GORDON R. DICKSON
UTOPIA 2050
- Galaxis Science Fiction, Band 9 -
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
UTOPIA 2050
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Das Buch
Ein Roman aus dem 21. Jahrhundert...
Die Behandlung mit der Wunderdroge R-47 verwandelt Etter Ho völlig: Er, der Außenseiter der Gesellschaft, wird sich plötzlich seiner Verantwortung gegenüber der Menschheit bewusst.
Vor seinem geistigen Auge entrollt sich die Geschichte der Erde. Wie eine Karte breiten sich die Charakteristika der Gegenwart – des Jahres 2050 – vor ihm aus: die sozialen Sachzwänge, die Allgegenwart eines ökonomischen und politischen Molochs, der längst außer Kontrolle geraten ist und den steilen Hang in die Zukunft blindlings hinabrast – dem Untergang entgegen.
Etter Ho muss dies verhindern – um der Menschheit willen. Nur er und ein paar andere sind dazu in der Lage, denn sie sind Mental-Giganten, Geschöpfe der Droge R-47...
UTOPIA 2050 von GORDON R. DICKSON (Gewinner des Nebula- und des Hugo-Awards) erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.
UTOPIA 2050
Erstes Kapitel
Während er auf einem Antigrav-Tisch, nackt unter einem dünnen Laken, durch einen weißen, blitzblanken Korridor zur Injektion schwebte, grinste Etter Ho spöttisch an die schimmernde Decke empor. Er kannte ein Zitat aus Kiplings Rimmon, das auf seine Situation passte.
»Täglich, mit Knien, die Beben heucheln,
gebeugten Haupts, gesenkten Blicks,
doch stets, um meines Vaters willen,
verneig' ich mich in Rimmons Haus.«
Allerdings war er hier nicht um seines Vaters, sondern um seines Bruders willen, Wally, der sich schon lange in diesem speziellen Haus Rimmon verneigt hatte; nun folgte Etter ihm, nach vierundzwanzig Jahren der Überzeugung, niemandem etwas schuldig zu sein. Nun, schließlich war er nicht besser als die Milliarden anderen Individuen, die die Chance, mit der Allgemeinen Grundversorgung in Freiheit zu leben, achtlos verworfen hatten, um innerhalb der Maschinerie, die ihnen Utopie auf Erden ermöglichte, den Fesseln von Beruf, Rang und Einfluss nachzujagen.
Ets Bewusstsein war gänzlich klar. Man hatte ihm, wie jedem, der um die Behandlung mit Reninase-47 ersuchte, für den Zeitpunkt der Injektion ein Beruhigungsmittel angeboten, aber er verzichtete darauf. Er mied alle Drogen, sogar Aspirin, weil er fand, dass auch die harmlosesten davon die bewusste Erfahrung des Lebens zumindest geringfügig trübten. Und die Beeinträchtigung der Sinne kam für Et einem kleinen Stückchen Tod gleich.
Ob das R-47 etwas bewirkte oder nicht, ob es seine Intelligenz um ein paar IQ-Punkte steigerte oder verminderte, er wollte die Veränderung bei vollem Bewusstsein erleben. Selbst wenn ein negatives Resultat in eine ernste Herabsetzung seiner Geistesklarheit münden sollte, wie sie bei Wally eingetreten war, er wollte auch dessen bewusst sein. Die Wahrscheinlichkeit war jedoch gering. Diese Möglichkeit stand Eins zu Millionen, ebenso wie die umgekehrte, nämlich die, dass die Droge ihn in ein Supergenie verwandelte. Keine der Möglichkeiten spielte eine Rolle. Alle möglichen Ereignisse, alles und jedes, waren seinem Recht, davon zu wissen, untergeordnet. Diese Entschlossenheit war sein persönlicher Fluch, seine freiwillige Verpflichtung und sein Glaubensbekenntnis; ihr würde er treu bleiben, solange sich in seinem Körper Leben regte.
