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Leseprobe

 

 

 

 

DOMINIQUE ARLY

 

 

DIE ABSCHEULICHEN

- 13 SHADOWS, Band 24 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE ABSCHEULICHEN 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

 

Das Buch

Plötzlich stieß ich einen entsetzten Schrei aus.

Im Licht meiner Lampe sah ich einen zusammengekauerten Menschen, einen sehr alten, weißhaarigen Mann, dessen Gesicht zum größten Teil von einem weißen, struppigen Bart bedeckt war. über der Schulter seines skelettartigen Körpers hingen ein paar Lumpen.

»Er ist mumifiziert«, murmelte ich vor mich hin. »Ein mumifizierter Eremit. Er muss schon seit vielen Jahren tot sein...«

Ich wagte mich nicht zu bewegen, denn die Mumie musste ja bei der leichtesten Berührung zu Staub zerfallen. Die Stirn, die geschlossenen Lider, die Brust und die Gliedmaßen sahen wie altes, gelbliches Pergament aus, das feine Alterssprünge hat.

»Ein vergessener Eremit«, setzte ich mein Selbstgespräch fort.

Ich wollte mich eben wieder zurückziehen, da spielte der Schein meiner Lampe noch einmal über die Mumie.

Langsam, sehr langsam, hoben sich die pergamentenen Lider des Alten. Grünliche Augen warfen das Licht der Taschenlampe zurück.

Ich versuchte zurückzukriechen - meine Glieder versagten mir den Dienst; ich versuchte zu schreien- meine Kehle war mir wie zugeschnürt. Ich konnte nur ein wenig stöhnen. Ich zitterte am ganzen Körper.

Er öffnete den Mund!

Ich sprang auf, knallte natürlich an den Felsen, stieß dabei an meine Lampe, die ausging...

 

Der Roman DIE ABSCHEULICHEN von DOMINIQUE ARLY - ein französischer Schriftsteller, insbesondere bekannt für seinen Roman Das Ungeheuer von Green Castle - wurde in Deutschland erstmals im Jahr 1972 veröffentlicht (als Band 17 der Reihe HORROR EXPERT).

DIE ABSCHEULICHEN erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  DIE ABSCHEULICHEN

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Kaum einmal werden wir uns dessen bewusst, wenn das Schicksal an unsere Tür pocht; wir hören auch kaum jemals auf die Stimme unseres ahnungsvollen Gefühls.

Bis sich einmal eine Ahnung bewahrheitet.

Dann erinnert man sich des Tages, da alles begann.

 

Sir Douglas Ebner steuerte seinen Triumph über eine Schweizer Straße, und ich saß neben ihm. Der Kongress in Genf war am Vorabend zu Ende gewesen, und wir wollten am folgenden Tag wieder in London sein. Mein derzeitiger Chef war der Meinung, dass wir einen Ruhetag verdient hätten, und so folgten wir einer dicken grünen Linie auf der Landkarte.

Ich glaube, ich sollte doch erst erklären, wieso ich mich um diese Zeit ausgerechnet in der Schweiz befand.

Vor einer Woche erhielt ich in London den Besuch von Mary, Sir Ebners Sekretärin. Mit Mary verband mich eine alte Kinderfreundschaft. Erst war sie ein wildes kleines Mädchen, daraus wurde eine sehr zurückhaltende »höhere Tochter«, bis sie zu einer jener ernsthaften Personen heranreifte, die mit Brille und Nackenknoten herumlaufen und alte Jungfern zu werden drohen. Als Sekretärin eines Wissenschaftlers hatte sie aber wenigstens einen Beruf gefunden, der ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprach.

Als sie mich aber vor einer Woche besuchte, kannte ich sie kaum wieder. Dieses entzückende Geschöpf mit den geschickt geschminkten Augen, dem zauberhaften Lächeln und der hübschen Frisur sollte Mary sein? Ihr purpurfarbenes Kleiddien war sehr tief ausgeschnitten und gerade lang genug, dass es noch anständig wirkte.

»Hallo, Rosamond, welch ein Zufall, dass ich dich zu Hause antreffe!«

Ich hatte gar nicht gewusst, dass sie so strahlend lachen konnte.

»Du... hast dich aber sehr verändert.«

»Nicht wahr?«

Nachdem sie mich umarmt und geküsst hatte, setzte sie sich auf den niederen Diwan und schlug ihre langen, hübschen Beine so weit übereinander, dass ich ihr winziges, mit rieselnden Spitzen verziertes Höschen sehen konnte.

