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Leseprobe

 

 

 

 

RONALD M. HAHN

 

 

DIE TERRANAUTEN, Band 16:

Gestrandet auf Rorqual

 

 

 

Science-Fiction-Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

GESTRANDET AUF RORQUAL von Ronald M. Hahn 

 

Das Buch

Man schreibt das Jahr 2500 irdischer Zeitrechnung.

David terGorden und seine Gefährten sind nach ihrer Flucht von Zoe durch Weltraum II mit der TASCA zum geheimnisvollen Planeten RORQUAL verschlagen worden. Aus dem Orbit erkennen sie, dass sich RORQUAL nicht im normalen Universum befinden kann, da er in eine seltsame, rötlich schimmernde Sphäre eingebettet ist. Als sich die Gefährten entschließen, mit den beiden Beibooten der Tasca zur Oberfläche zu starten, verlieren sie beim Eintritt in die Atmosphäre plötzlich ihre PSI-Kräfte, und die Beiboote stürzen ab...

 

DIE TERRANAUTEN – konzipiert von Thomas R. P. Mielke und Rolf W. Liersch und verfasst von einem Team aus Spitzen-Autoren – erschien in den Jahren von 1979 bis 81 mit 99 Heften und von 1981 bis 87 mit 18 Taschenbüchern im Bastei Verlag. 

Der Apex-Verlag veröffentlicht die legendäre Science-Fiction-Serie erstmals und exklusiv als E-Books.

  GESTRANDET AUF RORQUAL von Ronald M. Hahn

 

 

 

 

   

  Bericht David terGorden:

 

Als die Grauen Garden am 3. Februar 2500 zum dritten Angriff auf Zoe ansetzten, waren wir alle bis an die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit erschöpft. Einige Treiber hatten bereits unter der tagelangen Extrembelastung, einen psionischen Abwehrschirm um Zoe aufrecht zu erhalten, den Verstand verloren.

Ich selbst kann mich an die letzten Stunden in den Höhlen von B’ai Ching nur noch undeutlich erinnern. Das blasse, angespannte Gesicht der kleinen Narda, die mit mir den Abwehrschirm koordinierte; Asen-Gers beruhigende Gedankenimpulse; die leeren Augen von Mandorla, der desertierten Queen der Garde – mehr ist mir nicht im Gedächtnis geblieben.  

Valdecs Kaiser-Transmitter brachte das Verderben nach Zoe. Bei dem Versuch, durch diesen heimlich installierten Transmitter unseren Abwehrschirm zu unterlaufen, kam es zu einer kosmischen Katastrophe. Die Garde verlor für kurze Zeit die Kontrolle über das Kaiser-Gerät, und eine unbekannte Energieform aus Weltraum II drang in unser Universum ein. Die Weltraum-II-Energie begann den Planeten Zoe regelrecht zu fressen. Uns blieb nur die Kapitulation, wenn wir das Leben unserer Treiber-Kameraden retten wollten. Mandorla verhandelte mit ihrem ehemaligen Chef Valdec und erreichte, dass zumindest das Leben der Treiberrebellen geschont wurde. Wer sich ergab, den erwartete lediglich eine Gehirnoperation, mit der seine Psi-Fähigkeiten zerstört wurden. Nur der innere Kreis der Terranauten hatte keine Gnade zu erwarten. Asen-Ger, die anderen Terranauten, Mandorla und ich mussten fliehen, wenn wir überleben wollten.

Im Chaos der einstürzenden Grotten von B’ai Ching kämpfte ich mich an der Seite von Mandorla zu unserem Fluchtraumschiff durch, das die Logenmeister in einer Nebenhöhle schon vorsorglich bereitgehalten hatten. Es war ein achtzig Meter durchmessenes Kurierschiff, wie sie vom Konzil für Eilaufträge eingesetzt werden. Die alte Bezeichnung auf der Hülle hatte man übermalt. Jetzt trug das Schiff mit den überschweren MHD-Triebwerken den Namen Tasca, der wohl an die legendäre Revolutionärin des Interstellaren Krieges erinnern sollte. Im Augenblick kein gutes Omen, denn mit der Rebellion der Treiber stand es nicht viel besser als mit dem historischen Aufstand der Kolonialwelten, den das Konzil vor fast hundert Jahren im Interstellaren Krieg brutal niedergeschlagen hatte.  