Der automatische Antigrav-Tisch, der ihn beförderte, vollführte plötzlich eine scharfe Wendung in rechtem Winkel. Über ihm glitt die Decke eines anderen Korridors dahin, aber nicht für lange. Ein ruckartiger Halt folgte, dann eine weitere Wendung um neunzig Grad, und er schwebte durch eine Tür in einen Raum mit einer Decke in mildem Grün. Es war ein kleiner Raum. Ringsum konnte er die Wände sehen.
»Das ist also unser Patient?« Eine herzliche Stimme in tiefem Bass. »Dann wollen wir mal schauen, Mr. Ho.«
Jemand entfernte das dünne Laken. Der sanfte Farbton der Decke wich einer blitzenden Spiegelfläche. Er blickte auf und sah sich und den Mann mit der herzlichen Stimme, eine plumpe, durch den Widerspiegelungswinkel verkürzte Gestalt in grüner Vermummung, die auch das Gesicht und den Kopf einschloss.
»Wozu die Kleidung, Doktor? Dies ist keine Operation.«
Die Augen oberhalb der Maske ließen ihren Blick rasch über Ets Körper gleiten. »Vorschrift.« Braune, dicke Finger drückten Ets Unterleib ein. »Ein bisschen Fett, nicht wahr?«
»Keines, wovon ich wüsste«, sagte Et. »Ich habe starke Knochen.«
Er starrte empor in den Spiegel. Ihm war zumute, als betrachte er einen Unbekannten. Weshalb? Natürlich, vielleicht war dies das letzte Mal, dass er sein Spiegelbild mit jener Qualität des Verstands betrachtete, mit der er geboren war; vielleicht sah er sich nie wieder so wie er sich kannte.
Daher prägte er sich den Anblick ein - den eines hochgewachsenen Fremden mit rauem, schwarzem Haar und rundlichem Gesicht. Die Weichheit des Fleisches, das Zeugnis seiner polynesischen Abstammung, hatte den Arzt dazu verleitet, unter der Haut Fett zu vermuten. Die Ungefügigkeit des Nordeuropäers - der starke Knochenbau, von dem er gesprochen hatte - lag unter geschmeidigem pazifischem Fleisch verborgen. Ein vulkanisches Innenleben unter friedlichen Waldhängen. Eine Falltür zum Höllenfeuer und zur Verdammnis unter dem Blau tropischen Himmels, nun seit drei Generationen. Urgroßvater Bruder, was empfinden deine Gebeine, die in der kalten, steinigen Erde der Alpen ruhen, falls sie sich der sonnigen Strände deiner Inselmission entsinnen?
Die Finger des Arztes tasteten und drückten; dann hörten sie auf damit.
»Sie sind in sehr guter Verfassung, Etter«, sagte die dunkle Stimme.
»Danke, Jerry«, sagte Et. »Schön, das zu hören.«
Das maskierte Gesicht, das sich abzuwenden begonnen hatte, kehrte sich ihm wieder zu.
»Jerry? Ich bin Dr. Morgan Carwell. Haben Sie jemanden namens Jerry erwartet?«
»Nein«, antwortete Et. »Erfreut, Sie kennenzulernen, Dr. Carwell.«
Die Augen über dem Maskenrand starrten auf ihn herab.
»Sie haben mich bereits kennengelernt, Etter«, sagte der Arzt. »Vor einer Stunde, anlässlich der Abschlussuntersuchung. Erinnern Sie sich?«
»Das stimmt«, sagte Et. »Ich habe einen Dr. Carwell kennengelernt. Haben Sie jemanden namens Mr. Ho getroffen?«
Ihre Blicke durchdrangen einander.
»Verzeihung, Mr. Ho. Es gibt eine Empfehlung, die Patienten mit den Vornamen anzureden. Nun entspannen Sie sich bitte. Wir möchten, dass sie so ruhig wie möglich sind.«
»Ich bin entspannt«, sagte Et.