»Ja, ich habe mich verändert, nicht wahr?«

»Ganz und gar!«

Sie lachte wieder, weil ich noch fassungslos vor Staunen war.

»Findest du, dass ich jetzt... besser aussehe?«

»Ganz ohne Zweifel! Aber wie ist das gekommen?«

Ihr Gesicht wurde sehr ernst.

»Weißt du, Rosamond, ich heirate morgen.«

Ich war erst einmal sprachlos vor Überraschung.

»Ich bin mit Bob, einem jungen Elektroingenieur verlobt. Du kennst ihn nicht«, sagte sie. »Ich werde ihn dir noch vorstellen.«

»Meinen herzlichen Glückwunsch«, stotterte ich.

»Ich verstehe, dass du sehr erstaunt bist«, meinte sie. »Schließlich habe ich ja, glaube ich, nie den Eindruck erweckt, dass ich einmal zu heiraten gedächte.«

»Nein, eigentlich nicht.«

Sie wurde ein wenig rot.

»Ich habe mich auch redlich bemüht, und ich war auch immer äußerst zurückhaltend.«

»Ja«, gab ich zu.

»Vor längerer Zeit habe ich mir einmal ein paar Aufklärungsbücher über sexuelles Verhalten gekauft. Die habe ich dann sehr gewissenhaft gelesen, und du weißt ja, dass ich mich immer für alles interessiert habe.«

Ich hob den Kopf und sah sie interessiert an.

»Unglücklicherweise glaubte ich als junges Mädchen, die Natur habe mich in dieser Beziehung recht stiefmütterlich behandelt. Ich habe insgeheim natürlich oft versucht, mich selbst zu befreien, um meine Sinne zu wecken, aber das war alles umsonst. Das, was die Sexologen Selbstbefriedigung nennen, gelang mir ganz einfach nicht. Verstehst du das?«

»Ich habe es ebenso gemacht, allerdings mit Erfolg.«

»Du bist ja auch normal. Ich bin es nicht. Ich habe sogar einen Arzt zu Rate gezogen, der mir versichert hat, ich sei völlig normal gebaut; er hat mir voll beruflicher Gewissenhaftigkeit sogar erklärt, wie ich mich in einen Erregungszustand versetzen könnte, aber die verschiedenen Formen der Stimulierung, die er angewandt hat, blieben erfolglos. Es war sogar so, dass mir sein Mund und seine Finger einen ausgesprochenen Ekel eingeflößt haben. Es kam mir abstoßend und gleichzeitig richtig grotesk vor, wie sich dieser Mann abstrampelte. Er kam mir vor wie ein unanständiger Affe in einem Tiergarten, von dem man ein wenig verlegen den Blick abwendet.

Dann riet er mir, mich mit Petting zu trösten, möglichst mit jungen Männern meines Alters, wenn möglich sogar jüngere, aber da sollte ich mich auf schöne und zärtliche Männer beschränken. Vergangenen Sommer hielt ich am Strand nach solchen jungen Männern Ausschau. Ich habe meine Brille abgelegt, die ich sowieso eigentlich gar nicht dringend brauche, trug meine Haare offen und kleidete mich auch etwas freier und ansprechender. Das ging ganz gut, und ich hatte ein paar recht nette und erfolgreiche Flirts mit jungen Männern. Aber leider hatten auch deren geschickte und fleißige Massagen gar keine Wirkung, und ich selbst weigerte mich entschieden, sie zu berühren. Für mich waren sie nichts als nur Grimassen schneidende Affen.«

Die Erinnerung schien sie traurig zu machen, und sie ließ den Kopf hängen.

»Ich besuchte dann einen anderen Arzt, der mir eine ganz andere Behandlungsmethode riet; er empfahl mir den Besuch gewisser Mädchen. Aber auch das war ein Versager, denn für mich waren alle Menschen, die sich der Liebe hingaben oder es versuchten, nichts als nur Affen; hässliche, lächerliche Affen. Allmählich stieß mich jener Körperteil, der so unansprechbar blieb, sogar ab. Er war ja nichts anderes als nur ein wenig Fleisch.