Unser großer Gegner, der Konzilsvorsitzende Valdec, schien auf ganzer Linie gesiegt zu haben. Der Aufstand der Treiber war überall im von Menschen besiedelten Teil der Galaxis zusammengebrochen. Die Treiber waren zu Ausgestoßenen und Gejagten geworden, mussten ständig vor Valdecs Grauen Garden fliehen. Man brauchte sie nicht mehr, denn Valdec hatte einen Raumschiffsantrieb entwickelt, der die Treiberraumfahrt ablösen würde. Doch die Kaiserkraft, so nannte man die Energie aus Weltraum II, mit der der neue Antrieb arbeitete, stellte eine tödliche Bedrohung für unser Universum dar. Valdec ignorierte das. Für die Verwirklichung seiner Machtträume war er zu jedem Risiko bereit.

Im Rückblick lässt sich leicht erkennen, dass die Treiberrevolte des Jahres 2500 von Anfang an keine Chance hatte. Das schoss mir auch damals in den letzten Minuten auf Zoe durch den Kopf. Es hatte keine Führung des Aufstands gegeben. Er war nicht ausreichend vorbereitet gewesen und glich eher einer kopflosen Revolte, als einer Revolution zum Sturz des Konzils. Besonders die Logenmeister hatten durch ihr langes Zögern, den Aufstand zu unterstützen, Valdec in die Hände gearbeitet. Aber der Untergang von Zoe bedeutete auch das Ende des Rates der Logenmeister. Die Terranauten erwiesen sich als viel zu wenige, zu schlecht organisiert und zu disziplinlos, um die Treiber im Kampf gegen Valdec zu führen. Im Gegenteil: Der Treiberaufstand wurde für Valdec zu einem willkommenen Vorwand, die Treiber als einzigen Unsicherheitsfaktor, den es im System des Konzils noch gab, endgültig auszulöschen.

Ich selbst war für die Niederlage der Treiber verantwortlich. Ich hatte zu lange gezögert, aktiv in den Kampf einzugreifen. Ich hätte als Erbe Yggdrasils zu einer Symbolfigur für den Unabhängigkeitswillen der Treiber werden können, oder, wenn ich die Biotroniks-Erbschaft angenommen hätte, zu Valdecs Hauptgegner im Konzil. In mir schlummerte das legendäre Wissen meiner Mutter Myriam. Ich verfügte über mir selbst unheimliche, ungeheure Psi-Kräfte, die ich nie gewagt hatte, voll einzusetzen. Aber nach der Flucht von Zoe sollte das anders werden. Ich war wild entschlossen, mit der Hilfe der letzten freien Treiber die Terranauten neu zu formieren und aus ihnen die Kampftruppe einer neuen Widerstandsbewegung gegen das Konzil zu machen.

Eine Chance dazu gab es nur, wenn uns die Flucht gelang. Zwanzig schweißüberströmte Gesichter sah ich in der Zentrale, als die Tasca startete. Ich kannte nur den blonden Logenmeister und Mandorla. Wir mussten uns darauf verlassen, dass es Narda, Rollo und den Zwillingen auf eigene Faust gelang, mit der Garde fertigzuwerden. Bei der Evakuierung der Grotten hatten wir die vier aus den Augen verloren. Besonders wegen der kleinen Narda machte ich mir Vorwürfe.  

