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Leseprobe

 

 

 

LOUISE COOPER

 

 

DAS BUCH DER PARADOXE

 

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Die Autorin 

 

DAS BUCH DER PARADOXE 

Vorwort 

Erstes Kapitel: Der Magier (verkehrt) 

Zweites Kapitel: Die Hohepriesterin 

Drittes Kapitel: Die Herrscherin 

Viertes Kapitel: Der Herrscher 

Fünftes Kapitel: Der Hohepriester 

Sechstes Kapitel: Die Liebenden (verkehrt) 

Siebtes Kapitel: Der Triumphwagen (verkehrt) 

Achtes Kapitel: Kraft 

Neuntes Kapitel: Der Einsiedler 

Zehntes Kapitel: Das Rad des Schicksals (verkehrt) 

Elftes Kapitel: Gerechtigkeit (verkehrt) 

Zwölftes Kapitel: Der Hängende (verkehrt) 

Dreizehntes Kapitel: Tod (verkehrt) 

Vierzehntes Kapitel: Selbstbeherrschung 

Fünfzehntes Kapitel: Der Teufel (verkehrt) 

Sechzehntes Kapitel: Der Turm 

Siebzehntes Kapitel: Der Stern 

Achtzehntes Kapitel: Der Mond 

Neunzehntes Kapitel: Die Sonne (verkehrt) 

Zwanzigstes Kapitel: Urteil 

Einundzwanzigstes Kapitel: Die Welt 

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Der Narr 

 

Das Buch

 

Des Mordes an Aloethe, seiner Geliebten, bezichtigt, steht der junge Varka vor seinen Richtern. All seine Unschuldsbeteuerungen fruchten jedoch nichts - Varka wird den Priestern des Darxes, des Herrn der Unterwelt, überantwortet, die das Todesurteil vollstrecken sollen.

Doch der Herrscher der Unterwelt hat Mitleid mit dem zu Unrecht Verurteilten und gibt ihm eine zweite Chance.

Aber der Weg, den Varka gehen muss, um diese Chance zu nutzen - und um sein Schicksal und das Aloethes zu wenden -, führt nach Limbo, in eine Welt zwischen den Dimensionen, und in Gebiete, in denen Lebende nicht willkommen sind...

 

Der Apex-Verlag veröffentlicht mit der durchgesehenen Neuausgabe von Louise Coopers Debüt-Roman Das Buch der Paradoxe einen Klassiker der High Fantasy, der nun erstmals seit nahezu vierzig Jahren wieder in deutscher Sprache verfügbar ist. 

Die Autorin

Louise Cooper

(* 29. Mai 1952, + 21. Oktober 2009).

 

Louise Cooper war eine britische Fantasy-Autorin, die gemeinsam mit ihrem Mann Cas Sandall in Cornwall lebte.

Cooper wurde in Barnet, Hertfordshire, geboren. Während ihrer Schulzeit begann sie Geschichten zu verfassen, um ihre Freunde zu unterhalten.

Ihr erster Roman, The Book Of Paradox, erschien im Jahr 1973 (dt. Buch der Paradoxe, 1979).

1975 zog sie nach London und arbeitete im Verlagswesen, bevor sie 1977 schließlich Vollzeit-Autorin wurde. Sie etablierte sich rasch als überaus produktive Fantasy-Autorin; besondere Bekanntheit erlangte ihre Bestseller-Trilogie Time Master (1986), die aus den Einzelbänden The Initiate (dt. Der Lehrling, 1990), The Outcast (dt. Der Verbannte, 1990) und The Master (dt. Der Meister, 1990) besteht. Sie verfasste hierzu zwei Fortsetzungs-Trilogien: die Chaos Gate Trilogy (1991 – 92) und die Star Shadow Trilogy (1994 – 95).

Louise Cooper veröffentlichte zu ihren Lebzeiten mehr als achtzig Fantasy- und Mystery-Romane, sowohl für Erwachsene als auch für Kinder. Sie hat sich viel von der Küste und der Landschaft Cornwalls inspirieren lassen, und ihre weitergehenden Interessen waren Musik, Folklore, Kochen, Gartenarbeit und das Herumalbern am Strand. Sie war Schatzmeisterin ihrer örtlichen Rettungsboot-Station; sie und ihr Mann sangen beide mit der Shanty-Gruppe Falmouth Shout.

Louise Cooper starb am 21. Oktober 2009 im Alter von 57 Jahren an den Folgen einer Hirnblutung. Ihr Mann überlebte sie.