Damals resignierte ich. Du hast es sicher bemerkt.«

»Ja, natürlich. Und das hat sich mittlerweile geändert?«

»Oh, ja! Ich hätte niemals mit dir darüber gesprochen, wenn nicht ein Wunder geschehen wäre.«

»Dann ist dir also ein Märchenprinz begegnet, und dem ist all das gelungen, womit du dir so viel vergebliche Mühe gemacht hattest?«

»Eigentlich nicht. Anfangs war die Sache sogar schrecklich banal. Ich war im Kino, und neben mir saß ein Mann, der einen Annäherungsversuch machte, indem er mein Knie streichelte. Ich schaute ihn nicht ein einziges Mal an, ließ ihn aber weitermachen. Ist ja doch alles umsonst, sagte ich mir. Er machte es auch nicht anders als die anderen, legte mir seinen Regenmantel auf den Schoß und schob in dessen Schutz seine Hand zwischen meine Beine. Er berührte mich dort fast zögernd, und plötzlich erschütterte mich ein bisher ganz unbekanntes Gefühl. Er wurde unruhig und wollte seine Hand zurückziehen. Aber da hatte ich die unglaubliche Kühnheit, seine Hand festzuhalten. Das, was folgte, brauche ich dir ja nicht zu schildern, Rosamond. Du kennst es ja lange genug.

Mich hat es fast vom Stuhl gehoben. Ich war schrecklich rot, und als ich mich ihm dann zuwandte, hatte ich neben mir keinen komischen Affen, sondern einen Mann, einen richtigen Mann, für mich den einzigen.«

»Nun, das ist doch wunderbar, meine kleine Mary!«

»Aber du lachst doch nicht über mich?«, forschte sie errötend.

»Nein, mein Schäfchen. Ich denke, ganz im Gegenteil, dass du Glück gehabt hast. Eigentlich ist es doch ganz unwichtig, wer dich erweckt hat.«

»Ja, es war ein außerordentlicher Zufall. Wäre es ein alter Lustmolch oder ein kleiner, böser Junge gewesen, dann hätte ich wahrscheinlich auch nicht widerstehen können, und ich hätte ihn bis zum Ende gewähren lassen. Aber Bob ist ein wunderbarer Mann.«

»Das ist ja herrlich, mein Liebling!«

Sie lächelte mich ein wenig ängstlich an.

»Nur... Weißt du, ich mache mir einigen Kummer darüber, dass Sir Ebner nun einen Monat lang keine Sekretärin haben wird, übermorgen fahren wir, Bob und ich, nach Venedig.«

»Da kannst du dann ja seufzen - auch ohne Brücke.«

»Lach mich ruhig aus. Aber jetzt bist du dran.«

»Auf der Seufzerbrücke?«

»Nein! Du musst mich bei Sir Ebner vertreten. Ich habe ihm erst vorgestern gesagt, dass ich heirate. Gestern früh habe ich ihn um Urlaub gebeten und ihm versprochen, eine meiner Freundinnen zu überreden, dass sie mich bei ihm vertritt. Und natürlich habe ich da sofort an dich gedacht.«

Ich stand auf und kreuzte die Arme vor der Brust.

»Völlig ausgeschlossen!«

Sie hob bittend die Hände zu mir auf.

»Oh, Rosamond, du bist doch völlig frei und kannst die Arbeit auch machen. Du kannst überhaupt alles!«

»Woher weißt du denn das? Wer hat dir gesagt, dass ich nicht eine ganze Herde Affen oder sogar einen homo sapiens habe, dem ich dienen muss, weil er mich unterjocht hat?«

»Du willst auch heiraten?«, fragte sie ängstlich.

»Warum nicht? Bin ich vielleicht zu hässlich dafür?«

»Im Gegenteil! Du bist ein großartiges Mädchen. Das ist ja gerade der Grund, warum ich mich an dich wende. Du weißt so vieles, und du hast auch schon die verschiedensten Dinge getan. Es gibt nur eine einzige Rosamond Lew.«

»Sechsunddreißig Versuche und sechsunddreißig Misserfolge«, sagte ich in Abwandlung einer französischen Redensart. Aber sie ignorierte meine Bemerkung ganz einfach.

»Rosamond, dir ist alles gelungen, was du angepackt hast. Mabel hat mir von deinen letzten Heldentaten in Frankreich erzählt und...«

»Schweig lieber von meinem Missgeschick!«, unterbrach ich sie.