Der Start verlief glatt. Gleichzeitig zündete die Bombe, die Asen-Ger im Hangar deponiert hatte, um die Energiewesenheiten aus Weltraum II aufzuhalten. Auf einer Feuersäule raste die Tasca ins All hinaus. Fast automatisch schlossen wir uns in der Zentrale auf mentaler Ebene zu einer Großloge zusammen, um das Schiff nach Weltraum II zu führen. Meine wilde Entschlossenheit, den Kampf gegen Valdec nicht aufzugeben, ließ mich instinktiv die Führung der Loge übernehmen. Asen-Ger schaltete die Triebwerke aus und gab mir telepathisch das Zeichen für den Übergang. Für Sekundenbruchteile lenkte mich eine plötzliche Erinnerung ab. Vor wenigen Wochen war ich in einer ähnlichen Situation gewesen. Mit Narda, Rollo, Greeny und Whity war ich auf Terra in einem kleinen Gleiter vor der Erde aus dem Heiligen Tal geflohen. Wir mussten uns auch damals durch einen schnellen Übergang nach Weltraum II retten, bei dem wir auf den Planeten Rorqual gelangten. Yggdrasil hatte mir Rorqual als letzte Zuflucht genannt.  

Sprung!, drängten Asen-Gers Gedankenimpulse. Ich konzentrierte mich, aber mein Unterbewusstsein stand immer noch im Bann der Erinnerung an Rorqual. Schemenhaft tauchte das Bild des geheimnisvollen Planeten vor mir auf, auf dem ich Yggdrasils Samen deponiert hatte, sicher vor dem Zugriff des Konzils und die einzige Hoffnung der Erde, in ferner Zukunft die Treiberraumfahrt zurückzuerlangen.  

Dann wurde es schwarz um mich. Der Übergang nach Weltraum Il vollzog sich diesmal völlig anders als gewohnt. Er raubte uns allen das Bewusstsein; mir schien, als habe jemand Fremdes die Führung der Loge übernommen. Doch dieser Fremde schien irgendwo in mir selbst zu sein.

Als wir wieder zu uns kamen, füllte ein fremder Planet den Hauptbildschirm der Zentrale aus. Dunkle, rötlich schimmernde Wolken verhüllten die Oberfläche. Das muss Rorqual sein, war mein erster Gedanke, obwohl ich die Welt noch nie aus dem All gesehen hatte.  

Asen-Ger begann sofort fieberhaft an den Kontrollen zu arbeiten. »Umlaufbahn steht«, verkündete er nach einigen Minuten. »Wir sind mit der Tasca in einem stabilen Orbit. Ortung?«  

Ein dunkelhaariger Treiber, den ich nicht kannte, antwortete von der Ortungskontrolle her: »Die Instrumente sind beschädigt. Ich bekomme keine vernünftigen Werte mehr. Wir sind praktisch blind. Nur die optische Erfassung arbeitet noch.«

»Dann schwenke die Außenkameras einmal um 360 Grad«, befahl Asen-Ger.

Der fremde Planet begann langsam über den Bildschirm zu wandern. Sein Rand tauchte auf, und dann folgte eine von einem seltsamen, roten Licht erfüllte Leere, die nichts mit dem normalen Weltraum, wie wir ihn kannten, zu tun haben konnte.

»Ich weiß nicht, wie weit wir der optischen Erfassung noch trauen können«, rief der Mann an der Ortung sofort. Wie zur Bestätigung begann der Bildschirm zu flackern und wurde dann schwarz.

Wenn wir unsere nähere kosmische Umgebung erkunden wollten, blieben uns nur noch die Beiboote.

»Die Flucht von Zoe ist uns jedenfalls geglückt«, stellte ich ruhig fest. »Wir sollten sehen, ob wir den Planeten unter uns nicht zu einer vorläufigen Basis machen können. Ich schlage vor, wir schleusen die Beiboote aus und unternehmen einen Erkundungsflug.«

Es stellte sich heraus, dass unser Fluchtschiff nur über zwei Beiboote verfügte. Eine von den großen, flachen Standard-Landefähren und ein kleineres Erkundungsboot, das nur Platz für fünf Personen hatte. Es wäre naheliegend gewesen, zunächst das kleinere Boot loszuschicken und abzuwarten. Aber wir entschieden uns nach einigem Zögern anders.

