Cover

Leseprobe

 

 

 

 

CHRISTIAN DÖRGE (Hrsg.)

 

 

DIE GÖTTIN DER NACHT

- 13 SHADOWS, Band 26 -

 

 

 

Erzählungen

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

Trebor Thorpe: RACHE AUS DEM JENSEITS (The Swing Of The Pendulum) 

R. Lionel Fanthorpe: Lilith, die Göttin der Nacht (Lilith, Goddess Of Night) 

Bron Fane: DIE WANDELNDEN STATUEN (The Nine Green Men) 

Pel Torro: VENTRILOQUIST (Ventriloquist) 

Leo Brett: DIE GEISTERFLOTTE (The Silent Fleet) 

Dennis Wheatley: DIE SCHLANGE (The Snake) 

Anthony Boucher: DER TODESBISS (They Bite) 

Aleister Crowley: DIE FÜCHSIN UND DER HÖLLENHUND (The Vixen) 

H. R. Wakefield: DER TEUFELSSCHÜLER (The Comet And He Passeth By) 

Feodor Sologub: DIE SCHWARZE BESTIE (The Invoker Of The Beast) 

Frederic Brown: DER KOBOLDGEIST (Nasty) 

Charles Beaumont: AUF DEM BLUTALTAR (The New People) 

 

Das Buch

 

Die Anthologie DIE GÖTTIN DER NACHT, herausgegeben von Christian Dörge, enthält zwölf ausgewählte Erzählungen internationaler Autoren: R. Lionel Fanthorpe, Frederic Brown, Aleister Crowley, Trebor Thorpe, Bron Fane, Pel Torro, Leo Brett, Dennis Wheatley, Anthony Boucher, H. R. Wakefield, Feodor Sologub und Charles Beaumont.  

DIE GÖTTIN DER NACHT erscheint in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  Trebor Thorpe: RACHE AUS DEM JENSEITS

  (The Swing Of The Pendulum)

 

 

 

Señor Pedro Gordini pfiff bei der Arbeit leise vor sich hin. Es war kein besonders melodisches Pfeifen, es klang aber auch nicht besonders unangenehm. Señor Pedro Gordini war ein unauffälliger, freundlicher alter Mann, dem man seine siebzig Jahre nicht ansah. Pedro Gordini war ein Uhrmacher; er hatte feinfühlige, geschickte Finger. Er liebte seine Uhren, und er glaubte in aller Unschuld und Herzenseinfalt, dass seine Uhren ihn auf eine eigene unerklärliche Weise wiederliebten. Er gehörte zu den Menschen, die die unbelebte Natur mit Gedanken und Leben und eigener Kraft ausstatteten. Daran war nichts Unheimliches oder Übernatürliches. Es war ein Glaube, dem viele gebildete angebliche Rationalisten anhingen, sei es bewusst oder unbewusst, absichtlich oder unabsichtlich, wissentlich oder unwissentlich.

Auf seinen schneeweißen Locken trug Pedro Gordini hinten auf dem Kopf ein kleines, rotes Samtkäppchen. Dieses Samtkäppchen mit der blauen Troddel war Teil seiner Persönlichkeit. Es war Teil des Eigenbildes, das er für sich geschaffen hatte und dem er gerecht werden wollte.

Er wollte nichts als Ruhe und Frieden im Leben, und er sah keinen Grund, warum andere Menschen nicht ihr Leben unter denselben angenehmen Umständen verbringen sollten. Er hatte keine großen Ambitionen; er strebte weder nach Reichtum, noch wollte er arm sein. Solange der Erlös seiner Uhren es ihm möglich machte, sein bescheidenes Dasein zu fristen, die Gebühren und die Miete für seinen Laden zu bezahlen und den Kindern der Nachbarschaft ein paar Pesetas zuzustecken, hatte Pedro Gordini keinen Grund zur Klage. Er verschenkte natürlich nicht wirklich Geld, sondern nur im übertragenen Sinne.

Gordini hatte noch ein Ziel. Manchmal glänzte es hell an seinem Horizont, manchmal schimmerte es trübe, wenn er eine Menge Reparaturen oder geschäftliche Dinge zu erledigen hatte. Aber die ganze Zeit stand es ihm vor Augen, und es war ein Teil von Pedros Umwelt, ob er nun direkt damit beschäftigt war oder nicht. Dieses Projekt, die große Liebe seines Lebens, war eine riesige Standuhr. Er hatte mehr als zwanzig Jahre an dieser Uhr gearbeitet. Es war keine gewöhnliche Standuhr. Nichts, was Pedro Gordini machte, war jemals wirklich gewöhnlich, aber dieses Gebilde war etwas besonders Ungewöhnliches. Es war etwas Einzigartiges. Vielleicht als Ausgleich für eine gewisse Schmächtigkeit seiner Gestalt hatte der alte Mann eine Schwäche für das Große. Weil er selbst klein war, sollte sein Werk groß sein. Weil er Geistesschärfe mit physischer Kraft gleichsetzte, bewunderte er physische Kraft und physische Größe um ihrer selbst willen. Pedro Gordinis Uhr ragte bis zur Decke seines hohen, altmodischen Ladens empor. Sie war über sechzehn Fuß hoch und entsprechend breit. Sie wirkte wie ein Riese unter den Uhren; sie war ein Koloss im horologischen Kleinkram, ein Gigant im Reich der Zeitmessung.

Pedro Gordini arbeitete an seiner Riesenuhr, sooft seine andere Arbeit es ihm erlaubte. Manchmal verbrachte er mehrere Stunden am Tag und mehrere Tage in der Woche damit, zierliche Muster in ihre Oberfläche einzugravieren und einzulegen. Die Gravierung, die er in die Felder des Uhrgehäuses einarbeitete, diente nicht nur rein ästhetischen Zwecken. Sie war ein eigener Kode. Eine Blumensprache, die mit Hilfe eines Buches, welches Gordini in einem Geheimfach im Fuß der gewaltigen Uhr aufbewahrte, entschlüsselt werden konnte. Selbst das Schloss, mit dem man das Geheimfach öffnete, war durch ein drehbares Blumenmuster vor neugierigen Augen verborgen.