DAS BUCH DER PARADOXE

 

 

 

 

 

  Vorwort

 

 

 

Wie fast alle magischen Hilfsmittel hat der Tarock sehr vielschichtige Funktionen. In seiner niedrigsten Form stellt er nur ein Päckchen Karten dar, das zum Voraussagen der Zukunft verwendet wird; in seiner esoterischsten gilt er als ein System mnemotechnischer Karten, die den Zugang zu inneren, geistig-seelischen Bereichen erschließen und in einer Beziehung zu den Archetypen C. G. Jungs stehen.

Der Ursprung des Tarocks liegt im Dunkeln, und über seine Herkunft haben die gelehrtesten Okkultisten die unterschiedlichsten Thesen aufgestellt. So soll er ursprünglich aus China stammen, aus Indien, aus der hebräischen Kabbala. Die meistvertretene Meinung ist, dass seine Wurzeln im alten Ägypten und bei seinen Magiern zu suchen sind.

Es gibt verschiedene Tarock-Systeme, sie alle bieten breite Interpretationsmöglichkeiten und weichen auch in ihrem Symbolgehalt voneinander ab. Nicht alle haben achtundsiebzig Karten, man hat sich aber auf die Zahl achtundsiebzig als oberste Grenze geeinigt. Der Tarock besteht aus den zweiundzwanzig Großen Arcana (die als Kapitelüberschriften in diesem Buch verwendet werden) und den sechsundfünfzig Kleinen Arcana, die sich im Lauf der Zeit zu unserem heutigen Kartenspiel aus zweiundfünfzig Spielkarten zurückgebildet haben. Hinzu kommt noch der Narr aus den Großen Arcana, den wir heute Joker nennen.

Wer sich intensiv mit dem Tarock beschäftigen will, dem stehen in aller Welt zahlreiche Bücher über diesen Gegenstand zur Verfügung. Wie der Tarock funktioniert (denn das tut er und sogar sehr präzise), darüber sind die mannigfaltigsten Vermutungen geäußert worden, doch das steht auf einem anderen Blatt.

Das Buch der Paradoxe stellt die Reise des Narren dar, wie sie durch die einzelnen Tarockkarten vorgezeichnet ist. Varkas schicksalhafte Suche nach der Geliebten führt, wie der Tarock selbst, ihn und den Leser durch viele seltsame, fremde Länder und bringt Begegnungen mit vielen seltsamen, fremden Menschen.

 

 

- Gary R. Cooper

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel: Der Magier (verkehrt)

 

 

 

Aloethe schrie. Es war ein grauenhafter Laut, der in Varkas Ohren dröhnte.

Taumelnd wich sie zurück, vom Messer fort. Ihr Körper drehte sich langsam um sich selbst, und ihre Füße schleiften verkrümmt über den Boden. Dann sank sie zu Boden. Zwischen ihren Brüsten quoll Blut auf, von dem ein roter Nebel aufzusteigen und Varkas Blick zu verschleiern schien. Schwindel erfasste ihn.

Erst nach einer Weile wich die Verwirrung, und Varka sah Dinmas im Zimmer stehen. Er zitterte, und die Klinge des Messers in seiner Hand war unbefleckt. Varkas Dolch aber war blutrot verschmiert, und das gleiche Rot befleckte seinen Arm und sein Hemd: Aloethes Blut.

Der Körper des Mädchens lag wie eine Schranke zwischen ihnen und schlug sie wie in einen heiligen Bann: Keiner der beiden Männer vermochte sich zu rühren. Doch ihre Blicke trafen sich - voll Hass und Grauen. Endlich brach Varka das Schweigen, doch das Wort, das er aus seiner trockenen Kehle presste, klang halb erstickt.

»Mörder!«, stieß er hervor.

Dinmas gab keine Antwort. Er taumelte zwei Schritte zurück, wandte sich dann um, rannte blindlings zur Tür, riss sie auf und stolperte hinaus.

Varka war nun mit Aloethe allein. Doch das erbarmungswürdige Ding, das dort lag und ihn mit blicklosen Augen anstarrte, hatte nichts mehr mit dem frischen, zarten Mädchen gemein, das er gekannt hatte. Sie anzuschauen, war ihm schier unerträglich, doch er zwang sich, neben ihr niederzuknien und ihr ins Gesicht zu sehen.