Fast alle Instrumente der Tasca waren ausgefallen. Auch eine Funkverbindung mit den Beibooten wäre unmöglich gewesen. Offensichtlich waren diese Schäden auf die Einwirkung von Weltraum-II-Energie während des Starts von Zoe zurückzuführen. Die Beiboote in ihren Hangars waren jedoch unversehrt. Ein schneller Check ergab, dass alle Systeme einwandfrei arbeiteten. Deshalb entschlossen wir uns, mit beiden Beibooten gleichzeitig zu starten, um so ständig in Verbindung zu bleiben. Das kleinere Boot sollte die Naherkundung übernehmen. Es stand unter dem Kommando von Asen-Ger. Ich blieb mit der Landefähre zunächst in einer stabilen Umlaufbahn. An Bord der Tasca ließen wir nur zwei Mann Wache zurück.  

Das alles war eine verhängnisvolle Fehlentscheidung. Aber wir waren alle völlig erschöpft und kaum noch zu klaren Gedanken fähig. Niemand hatte Lust, in der blinden und tauben Tasca zurückzubleiben, in der laufend weitere Aggregate ausfielen. Alle sehnten sich danach, endlich einen ruhigen, sicheren Ort zu finden, an dem man sich erholen konnte. Die Bordwache mussten wir durch Los bestimmen. Unser größter Fehler war, dass wir die Instrumentenausfälle auf der Tasca einfach auf Beschädigungen beim Start zurückführten, ohne sie sofort eingehend zu untersuchen. So übersahen wir, dass vieles, was wir für falsche Messdaten hielten, nicht an den Instrumenten, sondern an unserer eigenartigen Umgebung lag. Jemand stellte die Theorie auf, wir befänden uns noch immer in Weltraum II. Aber noch erschien uns diese Idee zu unwahrscheinlich.  

Das Ausschleusmanöver der Beiboote verlief dank der Notaggregate für die Schleusentore glatt. Wir gingen in einiger Entfernung von der Tasca in einen stabilen Orbit, während Asen-Ger mit seinem Boot in die roten Wolkenfelder hinabtauchte. Asen-Gers Boot war kaum in den Wolken verschwunden, als die Funkverbindung mit ihm abriss. Auch die Instrumente meiner Landefähre lieferten so widersprüchliche Werte, dass wir uns kein genaues Bild von unserer Umgebung machen konnten. Mit der Sichtortung ließ sich in 0,4 Lichtjahren Entfernung eine rote Sonne ausmachen, aber in dem rötlichen Flimmern, das hier die Schwere des Alls ersetzte, konnten wir keinen weiteren Stern ausmachen.  

Wir schlossen unsere Psi-Kräfte zusammen, um auf mentaler Ebene wieder Kontakt zu Asen-Ger zu bekommen. Vergeblich. Ein unerklärlicher, hemmender Einfluss legte sich schmerzhaft über unsere Psi-Aktivität und erstickte unseren Psi-Ruf regelrecht. Die Schmerzen wurden immer intensiver, bis wir gezwungen waren, unseren geistigen Verbund aufzulösen. Einen Augenblick fürchtete ich, unter den völlig überlasteten Treibern an Bord würde eine Panik ausbrechen. Dann fesselte ein anderes Phänomen, das aber die allgemeine Verwirrung nur noch steigerte, die Aufmerksamkeit meiner Kameraden.

Über den Horizont des unbekannten Planeten schob sich eine schwarze Sonne. Ein anderes Wort, um diesen Anblick zu beschreiben, finde ich nicht. Es war, als ob man einen Sonnenaufgang auf einem Negativ-Film sehen würde. Von einem schwarzen Fleck aus senkte sich Dunkelheit über den Planeten, wie eine normale Sonne einer Welt Licht bringt.