In seinem Blumencode schrieb Pedro Gordini die Geschichte seines Lebens. Es bereitete ihm große Freude, sich Gedanken darüber zu machen, ob einmal ein Historiker der Zukunft jenes Blumenmuster studieren würde oder nicht. Vielleicht würde die Uhr einmal in einem großen Museum stehen oder einen Ehrenplatz im Zentralen Horologischen Institut einnehmen. Er fragte sich, ob derselbe Historiker der Zukunft seine Lebensgeschichte entschlüsseln würde. Es mochte ganz interessant sein, ihm dabei zuzusehen, sagte er sich. Pedro Gordini besaß nämlich den einfachen, überströmenden Glauben, der ihn hoffen ließ, dass er irgendwie auch dann noch in der Lage sein würde zu beobachten, zu wissen und zu verstehen, nachdem er durch das Tor gegangen war, das die Menschen »Tod« nennen. Er stellte sich das Leben nach dem Tod als einen Aufenthalt in einer höheren Sphäre vor, und er hoffte voller Optimismus, dass es irgendein Kommunikationsmittel, irgendeinen Kontakt zwischen dem Bereich, in dem er sich schließlich zu finden erwartete, und der physischen Welt geben würde, von der er wusste, dass er sie eines Tages verlassen musste. Mit seinen siebzig Jahren zweifelte er nicht daran, dass dieser Tag eher früher als später kommen würde. Er machte sich keine Illusionen. Sehr alte Leute glauben mitunter, sie müssten unsterblich sein, aber Gordini gehörte nicht dazu. Er hatte gut auf sich achtgegeben, wie es Shakespeare von dem alten Diener in Was ihr wollt sagt: »Er hat die Adern nicht gefüllt mit wildem, berauschendem Trunke.« Deshalb war auch der Winter seines Lebens ein sauberer, anständiger, gesunder Winter.

Er hatte sein altes Herz niemals überanstrengt; denn selbst der Bau der großen Uhr war in Abschnitten geschehen. Die Arbeit hatte keine große körperliche Anstrengung gekostet. Pedro Gordini legte die Armbanduhr, die er gerade fertig repariert hatte, beiseite. In einer sauberen, minuziösen Handschrift schrieb er die Rechnung für die Reparatur aus und wickelte sie um die Uhr, die er dann auf das Regal für fertige Arbeiten legte. Er glaubte an den Wert guter Gewohnheiten; er glaubte daran, dass es einen Platz für alles geben und dass alles an seinem Platz sein müsse. Er war in jeder Beziehung gründlich und methodisch - ein Handwerker der alten Schule.

Gordini wandte seine Aufmerksamkeit wieder der riesigen Standuhr zu. Er bezeichnete sie in Gedanken gern als den Ahnherrn aller Standuhren. Was sollte er in seinem faszinierenden Blumencode über den heutigen Tag schreiben? Er nahm das Buch aus dem Geheimfach und begann eine Botschaft über die Ereignisse des Tages zusammenzustellen. Er hatte vier Armbanduhren und einen Wecker repariert, und er hatte eine 8-Tage-Uhr und eine jener faszinierenden Sechsmonats-Uhren verkauft, bei denen Messinggewichte in einem Halbvakuum schwingen. Nachdem er alle diese Dinge vollbracht hatte, dachte Gordini in seiner simplen Art, hätte er auch ein Recht, die Nachwelt wissen zu lassen, was er getan habe. Große Männer schrieben ihre Memoiren in Eisen und Holz. Sie nahmen Holz, das zu Papier verarbeitet war, und schrieben darauf mit einer eisernen Schreibfeder. Das einzige, was Gordini ausließ, war die Tinte. Denn auch er schrieb seine Memoiren in Metall und Holz, nicht mit dem gewöhnlichen Eisen oder harten Stahl einer Schreibfeder, auch nicht mit dem feinen Gold oder Platin eines teuren Füllhalters. Er schrieb mit Silber. Die Buchstaben, die schönen Blumenbuchstaben, die er in die Oberfläche einritzte, blinkten und glänzten und lächelten ihn an. Er ließ seinen Blick über die Hunderte von Zeilen aus winzigen Silberblumen schweifen, die er bereits in die Oberfläche eingraviert hatte.

Plötzlich klopfte es an der Tür. Gordini hatte schon seit zwei Stunden geschlossen. Er fragte sich, wer das sein könne. Ein tiefer Instinkt warnte ihn, dass es das Beste sein würde, sein Buch zu verstecken. Er legte es in das Geheimfach zurück und schob die Blume, die das Schlüsselloch verdeckte, wieder an ihren Platz.

»Ich komme!«, rief er und ging an die Tür seiner kleinen Werkstatt. Er hatte kaum den Riegel zurückgeschoben, als sie nach innen aufgestoßen wurde. Eine große, dunkle Gestalt stand drohend im Türrahmen.

Pedro Gordini trat einen Schritt zurück. Der hochgewachsene Fremde trug einen Regenmantel, den er bis unters Kinn zugeknöpft hatte. Er hatte den Kragen hochgeschlagen, und ein Schlapphut verdeckte den oberen Teil seines Gesichts. Die Krempe reichte bis zu den Augen herunter. Die Augen blickten wild und zu allem entschlossen. Gordini fasste sich wieder ein wenig.

»Ich habe eigentlich geschlossen, Señor, aber wenn ich irgendetwas für Sie tun kann...«

»Ich brauche Geld.«

»Sicher, Señor, das brauchen wir alle - aber wie kann ich Ihnen helfen?«

»Lass die Witzchen, alter Schwachkopf!«, knurrte der Fremde. »Los, ich will Geld! Du hast doch sicher Gold oder Silber herumliegen. Her damit, aber schnell! Uhren, Wertgegenstände, gib sie her!« Eine Hand kam aus der Manteltasche. Ein Revolver lag darin.

»Aber Señor, ich verstehe nicht...«

»Dies ist ein Überfall! Verstehst du jetzt? Oder willst du lieber eine Kugel im Kopf haben?«

»Señor - ich...« Gordini brach ab und ließ den Rest des Satzes unausgesprochen.

»Geld her! Los, los!«

»Die Kasse ist hier«, sagte Gordini matt. Der große Mann stieß ihn unsanft zur Seite.

»Jetzt wirst du endlich vernünftig.«

Er nahm alles Geld heraus, das in der Kasse war. »Hast du sonst noch irgendwo etwas versteckt?«

»Nein, Señor, ich bringe mein Geld auf die Bank.«

»Das ist mal was Neues! Der erste Dorfbewohner, der einer Bank traut!«

»Wirklich, Señor. Die Bank ist sehr gut. Ich bringe mein Geld immer auf die Bank.«

»Du lügst!«, fauchte der gefährlich dreinblickende Fremde. »Ich weiß, dass du hier irgendwo noch Geld versteckt hast!«

»Ehrlich, Señor, ich habe keins. Ich schwöre es!«

»Wenn du nicht sofort damit rausrückst, schlage ich dir alles kurz und klein! Und zwar gründlich!« Die wilden, gefährlichen Augen funkelten heimtückisch.

»Bitte, Señor, bitte! Ich gebe Ihnen alles, was ich habe! Sehen Sie, hier sind noch ein paar Gold- und Silberbarren, die ich zum Arbeiten brauche, aber bitte, machen Sie nichts kaputt, bitte! Ich arbeite stundenlang, jahrelang an meinen Uhren. Bitte! Ich kann es nicht mit ansehen, wenn irgendetwas zerschlagen wird. Tun Sie es nicht!«

Der Fremde steckte die Gold- und Silberbarren in die Tasche.

»Hast du noch mehr Gold und Silber?«

»Nein, Señor, das ist alles! Ich schwöre es, sehen Sie hier und hier und hier...«

Der Fremde blickte plötzlich auf die riesige Standuhr.

