ROBERT LORY
DER FLUCH
- 13 SHADOWS, Band 25 -
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER FLUCH
Prolog
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Das Buch
In der Nähe eines südafrikanischen Krals stirbt ein schwarzes Liebespaar unter den Prankenhieben einer mordgierigen Bestie.
Kurz darauf erwacht der weiße Minenbesitzer Calder Heath aus einer tiefen Ohnmacht – über und über mit Blut besudelt. Doch es ist nicht sein Blut, denn er ist unverletzt.
Calder Heath weiß nicht, was geschehen ist. Aber eine dunkle Ahnung erfüllt ihn und lässt ihn nicht mehr los. Wird sie in der nächsten Vollmondnacht zur furchtbaren Gewissheit werden?
Der Roman DER FLUCH von ROBERT LORY wurde in Deutschland erstmals im Jahr 1976 veröffentlicht (unter dem Titel Die Nächte des Werlöwen als Band 11 der Taschenbuch-Reihe DÄMONENKILLER).
DER FLUCH erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht.
DER FLUCH
Prolog
Über der dachfreien, hochwandigen Halle unermesslichen Alters kreisten jene Himmelskörper, die die Menschen Sterne und Planeten nennen, auf Bahnen, die ihnen von einer Macht oder von Mächten - Anlass zahlreicher Spekulationen - seit Anbeginn der Zeit zugewiesen waren. Was oder wer verursacht ihre Bewegung? Was oder wer schuf die verwickelten Konstellationen, die, wie einige Menschen behaupten, den Lebensweg der Geschöpfe des Universums beeinflussen?
Es gibt Antworten auf diese Fragen, jedenfalls auf viele davon, aber für keine hegte die verkrümmte Gestalt Interesse, die inmitten der großen Halle stand. Ihre Robe war vom Grau der uralten Mauern. Grau war die Kapuze, die lange, weiße und knorrige Finger fest an seinen Platz drückten, so dass das Gesicht - falls dort eines war - in dem schwarzen Abgrund verborgen blieb, den die Falten der Kapuze bildeten. Die Gestalt war langsam in die Mitte getreten, mit schlurfenden Schritten, bei denen das linke Bein dem rechten immer voraus war, es mitzuzerren schien. Dann stand sie einen Moment schweigend, bevor sie den Kopf in den Nacken bog und das schwarze Loch unter der Kapuze auf die bunten Lichtflecken über der Halle richtete. Die Gestalt stand reglos da, während sie die seit Äonen vertraute kaleidoskopische Szene musterte, den wilden Klängen symphonischen Wahnsinns lauschte, den sie seit dem ersten Tag ihrer Existenz kannte und worin sie Variationen von Melodien unterschied, die sich im Auf- und Abschwellen zu etwas vermischten, das die Gestalt vielleicht für Harmonie hielt, ein ungeschultes Ohr jedoch alsbald in den Wahnsinn gestürzt hätte.
Und als das Schwarz unter der Kapuze sich wieder senkte, war das Lachen, das nun erscholl, das Lachen eines Wahnsinnigen. Es füllte die Halle mit der schrillen Klage der Einsamkeit und dem dumpfen Grollen des Zorns. Und dann drang aus der Kapuze ein anderer Laut.
»Leo...«
Es war die Stimme eines urzeitlichen Zauberers. Und nun, als besäße der Laut eine beschwörende Wirkung, begann sich ein Ausschnitt des grauen Steinbodens zu erhellen, einer der zwölf Ausschnitte, die als Kreissegmente von der Stelle ausgingen, an der sich die grauberobte Gestalt befand. Die zwölf Ausschnitte enthielten eine Anzahl von Symbolen, doch gab es in jedem Ausschnitt ein Symbol, das die anderen mit doppelter Größe beherrschte. Das große Symbol in dem aufglühenden Ausschnitt stellte einen grotesken Löwen dar.