Zum ersten Mal kamen mir Zweifel, ob der Planet unter uns wirklich Rorqual war. Ich hatte meinen Kameraden von dieser Vermutung sowieso nichts gesagt, weil ich es nicht wagte, in dieser kritischen Situation die Sprache auf Yggdrasils Samen zu bringen. Ich spürte, dass beim Anblick der schwarzen Sonne die nervliche Anspannung an Bord in offene Panik umzuschlagen drohte. Um das zu verhindern, musste ich handeln.

Kurz entschlossen befahl ich, Asen-Gers Boot zu folgen. Wir mussten etwas tun, um nicht völlig durchzudrehen. Die Treiber gingen sofort aufatmend darauf ein. Zwei Minuten später durchstießen wir die Wolkendecke. Unter uns breitete sich eine vegetationsreiche Hügellandschaft aus, die, abgesehen von den überall vorherrschenden Rottönen, durchaus erdähnlich wirkte. Wir kamen kaum dazu, das Landschaftsbild in uns aufzunehmen, denn im gleichen Augenblick erhielten wir wieder Funkkontakt zu Asen-Ger. Ein Treffpunkt wurde vereinbart, und fünf Minuten danach hingen unsere beiden Schiffe dicht nebeneinander in tausend Meter Höhe über der fremden Planetenoberfläche. Eine Landung wollten wir angesichts der seltsamen Verhältnisse auf dieser Welt noch nicht riskieren. Wir flogen gemeinsam zurück zur Tasca. Aber als wir diesmal von unten in die rote Wolkendecke eintauchten, kam es zur Katastrophe...  

 

Aus: Die terGorden-Chronik

 

*  

 

Thorna rannte über die Bergwiese auf die Felsen zu. Der Morgen roch nach Harz, der Wind kühlte ihre Haut. Je näher sie den Felsen kam und je weiter die Kolonie hinter ihr zurückfiel, desto stärker wurde ihre Zuversicht, dass sie es diesmal schaffen würde. Die Schönheit und Weite des Landes, der scharlachrote Himmel und das seltsame Funkeln des roten Auges, das die Sonne dieser Welt darstellte, gaben ihr Recht: Es war höchste Zeit gewesen, alle Fesseln zu brechen.

Mit einiger Ausdauer und Konzentration musste sich der Weg, den der Grüne Flieger ihr gewiesen hatte, finden lassen. Der Weg in die Freiheit. Hinter dem Talkessel, das wusste sie, warteten Wunder und Geheimnisse auf sie. Jeder in der Kolonie hatte davon gewusst. Diese Welt wimmelte von Leben. Wer hier blieb, würde niemals etwas davon zu sehen bekommen.

Sie lief rasch, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Es war ein neues Gefühl für sie, unbewacht eigene Schritte tun zu können, ihren Gedanken nachzuhängen und von keiner Mauer begrenzt zu werden. Sie hatte während ihres jungen Lebens mehr als einen Fluchtversuch unternommen; dies hier war der erste, der gelingen würde. Sie wusste, dass sie es schaffen würde.

Es war geglückt. Keine Macht der Welt konnte sie jetzt noch einholen.

»Du wirst es allein nicht schaffen, Menschenkind«, hatte der Grüne Flieger zum Abschied zu ihr gesagt, nachdem er mit ihr über die weiße Mauer geflogen war, die die Oase umschloss. »Niemand, der keine Schwingen hat, kann die Felsen überwinden.« Sie war trotzdem geflohen. Beim ersten Mal hatte sie sich wie eine Närrin angestellt. Sie hatte am helllichten Tag die Mauer überklettert und war in das die Kolonie umsäumende Sandmeer gelaufen. Sie hatte nicht einmal die Chance gehabt, den Bergwiesen auch nur nahe zu kommen. Das laute Rascheln von Schwingen. Zwischen den roten Wolken waren geflügelte, lederhäutige Wesen aufgetaucht. Netze schwingend. Gegenwehr war zwecklos gewesen. Das feinmaschige Netz war auf sie herabgefallen und hatte ihr den Boden unter den Füßen weggerissen.