»Was zum Teufel baust du da? Einen Kirchturm?«

»Es ist bloß eine Uhr, Señor...«

»Was ist das auf der Seite da für ein Metall? Die ganzen Röschen und das Zeug? Ist das Silber? «

»Es ist nur sehr dünn, Señor.«

»Rausreißen!«

»Aber das geht nicht, Señor. Es ist alles ins Holz eingelassen.«

»Du sollst es rausreißen!«

»Aber Señor, es ist mein ganzes Lebenswerk. Ich würde lieber sterben als es herauszureißen!«, keuchte Pedro.

»Wenn du es nicht tust, wirst du sterben«, knurrte der Fremde. »In dem Ding da sind mehrere tausend Peseten drin! Ich brauche es schnell; ich will es einschmelzen.«

»Das können Sie nicht machen, Señor!«, protestierte Pedro.

Der Fremde verpasste Pedro mit der freien Hand einen Schlag vor den Kopf. Der Uhrmacher taumelte zurück.

»Raus damit, aber schnell!«, befahl der Gangster.

Der Alte wischte sich das Blut von den Lippen.

»Schon recht, Señor«, sagte er. »Ich muss mir dazu einen Schraubenzieher und einen Silbermeißel holen.«

»Mach schnell, mach schnell«, befahl der Gangster brutal.

Pedro setzte den Meißel an der ersten Silberblume an. Es war, als müsse er einen Teil seines eigenen Herzens herausreißen. Er sah den rohen Fremden bittend an.

»Ich kann es nicht tun, Señor, bitte! Ich kann nicht!«

Der andere hob drohend die Hand, und im Verstand des harmlosen Alten klinkte irgendetwas aus. Er warf sich auf das große, unrasierte Individuum, das ihm befohlen hatte, sein Lebenswerk zu zerstören, und schlug mit dem Silbermeißel nach ihm. Er hinterließ einen klaffenden Riß im Arm «des Mannes, verfehlte jedoch Venen und Arterien.

»Du alter Narr! Du bist wohl verrückt! Schau, was du getan hast!«, knirschte der Gangster. Er schlug mit dem Revolverknauf nach dem Kopf des alten Mannes. Der Sicherungshebel war dick und hart. Er bohrte sich mit einem unangenehm knirschenden Laut in Pedro Gordinis Schädeldecke. Der alte Uhrmacher fiel zu Boden und rührte sich nicht mehr. Langsam breitete sich eine Blutlache um seinen zerschmetterten Schädel aus. Seine Augen öffneten sich plötzlich, zuckten krampfhaft noch ein- oder zweimal, dann wurden sie starr. Das Blut floss immer noch. Der Fremde beugte sich über den alten Gordini.

»Jetzt ist es also doch so weit gekommen«, murmelte er halb zu der Leiche und halb zu sich selbst. Es war kein Puls, kein Herzschlag mehr zu spüren...

Er wischte das Blut am Sicherungshebel der schweren Automatik sorgfältig an dem Arbeitskittel des alten Uhrmachers ab. Sein zorniger Blick streifte die gewaltige Standuhr. Es war jetzt keine Zeit mehr, das Silber herauszubrechen. Wenn man ihn jetzt erwischte, war er reif für den Galgen. Und selbst für einen Gangster ist ein Stück mit einem Galgen nicht die Art von Trauerspiel, in dem er eine Hauptrolle übernehmen möchte.

Der große unheimliche Fremde zog sich den Hut tiefer ins Gesicht und trat aus dem kleinen Laden, der sich so tragisch verändert hatte. Schnell und unerkannt ging er an den verdunkelten Häusern vorbei. Spanische Dorfbewohner gehen früh zu Bett. Keiner war zu sehen. Er kam zu einem großen ausländischen Wagen, schaltete das Standlicht ein und fuhr langsam aus dem Dorf hinaus, bevor er die Scheinwerfer voll aufblendete.

 

Die Ortspolizei tat ihr Bestes. Die Gendarmerie untersuchte alles, so gut sie es nur konnte, aber es gab keine Indizien. Der Fremde war ein Profi gewesen. Er war ein Mann, für den Besitz nicht neun, sondern zehn Zehntel des Gesetzes darstellte. Was er wollte, das nahm er sich und entriss es dem rechtmäßigen Besitzer unter Einsatz aller Mittel, die ihm zur Verfügung standen. Er war ein Mann, dem außer der Erfüllung seiner Impulse und der Befriedigung seiner Wünsche und Triebe nichts etwas bedeutete. Er war vollkommen und absolut egozentrisch. Die Rechtfertigung dessen, was er tat, war kein Problem für sein Gewissen - sofern er so etwas überhaupt besaß. Sein Über-Ich spielte seine melancholischen Weisen in einem so leisen Pianissimo, dass sie für seine aggressiven tierischen Sinne und Besitzinstinkte praktisch unhörbar waren.

Die Jahre vergingen, und Pedro Gordini verblasste aus den Erinnerungen aller, von einigen seiner liebsten und engsten Freunde abgesehen. Pedro Gordini ging in das Schattenregiment der Opfer ungelöster Verbrechen ein. Die große Uhr wurde zusammen mit den anderen Besitztümern des alten Mannes versteigert und kam in die Hände eines spanischen Privatsammlers.

Weitere Jahre vergingen, und die Uhr wechselte ihren Besitzer. Diesmal gelangte sie in eine französische Sammlung. Die Verhältnisse des französischen Sammlers verschlechterten sich, wie es allen Menschen dann und wann ergeht, und die Uhr wurde erneut versteigert. Diesmal hatte sie es schon zu einer gewissen Berühmtheit gebracht, und so wurde sie von einem Agenten zweifelhaften Rufes erworben, der das lukrative Geschäft betrieb, Antiquitäten in die Vereinigten Staaten zu exportieren.

 

Louis Maxaldo hatte ein großes, teures Anwesen in Beverley Hills. Louis Maxaldo gehörte nicht zur High Society von Beverley Hills. Dies war keineswegs so, weil die feine Gesellschaft unfreundlich, versnobt oder hochnäsig gewesen wäre. Louis gehörte nicht zu den Menschen, die in einer feinen Gesellschaft gern gesehen wurden. Maxaldo hatte einen Ruf, der stank wie die Drüsen eines Stinktiers. Man kannte Maxaldo von einem Ende des Landes bis zum andern, von Alaska bis Texas, von Neuengland bis Kalifornien. Man betrachtete Louis Maxaldo so ungefähr als das widerlichste Exemplar, das je über den stolzen Boden des Mutterlandes der Demokratie geschritten war.

Louis hatte einen Stab von Rechtsanwälten. Niemand arbeitete gern für Louis, aber einige Männer haben eben ihren Preis. Louis bot mehr - verdammt viel mehr - als jeder andere Auftraggeber, und für das Geld, das er zahlte, waren manche Männer bereit, einige ihrer Prinzipien zu opfern.

