten Mannes klang sehr schwach.

»Ich wollte zu euch, hab's aber nicht geschafft. Dein Old Man hat mich gefunden. Hat mich wieder in den Sattel gehoben. Aber als ich ihm sagte, was passiert war, hat er sich sofort auf die Suche nach den Viehdieben gemacht, um selbst mit ihnen abzurechnen.«

»Sie haben ihn erwischt, Lon. Sie haben ihn getötet.« Reb erklärte kurz, was sich abgespielt hatte.

Der alte Mann wurde wütend.

»Nathan Embree war schon immer ein dickschädeliger Dummkopf!«, schnaubte er. Dann packte er Rebs Hand. »Nimm dir ein paar Männer, Sohn. Ich weiß, wohin Banta gehen wird. Er wird zum alten Versteck bei Burro Springs gehen. Wenn du dorthin willst, musst du dem Dark Cañon folgen. Reite zwischen all den Felsbrocken direkt den Cañon hinauf. Banta wird die Rinder dort haben, wo er sie leicht über die Grenze schaffen kann. In den Mining Camps kann er die Herde leicht verkaufen.«

Reb zögerte, aber der alte Mann winkte ihm ungeduldig zu.

»Denk jetzt nicht an mich! Ich werde schon zurechtkommen.«

Reb machte kehrt und rannte zur Tür. Es war keine Zeit, um Hilfe zu holen. Außerdem bestand das Risiko, dass er erschossen werden könnte, wenn er noch einmal auf Embrees Ranch oder in die Stadt zurückkehrte.

 

Der Tag dämmerte gerade im Osten herauf, als Reb Farrell den Zugang zum Dark Cañon fand. Er ritt vom Rande der Mesa in die tiefe, schattige, grüne Niederung dieser Oase in der Wüste. Man hatte den Cañon schon lange als möglichen Unterschlupf von Viehdieben verdächtigt und ihn deshalb mehrmals gründlich abgesucht, aber jeder Suchtrupp war vor dem scheinbar unpassierbaren Gewirr von Felsbrocken zurückgescheut. Manche dieser großen Felsen lagen so dicht beieinander, dass es keinen Durchgang zu geben schien. Außerdem war diese Gegend hier äußerst gefährlich. Wenn ein Mann auf dem Grunde des Cañons von einem Wolkenbruch überrascht wurde, hatte er kaum eine Chance, der tosenden Flut zu entrinnen, die den Cañon herabgerauscht kam.

Jetzt wusste Reb, dass es doch einen Weg durch dieses Felsgewirr gab. Er ritt nun ungemein vorsichtig und hielt oft an, um das Gelände im Cañon aufmerksam zu mustern, bevor er seinen Weg fortsetzte.

Bald hatte er die riesigen Felsen vor sich, die bisher jedes Vordringen im uralten Flussbett blockiert hatten.

Er suchte nach einem Weg durch dieses Felslabyrinth, aber was auch immer er versuchte, er konnte keine Stelle finden, die einem Pferd oder einem Rind den Durchgang gestattet hätte.

Doch Reb Farrell dachte an Lon Melchors Aufforderung und suchte beharrlich weiter. Schließlich entdeckte er ein Merkmal an der Wand des Cañons und benutzte es als Anhaltspunkt. Dieses Merkmal sah aus, als hätte ein Steigbügel die Felswand gestreift.

Reb ritt dicht an der Wand entlang und musste sich wegen des Überhanges ducken.

Plötzlich sah er die Öffnung, kaum breit genug, um Durchgang zu gestatten. Er ritt hindurch, dann hielt er im tiefen Schatten an.

Eine gute Strecke voraus schien der Cañon nichts weiter zu sein als ein einziges, riesiges Felslabyrinth.

Nachdem Reb aufmerksam die Felsen und Wände gemustert hatte, setzte er seinen Weg fort, dann bog er auf einen schmalen Pfad ein, der an einer Seite des Cañons auftauchte.

Es war ein wenig benutzter Trail, wahrscheinlich von Wildpferden oder verirrten Rindern verursacht.

Dieser Pfad führte ins zerbrochene Gestein der zertrümmerten Cañon-Wand und von dort aus auf eine begrünte Mesa. Er überquerte sie, hielt unter einigen Bäumen an und schaute nach unten.

Unterhalb von ihm verbreiterte sich der Cañon zu einem langen, grünen und gut bewässerten Tal von etwa fünfhundert Acres. An der Felswand unterhalb von Reb standen zwei Hütten und ein langes Bunkhouse. Es gab auch einen Stall und mehrere Corrals. Im Cañon verstreut weideten ein paar hundert Rinder.