Er konnte noch immer kaum glauben, dass sich all das zugetragen hatte, und mit kalter Beharrlichkeit versuchte er sich zu erinnern. Der Wettstreit zwischen Varka und Dinmas um Aloethes Gunst hatte sich schon seit langem immer mehr zugespitzt. Doch erst heute, an diesem Nachmittag, war er zu einer tödlichen Auseinandersetzung ausgeartet. Als Dinmas, rasend vor Wut und einen langen Dolch in der Hand, auf ihn zugetreten war, hatte Varka plötzlich die Gewissheit erfüllt, dass einer von ihnen sterbend oder schwer verwundet daliegen würde, noch bevor der Tag zur Neige ging. Dinmas war als erstgeborener Sohn eines hohen Beamten der Stadt daran gewöhnt, seinen Willen durchzusetzen, und er blieb nie bei Halbheiten stehen. Aber Aloethe... nicht Aloethe!

Zärtlich sprach er ihren Namen und fasste ihre schlaffe, blasse Hand.

So fanden ihn die Männer der Stadtwache, als sie, von Dinmas und Aloethes Vater geführt, hereinstürzten. Ein düsteres Bild bot sich ihnen: Der junge Mann kniete leise schluchzend neben der Leiche und schien mit seinem blutverschmierten Arm, dem Hemd und dem Dolch auf eine Verurteilung zu warten.

Dinmas holte tief Luft und deutete mit dem Finger auf Varka. »Mörder!«, sagte er mit kalter Stimme.

Das weckte Varka aus seiner düsteren Träumerei. Er schaute auf, und in seinen Augen spiegelte sich außer Kummer auch Verwunderung. Tonlos sagte er: »Ich - ich - habe es - nicht getan...«

Die Männer der Stadtwache warfen Dinmas einen unsicheren Blick zu.

»Warum zögert ihr?«, rief Dinmas. »Ihr habt einen Mörder vor euch!«

Dem Sohn des einflussreichsten Mannes der Stadt zu widersprechen, war nicht ratsam Zwei Männer der Wache packten Varka grob an den Armen und zogen ihn hoch. Doch als sie ihn von Aloethe fortzerren wollten, wehrte er sich.

»Aloethe!«, schrie er. »Aloethe! Ich habe sie nicht berührt - er hat sie getötet, er hat sie ermordet! Gebt mir mein Messer, und ich werde ihn dafür töten!«

Dinmas schaute auf den Anführer der Wache und schüttelte langsam den Kopf. Einen Herzschlag lang sah Varka Aloethes Vater in die Augen. Sein Blick war leer und ausdruckslos. »Der junge Mann redet irre«, sagte er heiser. »Er hat den Verstand verloren. Schafft ihn fort.«

Als man Varka zur Tür zerrte, mied Dinmas seinen Blick und hielt die Augen gesenkt.

Und nun saß er hier, in diesem Rattenloch von einer Zelle, und wartete.

Das Gericht hatte den Worten des Sohnes eines hohen Beamten natürlich mehr geglaubt als denen eines jungen Mannes von zweifelhaftem Charakter und unbekannter Abstammung. Varkas wahrheitsgemäßer Bericht war einfach vom Tisch gewischt worden. Es sei ein Verbrechen aus Leidenschaft gewesen, sagte Dinmas, Varka habe das Mädchen, das er liebte, lieber töten als einem andern überlassen wollen. Varka protestierte und rief, Dinmas sei für das Verbrechen verantwortlich, nicht er! Doch noch während er sprach, sah er in den Augen der Anwesenden die Verachtung und die Feindseligkeit. Der wahre Mörder verließ das Gericht als freier Mann, und Varka, den die Richter für schuldig befunden hatten, wartete nun auf sein Urteil.

Er hatte versucht, alles zu erklären: Aloethe hatte sich an diesem Tag für Varka entschieden und versprochen, seine Frau zu werden. Doch Dinmas wollte Aloethes Geständnis nicht hören und sich auch von Varka nicht beschwichtigen lassen; er forderte Varka zum Kampf auf und schwor, ihn zu töten.

Varka blieb nichts anderes übrig, als sein langes Messer zu ziehen, eine Waffe, mit der er hervorragend umzugehen wusste, und sich und seine Liebe zu verteidigen.

Aber die Richter weigerten sich, Varka anzuhören, und so blieb die Wahrheit ungesagt: Als Dinmas erkannte, dass er den Kampf verlieren würde, hatte er Aloethe kaltblütig in Varkas Dolch gestoßen.

So kam es, dass Varka die letzten Stunden seines Lebens in diesem Kerker verbringen musste. Sein Schicksal berührte ihn merkwürdig wenig. Es gab für ihn nun eigentlich nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte. Immerhin hätten die Richter sich eine bessere Strafe ausdenken können, als ihn Darxes, dem Gott der Unterwelt, zu opfern.