Louis hatte nicht nur Rechtsanwälte auf seiner Gehaltsliste, sondern auch Bankiers und Wirtschaftsbosse. Louis Maxaldo hatte sich ein Imperium aufgebaut. Dieses Imperium hatte seinen Anfang genommen, nachdem Louis in Europa in einige unangenehme Sachen verwickelt worden war und sich nach Amerika abgesetzt hatte. Jetzt umfasste das Netz dieses Verbrecherkönigs illegales Glücksspiel, Rauschgift, organisierte Erpressung und alles andere, was für ihn Gewinn abwarf, für den Rest der Menschheit aber schädlich war. Wenn es irgendwo ein krummes Geschäft gab und es groß genug war, war die Chance hundert zu eins, dass Maxaldo irgendwie seine Finger drin hatte. Es gab keinen krummen Kuchen, aus dem Maxaldo sich nicht die Rosinen herauspickte.

Weil der große Boss von der anständigen Gesellschaft verachtet wurde, musste er sich selbst beweisen, dass er über der Gesellschaft stand. Er musste versuchen, seinen verdrehten, pervertierten kleinen Verstand davon zu überzeugen, dass er es war, der die Gesellschaft verachtete und nicht umgekehrt. Maxaldo musste beweisen, dass er es war, der über den anderen stand - und nicht umgekehrt. Wenn eines Menschen Verstand hinreichend verdreht ist, wenn eines Menschen Prinzipien genügend oft mit Gewalt zum Schweigen gebracht worden sind, dann kann er sich fast alles einreden... fast. Denn Maxaldo war immer noch nicht völlig zufrieden. Eine seiner Kompensationen war seine fanatische Sammelleidenschaft. Wenn ein wertvoller Kunstgegenstand verschwand, bestand eine gute Chance, dass er schließlich über einen oder zwei zwielichtige Händler seinen Weg in Maxaldos Privatsammlung fand. Zwielichtige Händler im Kunstgeschäft waren selten, aber es gab sie - leider - doch. Und Maxaldos lange Nase, die er zu oft in schmutzige Sachen gesteckt hatte, war sehr wohl in der Lage, sie herauszuriechen.

In einer weniger taktvollen Gesellschaft gibt es den Spruch, dass es ein Stück verfaulten Fisch braucht, um ein anderes zu erkennen. Maxaldo war sicher dazu fähig, die wenigen unehrlichen Kunst- und Antiquitätenhändler aufzuspüren, wenn er auf sie traf. Es schien da etwas zu geben, was sie aus einem ansonsten ehrenhaften und ästhetischen Gewerbe heraushob. Der Agent, der die riesige unvollendete Uhr des längst verstorbenen Pedro Gordini gekauft hatte, gehörte zu den Leuten, von denen Walpole, ein englischer Premierminister des 18. Jahrhunderts, gesagt hätte: »Er hat seinen Preis.« Der Preis war hoch, aber er lag innerhalb der Reichweite von Louis Maxaldos Brieftasche.

Louis hatte verschiedene abgebrühte Agenten an der Hand, die wie Marionetten tanzten, wenn er die magischen Schnüre des Geldes zog. Wenn Louis an den Schnüren zog, wurden Kontakte hergestellt. Die Uhr hätte eigentlich auf völlig legale Weise und durch völlig normale Kanäle erworben werden können. Aber Maxaldo war es derart gewohnt, auf illegale Weise an Dinge zu kommen, dass er die Gewohnheit jetzt unmöglich durchbrechen konnte. So durchlief die spanische Uhr eine seltsame Kette von undurchsichtigen Händlern und zweifelhaften Agenten der Unterwelt...

Der Sammlertrieb und die fanatische Habsucht brannten wie eine sengende Flamme tief in Louis Maxaldos Seele, so dass er sich manchmal gar keine Gedanken darüber machte, was er jetzt eigentlich erwarb. Alles, was der Agent ihm gesagt hatte, war, dass eine Uhr und zwar, soweit der Agent wusste, eine einzigartige Uhr, zu ihm unterwegs war. Wenn sie einzigartig war, genügte das Louis Maxaldo schon. Er war ein großer, breitschultriger Mann in den frühen Sechzigern. Der größte Teil seines Haares war ausgefallen, aber seine dicken, stoppeligen Wangen waren mehr als ein Ausgleich für den Mangel an Dekoration und Haarwuchs auf dem oberen Teil seines Kopfes. Seine Augen funkelten so wild wie immer. Big Louis Maxaldo hatte sich die Jahre über nicht verändert. Er war derselbe gewissenlose Gangster geblieben, der er immer gewesen war.

Das Telefon läutete. Es war an ein privates Netz angeschlossen.

»Yeah. Hier ist Big Louis. Wer ist da? Was willst du?«

»Hier Johnny Levine, Boss, Ihr Agent.«

»Ja, Johnny, was gibt's?«

»Die Schiffsladung aus Europa, die Sie erwarten, ist soeben eingetroffen.«

»Schick sie her!«

»Klar, Boss! Der übliche Lieferwagen?«

»Der übliche Wagen.«

Der Lieferwagen kam pünktlich an und wurde unter Big Louis' Adleraugen entladen. Die Uhr war in einer riesigen Kiste verpackt, und mehrere Stunden harte Arbeit waren notwendig, um die Verpackung zu entfernen. Sechs Männer waren nötig - und Maxaldos Männer waren große, harte Kerle -, um sie hereinzutragen.

Big Max legte selbst mit Hand an, als sie das Ding aufstellten. Die Uhr war sechzehn Fuß hoch und entsprechend breit. Max' Räume hatten sehr hohe Decken; denn sein Landsitz in Beverley Hills glich mehr einem mittelalterlichen Schloss als einem modernen Haus. Big Max liebte eben alles im großen Stil. Er sah sich die Uhr mit offensichtlicher Zufriedenheit an.

Sehr leise und wie aus weiter Ferne begann sich in Louis Maxaldos Gehirn die undeutliche, fast unhörbare Stimme des Gedächtnisses zu regen. Hatte er diese Uhr nicht schon irgendwo einmal gesehen? Aber das war unmöglich! Er musste sich das einbilden. Doch eine solche Uhr bildete man sich nicht ein. Es war nicht die Art von Uhr, die man leicht vergaß.

Big Louis gehörte zu den Menschen, die sich an ihren Neuerwerbungen weiden. Das war bei ihm wiederum ein Ausgleich dafür, dass die Gesellschaft ihn nicht akzeptierte. Er stand noch vor der Uhr und sah sie sich an, als seine Männer schon zum Wagen zurückgegangen waren.

»Du gehörst mir«, sagte er. Er trat an seine Neuerwerbung heran und schlug mit der flachen Hand gegen den hölzernen Kasten. »Du gehörst mir! Ist das klar? Du gehörst mir, und ich bin Big Louis Maxaldo!«

»Tick-tock, tick-tock.« Die Uhr schien von ihrem neuen Besitzer überhaupt nicht beeindruckt zu sein. Maxaldo betrachtete sie von allen drei Seiten - die vierte schloss mit der Wand ab - und aus verschiedenen Winkeln. Er sog sie mit den Augen aus verschiedenen Positionen in sich ein.

