CHRISTIAN DÖRGE (Hrsg.)
EIN FAIBLE
FÜR DOSTOJEWSKI
- Galaxis Science Fiction, Band 14 -
Erzählungen
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Aigis Budrys: ÜBERLEBEN UM JEDEN PREIS (Be Merry)
Fritz Leiber: CYCLOPS (Cyclops)
Brian W. Aldiss: EIN FAIBLE FÜR DOSTOJEWSKI (A Taste For Dostoevsky)
James H. Schmitz: DIE NACHT DES SCHRECKENS (Goblin Night)
Das Buch
Die große Halle hatte sich jetzt fast geleert; nur noch ein paar Zuschauer befanden sich auf der Galerie am gegenüberliegenden Ende und bewunderten die geschickt angelegte Mondlandschaft. Eddie arbeitete sich durch den falschen Bimsstein, den Kopf gesenkt, die Hände in den Taschen.
Seltsam: Erst musste die ganze Mondoberfläche bebaut und mit künstlicher Atmosphäre versehen sein, dass sich die Menschen des großartigen ästhetischen Vergnügens erinnerten, das ihnen die ursprüngliche Landschaft des Mondes bereitet hatte. Jetzt hatten sie sie hier mit künstlichen Materialien nachbauen müssen. So ging es in der Welt. Das Publikum schätzte seine allabendliche Vorstellung als sterbender Raumfahrer gar nicht richtig: Er schlüpfte so sehr in seine Rolle, dass er wusste, er würde eines Tages, Sauerstoff atmend, an Sauerstoffmangel sterben...
Die von Christian Dörge zusammengestellte Anthologie Ein Faible für Dostojewski enthält vier Erzählungen von Algis Budrys, Fritz Leiber, Brian W. Aldiss und James H. Schmitz.
Ein Faible für Dostojeswki erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.
Aigis Budrys: ÜBERLEBEN UM JEDEN PREIS (Be Merry)
1.
Der Alte Herr ist ein guter Alter Herr.
Sein Name ist Colston McCall, und ich weiß nicht, was er vorher gemacht hat. Jetzt ist er Polizeichef des westlichen Distrikts von Groß New York, und er weiß, was wichtig ist und was nicht.
Ich saß unter einer großen Fichte und fühlte mich schwach und schwindlig. Ich hatte ein paar Aspirin genommen und ein flaues Gefühl im Magen. Es war ein schöner, sonniger Tag. Das moosige Kissen, an dem ich lehnte, gab unter dem Drude meines Rückens ein wenig nach. Das Geäst bildete einen angenehmen, schattenspendenden Baldachin.
Audi der fichtennadelbedeckte Boden war weich, und es war schön, dort zu sitzen und über die Wiesen zu blicken. Überall wucherten Blumen.
Man hätte dieses Gelände umpflügen und bepflanzen können. Aber wir hatten nicht genug Leute, um alles zu pflügen, sondern bestellten so viele Felder, wie es mit den vorhandenen Maschinen möglich war. Wir taten unser Bestes. Wir brauchten eine Menge Leute, die in die Lagerhäuser gingen, um unverdorbene Lebensmittel zu holen. Eine bessere Organisationsform gab es nicht. Wir alle hatten etwas Nützliches zu tun, alle von uns, die nicht bettlägerig waren. Unter einem Baum hätte ich sowieso nicht sitzen sollen.
Aber es war ein schöner Tag, und die ganze Nacht und am Morgen hatte ich schlimme Schmerzen gehabt. Die Ärzte im Krankenhaus hatten mir eine Bescheinigung gegeben, auf der stand, dass ich nur zu arbeiten brauchte, wenn ich konnte. Das sollte wohl heißen, dass ich nur arbeiten musste, wenn ich wollte; aber wenn sie es so geschrieben hätten, hätten sie aus jedem, der mich darum gebeten hätte, einen Sadisten gemacht. Wir sind sehr vorsichtig geworden. Sehr rücksichtsvoll in einer bestimmten, praktischen Weise. Unsere Manieren sind grässlich, weil wir keine Zeit haben, höflich zu sein. Aber das, was man früher sagte, ist wahr: Je weniger Leute es gibt, desto wichtiger sind sie. Ich weiß noch, wie es in den Jahren nach 1960 war, bevor die Klarri ihren Unfall hatten, aber man kann sich doch kaum mehr vorstellen, wie gemein die Leute damals zueinander gewesen sind. Ich erinnere mich noch an gewisse Dinge, die sie einander antaten, und es macht mich einfach rasend, weil es mich rasend machen würde, wenn mir heutzutage so etwas angetan würde. Uns alle würde es rasend machen.