Während Reb Farrell noch diese Szenerie da unten beobachtete, kamen zwei Männer aus dem langen Gebäude und schlenderten zu den Corrals. Sie gingen wie Männer, die eine gute Mahlzeit genossen hatten und es offenbar gar nicht eilig hatten, an die Arbeit zu kommen.

Und einer von ihnen war Joe Banta.

 

Banta hatte - soweit dies bekannt war - noch niemals in diesem Teil des Landes operiert.

Nathan Embree wäre der erste gewesen, sich über eine solche Idee lustig zu machen.

Doch hier war er nun, Joe Banta, klar und deutlich zu sehen. Er war ein stämmiger Mann von beachtlicher Breite und geringer Höhe, ein dunkelhäutiger, schwarzhaariger Kerl mit einem verbeulten grauen Hut.

Reb konnte ihn sogar aus dieser Entfernung mühelos erkennen.

Als die beiden Männer sich umdrehten, erkannte Reb in dem zweiten Mann Ike Goodrich, einen unbedeutenden Outlaw, der früher einmal als Cowboy für Embree gearbeitet hatte.

Reb Farrell wartete zwei Stunden und ließ sein Pferd weiden. Dann wusste er, dass sich mindestens vier Männer dort unten aufhielten. Außer Banta und Ike waren da noch der Koch, den Reb einmal gesehen hatte, als der Mann aus der Tür gekommen war, um Wasser auszuschütten, sowie ein dünner, rothaariger Bursche, der einen leicht humpelnden Gang hatte. Der Mann schien dieses eine Bein sehr stark zu schonen, als wäre es erst vor kurzem verletzt worden.

Dieser Mann ging zum Corral und sattelte dort vier Pferde.

Reb hatte jetzt keine Zeit mehr, um Hilfe zu holen. Er würde Stunden brauchen, um hin- und zurückzukommen. Selbst wenn er jemanden von der Wahrheit seiner Story überzeugen könnte, wären die Rinder bis zu seiner Rückkehr längst von hier verschwunden, denn offensichtlich gab es noch einen anderen Weg aus diesem Cañon; wahrscheinlich die Route, die über die Grenze führte.

Reb verließ das Hochplateau, führte sein Pferd am Zügel und arbeitete sich langsam über einen rückwärtigen Trail in eine tiefe Schlucht hinab, die sich nach dem Tal hin öffnete. Er ließ sein Pferd im Gebüsch zurück, nahm sein Gewehr in die Hand und ging den Cañon hinab. Vom Zugang aus schaute er über das Tal hinweg.

Der nächste Corral war nicht einmal zwanzig Meter entfernt. Auch bis zur Rückseite der nächsten Hütte war es nicht weiter. Der Stall und die anderen Corrals bildeten eine offene Ecke. Ein Corral befand sich ganz in der Nähe der Stelle, wo Reb jetzt stand. Er blickte in nördliche Richtung. Die Vorderseite des Stalles zeigte nach Westen; die beiden Häuser dagegen ebenfalls nach Norden.

Der rothaarige Mann stand vor dem Stall und zog einen Sattelgurt fest.

Reb verließ den Zugang zum Cañon und schlenderte an den Corral-Stangen entlang, bis er dem Mann vor dem Stall gegenüberstand.

Niemand sonst war in Sicht.

»Okay, Red!«, sagte Reb leise, aber deutlich genug. »Schnall' deinen Waffengurt ab und dreh' dich um! Eine falsche Bewegung, und du bist ein toter Mann!«

Red drehte sich sehr langsam um und spreizte beide Hände ostentativ weit vom Körper ab. Sein Gesicht war vor Überraschung verkrampft.

»Wo bist du denn hergekommen?«, fragte er.

»Du sollst deinen Waffengurt abschnallen, Red! Schnell!«

Red langte mit beiden Händen nach der Gurtschnalle, dann warf er sich jäh zur Seite und griff nach seinem Revolver.

Reb Farrells Winchester krachte.

Der Rotschopf stürzte weiter hin. Die Waffe entglitt seinen Fingern und schlidderte über den Boden, bis sie schließlich etwa dreißig Zentimeter von der ausgestreckten Hand liegenblieb.

Im Haus stürzte ein Stuhl um.

Goodrich tauchte in der Tür auf.

Reb wartete auf ihn und feuerte.

Die Kugel streifte Ike am Hals und pfiff an der Seitenwand der Hütte entlang.