»Gut.« Carwell wandte sich ab. »Erwarten Sie keine physischen Empfindungen als Resultat der Injektion. Viele Leute behaupten, sie würden verschiedene Arten körperlicher Reaktionen verspüren, aber meistens ist das die Folge ihrer Erwartung solcher Reaktionen. Dennoch, falls Sie etwas zu spüren glauben, sagen Sie’s mir...« Während er sprach, wandte er sich wieder Et zu und beugte sich vor, so dass im Spiegel seine Hände unter den Schultern aus Ets Blickfeld verschwanden. Et fühlte den flüchtigen Druck eines Gegenstands an seinem rechten Oberarm, während er dem ruhigen, gleichmäßigen Klang von Carwells Stimme lauschte. »... denn deshalb, wie man Ihnen sicherlich schon mehrmals gesagt hat, führen wir die Behandlung mit R-47 unter so strenger Aufsicht durch. Wir verfügen über ein Anti-Agens in Form eines Kontramedikaments. Aber wenn wir’s anwenden müssen, wollen wir es so früh wie möglich tun, um die beste Wirkung zu erzielen. Und da dem Einfluss des R-47 so gut wie keine physischen Symptome nachweisbar sind, ist jeder Hinweis von höchstem Nutzen.«
»Doktor...«, begann Et; dann verstummte er.
»Sehr gut, so ist es richtig«, meinte Carwell einen Moment später. Er hatte sofort geschwiegen, als Et den Mund öffnete. »Sprechen Sie nur, wenn Sie es für unbedingt notwendig halten. Der beaufsichtigende Arzt soll während der Überwachung nicht abgelenkt werden. Zum Zwecke dieser Überwachung müssen Sie nämlich nach Verabreichung des Medikaments für einige Minuten nackt liegenbleiben und sich von mir anstarren lassen. Jede Veränderung ihres körperlichen Allgemeinzustands kann wichtig sein...«
Carwells dunkle Stimme rollte in einem Gleichklang weiter, der offenbar einen besänftigenden Einfluss ausüben sollte. Man hatte Et wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass er sich nach Erhalt von R-47 weit möglichst entspannen solle. Nun bemühte er sich, genau das zu tun. Es war sinnlos, vortäuschen zu wollen, dass er um sein Schicksal überhaupt keine Besorgnis empfände. Kein normaler Mensch konnte Roulette mit der Gefahr spielen, sich in einen bejammernswerten Schwachsinnigen zu verwandeln, ohne das Eintreten dieses Falls zu fürchten, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit in der Tat außerordentlich dagegen sprach. Und Et kannte den Fall Wally; Wally, dem eben das widerfahren war... Wally, den das Glück verlassen hatte.
Zweites Kapitel
Falls Wally nie den Entschluss gefasst hätte, überlegte Et, es mit R-47 zu versuchen, würde er, Et, wahrscheinlich sein Leben in aller Zufriedenheit bis zum seligen Ende weitergelebt haben, ohne daran zu denken, ein solches Wagnis mit einer Droge einzugehen, die seine angeborene Intelligenz entweder erhöhen oder verstümmeln konnte. Aber Wally war das Risiko eingegangen, um eine Frau zurückzugewinnen, die er verloren hatte - eine Frau, die nicht den Wert von drei Tagen seines Lebens besaß und schon gar nicht den von zwei Dritteln eines Lebensalters; und so hatte die Kette der Ereignisse, die sich daraus ergab, schließlich auch Et in diesen Raum gebracht.
Wally hatte nie Erfolg bei Frauen gehabt. Er war drei Jahre älter als Et gewesen, aber sie hatten einander so ähnlich wie Zwillinge gesehen. Deshalb hatte Wally nicht einmal als Entschuldigung anführen könnender sei eine das andere Geschlecht nicht anziehende Erscheinung, denn Et, der jüngere Bruder, kannte keinerlei Schwierigkeiten. Wenn er eine Frau mochte, war sie meistens auch ihm zugetan. Wally machte stets einen ganz guten Anfang, doch alle Mädchen, denen er begegnete, schon damals an der Hochschule, hatten nach kurzer Zeit das Interesse an ihm verloren.