Ich glaube, dass manches, was uns damals krank machte, von unserer Lebensweise herrührte. Wäre ich fünfzehn Jahre jünger und hätte meinen eigenen Weg in der jetzigen Welt zu gehen, hätte ich nicht diese Schwierigkeiten und müsste nicht hier sitzen und nachdenken. Ich meine, ein Mann wie ich, der die Klarri- Krankheiten so gut überstanden hat, müsste eine Menge Dinge zu tun haben in dieser Welt. Stattdessen sonderte ich mich ab wegen etwas, was die alte Welt mir angetan hatte.
Ich wünschte, ich hätte nicht unter dem Baum gesessen. Ich wünschte, ich hätte nicht versucht, all das in mich hineinzufressen. Hätte ich es gekonnt, ich hätte Sonne und Bäume und alle wilden Blumen der Welt in mich hineingefressen, allein für mich, das wusste ich.
Die Bescheinigung, die mir der Arzt auf die Rückseite eines Kalenderblattes geschrieben hatte, hatte ich weggeworfen. Nun, so etwas hebt man nicht auf. Nicht, wenn es in einem großen Zelt beim Schein einer Petroleumlampe mit einem Bleistiftstummel geschrieben wird, und wenn der Arzt so müde ist und die Leute im Zelt an schweren Krankheiten leiden, die keiner kennt. Ich meine, mit so etwas in der Tasche läuft man nicht herum. Lieber sitze ich noch eine Weile schuldbewusst hier.
Aber lange hält man so etwas eben nicht aus. Man weiß, dass man nur mit sich selber spielt, denn jedes Mal, wenn man sich schuldig fühlt, weil man etwas so Simples, Einfaches wie Krebs hat, tut man nur einfach so, als könnte man sich allen möglichen Luxus leisten. Ich brauchte mir keiner Schuld bewusst zu sein, nicht im Geringsten. Aber es ist menschlich, Schuldgefühle zu haben, und das Schlimme am Schmerz ist nicht, dass er weh tut.
Das Schlimme ist, dass man wieder in das nasse, hilflose Etwas zurückverwandelt wird, das man bei seiner Geburt war. Ich weiß, dass Himmel und Erde sich verändert haben und einen jederzeit verschlingen oder verbrennen können. Ich weiß, dass es für andere nicht so ist. Andere Leute tun noch Dinge in einer Welt, die morgen noch da sein wird und zuverlässig ist. Du aber nicht. Du hast dein Floß an einer Ein-Mann-Insel aus Gallert festgemacht. Und du bist glücklich über die Gelegenheit, dir Splitter ins Fleisch zu rennen. Das heißt spielen.
Ich wollte gerade aufstehen, als Artel, mein Partner, aus dem Haus des Alten Herrn zu mir herüberkam. »Ed«, sagte er, »Mr. McCall möchte mit uns sprechen.«
»Gut«, sagte ich, und wir gingen miteinander zurück. Jetzt konnte ich alle die Zelte und Häuser sehen, die in Büros verwandelt worden waren, und Lastwagenspuren und Leute, die auf dem, was früher die Wiesen der Siedlung gewesen waren, hin- und herliefen. Das Ganze verwandelte sich mehr und mehr in einen Morast, aber zumindest gab es genügend Platz zwischen den Häusern und ausreichend Grund, auf dem man Zelte und Fertighäuser aufstellen konnte, statt alles auf engstem Raume zusammenzudrängen, wie es in den Städten der Fall war.