»Jawohl«, sagte er weiter. »Ich bin Big Louis Maxaldo, und ich kann alles kaufen und verkaufen, was ich will! Alles! Es gibt nichts, womit Big Louis nicht fertig wird! Nichts!« Er blickte empor. »Du bist groß, und du bist wertvoll, aber du bist nicht so groß oder so wertvoll wie Big Louis Maxaldo! Ich bin der einzige in diesem ganzen Staat - der einzige in den ganzen Vereinigten Staaten -, der eine Uhr wie dich hat. Das macht mich zu etwas. Aber du verstehst das ja sowieso nicht. Du bist bloß ein Ding aus Holz und Metall, Pendeln und Federn; du weißt nicht, wovon ich rede. Aber wenn du es wüsstest, wärest du froh darüber, Big Louis Maxaldo zu gehören!«

»Tick-tock, tick-tock, tick-tock«, machte die Uhr. 

»Ich möchte wissen, was du sagen würdest, wenn du reden könntest«, überlegte Louis. »Vielleicht wünsche ich mir, du könntest es - ich habe es satt, niemanden zu haben, mit dem ich reden kann. Ich kann Leute kaufen, damit sie kommen und mit mir reden. Aber ich meine, die Leute reden nicht mit mir, weil sie es möchten. Ich weiß das! Ich weiß es, und es tut weh. Du redest mit mir. Selbst wenn du nur tick-tock! sagst, du redest mit mir.«

»Tick-tock«, gab ihm die riesige Uhr recht.

»Du sagst es, du sagst es«, meinte Big Louis. »Bleib du nur schön am Boden, mein Freund! Du hast eine sanfte Stimme für einen so großen Kerl.« Er lachte über seinen eigenen Scherz, weil sonst keiner da war, der darüber hätte lachen können. Er strich mit den Händen über die hölzerne, reichverzierte Täfelung. Er beugte sich zum Fuß der Uhr hinunter und betastete die glatte, polierte Holzoberfläche. Etwas bewegte sich unter seinen Fingern. Es war eine kleine, silberne Rose.

»Nanu«, murmelte Max, halb zu der Uhr und halb zu sich selbst. »Was haben wir denn da?«

»Tick-tock«, antwortete die Uhr leise.

»Ich frage mich, ob du es wohl weißt - du merkwürdige Maschine«, sagte Max. Er blickte auf das kleine silberbeschlagene Schlüsselloch, das durch die Drehung der silbernen Rosenknospe freigelegt worden war.

»Hmm«, meinte er gedankenvoll, »wenn das ein Schloss ist, muss es sich auch öffnen lassen.« Er holte eine starke Leselampe und ließ den Strahl suchend über den Fuß streichen. Der haarfeine Schubladenspalt war in dem starken Licht gerade noch zu erkennen. »Was haben wir da?«, wiederholte Big Louis.

»Tick-tock«, antwortete die Uhr automatisch.

»Ja doch, ja doch«, sagte Max.

Er trat an seinen Schreibtisch, hob den Hörer ab und wandte sich an einen unsichtbaren Telefonisten.

»Schaff mir Satch Conelly herbei. Sag ihm, ich will ihn binnen einer Stunde hier sehen«, befahl Big Max. »Sag ihm, er soll Dampf dahinter machen!«

»Okay, Boss!«

Fünfunddreißig Minuten, nachdem Satch Conelly die Nachricht erhalten hatte, traf er ein. Es war eine rasante Fahrt gewesen, aber wenn Big Louis Maxaldo einen sehen wollte, legte man besser einen Zahn zu. Big Louis Maxaldo wartete nicht gern. Satch stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er sah, dass Big Louis grinste.

»Nicht schlecht, Satch, alter Junge. Ich mag Leute, die pünktlich sind. Ich mag Leute, die wissen, auf welcher Seite ihr Brot gebuttert ist. Leute, die wissen, wo die Moneten sitzen.«

»Ich weiß, Boss«, antwortete Satch. »Was soll ich tun?«

»Ich hab' ein Problem«, meinte Big Louis.

»Ja?«, half Satch nach.

»Ich hab' eine Uhr. Die Uhr hat ein Geheimfach, und das Geheimfach ist abgeschlossen. Nun wäre das das erste Schloss, das Satch Conelly nicht knacken kann. Ich glaub' nicht, dass dieses Schloss eine Ausnahme ist - aber da liegt der Haken! Ich hab' eine Menge für diese Uhr bezahlt, und ich will, dass sie heil bleibt. Ich will, dass das Schloss heil bleibt. Ich will, dass das Geheimfach heil bleibt.«

»Was ist es für ein Fabrikat?«, fragte Satch.

»Teufel, keine Ahnung. Wohl eher Marke Eigenbau.«

»Könnte schwierig werden«, meinte der Panzerknacker.

»Es ist mir egal, ob du 'ne Woche, vierzehn Tage oder 'nen ganzen Monat daran sitzt. Zeit und Geld spielen keine Rolle. Das weißt du. Ich will das Geheimfach aufkriegen. Und ich will nicht, dass es dabei in Stücke geht. Du kannst dir an Werkzeug kaufen, was du willst. Ich zahle alles, und ich zahl' dir zwanzig Dollar die Stunde, ganz gleich, wie lange du brauchst. Ich weiß, dass du schlau genug bist, mich nicht übers Ohr zu hauen, und hier sind hundert als Vorschuss, um dich in die richtige Arbeitsstimmung zu bringen.« Er warf Satch einen Geldschein hin.

»Du wirst hier essen, und du wirst auf dieser Couch da schlafen, bis das Schloss offen ist. Wenn ich etwas will, dann will ich es jetzt, und ich will es schnell. Ich will es, wenn ich es will. Nicht wenn irgendein Schafskopf sagt, dass ich es haben kann. Wenn Big Max eine Idee hat, dann wird auch etwas draus, und zwar hier und jetzt, nicht in einer Woche, nicht in einem Tag, nicht in einer Stunde, sondern jetzt, jetzt, JETZT! Es geschieht, wenn ich es sage und wie ich es sage - kapiert?«

»Sie kennen mich, Boss«, antwortete Satch, »ich mache alles, was Sie sagen.«

»Ein Prachtkerl«, meinte Big Louis. »Und jetzt an die Arbeit, Satch, alter Junge, an die Arbeit!«

Satch ging an die Arbeit. Er rannte zum Wagen hinunter, um seine Ausrüstung zu holen. Alle zwei oder drei Stunden schickte er den einen oder anderen von Max' Gorillas los, um neues Werkzeug zu holen. Das Schloss zum Geheimfach war der ganze Stolz des alten Pedro Gordini gewesen.