»Leo... König auf seinem Thron... von hohem Wuchs, furchtbar anzuschauen...«
Wieder gellte das Lachen durch die hohen Mauern der Halle. »Doch Throne lassen sich stürzen... der Mächtige kann erniedrigt werden... Zeige deine Macht, Leo, wenn sie mit anderen, seltsameren Kräften verschmilzt. Leo, du Sonne - warum meidest du deinen Widersacher, den Mond? Soll das Orakel die Frage ergründen - oder die Antworten?«
Das Lachen, das diesmal den Raum erfüllte, klang wütender und tödlicher als zuvor. Dann folgte Schweigen. Der Mann in der grauen Robe konzentrierte sich auf das Symbol des Löwen.
Und rings um das Symbol begannen sich winzige Gestalten zu regen.
Erstes Kapitel
Die junge Schwarze empfand Furcht bei ihrem Tun, aber die starke Hand des jungen Mannes umklammerte beharrlich die ihre, und tief im eigenen Herzen wollte sie, wozu er sie drängte. Als sie durch das Tor der hohen, hölzernen Umzäunung schlüpften, die ihren Kral umgab, war sie jedenfalls froh um die Dunkelheit. »Die Nächte des Vollmonds beginnen«, hatte die blinde Alte während des nächtlichen Zeremoniells gesagt. »In diesen Nächten nehmt euch vor dem Licht in acht.« Aber gegenwärtig gab es kein Licht. In der finsteren Augustnacht war die Steppenlandschaft außerhalb des Krals nur stellenweise schwach erhellt, dort, wo die schwere Wolkendecke weniger dicht hing. Doch sicher war man nie.
Niemand in den oberen Grasflächen der südafrikanischen Hochebene war sicher. Nicht vor dem Wetter und seinen sprunghaften Veränderungen. Vor nichts. »Vor allem wenn du schwarz bist, Kind«, hatte die blinde Alte mehr als einmal zu ihr gesagt. »Wenn du schwarz bist, weißt du nie, was die Zukunft bringt.« Und doch, die blinde Alte - war sie nicht auch schwarz? Wie konnte sie dann mit solcher Sicherheit behaupten, dass das Licht des Vollmonds ein Grund zur Furcht sei, besonders des Vollmonds in diesem Monat?
Aber das junge Mädchen kannte die Antwort auf diese Frage. Die Alte war izinyangi, sie vermochte mit Kräutern zu heilen, und auch isangoma, das hieß, sie konnte Wahrsagen und die Opfer eines batakati heilen, eines Magiers, der Böses tat, der mit Beschwörungen Menschen Böses zufügte. Manche Bewohner des Krals, der zu Mr. Heaths Mine gehörte, behaupteten von der Alten, auch sie sei ein batakati. Aber sie sagten es nicht laut und schon gar nicht, wenn die Alte mit den blicklosen Augen irgendwo in der Nähe war.
Nein. Wenn die Alte gesagt hatte, sie sollten vorsichtig sein, richtete man sich besser danach. Und die Alte hatte den Grund erwähnt, oder wenigstens einen Teil davon.
Natürlich war es üblich, dass die Alte zum Ausklang der Rituale warnende Hinweise aussprach. In solchen Momenten war ihre Verbindung zu jenen Dingen, die die anderen Mitglieder der kleinen Gemeinschaft nicht sahen und begriffen, am engsten. Sie pflegten beieinander zu hocken, ungefähr vierzig, nachdem sie den guten Geistern die Ehre erwiesen hatten - jenen, die sie kannten -, dann ihren persönlichen Vorfahren und schließlich der Schlangengöttin. Nachdem der Ritus des Aderlassens vollzogen worden und das Blut aus den Schenkeln des einen über die Schenkel des anderen gelaufen war, saßen sie zusammen und lauschten aufmerksam den Worten der Alten.