Und es stand schlimm in den Städten. Nicht nur wegen der Brände oder anderer Katastrophen, die es gibt, wenn viele auf engem Raum zusammenlebende Menschen krank werden und den Kopf verlieren. Wir waren darüber hinweg, aber in manchen Orten, wo die Straßen von Häusern gesäumt waren und alles von Leben und Treiben hätte wimmeln sollen, überkam einen der Hauch des Todes; aber man konnte nichts Sinnvolles tun. Schon vorher redete man davon, dass zu viele Leute aus der Stadt wegzogen. Vielleicht hatten die schon so ein Gefühl. Jedenfalls, die Anlage, die der Alte Herr hier eingerichtet hatte, lag an der Route 46, und droben in den Hügeln und Bergen gab es Seen und wilde Tiere; dort fühlte man sich wohler. Man hatte besseren Kontakt mit dem, was in der Welt dauerhaft ist.
»Kriegen wir einen Auftrag?«, fragte ich Artel.
»Ja.«
Artel redete nicht sehr viel. Vor etwa einem Jahr hatte uns der Alte Herr zusammengespannt, und das lief sehr gut. Die Klarri sind uns sehr ähnlich. Ihre Arme und Beine sind länger im Verhältnis zu ihrer Körpergröße, und ihre Schultern sind breiter. Sie haben hohe, schmale Schädel, wobei die Gehirnmasse in der hinteren Kopfhälfte sitzt. Waschen sie sich einige Stunden lang nicht, dann bildet sich eine dünne, rostfarbene Ablagerung auf ihrer Haut, so dass sie dann diese bräunliche Farbe annehmen. Hat ein Mensch Zähne wie sie, dann hat er in seiner Jugend an schwerem Vitaminmangel gelitten. Aber es sind anständige Leute. Wenn sie ein Krankenhaus sehen, überkommt sie wohl dasselbe Gefühl, das wir haben würden, wenn unsere Raumschiffe ihre Welt verseucht hätten.
Noch etwas haben die Klarri an sich. Ihre Kinder gehen alle vornüber gebeugt, darüber hinaus auch manche Erwachsene - ihre Wirbelsäulen sind so beschaffen. Aber sie haben damit eine Menge Probleme. Es ist wie Appendizitis bei Menschen, und es gibt keinen Klarr, der nicht weiß, dass ihn fast jederzeit ein schweres Rückenleiden befallen kann. Viele von ihnen unterziehen sich deshalb einer Operation der Wirbelsäulenbasis, entweder weil sie schon Krüppel waren, oder um eben diese Gefahr rechtzeitig abzuwenden. Es ist wie bei Menschen. Nur, statt Blinddarmnarben haben die operierten Klarri diese seltsame Art zu gehen und zu stehen - als würden sie jeden Moment nach hinten fallen. Auch Artel war so, doch musste er auch noch ein Rückenkorsett tragen wegen eines Unfalls im Rettungsboot, bei dem er Frau und Kinder verloren hatte. Ein derartiges Korsett wirkte noch besser als solche Rückenoperationen.
Man sieht, es kann nicht mehr länger Zweifel bestehen. Man tut, was man kann. An Theorie glauben wir schon lange nicht mehr. Man kann zivilisiert sein wie die Klarri und wissen, dass man andere Welten nicht infizieren sollte. Aber dann hat so ein Überlichtgeschwindigkeits-Raumschiff einen Defekt, und man muss aussteigen. Man drängt sich in die Rettungsboote und steigt aus. Hat man großes Glück, dann passiert die Panne in der Nähe eines Sonnensystems, und das Sonnensystem besitzt einen Planeten, auf dem man leben kann. Irgendwie kommt man herunter, und Dekontamination steht dann nicht allzu hoch auf der Prioritätenliste. Das Leben ist hart; es ist hart für Klarri und hart für Menschen. Und jeden Tag muss man leben mit dem, was am Vortag geschehen ist - so ist es für jeden, der Verstand genug hat, und überall in der Schöpfung.
2.
Colston McCall war ein hünenhafter Mann - irgendwann einmal musste er um die zweihundertdreißig Pfund gewogen haben. Er war über einsachtzig groß und bestand, von einem kleinen Bauchansatz abgesehen, nur aus Muskeln und Knochen. Er war etwa fünfzig bis fünfundfünfzig Jahre alt, glaube ich, und wenn es ein Problem zu lösen gab, dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und verkündete seine Ansicht mit einer Stimme, die in der Zeit, als er noch irgendeine Firma besaß, seinen Leuten recht unangenehm in den Ohren geklungen haben muss. Immer wenn er die Stimme erhob und jemanden rief, dann ließ der alles liegen und stehen, um auf der Stelle zu ihm zu eilen.