Zuletzt lernte er Maea Tornoy kennen, die gescheit war - zugegeben, dachte Et, sie war sehr gescheit -, und bei dieser Gelegenheit, als nach ein paar Wochen anscheinend wachsender Freundschaft das Verhältnis zwischen ihm und dem Mädchen abkühlte, musste Wally erstmals einen ernsten Mangel an seiner Persönlichkeit gewähnt haben.
Er war, so hatte seine Schlussfolgerung wohl gelautet, nicht intelligent genug, um Maeas Zuneigung auf Dauer erringen zu können. Also hatte er sich um die Behandlung mit R-47 beworben.
Später, als sich die ersten Anzeichen einer negativen Reaktion ergaben, hatte man ihn in ein großes, freundliches Ziegelbauwerk gebracht, das inmitten ausgedehnter Parkanlagen stand, wo gutmütige Menschen sich um ihn kümmerten. Sein Intelligenzschwund kam nicht mit einem Schlag, sondern schubweise; sobald Wally begriffen hatte, welcher Endzustand ihn erwartete, erhängte er sich.
Für Et, der sein Leben lang eitlen Müßiggang gepflogen hatte, war Wallys Tod so ähnlich gewesen wie ein Hieb mit einem Vorschlaghammer für einen Rauschgoldengel. Vierundzwanzig Jahre lang hatte Et die Welt und Wallys Meinung darüber von sich gewiesen, Wallys unermüdlichen Anstrengungen zum Trotz, den Bruder zu der Einsicht zu bewegen, dass das Leben eine ernste Sache war und es in der Welt, worin sie es lebten, ernste Probleme gab.
So hatte Wally sein Ringen mit der bösen Welt allein ausstehen müssen. Er hatte den Kampf geführt bis zum bitteren Ende. Gefallen war er durch ein Mädchen, das ihm ein Bein gestellt hatte. Die Behandlung mit R-47 bescherte ihm jene Art von Unheil, das - so schien es - immer und überall nur jene ereilt, die sowieso alles viel zu ernst nehmen.
Der Missstand war jedoch, die Welt war wirklich ernst. Jedenfalls in dem Sinn, dass sie erfüllt war von ernsten Leuten, die die Dinge ernst nahmen, so wie Wally es auch hielt. Als Et von dem Ereignis erfuhr und sich an Ort und Stelle einfand, tat er es in der Erwartung, dass Wally in einer Kryogenischen Kapsel liege, und in dem Bewusstsein, dass er nun etwas unternehmen müsste - er, der in seinem ganzen Leben Unternehmungen aller Art vermieden hatte.
Wally, so unterrichtete man ihn, hatte Selbstmord verübt. Ganz klar. Aber man hatte ihn entdeckt, abgeschnitten und innerhalb von Minuten in eine kryogenische Stasis versetzt. Es bestand die Möglichkeit, dass man ihn wiederbelebte, und sogar die, falls der Todesschock den durch das R-47 ausgelösten Prozess von Intelligenzschwund zum Einhalt gebracht hatte, dass man ihn soweit ausbildete und schulte, um ihm ein verhältnismäßig normales Leben zu gestatten.