Goodrich zuckte vor Schmerz heftig zusammen und fiel aus der Tür.

Eine Kugel aus dem Fenster pfiff dicht an Reb vorbei. Er duckte sich und rannte los.

Goodrich packte seine Waffe und wälzte sich herum.

Reb feuerte im Laufen einen Schuss ab und sah, wie die Kugel Dreck in Ikes Augen spritzte.

Während der Revolverschwinger sich fluchend die Augen rieb, ließ Reb sein Gewehr fallen und langte nach einem Revolver. Dann sprang er durch die Tür. Das war ein großes Risiko, aber er rechnete damit, dass Joe Banta nichts dergleichen erwarten würde.

Banta wirbelte herum, als Reb durch die Tür hereinkam.

Beide Männer feuerten gleichzeitig, und beide verfehlten ihr Ziel. Zwar standen sie sich auf sehr kurze Entfernung gegenüber, aber sie bewegten sich.

Reb packte die Tischkante, um seinen Schwung abzubremsen. Dann feuerte er erneut.

Banta zuckte heftig zusammen und schoss abermals daneben.

Dann sprang Reb ihn an und benutzte den Lauf seines Sechsschüssers als Keule.

Banta brach auf Hände und Knie zusammen. Als er wieder hochkommen wollte, schlug Reb noch einmal zu.

Reb wirbelte herum und rannte zur Tür.

Goodrich kroch zu dem Gewehr, das Reb fallen gelassen hatte.

Reb jagte eine Kugel dicht vor Goodrich in den Boden.

Goodrich stoppte und starrte aus funkelnden Augen zur Tür.

»Das wirst du mir büßen!«, knirschte der Schießer. »Ich werde das nicht vergessen, und wenn du tausend Jahre alt wirst!«

Ein Brett knarrte.

Reb blickte rasch auf.

Der Koch stand ihm mit einem doppelläufigen Schrotgewehr gegenüber.

»Lass fallen!«, sagte er, und seine Augen leuchteten vor Zufriedenheit. »Lass fallen - oder ich schieße dich in Stücke!«

Reb Farrells Waffe war direkt auf den Koch gerichtet. »Wenn du feuerst, werde ich dich töten!«, sagte Reb ohne Zögern. »Sicher, du wirst mich erwischen, aber ich werde dich mitnehmen! Na, nur zu! Jetzt kannst du schießen! Aber ich werde dich auf diese kurze Entfernung bestimmt nicht verfehlen!«

Der Koch starrte ihn an, schluckte mehrmals und sah sich um. Die Situation gefiel ihm ganz und gar nicht. Nicht einmal im Traum wäre er auf die Idee gekommen, dass Reb Farrell sich angesichts einer Donnerbüchse nicht ergeben würde. Doch jetzt war offensichtlich, dass der Koch zwar Reb Farrell töten könnte, aber dass die Kugel aus dessen Revolver auch ihn töten würde. Daran bestand nicht der geringste Zweifel. Und der Koch hatte noch keine Lust zu sterben.

»Schieß!«, sagte Reb. »Oder lass das Gewehr fallen!«

»Na, los!«, schrie Ike. »So schieß doch endlich, du schmieriger Trottel!«

Der Koch sah zu Goodrich hinüber und höhnte: »Yeah, dich kümmert's doch einen Dreck, was aus mir wird!« Er sah Reb wieder an, der den Revolver ganz ruhig auf ihn gerichtet hielt. »War noch nie 'n guter Pokerspieler«, sagte der Koch schließlich. »Ich denke, du hast mich. Ich möchte lieber lebend im Gefängnis sitzen, als hier tot auf dem Boden zu liegen.« Er bückte sich und legte das Schrotgewehr behutsam auf den Fußboden. Dann trat er einen Schritt zurück. »Hoffentlich wirst du dich daran erinnern, wenn's zur Gerichtsverhandlung kommt.«

Reb sammelte rasch die Waffen ein, band Ike und dem Koch die Hände zusammen und bandagierte Bantas Verletzungen.

Der rothaarige Mann war tot. Die .44er Kugel aus Reb Farrells Winchester war in einem Winkel von links nach rechts mitten in die Brust gedrungen und hatte das Herz durchschlagen. Der Mann musste auf der Stelle tot gewesen sein.

 

Am nächsten Tag gegen Mittag ritt Reb Farrell die Straße von Palo Seco hinab. Türen wurde geöffnet. Leute kamen heraus, um sich die Prozession anzuschauen.