»Nun gerade. Für dich wäre es eine kleine Unterbrechung; du hättest vorübergehend eine solide Beschäftigung, wie sie einem jungen Mädchen gut ansteht, und ich bin überzeugt, dass dich die Arbeit sogar begeistern würde. Sir Ebner ist ein sehr fortschrittlicher Gelehrter, ein richtiger Forscher. Er geht ganz in seiner Wissenschaft auf.«

»Pfui!«, sagte ich. »Und womit beschäftigt er sich?«

»Er ist Doktor der Medizin, Anthropologe und Spezialist für Urgeschichte.«

»Und das soll aufregend sein?«

»Und wie! Auch mich füllt die Arbeit ganz aus, und hätte ich nicht solange unter einem Komplex gelitten, dann wäre ich wunschlos glücklich gewesen. Sir Ebner ist auch ein sehr guter Mensch, und ich wäre untröstlich, wenn ich ihn enttäuschen müsste. Ich werde doch nur einen Monat ausbleiben, Rosamond. Wenn du mich nicht vertreten willst, ist mein Glück in Frage gestellt. Ich warte doch schon so lange darauf.«

Ihre Stimme klang so, als kämpfe sie mit Tränen, und ihre Wimpern flatterten wie kurz vorm Weinen.

»Wenn du nicht willst, dann... dann...«

Wenn ich ihre Bitte nun ablehnte - musste ich mich dafür verantwortlich machen lassen, dass sie ihren Ingenieur nicht restlos genießen konnte? Du lieber Himmel, da würde ich mir ja selbst die schwersten Vorwürfe machen!

»Ich tu es ja, mein Lämmchen«, versicherte ich ihr tröstend.

»Oh, mein Liebling...«

Sie fiel mir um den Hals und küsste mich ab, aber dann wurde sie schnell wieder ganz eifrig. »Nun, Rosamond, dann packe nur sofort deine Koffer. Du musst schon morgen mit Sir Ebner nach Genf reisen, wo er einen internationalen Kongress über Anthropologie besuchen wird.«

»Gleich zu Anfang ein Kongress?«, rief ich und löste mich aus ihrer Umarmung. »Aber das ist ja schrecklich langweilig!«

»Das meinst du nur. Der letzte, den ich miterlebte, war ungeheuer interessant und lebhaft.«

»Ich mag das Gefasel dieser Mummelgreise nicht.«

»Es sind keine alten Leute. Sir Ebner ist ein gut erhaltener Vierziger, und außerdem faselt er nicht, das darfst du mir glauben. Sogar ganz revolutionäre Themen kommen zur Sprache.«

»Welche denn, um Himmels willen?«

»Zum Beispiel das über den Ursprung des Menschen.«

»Das ist natürlich ungeheuer aufregend«, antwortete ich trocken.

»Da gibt es neuerdings sensationelle Hypothesen.«

»Aber der Mensch stammt doch vom Affen ab. Fraglos! Interessant ist nur, warum der Mensch noch nicht damit fertig geworden ist.«

»Vielleicht findest du auf dem Kongress eine Antwort darauf. Die neue Theorie, um die es geht, wird heute als die einfachste bezeichnet, und die neuesten Entdeckungen scheinen sie zu bestätigen. Natürlich sind die Wissenschaftler wie immer grundsätzlich in zwei Gruppen aufgespalten. Die Gruppe der Fortschrittlichen, bei denen Sir Ebner federführend ist, ist auf dem Vormarsch.« Sie sprach mit dem Eifer jener Leute, die sich an der Universität in hitzige Debatten verbeißen.

»Es ist doch sicher nicht nötig, sich für die eine oder andere Idee zu entscheiden, wenn man nur Stenogramme aufzunehmen und sie ins Reine zu schreiben hat«, bemerkte ich.

Sie hob die Achseln. »Natürlich nicht. Aber ich würde mich riesig wundern, wenn ausgerechnet du gleichgültig bleiben könntest.«

Ich lächelte skeptisch. Ich war nämlich restlos überzeugt, dass mich diese wissenschaftlichen Debatten, die ich für völlig unnütz hielt, schrecklich langweilen würden.

Konnte ich aber voraussehen, dass mich unvorhergesehene Zufälle bis ans Ende der Welt führen würden? Dass ich die erstaunlichsten Abenteuer erleben, die seltsamsten Gefühle kennenlernen und an die größten Geheimnisse der Menschheit rühren würde?