Wir gingen in sein Büro, und er sah auf und wies auf ein paar metallene Klappstühle. »Setzt euch, Leute.« Das taten wir; Artel hatte wegen seines Rückens die Lehne vorn und saß wie die Cowboys in alten Western-Filmen.
»Wie fühlen Sie sich, Ed?«
»Ganz gut.«
Einen Augenblick lang sah mich der Alte Herr prüfend an. »Schaffen Sie die dreißig Kilometer zu einem Ort, wo es vielleicht keine Ärzte gibt?«
Die einzige andere Antwort darauf wäre gewesen: »Nein, ich lege mich hin und sterbe«, was ich infolgedessen nicht sagte.
»Gut. Es gibt eine Stadt weiter unten an der Küste, wo niemand krank ist.«
Artel saß plötzlich kerzengerade. »Wie bitte?«
Der Alte Herr legte seine Hand flach auf einen kleinen Stoß von Papieren. »Diese Leute haben nie um Medikamente gebeten. Was das zu bedeuten hat, weiß ich auch nicht. Vor etwa zweieinhalb Jahren kamen wir zum erstenmal mit ihnen in Kontakt. Einer unserer Scouts begegnete einer Gruppe von ihnen, als sie Discount-Häuser an der Route 35 ausräumten.«
Ich nickte. So war es häufig in diesen Tagen. In den Städten gab es nichts mehr, und Überlebende mussten hinaus, um sich dort zu versorgen. Aber das war nicht ganz leicht. Man verbrauchte, was man noch an Benzin hatte, fuhr weiter und weiter und kam mit immer weniger beladenen Lastwagen zurück. Schließlich steuerte jeder sein restliches Benzin bei, man lud alle und alles auf die Lastwagen und fuhr nach Norden, denn jedermann glaubte, dass es in der großen Stadt dort anders sein musste.
Der Alte Herr fuhr fort: »Nun, ausnahmsweise zeigte es sich, dass das Leute waren, die durchaus an Ort und Stelle bleiben wollten, wenn wir ihnen versprachen, Lebensmittel zu schicken. Dabei ist es seitdem geblieben.«
Wofür wir überaus dankbar sind, dachte ich.
»So weit, so gut«, sagte der Alte Herr. »Aber allmählich wird es mir doch etwas zu gut. Sie beklagen sich nicht. Man darf nicht vergessen, dass von ihren ursprünglich vorhandenen Vorräten an Heilmitteln nur noch die Elementarmedizinen übrig sein können. Antibiotika und so weiter sind entweder nicht mehr da oder unbrauchbar geworden. Aber das wisst ihr ja.«
Wir wussten es. Das war unser größtes Problem, und es wurde immer schlimmer. Es hatte auch wenig Zweck, Penicillin auf solchen Fermentationsstoffen zu züchten, für die man nur wenig Flora braucht.
»Aber diese Leute scheinen das nicht bemerkt zu haben. Nicht einmal über ihre Lebensmittel beklagen sie sich; sie nehmen, was immer man bringt, wollen nie mehr, fragen auch niemals nach etwas anderem. Ich verstehe nicht, warum sich die Leute nicht ständig beschweren über das, was wir liefern. Nehmen es einfach und gehen weg und sagen kein einziges Wort.«
»Wie viele Leute?«, fragte ich.
»Etwas über einhundertachtzig. Ich kürzte ihre Rationen um drei Prozent, nur um zu sehen, was passieren würde. Sie haben überhaupt nicht reagiert. Was die Heilmittel anbetrifft, so ließ ich einen der Fahrer fragen, ob sie einen Arzt wollten, und sie sagten nein. Sie sagten weder, dass sie einen Arzt hätten, noch dass sie alle gesund seien. Sie sagten einfach >nein< und gingen davon.«
»Entweder sind sie sehr glücklich oder sehr anspruchslos«, sagte Artel.