»Andererseits, Mr. Ho«, hatte der leitende Arzt der Institution Et erklärt, »müssen Sie berücksichtigen, dass alles das tatsächlich nur eine Möglichkeit ist. Genauso hoch oder höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass man Ihren Bruder nicht zurück in ein lebenstüchtiges Dasein bringen kann, selbst wenn das beste verfügbare Wiederbelebungs-Team sich seiner annimmt. Und auch falls man ihn mit Erfolg wiederbeleben kann, ist die Gefahr sehr groß, dass er ohne jede mentale Kapazität ins Leben zurückkehrt - kurz, er könnte nicht mehr sein als ein menschlicher Körper, der im Koma liegt.«
»Sicher«, sagte Et. Er hörte, dass seine Stimme heiser klang. »Aber ich glaube, er würde wollen, dass man es versucht. Welches ist das beste verfügbare Wiederbelebungs-Team?«
Der Arzt schaute peinlich berührt drein.
»Das ist ein anderes Problem«, sagte er. »Es tut mir leid, sollte meine Äußerung Anlass zu der Annahme geliefert haben, ein derartiges Team wäre umstandslos herzubeordern. Das beste Team dieser Art ist eines, das von einem hervorragenden Spezialisten der kryogenischen Wiederbelebungstechnik zusammengestellt wird, und alle diese Spezialisten sind buchstäblich auf Jahre hinaus belegt.«
»Wir werden einen Termin verabreden«, sagte Et grimmig. »Wer ist der beste Spezialist?«
»Nun... Dr. Garranto.«
Et drückte den Knopf des Minirecorders an seinem Armband-Chronometer. »Lassen Sie mich das speiehern. Wie lautet sein voller Name?«
»Dr. Fernando James Garranto y Vega«, sagte der Arzt. »Aber ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Dr. Garranto unmöglich zu bekommen ist. Er beschäftigt sich ausschließlich mit ungewöhnlichen Fällen.«
»Ist Wallys Fall nicht ungewöhnlich genug?«
»Verzeihen Sie«, sagte er, »aber ich muss ehrlich zu Ihnen sein. Dr. Garranto ist für gewöhnliche Fälle einfach nicht abkömmlich. Die Fälle wichtigerer Leute beschäftigen ihn vollständig. Selbst wenn er Ihren Namen auf eine Liste setzt würden Sie nie an die Reihe kommen. Und wenn doch, glauben Sie mir, Sie könnten sich die Operation nicht leisten.«
»Einen Moment«, sagte Et. »Ich zehre zwar von der Allgemeinen Grundversorgung, aber ich besitze eine seetüchtige Schaluppe...«
»Mein lieber Mr. Ho«, sagte der Arzt, »Sie hätten Mühe, die Kosten der Operation zu begleichen, besäßen Sie eine Vierzig-Meter-Jacht. Haben Sie eine Vorstellung vom erforderlichen Aufwand? Da ist nicht bloß der Einsatz der technischen Ausrüstung, die beinahe den Umfang einer kleinen Klinik besitzt, sondern auch das Honorar für ein Team von sechs bis zehn Medizinern, jeder ein Spezialist auf einem bestimmten Gebiet, bei der Anästhesiologie angefangen, und hinzu gehören die Kosten für eine Gruppe medizinischen Personals, die assistiert.«
»Wie teuer ist das alles?«
»Das kann man nicht voraussagen.«
»Verraten Sie mir den Höchstbetrag.«
»Einen Höchstbetrag gibt es nicht«, sagte der Arzt. »Ich sage Ihnen die Mindestkosten - dreihunderttausend Bruttoglobalprodukt-Anteilseinheiten.«
Et sah ihn an. Sechs Jahre lang hatte er gearbeitet, mehr oder weniger regelmäßig, um sich die Sarah kaufen zu können, wie seine Schaluppe hieß. Sie war höchstens 15.000 BGP-Einheiten wert; und seine Allgemeine Grundversorgung lag niedriger als 100 Einheiten monatlich.
»Jetzt verstehen Sie, Mr. Ho«, sagte der Arzt, »wie es sich verhält.«
Aber Et hatte es nicht verstanden.
Er hatte noch nie zu jenen Menschen gezählt, die sich dem Schicksal um jeden Preis entgegenstemmen oder sich aufopfern, um etwas Unmögliches möglich zu machen. Doch Wallys Tod hatte ihn tief getroffen und in seinem Herzen eine bis dahin unbekannte Pforte aufgetan.