Es hatte ihn sechs Monate gekostet, das Schloss zu entwerfen und anzufertigen. Es kostete einen verzweifelten, schweißgebadeten, schlaflosen, erschöpften Satch Conelly drei Tage unaufhörlicher Arbeit, unterbrochen nur von kurzen »Ruhepausen« mit einer Tasse Kaffee in der einen und einem Schraubenzieher oder einem anderen Instrument in der anderen Hand. Er horchte das Schloss ab. Er versuchte es mit Echolot. Er tat alles, was ein brillanter Schlosser mit einem Schloss nur anfangen kann. Schließlich fand er den Dreh. Es wäre vielleicht eine Arbeit von fünf Minuten gewesen, das Geheimfach einfach aufzubrechen. Aber Maxaldo hatte verboten, Gewalt anzuwenden. Big Louis Maxaldo wollte, dass das Schloss ordnungsgemäß geöffnet wurde...

Irgendetwas in Louis Maxaldos Unterbewusstsein versuchte ihm immer wieder klarzumachen, dass er diese Uhr schon einmal gesehen hatte. Aber die Erinnerung blieb verschwommen. Sie weigerte sich, zu einem erkennbaren Schema oder zu einer Form zu werden. Er runzelte in tiefer Konzentration die Stirn.

Louis trat an das Geheimfach, das soeben aufgesprungen war.

»Okay. Jetzt ab mit euch«, sagte er. »Ich will allein sein. Macht, dass ihr wegkommt!«

Wenn das Fach ein Geheimnis enthielt, wollte Louis Maxaldo der Einzige sein, der es kannte. Er wollte der Einzige sein, der überhaupt ahnte, worum es bei diesem Geheimnis ging. Es war seine Uhr. Deshalb war es sein Geheimnis. So einfach war das alles für Big Louis.

Der Geldschrankknacker hatte gute Arbeit geleistet. Er würde dafür auch das Geld bekommen, das Louis ihm versprochen hatte. Aber damit endete seine Verbindung zu dieser Uhr, soweit es Louis Maxaldo betraf.

Draußen war es finster. Die Vorhänge waren schon zugezogen. Das künstliche Licht strahlte hell, beinahe grell, fast als ob Big Louis mit seinem Geld Licht habe kaufen wollen, das ihn vor der Dunkelheit schützte. Es war, als habe Big Louis Angst vor der Dunkelheit, dabei behauptete er doch immer, er habe vor nichts Angst. Er zwang sich selbst zu dem Glauben, dass er vor nichts Angst hatte, und bis zu einem gewissen Maße überzeugte er auch seine Umgebung, dass er furchtlos war. Aber es gab sehr wenig Amateurpsychologen in der Gruppe, mit der Big Louis Maxaldo sich umgab. Sehr wenige von Big Louis' Gorillas hatten wirklich Grips zum Denken, ganz zu schweigen von dem bisschen Intelligenz, das eine notwendige Vorbedingung für die Analyse von Gedankenprozessen ist. Die Maske der Furchtlosigkeit, die Big Louis zur Schau trug, war im wirklichen Leben nur schwer aufrechtzuerhalten. Aber er hatte es die ganzen Jahre hindurch verstanden, jeden in seiner Umgebung zu täuschen - und nicht zuletzt sich selbst. Doch sein Schauder vor der Finsternis und die Tatsache, dass selbst Schatten ein Gräuel für ihn waren, zeigten jedem, der auf solche Dinge achtete, dass in seinem innersten Herzen, in seinem tiefsten Innern und - sofern er ein so zartes Organ überhaupt besaß - in seiner innersten Seele der große Louis Maxaldo sich erbärmlich ängstigte...

Big Louis kniete auf dem Boden neben der Uhr. Es sah fast so aus, als erweise er einem großen seltsamen Idol seine Huldigung.

»Tick-tock«, sagte die Uhr. Louis sah mit verschleiertem Blick zu ihr auf. Das Pendel, das im Innern des sechzehn Fuß hohen Kastens schwang, war ein massives, schweres Ding. Die Kraft, mit der es seinen umschatteten Bogen beschrieb, war beinahe erschreckend. Es war kein einfaches Pendel; denn es gibt nichts Einfaches an einer Uhr, der ein Mensch viele Jahre seines Lebens gewidmet hat, wie Pedro Gordini es mit dieser Uhr getan hatte. Alles war verziert. Der Großteil der Verzierungen bestand aus ziseliertem Metall. Das Pendel war mit verschlungenen Girlanden aus eisernen Blumen bedeckt, die wie vergrößerte Abbilder jener Blumen aussahen, in denen der arme, alte Gordini seine Lebensgeschichte aufgezeichnet hatte.

Big Louis Maxaldo griff in das Geheimfach und zog das Buch heraus. Er sah es sich ein paar Minuten verwirrt an. Dann blätterte er um und sah eine Zeichnung, die nichts anderes als eine Seite der Uhr darstellen konnte. Er holte sich einen Stuhl, aber der Stuhl reichte nicht. Er zog sich einen Tisch heran, stellte den Stuhl auf den Tisch und kletterte nicht ohne Anstrengung hinauf...

Jetzt konnte er gerade das obere Ende der Uhr erkennen. Er begann die erste Zeile der eingearbeiteten Silberblumen zu studieren. Dabei begannen seine Erinnerungen sich zu melden und aus dem Unterbewusstsein pochend an die Oberfläche zu drängen. Bläschen unterbewusster Erinnerung stiegen auf wie Giftgas in einem geistigen Sumpf. Big Louis war keineswegs sehr intelligent. Doch zu seinen geistigen Errungenschaften, gering wie sie waren, gehörte die Kenntnis des Spanischen. Während seiner Zeit in Europa war er unter verschiedenen falschen Namen von der Polizei fünf verschiedener Länder gejagt worden. Big Louis Maxaldo hatte sich genug Französisch, Deutsch, Spanisch und eine Art Rotwelsch, eine Verbrechersprache, die von der Unterwelt der meisten Länder verstanden wurde, angeeignet, um sich durchzuschlagen. Big Louis hatte das zweifelhafte Privileg genossen, zu einer ausgewählten Gruppe von Menschen zu gehören, welche »Dies ist ein Überfall!« in sieben verschiedenen Sprachen zu sagen wussten.

Er gehörte zu jener noch kleineren Gruppe, die tatsächlich in allen sieben Sprachen und zu Menschen sieben verschiedener Nationalitäten »Dies ist ein Überfall!« gesagt hatte! Er hatte mehr Zeit in Spanien und in Frankreich als in irgendeinem anderen europäischen Land verbracht. Dementsprechend waren sein Französisch und Spanisch besser als die anderen Sprachen, die er neben seiner Muttersprache beherrschte. Sein Spanisch war noch etwas besser als sein Französisch, aber es war ziemlich eingerostet. Es war schon lange her - damals in den Sechzigerjahren - und es war schon viel Wasser die Flüsse hinuntergelaufen, seit Louis kurze Zeit von allen Hunden gehetzt worden war. Jetzt war Louis ein großes Rad; kleinere Räder bewegten sich, wenn er das Stichwort gab. Es gefiel Big Louis, die Hand zu sein, die die Peitsche führte.