In früheren Zeiten, so bekamen die Jüngeren oftmals von ihren Eltern zu hören, waren die Zeremonien lauter und lebhafter verlaufen. Heutzutage jedoch war das unmöglich, hier in der Nähe des Weißen Mannes. Lebten sie in einem der entfernten Reservate, wäre das anders. Doch hier, wo sie zum Nutzen des Weißen Mannes arbeiteten und die einzige Arbeit versahen, die imstande war, ihre Familien in den Reservaten zu ernähren, hier mussten sie nach den Gesetzen des Weißen Mannes leben. Sie mussten behutsam sein, durften nichts tun, das gegen die Religion des Weißen Mannes verstieß - jedenfalls durften sie sich dabei nicht erwischen lassen. Ansonsten kümmerte sich der Weiße Mann nicht darum, ausgenommen jene, die des Weißen Mannes Priester waren. Solange sie ihre alten Stammesangelegenheiten unter sich regelten und nicht gegen den Glauben der Weißen auftraten, konnten sie nach Belieben in der überlieferten Weise fortfahren.
Viele Ratschläge der Alten galten der Art, wie man mit dem Weißen Mann umgehen solle. Die Mehrzahl der Schwarzen, die nun im Kral wohnten, besaß lediglich Arbeitsverträge von kurzer Dauer, weil sie anschließend zu ihren Familien ins Reservat heimkehren wollten. Mehrere Männer hatten sich zunächst über die Wohnverhältnisse beschwert - die meisten Minen stellten ihren Arbeitern weitaus bessere Unterkünfte als die traditionellen aus Lehm gebackenen, rondavel genannten Bauten, die Mr. Heath seine Arbeiter zur Eigenverwendung errichten ließ; doch die Alte riet ihnen, den Mund zu halten. »Mr. Heath kann hier tun, was er will, so weit fort von den anderen Minen. Aber aus dem gleichen Grund habt ihr hier manches, worauf die schwarzen Arbeiter in anderen Lagern verzichten müssen.« Und das stimmte. Während die Baracken der meisten anderen Minen ausschließlich für Männer gedacht waren, wohnten in diesem Kral auch einige Frauen. Manche waren hier zur Welt gekommen, ein paar hatte man aus den Reservaten eingeschmuggelt. Fast alle lebten illegal auf dem Land des Weißen Mannes.
Deshalb betrafen viele Ratschläge der Alten das Schweigen. Aber nach den Ritualen, wenn sich ihre umschatteten Augenhöhlen himmelwärts wandten, ihre Ohren zuckten, wie um die Botschaft des Windes, des Regens oder der stillen Nacht zu vernehmen, dann erteilte sie einen anderen Rat - dann schien es, als sei die Welt und alle Geister darin, samt denen der Zuhörer, für sie ein offenes Buch. In dieser Nacht, da ihre Miene im flackernden Feuerschein wie versteinert wirkte, hatte sie vom anbrechenden Vollmond gesprochen.
»Eine böse Zeit nähert sich«, sagte sie und schwieg einen Augenblick, während die Zuhörer sich aufmerksam vorbeugten, um sie das Böse beschreiben zu hören. Doch ihre nächsten Worte enthielten keine greifbaren Hinweise. »Eine sehr, sehr böse Zeit. Böse Dinge werden in Menschenseelen eindringen. Die Zeit, die naht, wurde lange zuvor geweissagt, und der Vollmond, der heraufzieht, bringt diese Zeit über uns. Das Böse kommt, und niemand vermag es aufzuhalten. Ich nicht, ihr nicht, keiner im Land, in den Dörfern oder in den Minen. Weder der Schwarze Mann noch der Weiße Mann können sie aufhalten. Die Nächte des Vollmonds beginnen. In diesen Nächten nehmt euch vor dem Licht in acht.«
Das Mädchen hatte gezittert, als die Alte ihre Warnung beendete, doch es gelang ihr, weiter dem zwingenden Blick des Jünglings zu begegnen, der einige Plätze entfernt saß. Sie wusste, dass er sie seit Tagen beobachtete, und heute hatte er begriffen, warum sie ihren Platz beim Blutritual so gewählt hatte, dass seine Hände die ersten waren, die sie berührten. Seine Hände, sanft auf ihren Schenkeln... Ja, sie wusste, woran er in diesem Moment gedacht hatte und woran er nun dachte. Das gleiche beschäftigte ihre Gedanken. Die blinde Alte hätte es natürlich nicht gebilligt, auch nicht ihr eigener Vater. Sie befand sich in jenem Alter, in dem man Mädchen verheiratete, doch ihr Vater hatte noch keinen geeigneten Ehemann finden können. Und dieser Jüngling, ein Neuling im Kral, mochte bereits irgendwo eine Frau haben. Sicher konnte man nie sein! Dennoch...