Joe Banta, der Koch und Ike Goodrich, gefolgt von einem Pferd mit der Leiche von Red, dahinter Reb Farrell, der sein Gewehr quer über den Sattel gelegt hielt.

Nathan Embree kam aus dem Saloon und blieb stehen.

Laura stand in der Tür vom Postamt, und ihr Gesicht wurde plötzlich blass.

»Embree!«, rief Reb Farrell laut und deutlich über die Straße. »Hier sind deine Viehdiebe! Deine Rinder wirst du im Dark Cañon finden, alle fett und munter! Und das hier ist - falls du's nicht weißt - Joe Banta. Mein Dad hat versucht, ihn zu stoppen, aber sie haben ihn getötet. Dann rechneten sie wohl damit, dass ich ihnen eher auf die Schliche kommen würde als ein Dickkopf wie du. Deshalb schleppten sie die Leiche meines Vaters dort hinaus. Als ich schoss, ließ man den Leichnam fallen und machte sich aus dem Staube. Man rechnete wohl damit, dass ich glauben würde, meinen eigenen Vater erschossen zu haben. Und du solltest mich für einen Viehdieb halten. Stimmt das nicht, Banta?«

Der Viehdieb zuckte die Schultern.

»Du hast mich erwischt. Warum sollte ich jetzt also noch lügen? Sicher, das stimmt. Es war genauso, wie du's eben erzählt hast. Embree bedeutete für uns keinen Ärger. Ich hatte Erkundigungen eingezogen. Die Leute gaben zu, dass Embree ohne dich nicht mal 'nen Frosch in 'ner Regentonne fangen könnte!«

Embrees Gesicht war puterrot angelaufen.

»Jetzt muss ich mich wohl bei dir entschuldigen«, sagte er steif. »Aber du wirst zugeben müssen, dass ich Grund hatte...«

Reb Farrell sah ihn an.

»Grund, an einem Mann zu zweifeln, der jahrelang hart für dich gearbeitet hat? Grund, an einem alten Mann zu zweifeln, der niemandem jemals was zuleide getan hat? Ich verlasse diese Gegend, Embree, aber ich hoffe, dass dir diese Sache eine Lektion sein wird. Das nächste Mal solltest du nicht so vorschnell mit einem Urteil zur Hand sein!«

Reb ritt weiter, dann hielt er abermals an.

Dave Barbot stand auf dem Gehsteig.

»Dave, du warst der einzige, der mir noch ein freundliches Wort gegönnt hat. Habe ich richtig verstanden, dass du ein paar Rinder kaufen willst? Nun, Dad und ich hatten etwa vierhundert Stück.«

»Ein paar mehr, würde ich sagen«, erwiderte Dave. »Willst du sie verkaufen?«

»Für dich beträgt der Preis eintausend Dollar, wenn du bereit bist, das Grab meines Vaters zu pflegen, solange du lebst.«

»Eintausend?«, wiederholte Dave ungläubig. »Die Rinder sind doch mindestens doppelt so viel wert!«

»Du hast meinen Preis gehört. Also, was ist?«

»Sicher!«, sagte Dave. »Ich wäre ja ein Dummkopf, wenn ich mir so 'ne Chance entgehen ließe!«

»Dann ist's in Ordnung. Halte das Geld bereit, wenn ich vom Gefängnis zurückkomme.«

Laura stand immer noch vor dem Postamt. Sie war immer noch sehr blass und biss sich nervös auf die Unterlippe.

Plötzlich tat sie Reb leid, doch er wusste jetzt, dass sie ihn niemals geliebt hatte. Er warf ihr einen Blick zu und tippte höflich an seinen Hut.

»Reb...« Sie streckte eine Hand aus, als wollte sie ihn zurückhalten.

Reb Farrell zog die Zügel an.

»Ich reite fort, Laura. Ich mache dir keinen Vorwurf. Dir nicht und auch sonst niemandem. Ich denke, du hast mich niemals gut gekannt, sonst hättest du nicht so schnell an mir gezweifelt. Westlich von hier gibt's viel Land, das ich noch nie gesehen habe. Dorthin will ich reiten.«

 

Barbot wartete vor der Bank.

Reb Farrell hielt bei ihm an und erzählte ihm von den Pferden im Corral bei der einsamen Hütte.