Als Varka an den Tempel des Darxes auf dem hohen Hügel und an die grausigen Erzählungen dachte, die sich um seinen Herrn rankten, schauderte ihn plötzlich. Seine stoische Einstellung geriet ins Wanken. Er schlug die Hände vors Gesicht, da er sich der Tränen schämte, die aus seinen Augen quollen.

»Aloethe!«, schluchzte er. »Oh, Aloethe!«

Eine Stunde vor Sonnenuntergang wurde Varka in einen anderen Raum gebracht. Dort musste er ein heißes Bad nehmen, und seine wilde blonde Mähne wurde gewaschen. Dann wurden ihm die Hände auf den Rücken gefesselt. Es war Zeit zum Aufbruch.

Nackt wurde er nach draußen geführt und musste auf einen Planwagen steigen, der sich alsbald mit ungeheurer Geschwindigkeit in Bewegung setzte und durch die Stadt zu den Hügeln raste.

Unterwegs bemühte sich Varka, nicht an den Tempel des Darxes zu denken und nicht darauf zu achten, dass das Gelände zunehmend anstieg, da der Wagen sein Tempo verlangsamte. Doch es gelang ihm nicht, und als der Wagen hielt und seine zwei Wächter ihn zum Rasen hinunterstießen, war ihm übel vor Furcht.

Kein Freund war da, um ihm in seiner letzten Stunde beizustehen. Seine einzigen Begleiter waren die beiden Wächter und der Kutscher, der in den Strahlen der warmen Abendsonne vor sich hin döste.

Der eine Wächter schaute gedankenverloren eine Weile auf den Sonnenuntergang. Dann sagte er: »Wozu länger warten als nötig. Los, steig hinauf.«

Varkas Blick wanderte zum Hügel hinauf, über die steilen, schmalen Stufen, die in den Stein gehauen waren. Hoch oben sah er die beiden steinernen Wächter am Tempeltor, die sich schwarz vom Himmel abhoben.

»Geh«, sagte der Wächter wieder.

Varka begann die Treppe hinaufzusteigen.

Vom Gipfel des Tempelhügels bot sich ein meilenweiter Blick über den Küstenstrich, der sich wie eine farbige Karte ausbreitete. Im Westen glitzerte das Meer in den Strahlen der untergehenden Sonne, und winzige weiße Schaumstreifen schwammen lautlos heran und zerspritzten am Fuß der hohen Klippen.

Während Varka zum Tempel des Darxes hinaufstieg, schaute er aufs Meer. Neben der Treppe breitete sich, mit winzigen Blumen betupft, der weiche Rasen des Hügels aus, der immer steiler abfiel, bis zu dem ruhigen Wasser einer geschützten und unzugänglichen Grotte. Varka liebte das Meer, und sein Herz hob sich, als er darüber hin schaute und die gleichmäßige Brise sein Haar verwehte. In Gedanken sagte er dem funkelnden Meer Lebewohl.

Schließlich gelangten sie zu dem hohen Tempeltor. Die strengen Gesichter der beiden Wächter aus Sandstein, die zu schwindelnder Höhe über ihm aufragten, ließen ihn schaudern, dennoch konnte er die Augen nicht von ihnen wenden, als er mit seinen Begleitern unter dem gewaltigen Tempelbogen hindurchschritt und den Tempelhof betrat.

Die Wächter hatten Auftrag, ihren Gefangenen im Tempelhof zurückzulassen und unverzüglich zur Stadt zurückzukehren. Einen Blick auf die geweihten Priester des Darxes zu werfen, galt als ein schlechtes Omen. So überließen die wortkargen, aber nicht unfreundlichen Männer Varka sich selbst.

Eine Zeitlang stand er hilflos da. Dann glaubte er, auf der andern Hofseite eine Bewegung wahrgenommen zu haben, und drehte sich um. Eine Gruppe von Tempelpriestern kam auf ihn zu. Im ersten Augenblick glaubte er, sie könnten keine menschlichen Wesen sein. Alles an ihnen war grau, von der pergamentenen Haut und dem spärlichen Haar bis zu ihren langen, mit roten Schärpen umgürteten Gewändern.

Als die Priester näher kamen, brach Varka der Schweiß aus. Er blickte sie der Reihe nach an, und überall stieß er auf einen Ausdruck unpersönlicher Verachtung. Die Priester bildeten einen Kreis um ihn. Als sie ihm die Handschellen abgenommen hatten, führten sie ihn zu einer großen Tür, die den offenen Mund eines dämonischen Antlitzes bildete, das in die Mauer gehauen war. Sie durchschritten eine Reihe von Gängen, so viele, dass Varka die Übersicht verlor. Doch alle führten abwärts. Sie waren von düsteren Fackeln erhellt, die weit auseinander standen. Die Wandmalereien waren Illustrationen der blutrünstigen Legenden, die sich um die Götter der Unterwelt rankten.