Als die Zeremonienhütte sich leerte, entfernte sie sich scheinbar ziellos, schaute nur gelegentlich über die Schulter, um festzustellen, ob jemand sie beobachtete. Natürlich sah ihr jemand nach. Er tat es, bis es keinen Zweifel mehr gab, dass sie zu der abgelegenen Stelle der Umzäunung strebte, wo das Tor des Krals lag. Sie bemerkte seine verstohlenen Blicke nach allen Seiten, dann sah sie ihn in anderer Richtung davongehen, doch in einer Richtung, die von ihrem Weg in Wirklichkeit nur um etwa fünfundvierzig Grad abwich.
Er ging ein wenig schneller, so dass er sie schon erwartete, als sie das Tor erreichte.
»Ich weiß nicht«, sagte sie, »ich weiß nicht, ob wir es tun sollen.«
»Was tun sollen?«, fragte er.
»Du weißt, wovon ich spreche«, antwortete sie.
Er grinste breit. Was für ein nettes Lächeln, dachte sie. Ein schlimmes Lächeln, aber der Schauer, der ihr über den Rücken rieselte, entstand keineswegs aus Furcht, vielmehr aus Erwartung. »He, Mädchen, und was denkst du?«
»Du weißt was ich denke.«
»Ja, das weiß ich. Ganz bestimmt. Komm, wir wollen hinaus, bevor uns jemand sieht.« Er schob sie zu dem verschlossenen Tor, aber sie wirkte unentschlossen.
»Ich habe gedacht...«
»Ich auch. Komm.«
»Nein, ich meine die Worte der Alten. Dass wir vorsichtig sein müssen.«
Er hatte bereits das Tor geöffnet. »Wir werden auch vorsichtig sein - aber jetzt bist du gar nicht klug. Wenn jemand uns sieht, Mädchen, hetzt man alle Teufel auf uns. Komm!«
Als er sie durch das Tor zog und dafür sorgte, dass der Riegel auf der Innenseite nicht völlig einrastete, spürte sie seine kraftvolle Hand an ihrer Hüfte. Ein herrischer Mann, dachte sie. Das war gut. Gebieterisch in so jungen Jahren. Wahrscheinlich hatte er die Männlichkeitsriten seines Stammes schon vollzogen, welcher das auch sein mochte. Solche Fragen waren innerhalb der Reservate von Bedeutung, aber nicht hier, an diesem Ort... Sie war nie in einem Reservat gewesen und wollte auch nicht in eines, jedenfalls nicht wirklich, obwohl sie sich das Leben darin manchmal sehr romantisch vorstellte, mit schwarzen Männern und Frauen, die nach ihrer eigenen Bestimmung handelten. Natürlich wusste sie es besser. Nirgendwo herrschte der Schwarze Mann über das eigene Schicksal, nirgendwo. Und wären die Reservate tatsächlich so angenehm, warum sollten Schwarze es vorziehen, an einem Ort wie diesem zu leben, wo ein weißer Boss sie bis aufs Blut ausbeutete? Nein, die Reservate waren nicht das Richtige für sie. Aber dieser Jüngling stammte wahrscheinlich von dort, und sie wollte ihn danach fragen. Vorerst jedoch hatte sie eine andere Frage.
»Hast du irgendwo eine Frau? Ein Eheweib?«
Seine Augen lachten sie an. »Ich könnte dich anlügen.«
»Ja.«
»Nein, ich habe keine Frau. Noch nicht.« Erneut blitzten seine weißen Zähne in der Finsternis auf. Sie erfasste die Bedeutung der Worte und des Grinsens, aber sie dachte nicht darüber nach. Sie wollte nicht daran denken. Wenn er sie mochte, legte er vielleicht Wert darauf, sie zu seinem Weib zu machen...« Vielleicht auch nicht. Falls er es beabsichtigte, würde er mit ihrem Vater sprechen und einen Brautpreis vereinbaren müssen. Vermutlich besaß der Jüngling keinerlei Vieh - das war der übliche Tauschwert doch in so abseits vom traditionellen Leben liegenden Siedlungen wie dieser akzeptierte man zumeist auch Bargeld. Sie fragte sich, wieviel ihr Vater wohl für sie verlangen würde - vorausgesetzt, die Ahnen des Stammes, aus dem der Jüngling kam, behagten ihm überhaupt.