»Hol' sie dir, Dave. Sie gehören dir.«

»Sicher, darüber wollte ich gerade mit dir sprechen. Du hast mir einen sehr fairen Preis gemacht und mir weder Zeit noch Gelegenheit gegeben, dir zu widersprechen. Nun, jetzt möchte ich's mit dir genauso machen. Unten im Corral vom Mietstall steht ein Pferd, das du kennen wirst. Ich rede von meinem Palouse-Hengst. Du hattest doch schon immer 'ne Vorliebe für dieses Pferd. Na, jetzt gehört's dir. Lege ihm deinen Sattel auf und benutze dieses Pferd hier als Packtier.«

Etwas weiter oben an der Straße wurde eine Tür laut zugeschlagen.

Ein alter Mann stand am Rande der Veranda und lehnte sich gegen den Stützpfosten.

Es war Lon Melchor.

»Mit mir ist schon wieder alles in Ordnung«, sagte er. »Bin zwar im Moment noch nicht sehr stark, Sohn, aber das wird schon wieder werden. Die ersten paar Tage werde ich ziemlich vorsichtig reiten müssen, weil ich viel Blut verloren habe, aber wenn du mich haben willst, Sohn, dann werde ich mitkommen.«

Der Alte winkte mit einer Hand nach der Stadt.

»Die Leute hier haben nicht viel für mich übrig. Ich möchte mal 'ne neue Gegend sehen.«

Reb Farrells Herz erwärmte sich für den alten Viehdieb.

»Na, dann steig' in den Sattel, Lon! Wir reiten nach Westen zum Blue River Country, also in Richtung Arizona.«

Der alte Mann kroch mühsam in den Sattel und drehte sich um. Sein Gesicht war blass und verkrampft, aber sein Mund lächelte, und die Augen verrieten Humor.

»Lass uns gehen, Sohn! Auf zu den Blues!«

Die Sonne stand hoch am Himmel. Die fernen Berge im Westen schimmerten purpurn. Die Luft roch frisch. Es lag ein Hauch von Salbei in der Luft.

Reb Farrell erinnerte sich an den Duft von Kiefern, die er nun bald wieder riechen würde.

Der Palouse-Hengst ritt in flotter Gangart an.

 

 

 

 

 

 

 

  DER REVOLVERMANN (The Black Rock Coffin Makers)

 

 

 

Jim Gatlin war den Creek hinauf und über die Berge gezogen; mehr als einmal war er an beiden Enden eines Sechsschüssers gewesen.

Er war groß und schlank; für seine Größe hatte er ungewöhnlich breite Schultern. Seine Gesichtshaut war wie Sattelleder.

Im Moment war er damit beschäftigt, den Rest eines dicken Steaks zu vernichten und vereinzelte Bohnen aufzupicken, die seinem anfänglichen Angriff entgangen waren. Er war tausend Meilen von zu Hause entfernt und kannte niemanden in der Stadt Tucker.

Er blickte auf, als die Tür geöffnet wurde, und sah einen kleinen, beleibten Mann.

Der Mann warf einen erschrockenen Blick auf Jim, duckte sich und verschwand schleunigst außer Sicht.

Gatlin blinzelte überrascht, dann zuckte er die Schultern und füllte seine Kaffeetasse aus der Kanne nach, die auf dem Tisch im Restaurant stand.

Einigermaßen verwundert lauschte er auf die Hufschläge, die sich rasch entfernten.

Dann drehte er sich eine Zigarette, lehnte sich zurück und seufzte zufrieden.

Etwa zweihundertundfünfzig Meilen nördlich von hier war die Herde, die er von Texas nach Nordwesten getrieben hatte. Das Geld, das die Rinder beim Verkauf gebracht hatten, steckte im Gurt um die Taille und in den Hosentaschen. Jetzt gab es für ihn nichts weiter zu tun, als nach Texas zurückzukehren, den Profit zur Bank zu bringen und sich eine neue Herde auszusuchen.

Wieder wurde die Außentür geöffnet.

Ein großes Mädchen betrat das Restaurant. Sie wandte sich nach rechts und ging auf die Tür zu, die zum Hotel führte. Abrupt blieb sie stehen, als hätte sie jetzt erst von Gatlins Anwesenheit Kenntnis genommen. Sie drehte sich um und riss die Augen alarmiert auf.

Sie kam quer durch den Raum auf Gatlin zu.

»Bist du verrückt geworden?«, flüsterte sie.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Louis L' Amour/Apex-Verlag. Successor of Louis L' Amour. Copyright des Essays by Dr. Karl Jürgen Roth.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Alfred Dunkel und Christian Dörge (OT: Law Of The desert Born/The Hills Of Homicide).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 12.12.2018
ISBN: 978-3-7438-9024-4

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