Und konnte ich voraussehen, dass ich vor Angst fast sterben würde?

  Zweites Kapitel

 

 

Als wir so durch die Schweiz fuhren, kam die Rede wieder einmal auf den berühmten Würzel, den Direktor des Stadtmuseums von Zürich. Der Professor war leidend und konnte daher am Kongress nicht teilnehmen. Seine Abwesenheit wurde von der Mehrheit außerordentlich bedauert.

»Würzel, der Entdecker des Oreopitheken vom Mont Barcinello, den wollte ich doch dort in erster Linie sehen. Wissen Sie, Rosamond, er lebt seit zehn Jahren in der Toscana, um die Ausgrabungen in den Braunkohlengruben zu überwachen.«

Wieder einmal erzählte mir Sir Ebner, während er seinen Wagen mit sicherer Hand steuerte, von jenem Rätsel, das vor einem Jahrzehnt die Welt der Fachgelehrten in zwei Lager aufgespalten hatte.

Es ging darum: Ließ sich der Ursprung der Menschheit auf eine Zeit vor zwölf Millionen Jahren festlegen oder nicht?

Der erste Oreopitheke - Bergaffe - wurde im Jahre 1871 von Professor Paul Gervais in Florenz entdeckt, als er einen Fossilrest genau untersuchte. Nach Gervais war dieser Bergaffe schon deutlich humanoid.

Achtzig Jahre später kam Würzel zum gleichen Schluss; er untersuchte ein anderes, wesentlich besser erhaltenes Exemplar. Allerdings wurde er von verschiedenen Seiten heftig angegriffen und litt sehr darunter.

»Diese Leute sind doch die wahren Fossilien!«, rief Douglas. »Sie klammern sich an längst überholte Ideen. Sie behaupten, der Mensch sei erstmals im Quartär aufgetreten und weigern sich, eine ungenaue Genealogie aufzugeben.«

In seinem Eifer zog er die Brauen hoch, und seine großen, lebhaften Augen sprühten Blitze. Er hatte eine hohe Stirn und feine Züge. Trotz seiner grauen Schläfen und ausdrucksvollen Falten - vielleicht auch gerade deswegen - wirkte er außerordentlich anziehend, wenn er sich so erregte.

»Trotzdem...«, wandte ich ein. »Zwölf Millionen Jahre...«

Er hieb mit der Faust auf das Volant.

»Wir stammen aus dem Tertiär, dem Miozän. Die Braunkohle von Barcinello ist eindeutig aus dieser Zeit. Und die Gehirne der Bergaffen liegen genau wie beim Menschen hinter der Stirn und nicht, wie beim Affen, mehr im Genick.«

»Aber warum ist dieser Vorläufer des Menschen vor vielen Millionen Jahren wieder verschwunden?«

»Ist er denn verschwunden? Es sind noch lange nicht alle Möglichkeiten erkannt und durchforscht worden. Die Gelehrten unserer Generation fangen doch erst an, sich für die Geologie der Minen zu interessieren.

Wissen Sie zum Beispiel, was im vergangenen Jahr sowjetische Techniker am Tian-Chan entdeckt haben? Der Berg galt als unzugänglich. Man musste das modernste alpine Gerät einsetzen. Sie waren sicher, dass vor ihnen noch kein Mensch den Fuß auf diesen Gipfel gesetzt hatte; umso verblüffter waren sie dann, als sie dort Eisenschlacke und Bronzereste vorfanden.

Daraus ergab sich eindeutig, dass es bereits Menschen gegeben hatte, die dort Erze gewannen, und das muss im frühen Paläolithikum gewesen sein.«

»Und hat man die Skelette der Mineure gefunden?«

»Darüber liegen keine Berichte vor. Wir können aber annehmen, dass die ersten Mineure vom Tian-Chan die Abkömmlinge der Bergaffen waren. Und sie haben eine technische Heldentat vollbracht, die sich heute auch unter größten Anstrengungen von Mensch und Maschine kaum wiederholen lässt. Ist das nicht großartig?«

Ich pflichtete ihm bei, und er fuhr lächelnd fort:

»Die Vorgeschichte der Menschheit auf den Gipfeln - sehen Sie, wohin wir damit kommen?«

»Das lockt Sie wohl sehr?«, fragte ich.