Hindurch loderten die Flammen gewisser uralter, fürchterlicher Feuer, die unter den blauen Himmeln und sonnigen Stränden von Ets Seele brannten. Aus ungeahnten vulkanischen Tiefen drang der heiße Gerechtigkeitssinn seiner alpinen Vorfahren und schreckte ihn aus einem lebenslangen, süßen Traum vom Paradies auf und stieß ihn in die Wirklichkeit schwarzer Sünde und bitterer Buße. Die Welt, die in seinen Augen für jeden vernünftigen Menschen nur Gesang und Gelächter enthalten hatte, war für seinen Bruder in Wahrheit eine Welt endlosen Trauerns, der Niederlagen und anschließender Selbstzerstörung gewesen. Diese Welt musste das Unglück gutmachen, das sie seinem Bruder gebracht hatte - im gleichen großzügigen Maße wie das Maß von Wallys Schmerz.
Seine krasse Reaktion erfolgte nicht sofort. Sie entwickelte sich, nachdem er Nachforschungen über die angebliche Unmöglichkeit und die Kosten einer Wiederbelebung Wallys anzustellen begonnen hatte. Den ersten Beweis dafür, dass der Arzt die Schwierigkeiten sogar untertrieben dargestellt hatte, holte er sich von Mr. Lehon Wessel, dem Zweiten Geschäftsführer der Weltbank-Filiale auf Hilo, an den Et sich zuerst wandte, um zwecks Begleichung der Wiederbelebungskosten eine Art von Finanzierung zu vereinbaren.
»Ich fürchte, das ist problematisch«, sagte Lehon Wessel. Er war ein dickbäuchiger, langbeiniger Mann mit hellem Haar und heller Haut, die rot war von der Sonne. Seine Haltung drückte Bedauern aus. »Ihr Vermögen und Ihr Einkommen widersprechen ganz einfach der Erwägung, für die Operation Ihres Bruders finanzielle Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen.«
»Das weiß ich«, sagte Et ungeduldig. »Aber unterhält der Weltwirtschaftsrat nicht Beihilfe-Etats oder Sonderfonds, aus denen ich Unterstützung beziehen oder die ich beleihen könnte?«
Lehon Wessel lächelte traurig.
»Natürlich gibt es solche Fonds«, sagte er, »aber daraus eine monetäre Unterstützung zu erhalten, ist eine verwickelte Angelegenheit. Um ehrlich zu sein, Mr. Ho, in Ihrem Fall erachte ich jede diesbezügliche Mühe schon jetzt als vergeblich. Diese Fonds sind für Ausnahmefälle bestimmt.«
»Ist es kein Ausnahmefall, wenn ein Mann infolge einer negativen Reaktion auf R-47 Selbstmord begeht?«, meinte Et. »Die negative Reaktion soll so selten sein wie die positive, die jemanden, der die Droge genommen hat, zu einem R-Meister macht. Und wie viele R-Meister gibt es? Einer unter mehreren hundert Millionen von Menschen versuchen es mit R-47.«
»Gewiss.«
»Und?«, fragte Et. »Kann ich um Unterstützung aus den Fonds ersuchen oder nicht?«
»Sie können einen Antrag stellen«, sagte Wessel.
Er gab Et ein dickes Bündel Formulare zum Ausfüllen. Et nahm es mit ins Hotel, in dem er wohnte, und stellte fest, dass man von ihm nicht allein genaue Kenntnisse des eigenen Werdegangs, sondern solche auch von Wallys persönlichem Werdegang verlangte. Er rief Wessel an.