Die Erinnerungen meldeten sich stärker. Während er sich bemühte, die verdrängten Erinnerungen an das Spanische freizubekommen, das er früher so gut beherrscht hatte, ließ er unbeabsichtigt auch andere Erinnerungen frei, die er nicht benötigte. Aber dennoch drängten sie sich mehr und mehr in einen Bereich des Verstandes vor, wo sie von jenem flackernden Licht erfasst werden konnten, mit dem man oft das Bewusstsein vergleicht, wenn psychologische Allegorien gezogen werden.

Big Louis fühlte sich seltsam beklommen, als er den Blumencode aus graviertem Silver zu entziffern begann:

»Mein Name ist Pedro Gordini, und ich schreibe die Geschichte meines Lebens. Ich wurde 1891 in Valencia geboren. Mein Vater war Uhrmacher, und obwohl wir nicht wohlhabend waren, waren wir auch nicht arm. Als Knabe wurde ich auf eine Privatschule geschickt, die von Señor Don Sebastian geleitet wurde. Er war ein strenger, aber freundlicher Mann, und ich kann wohl sagen, dass meine Schultage eher glücklich als unglücklich waren. Als ich aus der Schule kam, lebten wir immer noch in Valencia, und ich konnte meinem Vater im Geschäft helfen. Ich war kein richtiger Lehrling, aber ich lernte alles, was er mir über Uhren beibringen konnte. Wir machten auch Spielzeug mit Uhrwerken, und dieser Teil unserer Arbeit machte mir immer besonders Freude...«

Big Louis Maxaldo las immer weiter. Es machte ihm einige Mühe, das verschlüsselte Spanisch zu entziffern. Er las, wie zwei Weltkriege das ruhige, friedliche Leben Pedro Gordinis getrübt hatten. Er las, wie Gordini von Valencia in ein kleines Dorf weiter im Norden gezogen war. Und als er den Namen dieses Dorfes las, ging in Louis Maxaldos Kopf plötzlich ein grelles Licht auf. Big Louis musste sich sogar einen Moment lang krampfhaft an der Uhr festhalten, um nicht ins Schleudern zu kommen. Der Stuhl, der auf der glatten Tischfläche einen unsicheren Stand hatte, rutschte ein wenig zur Seite, und Big Louis fühlte sein Herz klopfen, als er wieder still stand. Und selbst jetzt spürte er noch, wie ihm ein unkontrollierbares Zittern die Nerven seiner Beine hinauf- und hinunterlief.

»Ich bin Big Louis Maxaldo, und ich habe keine Angst«, sagte er laut. »Ich bin Big Louis Maxaldo, und ich habe vor niemandem Angst - vor Lebenden so wenig wie vor Toten!« Er atmete schwer. »Ich bin Big Louis Maxaldo«, wiederholte er und warf sich in die Brust; der Klang dieser Worte gefiel ihm. Es gefiel ihm zu glauben, dass er als Einziger auf der Welt keine Angst hatte. Vielleicht wusste er auf der untersten Ebene seines inneren Wesens, dass er mit einer Lüge lebte. Vielleicht wusste er es... vielleicht auch nicht. In seinem Verhalten machte es wenig Unterschied. Big Louis gewann wieder Halt auf seinem unsicheren Stand. Er lehnte sich weiter gegen die Seite der Uhr, um sich abzustützen. Er erinnerte sich jetzt. Er erinnerte sich, dass er auf der Flucht gewesen war. Er war durch ein Dorf in Nordspanien gekommen. Er hatte den Motor seines Wagens laufen lassen, während er auf leisen Sohlen durch das Dorf geschlichen war. Mit hochgeschlagenem Kragen, den Hut tief in die Augen gezogen, war er von Schatten zu Schatten gehuscht, um nach leichter Beute zu suchen. Er hatte Kies gebraucht. Die Flucht von Europa in die Staaten funktionierte nur mit Geld.

Die Fluchtroute war eine altbekannte Maschinerie. Die Fluchtroute, jener Untergrundkanal, durch den sich Gestalten der Unterwelt mit einiger Leichtigkeit bewegen konnten, war eine Maschine mit Verstand, und wenn sie nicht funktionierte, sobald die Münze in den Schlitz gesteckt wurde, konnte der Gentleman, der sie hineingesteckt hatte, äußerst ungehalten werden!

Das Ergebnis dieses Unmutes hätte die Zerstörung der Maschine bewirkt - oder zumindest des Teils, mit dem er in Kontakt gekommen war.

Es war keine Frage von Ganovenehre. Es war eine Frage der Angst. Wenn man mit ungezinkten Karten spielte und den Mann durchbekam, nachdem er gezahlt hatte, brauchte man sich vor Vergeltungsmaßnahmen nicht zu fürchten. Und eine Empfehlung von einem zufriedenen Kunden zum anderen war so ziemlich die einzige Form von Werbung, die sich die Maschine erlauben konnte.

Wegen dieser Ähnlichkeit des gutorganisierten Untergrundfluchtwegs mit einer Maschine war es gewissermaßen eine Selbstverständlichkeit, dass man im Voraus zu zahlen hatte.

Es gab keinen Kredit. Es war nicht die Art von Organisation, der man einen regelmäßigen monatlichen Scheck zukommen lassen konnte. Man zahlte im Voraus und auf Treu und Glauben. Treu und Glauben in dem Sinne, dass man nach dem ungeschriebenen Gesetz der Unterwelt in jeder möglichen Form Rache nehmen konnte, wenn die Maschine einen im Stich ließ. Wenn ein Mann auf der Flucht war und seine Gebühr bezahlt hatte und dann im Stich gelassen wurde, insbesondere im Fall eines Mannes, der ein Kapitalverbrechen auf dem Gewissen hatte, dann war die Vergeltung, die er gegen den fehlerhaften Mechanismus der Fluchtmaschine üben würde, höchstwahrscheinlich tödlicher Natur.

Die Fluchtmaschine hatte Big Louis Maxaldo nicht im Stich gelassen; denn er hatte bezahlt. Er hatte mit ein paar Gold- und Silberbarren bezahlt, dem Gold und Silber, das er zusammen mit ein paar Peseten aus dem Laden des alten Uhrmachers geraubt hatte. Er hatte Sorgen gehabt, dass der Wert der Barren nicht ausreichen würde. Darum hatte er dem alten Mann befohlen, auch die Silberblumen herauszureißen. Der alte Mann hatte sich geweigert und hatte daran glauben müssen...

Er spürte keine Reue bei dem Gedanken. Der alte Dummkopf war selbst schuld gewesen. Das oberste Gebot des Überlebens ist, dass man einer Pistole nie mit Argumenten begegnen sollte. Die Alten hatten nicht mit den Jungen und Starken zu diskutieren. Der Unbewaffnete diskutiert nicht mit einem Bewaffneten... und so weiter... und so weiter...