Der Alte Herr warf ihm einen raschen Blick zu. »Bis zu einem gewissen Punkt bin ich immer bereit, an solche Dinge zu glauben. Aber jetzt möchte ich wissen, ob es da vielleicht etwas gibt, wovon sie niemandem erzählt haben.«
Artel nickte.
Ich hatte noch eine Frage wegen der Nahrungsmittel. »Was für eine Art Stadt ist das?«, wollte ich wissen. »Was für Leute sind das? Sind es vielleicht Fischer oder Bauern?«
»Nicht in diesem Landstrich«, sagte der Alte Herr. »Die haben nur irgendwelchen Besitz und bilden eine Gemeinschaft. Alles Freunde und Verwandte, alles Stadtleute. Grundstücksmakler, Geschäftsinhaber, Baumchirurgen - alles, was sie wissen, ist, wie sie einander Autos und Bonbons verkaufen können.« Seine Stimme klang verärgert. Uns alle ärgerte das gleiche: Man hatte gesehen, dass zur Landwirtschaft mehr nötig war, als nur den Boden aufzureißen und Samen darauf zu streuen. Und es ist langwierig und auch nicht leicht zu lernen. Aber selbst wenn man ihnen mit Engelszungen das Gegenteil verkündete, wären die hungrigen Stadtleute lieber gestorben, als das Land zu bebauen.
Es sieht sehr gut aus, wenn man mit einer schwungvollen Handbewegung sagt: »Es werde wieder Licht.« Aber gerade das ist es ja, was einen so wütend macht. Die vier apokalyptischen Reiter sind lahme Enten, die einen beknabbern, bis nichts mehr übrigbleibt.
»Nein, ich glaube es nicht«, sagte der Alte Herr und schlug wieder auf seinen Stoß Formulare. »Fahrt einmal hin und untersucht die Sache. Und dann kommt wieder und informiert mich. Und macht mir kein Aufsehen.«
»Natürlich«, sagte Artel. »Wir dürfen keine falschen Hoffnungen erwecken.«
»Und auch keine echten.« Das war eben der Unterschied zwischen einer Führernatur wie ihm und Fußvolk wie Artel und mir. Unser Alter Herr geht die Dinge behutsam an. Vorher, als man alles mit Riesen-Tamtam machen musste wegen der Konkurrenz, da war er vielleicht kein Top-Mann gewesen. Aber jetzt war er gut für uns.
Du möchtest behutsam vorgehen. Du möchtest die Sache langsam und vorsichtig anpacken, und du musst wissen, was du schleifen lassen kannst. Man sagt, dass früher Krebs in der einen oder anderen Form fünfundzwanzig Prozent der Bevölkerung befiel. Damals war man ziemlich nahe daran gewesen, Gegenmittel zu finden. Weiter war man inzwischen nicht mehr gekommen, denn wenn man Seuchen hat, die in einem Sommer sechzig bis siebzig Prozent töten, dann kann man etwas wie Krebs durchaus vergessen.
Man macht sich nicht einmal darüber Gedanken, ob es ganz und gar die Schuld der Klarri war oder nicht. In eine ganz unbekannte Welt verschlagen, waren auch sie in einer schrecklichen Situation, und unsere Seuchen setzten den überlebenden Klarri furchtbar zu. Dabei hatten sie noch weniger Biochemiker als wir. Ich meine - was sollte man tun? Man hätte eine Art Vernichtungskrieg beginnen und sie alle an Laternenpfählen aufhängen können. Aber man hatte andere Dinge zu tun, vor allem, als die erste Reaktion einmal vorüber war und die meisten von uns, die daran sterben sollten, schon ziemlich tot waren. Könnte mich jemand mit Hilfe einer Zeitmaschine ins Jahr 1960 zurückversetzen, dann würden mich die Leute von damals wie einen tollwütigen Hund auf der Straße nieder knallen; ich trug die Keime von mehr Todesarten in mir, als man früher überhaupt für möglich gehalten hätte. Und wäre da nicht diese selbstherbeigeführte Geschichte, ich würde nach heutigen Maßstäben als gesunder Mann gelten. Über früher sollte man sich also keine Gedanken machen. Man nimmt, was man hat, und arbeitet heute damit.«
»Also gut«, sagte der Alte Herr. »Ihr macht euch beide dorthin auf den Weg. Vielleicht erleben wir ein Wunder.« Zu lachen, uns auf die Schulter zu klopfen und Halleluja zu rufen, bestand für uns kein Anlass.