»Was soll das?«, erkundigte er sich. »Neun Zehntel der Informationen müssen sich bereits beim Weltwirtschaftsrat in den Datenbänken des Zentralcomputers befinden!«
»Natürlich«, antwortete Wessel. »Aber die Vorschriften fordern, dass der Antragsteller die Formulare ausfüllt. Tut mir leid.«
Schließlich hatte Et alle Formulare ausgefüllt und reichte sie ein. Zwei Wochen später bat ihn Wessels unmittelbarer Vorgesetzter zu sich.
»Hören Sie, Mr. Ho«, sagte der Mann, während er sich über seinen Tisch beugte und Et mit freundlichem Lächeln ansah, »Sie wollen doch nicht wirklich, dass wir diesen Antrag weiterreichen? Es gehört nicht zu meinen Aufgaben, Antragsteller zu entmutigen, aber ich halte es für meine Pflicht, Sie in Ihrem Interesse darauf hinzuweisen, dass die Erfolgsaussicht gleich Null ist. Eine Hilfe aus diesen Fonds ist jenen Vorbehalten, die sie unanzweifelbar verdienen.«
»Verdient mein Bruder keine? Es geschah in dem Bestreben, sich für die Welt nützlicher zu machen, dass die negative Reaktion auf R-47 eintrat, die ihn in den Freitod trieb.«
»Oh, natürlich - Ihr Bruder! Aber Ihr Bruder ist nicht der Antragsteller. Das sind Sie. Ehrlich gesagt, Mr. Ho, nichts in Ihrem Lebenslauf lässt auf die Aussicht eines angemessenen Gegenwerts zur von Ihnen beantragten Summe schließen.«
»Wenn Wally wiederbelebt wird, ist er nichts wert?«
»Es gibt keine Sicherheit, dass er etwas wert sein wird, Mr. Ho. Die fachmedizinische Beurteilung ist wenig optimistisch. Selbstverständlich wäre er unter normalen Umständen eine Person mit einem Verdienst, das man berücksichtigen müsste, aber leider befindet er sich gegenwärtig außerhalb eines Zustands, der ihn zur Wahrnehmung seiner Bürgerrechte befähigte.«
»Und wenn man davon ausgeht, dass ich den Antrag in seinem Namen stelle?«, fragte Et.
»Das ist unmöglich, da Sie eng genug mit ihm verwandt sind, um die Verantwortung zu übernehmen. Ein Geschwister- oder Elternteil einer wiederbelebungsgeeigneten Person in kryogenischen Zustand wird automatisch deren Vormund. Als Vormund stellen Sie einen Unterstützungsantrag zum eigenen Vorteil, nicht zu dem Ihres Mündels.«
»Na gut«, sagte Ho. »Also stelle ich ihn.«
Der andere seufzte.
»Wenn Sie darauf bestehen, gebe ich den Antrag weiter. Aber versprechen Sie sich nichts davon. Warum wenden Sie sich nicht an einen Rechtsbeistand?«
»Das werde ich tun«, sagte Et.
Die Voraussage erwies sich als richtig; der Antrag wurde abgelehnt. Et wandte sich an einen Rechtsbeistand, eine jener Persönlichkeiten, die der Aufgabe nachgingen, dem gewöhnlichen Bürger in amtlichen Angelegenheiten und Auseinandersetzungen mit Behörden zu helfen; der Rechtsbeistand war nicht minder pessimistisch als alle anderen.
»Wir können Einspruch erheben, natürlich«, sagte der Rechtsbeistand. »Aber...« Er hob die Schultern.
Sie legten Einspruch bei der Regionalverwaltung ein, erhielten eine Ablehnung; sie wandten sich an ein Schiedskomitee und wurden abgewiesen; sie appellierten an den Rat des Nordwest-Quadranten und bekamen einen abschlägigen Bescheid.
»Wir können jahrelang weitermachen«, sagte der Rechtsbeistand zu Et, »natürlich. Sie dürfen so viele Anträge und Gesuche einreichen wie Sie wünschen. Aber Sie können darüber alt werden und doch erfolglos bleiben. Etter, das Problem ist, dass Sie keinen potentiellen sozialen Wert vorzuweisen haben. Sie gleichen jemandem, der ohne die Eigenschaft der Kreditwürdigkeit bei einem Kreditinstitut leihen will. Hören Sie auf meinen Rat - geben Sie auf oder...« Er zögerte.