»Komm«, drängte der Jüngling. »Wir können nicht die ganze Nacht fortbleiben.«
»Es ist dunkel«, erwiderte sie nur.
»Das ist es immer - bei Nacht«, sagte er und grinste wieder. Ein sehr selbstsicherer Jüngling, dachte sie.
Sie schritten eilig durch das Gestrüpp, während die Finsternis das Licht der Fackeln, das hinter der Umzäunung des Krals aus den Lehmhütten fiel, umso rascher verschlang, je weiter sie sich entfernten. Es sah aus, überlegte das Mädchen, als es sich umblickte, als habe sich ein Ungeheuer über die kleine Siedlung hergemacht und verschlinge es Bissen um Bissen. Plötzlich bemerkte sie die Kälte; der Winter würde bis zum Ende des Monats Einzug halten. Bis eben war ihr die Kälte gar nicht zu Bewusstsein gekommen, weil Feuer das Innere der Zeremonienhütte erwärmt hatte und weil das eigene Innere von einem andersgearteten Feuer erhitzt erfüllt war. Doch nun, ganz plötzlich... »Ich denke, wir sollten es nicht tun.«
»Am besten denkst du überhaupt nicht, Kleines. Wir sind fast am Ziel.«
»Aber ich friere!«
»Nicht mehr lange. Das verspreche ich dir.«
»Bitte... wir sind weit genug.«
Sie verharrte mit steifem Körper, der sich weigerte, noch einen Schritt vorwärts zu tun. Er versuchte sie nicht zu zwingen, sondern wandte sich ihr zu. Das blitzende Grinsen. »Woanders hätten wir es bequemer.«
»Bequemer wobei?«
»Kleine Miss, du weißt doch Bescheid.«
»Ich... ich möchte zurück.«
»Wirklich?«
»Ja. Bitte ich...«
»Wirklich?«, wiederholte er. Und dann griffen seine Hände zu, pressten sie an ihn, glitten unter ihre Kleidung, berührten ihren Körper, suchten, tasteten. »Wirklich?«
Er ließ sich auf die Knie sinken, zog sie mit sich. Nicht gewaltsam, sondern mit sanftem Nachdruck. In diesem Augenblick wusste sie, dass sie nicht zurückkehren würde, bevor seinem Verlangen Genüge getan war, und sie wusste, dass sie es so wollte. Sie empfand die Kälte nicht mehr. Aus ihrem Unterleib drang die Glut in ihren Oberkörper und ihre Gliedmaßen. Ihr Atem ging stoßweise, und er - sein Lächeln war gewichen. Er atmete ebenfalls schneller. Als er sie sanft ins Gras drückte, spürte sie plötzlich die Bodenkälte, doch nur für einen Augenblick. Besorgt biss sie sich auf die Lippe und erwartete ihn.
Er fühlte sich plötzlich sehr unbeholfen, spürte nur noch seine Hände, seine Füße, alles andere als das Entscheidende. Es war ganz einfach gewesen, in der Hütte selbstsicher aufzutreten, in der Gegenwart all der anderen Personen, mit halbgeschlossenen Augen das Mädchen verlangend anzustarren - mit dem allesverzehrenden Verlangen, das er für jedes Mädchen empfand, seit seine Männlichkeit erwacht war. Das hier jedoch war etwas anderes, und er war nicht mehr so von sich überzeugt. Er bemühte sich, dennoch zu grinsen - und musste feststellen, dass es ihm nicht gelang. Seine Lippen wollten sich nicht mehr auf die Weise kräuseln, wie er es wünschte. Und wenn sein Gesicht ihm nicht gehorchte, wenn schon diese Muskeln seinem Willen trotzten, wie stand es dann um das andere? Er schloss die Augen zu einem kurzen Gebet, dann öffnete er sie, aus Furcht, sie könne sich wundern, sie geschlossen zu sehen. Doch - ha! - ihre Lider waren geschlossen! Den guten Geistern sei Dank!