Ich ging zum Krankenhaus hinunter, während Artel auf mich wartete. Ich ging zur Apotheke, die man mit Vorbedacht im hinteren Teil des Zeltes eingerichtet hatte. Wenn man gesund genug war, herzukommen und um Medizin zu bitten, dann musste man gleichzeitig krank genug sein, um an all diesen Betten Vorbeigehen und immer noch nach Medizin verlangen zu können. Ich sah sie alle: Die mit den Wunden und die mit den verkrüppelten Gliedern, die mit den blinden Augen und die mit den Blutungen. Ich hörte sie und ich roch sie, Menschen und Klarri.
Sie waren Überlebende. Die Verlierer waren tot. Die hier waren es, die noch eine Chance hatten, am Leben zu bleiben, wenn sie stark genug waren, nicht Dingen wie Lungenentzündung oder den anderen Mördern der Geschwächten zum Opfer zu fallen. Ich hatte immer noch gewisse, nicht sehr gravierende Lymphknotenbeschwerden. Die Arme schliefen mir ein, und ich konnte nichts fest in die Hand nehmen, ohne dass meine Finger für Stunden taub wurden. Und während man versucht hatte, irgendetwas gegen diese Störung meines lymphatischen Systems zu tun, fand man das andere, was nun schon seit geraumer Zeit in mir lebte.
Es macht mir nichts aus. Ich war noch kräftig genug, zwischen diesen Betten hindurchzugehen. Meine Mary war in ihrem eigenen Blut ertrunken. Und ich hatte diesen Jungen von sechs Jahren mit seinem kleinen Fahrrad. Es hatte Vollgummireifen und war nur für ein paar kurze Fahrten ums Haus gedacht. Eine Art erster Schritt vom Dreirad. Ein paar Querstraßen von uns gab es eine Eisdiele, die sonntags offen war, und etwa zehn Tage, bevor es die Rettungsboote der Klarri vom Himmel regnete, waren dieses Kind und ich zu dieser Eisdiele gefahren, ich auf meiner Kaufhausmaschine mit Dreigangschaltung und er auf seinem Knochenschüttler. Sechs Jahre alt war er und trat wie verrückt in die Pedale, ohne zu sehr vom Fleck zu kommen, und ich ermahnte ihn, ein wenig langsamer zu tun, und er grinste über das ganze Gesicht, wenn seine kleine Maschine in die Löcher des Gehsteigs plumpste. Ein liebes Kind.
Der Apotheker nickte, als er mich kommen sah. Er war ein, junger Klarr, der gewöhnlich über ein Arzneimittelverzeichnis gebeugt dastand. An der Wand hingen anatomische Zeichnungen von Menschen und Klarri, und ein menschlicher Angestellter heftete die vervielfältigten Blätter irgendeines fachwissenschaftlichen Textes zusammen. Allmählich begann die Sadie ordentliche Formen anzunehmen. Schon seit langer Zeit erlaubte der Alte Herr nicht mehr, dass menschliche Patienten und Klarri an verschiedenen Enden des Zeltes behandelt wurden. Wer hier arbeitete, sollte inzwischen mit allen Problemen fertig werden, ganz gleich, wer sie hatte, das war der zugrunde liegende Gedanke. Immer waren so ein, zwei Klarr-Patienten im Krankenhaus. Dass die Zahl der zum Personal gehörigen oder in Ausbildung befindlichen Klarri stets höher war, das bedeutete schon etwas.