»Und wie!«, seufzte er. »Aber leider konnte ich bisher immer nur sehr bekannte und offensichtlich geheimnislose Berge besteigen.« Er drehte sich wieder zu mir um. »Rosamond, sind Sie Bergsteigerin?«

»Ich habe einige sehr schöne Touren im Gebiet des Mont Blanc und des Matterhorns gemacht.«

Nun tauschten wir natürlich Erfahrungen aus, bis wir zu einer Straßengabelung kamen.

»Nach links oder rechts?«, fragte er. »Ach, das ist ja eigentlich unwichtig, nicht wahr? Wir werden im nächsten Dorf nach einem Gasthaus Ausschau halten, um einen Happen zu essen.«

»Nach links«, entschied ich.

Wir glauben immer zu entscheiden, und dabei führt uns unser Schicksal folgenschweren Begegnungen zu. Alles passte zusammen - unsere etwas verspätete Abreise, das Bummeln unterwegs, die Wahl einer bestimmten Richtung. Zufälle, nichts als Zufälle.

Die Straße war jetzt sehr schmal und kurvenreich, und Sir Ebner wurde schweigsam.

Ich dachte über die vergangenen Tage nach. Wie ich es geahnt hatte, empfand ich es als schrecklich langweilig, den gelehrten Ausführungen zuzuhören. Die nachfolgende Debatte interessierte mich überhaupt nicht, da mir die Terminologie absolut fremd war.

Die Klügeleien der Wissenschaftler hielt ich für unnütze Spielereien. Wir leben im Zeitalter der Raumfahrt und sind dabei, Weltraumstationen zu errichten, und diese Leute beschäftigten sich mit Fossilien, die schon Millionen von Jahren alt waren!

Douglas zuliebe heuchelte ich natürlich immer wieder einiges Interesse; trotzdem - ganz geheuchelt war es doch nicht, denn allmählich erkannte ich die raffinierte Kultur und Intelligenz dieses Mannes und auch seinen ausgezeichneten Charakter. Wäre er zehn Jahre jünger gewesen, dann hätte ich mich wahrscheinlich, falls er mir den Hof gemacht hätte, in ihn verliebt.

Zum Glück hatte er aber keine solchen Absichten. Wenn er mir Komplimente machte, dann nicht wegen meiner körperlichen Vorzüge, und das unterschied ihn von so vielen anderen Männern seiner Kreise und seines Alters, die alle geglaubt hatten, bei mir Chancen zu haben.

Wir befanden uns nun in einer begrünten Schlucht. Zwischen zwei Gruppen hoher Tannen stürzte ein Wasserfall über hohe Felsen, und wir fingen den feinen Gischt auf. Hier war die Straße noch viel schmäler als vorher, und in einer Kehre musste Sir Ebner scharf bremsen und an den äußersten Rand hinausfahren, um ein Pferd mit einem Karren vorbeizulassen. Der Bauer führte das Pferd am kurzen Zügel und tippte an seinen schwarzen Filzhut, um sich zu bedanken und gleichzeitig zu entschuldigen, weil er so viel Platz beanspruchte.

Dann kamen wir wieder an eine Straßengabelung, und ich schlug vor, wir sollten uns am Rand der Schlucht halten.

Sir Ebner nickte und bog langsam um eine scharfe Kehre; dann tat er plötzlich einen Schrei, bremste kräftig und hielt an.

Vor uns zeichneten sich auf dem Steinpflaster schwarze Bremsspuren eines Autos ab; ein Stück weiter lag eine Radkappe an der Böschung, und ein paar Meter weiter sahen wir in der Begrenzungshecke rechts ein frisches Loch. Die Zweige waren abgebrochen, aber die Blätter daran waren noch nicht verwelkt.

»Da scheint ein Wagen in die Schlucht gestürzt zu sein!«

»Und wenn er da hinuntergestürzt ist...«

Wir sprangen rasch heraus und waren mit wenigen Schritten an dem Loch in der Hecke. Es setzte sich noch ein ganzes Stück weiter nach unten fort. Dann kam weiter unten ein Stück leerer Raum und dahinter stieg die gegenüberliegende Seite der Schlucht an.