Das Mädchen stöhnte. Warum? Er hatte sie noch gar nicht berührt - nicht dort. »Bitte«, sagte sie. »Jetzt... bitte.« Nicht laut, aber drängend. Und er, ja, auch er verspürte den wachsenden Drang. Wenn er es bloß so auszuführen vermochte, wie sie es erwartete. Und wenn nicht? Wenn...
Ahhhhh!
So leicht. Wenigstens dieser Teil, der Anfang. Doch was nun? Ja, ein Rhythmus. Aber in dieser Hinsicht blieb ihm im Moment nicht viel zu tun - sie lieferte vorerst genug Bewegung. Sie? Also hatte sie es schon getan, vielleicht mit vielen Männern? Seine Hand glitt abwärts. Nein. Die Feuchtigkeit, die seine Finger ertastete, verriet ihm, dass er ihr erster Mann war. Der erste! Ihr erster, so wie sie seine erste Frau war. So war es richtig. Sie konnte keine Vorstellung besitzen, wie man es machte. Wie immer er es tat, er konnte ihr sagen, es sei die richtige Methode, und sollte sie ihm widersprechen? Aber...
Durfte er erlauben, dass sie die Bewegung lenkte?
Immerhin war er der Mann. Sollte nicht er...
Ja. Heftig unterbrach er ihre sanften Regungen und bewegte sich rascher. Sie stöhnte.
Ja. Ja, ja...
Und plötzlich war alles vorbei, zumindest für ihn. Vollständig vorüber, fertig damit - ohne dass eine Spur von Verlangen zurückblieb. Sie jedoch...
Sie schrie plötzlich auf, sank zurück ins Gras, als falle sie in Ohnmacht. Aber das traf nicht zu. Da war der Blick unter ihren halbgeschlossenen Lidern, der Schimmer ihres Gesichts im Mondlicht...
Mond?
Er schaute zum Nachthimmel empor. Ja, dort hing der Mond, eine silberne Scheibe, rund und voll, wie die Alte gesagt hatte. Vollmond...
Er zitterte, spürte nun ebenfalls die Kälte. Er machte Anstalten, sich zu erheben, aber die Hände des Mädchens, die auf seinen Armen ruhten, hielten ihn fest. »Bist du sicher?«, fragte sie.
»Sicher? Wieso?«
»Dass du kein Weib in einem Reservat hast?«
»Ich sagte es doch. Kein Eheweib. Keines außer dir, hörst du?«
»Ja«, antwortete sie heiser. »Ich weiß nicht, ob ich es glaube. Der Mond.«
Und dann ließ sie ihn nicht nur abrupt frei, sondern schob ihn hoch.
»Der Mond! Wir müssen heim in den Kral. Was war das?« Sie hob den Kopf und lauschte.
»Gut, kehren wir um. Sofort. Was war was?«
»Ein Laut. Eine Art - Grollen.«
Er löste sich von ihr, noch auf den Knien. Sie saß auf dem Boden. Hastig brachte er seine Hose in Ordnung. Erst dann begriff er, dass sie sich nicht aufrichten konnte, solange er in seiner Position verharrte, und rückte zur Seite.
Er vermochte die Bewegung nicht zu vollenden.
Das Mädchen schrie auf. Nicht wie beim ersten Mal. Diesmal waren ihre Augen nicht geschlossen, auch nicht zur Hälfte geschlossen, sondern weit aufgerissen - und sie starrten nicht ihn an! Ihr Blick ging über seine Schulter, und als er sich umwandte, um die Ursache ihres seltsamen Verhaltens zu sehen, vernahm er es ebenfalls.
Das Grollen - dann das Brüllen.
Und dann sprang der Mann durch das silberne Mondlicht auf ihn zu.
Etwas Schweres prallte gegen seinen Schädel, und aus seiner knienden Position fiel er auf den Rücken. Rasch rollte er sich über den Boden, um einen gewissen Abstand von dem Mann zu gewinnen, der...