Aber damals war damals und heute war heute. Vergessen alles, was hinter ihr lag: die weiß gekalkten Gebäude der Oase, die Mauer, die die Mädchen an der Flucht hinderten; die Grünen Flieger, die in ihren Horsten auf den Bergen lebten und sich nehmen durften, was ihnen gefiel, solange sie sich nicht gegen ihre eigenen unbegreiflichen Gesetze vergingen.

Am Fuße einer Geröllhalde machte Thorna kurz Rast. Nicht etwa, weil sie erschöpft gewesen wäre – sie hatte noch einen langen und beschwerlichen Weg vor sich und musste mit den Kräften haushalten.

Sie dachte an Mutter Yarina, die Verwalterin der Kolonie, die eine Vertraute der Grünen Flieger und ihren Herren untertan war.

»Niemand kann seiner Bestimmung entgehen«, hatte sie gesagt, als die Grünen Flieger Thorna zurückgebracht hatten; zappelnd in dem Netz, wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Die Herren der Berge bestimmen, wann jemand die Kolonie verlässt! Und auch für dich wird der Tag kommen.«

Thorna fürchtete sich vor den Herren der Berge. Zwar hatte sie bisher noch niemand zu Gesicht bekommen, aber jeder wusste, dass sie existierten. Sie verließen ihre Horste niemals, und es gingen die Gerüchte, dass sie, obwohl sie den Grünen Fliegern ähnlich sehen mussten, nicht über die Gabe des Fliegens verfügten. Dennoch musste irgendetwas Schreckliches an ihnen sein. Wie sollten sie ihre Untertanen sonst dazu zwingen können, ihnen zu dienen? Die Grünen Flieger waren frei wie die Vögel; jeder einzelne von ihnen konnte dorthin gehen, wo es ihm gefiel. Trotzdem gehorchten sie den Herren der Berge, und man hatte noch nie davon gehört, dass sich einer von ihnen gegen sie erhoben hatte.

Als Mutter Yarina Thorna hatte losbinden lassen, war einer der Grünen Flieger plötzlich aufgetaucht. Sein Blick hatte Thorna verraten, dass er sie begehrte und bereit war, ihr zur Flucht zu verhelfen. Er hatte ihr den Weg verstellt und seine Schwingen zusammengefaltet.

»Du bist hübsch«, hatte er in seinem kehligen Dialekt gesagt. »Du gefällst mir, Menschenkind. Wie ist dein Name?«

Thorna hatte das Geschöpf abschätzend gemustert. Abgesehen von denen, die ihr während des misslungenen Fluchtversuchs nachgeeilt waren, hatte sich ihr noch kein Angehöriger seines Volkes genähert. Die Grünen Flieger hielten sich überhaupt nie in der Nähe der Mädchen auf. Ihre Kontaktperson war Mutter Yarina. Offensichtlich war es ihnen verboten, in der Kolonie mit den Mädchen Kontakte anzubahnen.

»Geh weg!«, erwiderte Thorna fauchend. Sie hatte Angst vor dem Grünen Flieger, und ihre Furcht, mit ihm gesehen zu werden, war nicht unbegründet. Mutter Yarina war nicht nur wachsam, sondern auch grausam. Und dieser Grüne Flieger hier... Er war mit seinem fremdartigen Aussehen nicht dazu angetan, in ihr freundschaftliche Gefühle zu erwecken.

Der Blick des Grünen Fliegers war begehrlich auf Thornas junge Brüste gerichtet, und die spitze, blassgrüne Zunge, die zwischen seinen rissigen Lippen zu sehen war, verriet seine Gedanken und Begierden. Er hatte eine dunkelgrüne Haut, spitze Ohren und Zähne, die an den Vampir der terranischen Märchen erinnerten. Er war schlank und dennoch muskulös, trug einen aus

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Ronald M. Hahn/Apex-Verlag. Published by arrangement with Thomas R. P. Mielke and Rolf W. Liersch.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx. DIE TERRANAUTEN-Logo by Arndt Drechsler.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Peter Sladek.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 22.10.2018
ISBN: 978-3-7438-8430-4

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