Es war ein Gesetz, das Big Louis Maxaldo derart klar, einfach und offensichtlich erschien, dass es beinahe über sein Verständnis ging, dass es Leute gab, die diese Regel nicht kannten, Leute, denen ein Prinzip mehr bedeutete als Waffengewalt.

Es gab Leute, für die Ethik, Mut und Gewissen höher standen als der Gedanke der Gewalt - Leute wie diese gehorchten nicht dem Gesetz, das zu Big Louis' Lebensblut gehörte. Weil sie ihm nicht gehorchten, mussten sie, wie Louis es nannte, die »Konsequenzen« tragen, und diese Konsequenzen waren oft der kürzeste Weg in die Ewigen Jagdgründe, gen Walhalla, in das Große Jenseits oder welchen Euphemismus man auch immer verwenden wollte. Die Bedeutung war letzten Endes die gleiche. Das Gesetz des Verbrechens bestand darin, dass der Stärkere überlebte. Wenn ein unschuldiges Opfer dieses Gesetz nicht verstehen konnte, musste dieses Opfer sterben.

Big Louis Maxaldo las die unvollendete Lebensgeschichte. Verglichen mit seinem eigenen Leben erschien sie ihm als ausgesprochen gewöhnlich. Er las sie zum zweiten Mal, und als er sie las, begannen einige der Blumen sich unmerklich zu verändern...

Er blickte ein weiteres Mal hin und zog erneut das Code-Buch zu Rate. Das war doch absurd! Die letzte Zeile hatte sich ganz eindeutig verändert, weil er sie zuletzt gelesen hatte!

Zuvor hatte dort nur ein Bericht über die geschäftlichen Transaktionen jenes Tages gestanden. Jetzt las er statt von Uhrverkäufen die Geschichte seines eigenen Überfalls!

Aber der Uhrmacher konnte nichts über den Überfall geschrieben haben, bevor Big Louis gegangen war... und als Big Louis ging, hatte der Alte schon tot auf dem Boden gelegen! 

Was hatte dazu geführt, dass die Zeile eingravierter Silberblumen plötzlich ihre Bedeutung geändert hatte?

Er legte eine Hand über die Augen und wandte sich von der silberbeschlagenen Oberfläche ab. Sie blendete ihn irgendwie. Er rieb sich die Augen und sah noch einmal hin.

»Oh, nein«, stöhnte er. »Das gibt es doch nicht!«

Die letzte Zeile hatte noch eine weitere seltsame Verwandlung durchgemacht. Diesmal las er seine eigene Lebensgeschichte! Er blinzelte und strich mit der Hand über das gravierte Silber, als müsse er sich vergewissern, dass es sich nicht bewegt hatte. Doch es schien so fest in die polierte Oberfläche der Uhr eingearbeitet zu sein wie eine Silberader, die durch einen Felsen geht.

Big Louis sah noch ein weiteres Mal hin und begann erneut zu lesen. Doch jedes Mal, wenn er eine Zeile las, veränderte sie sich, so dass die jeweils letzte Silberblumen-Zeile eine zusammenhängende Geschichte erzählte, die Geschichte seines eigenen Lebens! Er krallte sich an den getäfelten Seiten der Uhr fest und las und las. Er brauchte jetzt kein Code-Buch mehr; die Symbole waren so einfach zu lesen wie das vertraute Alphabet.

Er keuchte. Er spürte, wie seine Nackenhaare sich sträubten. Eisige Finger der Furcht krampften sich um seinen Magen; jeder Nerv in seinem Körper war gespannt wie eine Bogensehne. Das Blut rauschte und pochte durch seine Adern wie Wasser in einem Feuerwehrschlauch. Sein Herz klopfte ihm gegen die Rippen. Seine Nasenflügel bebten, und seine Augen waren weit aufgerissen.

Er las weiter. Er las, wie er seinen Agenten geschickt hatte, um die Uhr zu kaufen. Er las, wie er den gewissenlosen Schlosser bestellt hatte, um das Geheimfach zu öffnen.

Er las und las...

Und noch immer wirbelten die tanzenden Silberblumen unwiderstehlich über die Täfelung. Er las, wie er das Buch geöffnet und die seltsame Inschrift entschlüsselt hatte. Er las, wie die Erinnerung an den Mord, den er vor so langer Zeit begangen hatte, ihm wieder zu Bewusstsein kam - und die nächste Zeile, die erlas, lautete:

»Louis Maxaldo erlitt durch den Schock seiner Entdeckung einen plötzlichen Herzanfall und stürzte von der Spitze seiner Uhr zu Tode.«

Das irrsinnig pochende Blut schien in seinen Adern zu gefrieren.

»Nein!«, keuchte er.

»Tick-tock«, sprach die Uhr wie ein Richter, der das Urteil verkündet. Ganz plötzlich ertönte der mächtige Schlagmechanismus mit einem lauten, unerwarteten Klang. Big Louis zuckte vor der vibrierenden Täfelung zurück, als habe er einen physischen Schlag erhalten. Der Stuhl rutschte auf der polierten Tischoberfläche ein wenig nach links. Es war ein hoher Stuhl und ein hoher Tisch, und Louis war nicht mehr der Jüngste. Die Beine des Stuhls glitten über die polierte Tischkante. Mit grässlichem Poltern stürzte der Stuhl um. Big Louis stürzte zu Boden.

Mit dem Kopf schlug Big Louis direkt vor der Uhr auf. Der dumpfe Aufprall seines fallenden Körpers mischte sich mit dem Schlagwerk, als ob die Uhr selbst mit einstimme und auf eine dunkle, makabre Art den Tod des Mannes genieße, der ihren Schöpfer ermordet hatte.

Big Louis lag reglos am Fuß der spanischen Uhr. Seine Augen blickten starr. Sein Gesicht war so ausdruckslos wie das Zifferblatt der großen Uhr, als er zu ihr aufblickte«. Die Uhr tat ihren letzten Schlag. Im Raum herrschte Totenstille.

  R. Lionel Fanthorpe: Lilith, die Göttin der Nacht

  (Lilith, Goddess Of Night)

 

 

 

Derwent Horler war ein schlanker, dunkelhaariger, sensibler junger Mann. Chaucer hätte ihn vielleicht als einen Knappen bezeichnet, doch es fehlte ihm die kräftige Statur jenes Knappen, der im 14. Jahrhundert den ehrenwerten Ritter nach Canterbury begleitet hatte. Derwent Horler war Dichter, Künstler und Bildhauer. Er war beinahe zu sensibel für einen Platz in dieser gefühllosen Welt. Er schien von einer Überempfindlichkeit eher befallen zu

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Authors/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Helmut W. Pesch/Werner Gronwald/Christian Dörge (Original-Zusammenstellung).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2018
ISBN: 978-3-7438-8434-2

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