Doch nun, als er sich blitzartig aufrichtete, erkannte er, dass ihn kein Mann angegriffen hatte. Es war insofern ein Mann, als es sich um eine annähernd menschliche Gestalt handelte; eine große Gestalt - doch die Arme waren länger und wuchtiger als bei gewöhnlichen Menschen, und der Körper war seltsam verkrümmt. Und am Kopf, der fast zu groß war für einen Menschen, wallte eine riesige Mähne. Die Schatten verhüllten das Gesicht des Mannes.
Jedenfalls bis es sich ihm zuwandte.
Der Jüngling schrie auf. Und schrie nochmals, als die Kreatur einen zweiten Sprung tat und die langen weißen Zähne die Kehle des Jungen suchten.
»Nein!«, gellte die Stimme des Jünglings. »Bitte - nein!«
Dann hörte er das Mädchen vor Entsetzen kreischen, und aus dem Augenwinkel sah er es aufspringen und auf den Kral zulaufen. Hauptsächlich aber war sein Blick auf die mächtigen weißen Fänge gerichtet. Vielleicht hätte er ihn lieber auf die wuchtigen Arme des Geschöpfs fixieren sollen, das nun über ihm kauerte. Ein harter Schlag traf seine linke Schläfe, und neben dem schrecklichen Schein des Monds tanzten nun andere Lichter vor seinen Augen. Wieder stürzte er zu Boden, während der andere über ihm stand und keuchte und grollte. Furchtbar grollte er, als sei eine derartige Bestie fähig zu einem - Lachen?
Und dann streckten sich die kräftigen Arme nach unten, und er konnte sehen, dass die Finger der Hände mit dichtem Haar oder Pelz bewachsen waren. Die Fingernägel - sie waren Krallen, die...
»Nein - bitte, nein!«
Doch schon gruben sich die Krallen, ebenso wie die glänzenden weißen Zähne, in sein Fleisch. Ob schließlich die Krallen oder die Zähne seine Kehle zerfetzten, merkte der Jüngling nicht mehr.
Warum?, zuckte es immer wieder durch den Kopf des Mädchens. Halb lief es, halb stolperte es den Lichtern der Siedlung entgegen, den grauen Schatten, die sie schon sah, die aber noch so weit entfernt zu sein schienen. Sie musste es schaffen - sie musste. Es war nun zu spät, um ihn noch vor dem - dem Etwas, dem scheußlichen Ding zu retten. Einem jener Dinge, die gewöhnlich nur in Geschichten auftauchten - nicht im wirklichen Leben! Nur in Erzählungen alter Weiber oder in den Sagen aus der Vorzeit, wie alte Männer sie vortrugen, jener Zeit, in der Tiere redeten und einhergingen wie heute die Menschen.
Sie rutschte aus und fiel, aber es gelang ihr, eine Unterbrechung ihrer gehetzten Flucht zu vermeiden, indem sie sich mit den Handflächen auf fing und aufwärts riss, um weiterzueilen. Das Atemholen wurde inzwischen zur Qual, aber sie begriff, dass sie sich, falls sie die Umzäunung nicht erreichte, falls sie nicht in den Kral gelangte, nie mehr um Atemluft würde sorgen müssen. Ihre Lungen atmeten so rasch wie das Geräusch ihrer Füße kam, doch dann ertönte noch das Geräusch anderer Füße - hinter ihr. Das Geschöpf folgte ihr, davon war sie überzeugt. Es würde sich nicht damit zufriedengeben, den Jüngling zu töten, es wollte auch sie. Aber sie wagte nicht den Kopf zu wenden, um sich zu vergewissern. Selbst wenn sich das Wesen dicht hinter ihr befinden sollte, womöglich bereits die klauenähnlichen Hände nach ihr ausstreckte,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Lyle Kenyon Engel/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Peter Sladek.
Übersetzung: Horst Pukallus (OT: Horrorscope - The Curse Of Leo).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 13.10.2018
ISBN: 978-3-7438-8356-7
Alle Rechte vorbehalten