Nun hörten wir von unten das Rascheln von Blättern, und dann erschien ein bärtiger Mann mit einem schwarzen, flachen Filzhut, wie man ihn in jener Gegend trägt. Er winkte uns zu und rief: »Da drunten ist er!«

»Der Wagen?«

»Ja, da unten. Er hat sich ein paarmal überschlagen und hängt nun auf halber Höhe zwischen Bäumen. Am Steuer sitzt noch ein Mann, aber allein kann ich ihn nicht herausholen.« Der Mann war sehr erhitzt, und dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »Wir müssten mindestens zu zweit sein, denn es ist nicht so einfach. Wenn man nicht ganz vorsichtig ist, bricht man sich den Hals. Es geht vierzig Meter sehr steil hinunter.«

»Waren Sie auf der Straße, als das Unglück passierte?«

»Ich war drüben im Wald auf der anderen Seite und habe alles gesehen. Ah, diese verdammten Dummköpfe! Immer haben sie's zu eilig.«

»Beeilen wir uns, damit wir dem Verletzten helfen können«, drängte Sir Ebner. »Sind Sie sicher, dass er allein im Wagen ist? Es könnte vielleicht jemand herausgeschleudert worden sein.«

»Nein. Die Türen sind geschlossen.«

Zu dritt kletterten wir den Steilhang hinunter und fanden zwischen abgebrochenen Büschen und jungen Bäumen einen feuerwehrroten Wagen. Es war ein fast neuer Jaguar.

Dahinter begann der Tobel.

Ich näherte mich dem Wagen von vorne. Die Windschutzscheibe war völlig zertrümmert und nur noch eine Masse lose zusammenhängender Glaskrümel. Durch ein Loch erkannte ich am Steuer einen dunkelhaarigen Mann in hellen Kleidern.

»Wir müssen versuchen, ihn herauszuholen«, sagte ich. »Wir müssten den Wagen an den Stoßstangen anheben.«

Das taten die beiden Männer, und die Bäume richteten sich wieder ein wenig auf. Ich kroch so weit wie möglich in den Wagen hinein und konnte schließlich den Verunglückten an seiner Kleidung packen, so dass ich seinen Kopf anheben konnte.

Sein Gesicht war das eines sehr jungen Mannes von asiatischem Typ und ziemlich dunkel. Mund und Augen hatte er geschlossen. Ich schob ihm die Hände unter die Armbeugen und zog vorsichtig an.

Dann half mir auch Douglas dabei, und schließlich konnten wir ihn aus dem Wagen herausheben. Er fasste ihn unter den Knien, ich unter den Achseln, und so brachten wir ihn den Steilhang hinauf.

»Er ist in sehr schlechter Verfassung«, stellte Sir Ebner fest, als der Bauer uns nachkam.

»Er scheint aber doch gar nicht verletzt zu sein«, wandte dieser ein.

»Schwerer Unfallschock. Wir müssen sehen, dass wir ihn wieder zu Bewusstsein bringen. Legen wir ihn auf die Straße.«

»Ein solches Unglück!«, jammerte der Bauer. »Dass sie aber auch mit ihren Wagen immer so rasen müssen.«

Endlich hatten wir den Ohnmächtigen auf dem grasigen Bankett neben dem »Triumph« liegen.

»Meine Tasche, Rosamond«, bat Sir Ebner. »Im braunen Koffer.«

Ich ließ den Deckel des Kofferraumes gleich offen und reichte ihm die Tasche. Douglas hatte schon die Brust des jungen Mannes freigemacht und mit künstlicher Atmung begonnen.

»Wir müssen ihm eine Injektion machen«, sagte Douglas zwischendurch. »Die Ampulle, die im Etui mit den Spritzen ist.«

»Was, Sie können die Leute behandeln?« staunte der Bauer. »Da hat er aber Glück.«

»Der Herr hier ist Arzt, und ich war Krankenpflegerin«, erklärte ich ihm.

»Da hat er aber wirklich ein ganz verdammtes Glück«, wiederholte der Bauer.

Ich bereitete die Injektion vor.

»Dieser Vollidiot! Ich habe nämlich alles beobachtet.«

»Was haben Sie gehen?«

»Der schwarze Wagen ist ihm doch glatt hineingefahren!«

»Wieso hineingefahren?«, fragte ich, fand eine Vene und setzte die Spritze an. »Das ist doch wahrscheinlich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Dominique Arly/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Peter Sladek.
Übersetzung: Kurt Mahr und Christian Dörge (OT: Les Abominables).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 13.10.2018
ISBN: 978-3-7438-8353-6

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