»Oder?« widerholte Et.
»Oder suchen Sie sich eine Tätigkeit und beginnen Sie sich in die Aktivkasten der Gesellschaft emporzuarbeiten. Vielleicht haben Sie in fünf, eher in zehn Jahren eine Position von einem sozialen Stellenwert erreicht, die ihnen Mittel aus öffentlichen Fonds zugänglich macht. Wie lange es auch dauern mag, da Ihr Bruder im kryogenischen Zustand ist, wird es ihn nicht stören.«
Über den Tisch hinweg musterte Et den anderen voller Grimm. »Sie glauben sicherlich nicht, dass ich so etwas tun werde, oder?«
Der Rechtsbeistand schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich glaube ich es nicht«, sagte er. »Aber es gehört zu meiner Aufgabe, Ihre Aufmerksamkeit auf alle möglichen Wege zu lenken.«
»Dafür bin ich Ihnen dankbar«, sagte Et trocken. »Denn ich werde genau das tun.« Er genoss die Verwirrung des Rechtsbeistands. »Vielleicht schaffe ich es in weniger als fünf oder zehn Jahren.«
»Sie dürfen niemals die Hoffnung verlieren«, sagte der Rechtsbeistand.
»Ich habe nie daran gedacht, mich auf eine Hoffnung zu beschränken«, sagte Et. Ohne ein weiteres Wort verließ er den Rechtsbeistand. In der Tat beschäftigte er sich bereits seit einer Weile mit einer ähnlichen Absicht. Er besaß inzwischen Klarheit darüber, dass er die Herren des Verwaltungsdschungels, worin er sich verirrt hatte, nur schlagen konnte, wenn er vortäuschte, sich an die Spielregeln zu halten. Allerdings sah er keinen Grund, dabei auf den Einsatz der Vorteile zu verzichten, über die er verfügte.
Schon als junger Bursche hatte er bemerkt, dass man jene, die ihre Fähigkeiten zeigten, dazu drängte, sie auch anzuwenden. In der Grundschule hatte er gelernt, die Ergebnisse der Intelligenztests weit unter jenen Ergebnissen zu halten, die zu erzielen er sich befähigt fühlte. Wally dagegen hatte sich keinerlei Zurückhaltung auferlegt und deshalb gleichmäßig gut abgeschnitten - er war kein Genie, aber nicht weit davon entfernt. Et wusste, dass seine Intelligenzstufe mindestens der seines Bruders entsprechen musste, aber er behielt es für sich, weil er Verachtung für jene Menschen empfand, die vermeinten, Intelligenz allein erhebe sie über ihre Mitbürger.
Als Resultat seiner Verschwiegenheit besaß er nun ein Mittel, das er auszuspielen beabsichtigte. Er wollte sich eine Injektion des gleichen R-47 verabreichen lassen, das Wally ins Verderben gestürzt hatte. Es war ein Risiko, aber ein geringes. Die Wahrscheinlichkeit zweier solcher Unglücksfälle durch die Droge innerhalb einer Familie musste statistisch so winzig sein, dass sie einer Unmöglichkeit gleichkam. Ein kleiner IQ-Verlust würde nicht so schlimm sein; ein kleiner Zuwachs konnte schon gar nicht schaden.
Es kam ihm darauf an, den Bürokratenhäuptlingen, indem er
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Gordon R. Dickson/Apex-Verlag/Successor of Gordon R. Dickson.
Bildmaterialien: N. N./Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Peter Sladek.
Übersetzung: Horst Pukallus (The R-Master).
Satz: Apex-Verlag
Tag der Veröffentlichung: 17.10.2018
ISBN: 978-3-7438-8393-2
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