Jedenfalls zeigte ich dem Apotheker meinen Requisitionsausweis der Sonderabteilung, und er markierte ihn mit einer weiteren Lochung am Rand und gab mir eine Plastikflasche mit fünfundzwanzig Aspirin-Tabletten. Ich sagte danke und ging wieder aus dem Zelt. Es gab einen Versorgungslastzug nach Trenton, der uns bis auf dreißig bis vierzig Kilometer an unser Ziel heranbringen konnte. Artel hatte mit seinem Ausweis zwei Fahrräder aus dem Transportpool geholt und band sie gerade an der Bordwand des Lastwagens fest. Wir stiegen hinten auf und fuhren auf einem Haufen Kisten und Säcken mit. Artel machte sich aus Bohnensäcken ein Kissen und legte sich auf den Bauch. Ich keilte mich in eine Ecke, wo es mich nicht zu sehr herumwerfen würde, und nach einer Weile fuhren wir los.
3.
Der Name der Stadt war Ocean Heights. Nachdem uns der Lastwagen abgesetzt hatte, fuhren wir durch eine überaus hübsche Landschaft darauf zu, wobei wir teilweise den Garden State Parkway benützten. Die Räder waren sehr gut. Artels Rad war ein Peugeot, meines ein Raleigh; beide waren sehr leicht und hatten fünfzehn Gänge, Schlauchreifen und Rennhaken an den Pedalen. Sehr bequem waren sie nicht, aber auf glatter Straße recht schnell, und mit den vielen Gängen war die Fahrt bergauf und bergab geradezu ein Vergnügen.
Jeder von uns hatte ein Kleinkalibergewehr - dem Alten Herrn wäre es nicht recht gewesen, wenn wir etwas Gefährlicheres mitgenommen hätten - und etwas Proviant, ein paar Werkzeuge und eine Wasserflasche. Wir sahen sehr technisiert aus, und man fühlt sich ganz gut, wenn man anständig ausgerüstet ist. Wir waren also bester Stimmung, als wir auf der glatten Asphaltstraße durch die Fichtenwälder dahinfuhren. Als wir dann auf die Route 35 einbogen, trafen wir natürlich auf regen Kommerz in all seinen Formen - eine Menge Buden am Straßenrand, einen leuchtorange gestrichenen Saloon, Geschäfte für Gartenbedarf oder Außenbordmotoren und große Einkaufszentren. Alles wirkte wie ein Potemkin'sches Dorf, schäbig und heruntergekommen. In den Einkaufszentren gab es nur noch Schallplatten, kleine Plastiktöpfe für Gummibäumchen und Spiele von der Wham-O-Manufacturing Company. Der Wind kam vom Meer herein, und das war gut so.
Als wir noch etwa zehn Kilometer bis Ocean Heights hatten, begann es zu dämmern. Das war uns recht.
Wir strampelten noch ein paar Kilometer weiter und fuhren dann auf einem Seitenweg in den Wald hinein. Wir fanden eine gute Stelle, wo wir die Räder lassen konnten, und machten uns eine Art Camp. Es tat gut, absteigen zu können. Artel ging recht mühsam und mehr nach hinten gebeugt denn je. Ich verlor kein Wort darüber; dass wir, mit unseren eigenen Augen von vor zehn oder fünfzehn Jahren gesehen, ziemlich ungehobelte Menschen waren, habe ich schon gesagt, glaube ich. Artel seufzte erleichtert, als wir uns endlich setzen und irgendwo anlehnen konnten. Ich wohl auch.
Wir saßen nahe beisammen. Artel hatte eine dieser Dynamo-Taschenlampen. Wir hängten uns meine Windjacke über die Köpfe, um das Licht abzuschirmen, studierten die Landkarte und legten uns einen Weg nach Ocean Heights zurecht. In ein paar Stunden konnten wir zu Fuß dort sein. Wir prägten uns die Marschzahl ein und konnten dann die Windjacke wieder beiseitelegen, worüber ich nicht unglücklich war. Einer der Gründe dafür, dass Artel und ich als Team Zusammenarbeiten konnten, war, dass mir sein Geruch nicht allzu viel ausmachte. (Das sagte ich jedenfalls; in Wirklichkeit mochte ich ihn sogar.) Aber nicht in so reichlicher Dosis. Das ist, als äße man ein Pfund Milchschokolade auf
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Authors/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: N. N./Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Peter Sladek.
Übersetzung: Dolf Strasser und Christian Dörge (Original-Zusammenstellung).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 12.11.2018
ISBN: 978-3-7438-8628-5
Alle Rechte vorbehalten