Niemand sprach. Varkas Herz hämmerte, und ihm war übel. Mehrmals gaben seine zitternden Beine unter ihm nach, doch stets hob ihn einer der Priester wieder auf. Endlich war das Labyrinth der Gänge zu Ende, und sie betraten einen kleinen Raum, dessen einzige Besonderheit eine hohe Tür war, in die, rund um eine grauenhafte Todesmaske, Hieroglyphen geschnitzt waren. Die Priester begaben sich auf die eine Seite des Raumes, und aus dem Dunkel traten drei weitere Priester hervor und gesellten sich zu ihnen. Einen kurzen und schrecklichen Augenblick lang glaubte Varka, diese drei seien Bewohner der Unterwelt, denn jeder von ihnen trug eine gewaltige Maske mit den gleichen bizarren Gesichtszügen wie die Schnitzerei auf der Tür. Zwei von ihnen trugen Speere, einer trug eine Fackel. Sie nahmen Varka in die Mitte und schoben ihn vorwärts, bis er vor der Tür stand.

Nun verlor Varka endgültig die Fassung. »Im Namen der Barmherzigkeit!«, rief er. »Was soll mit mir geschehen?«

Der maskierte Priester, der die Fackel trug, neigte den Kopf. »Du wirst Darxes, unserem Herrn, geopfert werden, Elender«, sagte er. »Vielleicht tötet dich der Sturz in die Grube. Wenn nicht, wirst du am Hunger oder am Irrsinn sterben. Das ist nicht mehr, als du für dein Verbrechen verdienst.«

Die Priester des Darxes standen in einem Halbkreis um ihn. Der Fackelträger trat ein paar Schritte vor und begann zu sprechen. Seine Stimme klang wie eine klagende Glocke, und von Zeit zu Zeit antworteten die anderen Priester mit rauen Schreien auf seinen Singsang. Varkas Sinn war so voll von wilden, verworrenen Gedanken, dass er nicht aufnahm, was der Priester sagte, bis plötzlich ein scharfes Wort in sein vernebeltes Bewusstsein drang.

»Missetäter!«

Varka schüttelte den Kopf.

»Missetäter!«

Sie sprachen zu ihm - doch er hatte nichts Unrechtes

getan, er hatte Aloethe nicht getötet.

»Missetäter, sieh auf das Antlitz Unseres Herrn Darxes!«

Langsam hob Varka den Kopf und starrte auf die kalten Obsidian-Augen des geschnitzten Kopfes.

»Oh, Darxes, Herr der Unterwelt, sieh auf diesen Übeltäter, der vor dir steht!«

Die kalten Augen des geschnitzten Antlitzes schienen Varka zu hypnotisieren. Ihm schwindelte.

»Darxes, Herr des Todes, wir bringen dir ein Opfer, indem wir diesen Mann seiner gerechten Strafe zuführen!« Der Boden unter Varkas nackten Füßen bebte, Varka fiel auf die Knie. So blieb er zusammengekauert liegen und warf verzweifelte Blicke auf die finsteren Priester.

»Oh, Darxes, König der Nacht, strafe ihn für sein Verbrechen!«

Varka wollte schreien, doch seine Stimme versagte. »Überantworte diesen Mann den ewigen Qualen, oh, Darxes, Herrscher über die Toten!« Einer der Priester streckte die Hand zur Mauer aus. »Nimm unser Opfer an!« Varka warf den Kopf zurück. »Nein!«, schrie er, und seine Stimme hallte im Raum wider. »Nein!«

Ein kratzendes, gleitendes Geräusch ertönte. Der Boden unter Varkas Füßen glitt fort. Eine Ewigkeit lang schien er in der Luft zu schweben, dann fiel er wie ein Stein von einer Klippe - hinab in wirbelnde, eisige Finsternis.

 

 

 

 

 

 

  Zweites Kapitel: Die Hohepriesterin

 

 

 

 

Von irgendwo drang wahnsinniges Kreischen an Varkas Ohren. Dunkle Farben tanzten vor Varkas Augen wild durcheinander. Undeutlich drang die Wahrnehmung einer festen Masse in sein Bewusstsein, die ihm widerstand, als er sich immer wieder gegen sie warf.

Er taumelte und stieß hart gegen eine Mauer. Plötzlich hörte das Schreien auf, und da wurde ihm mit Entsetzen klar, dass die halb wahnsinnige Stimme, die er gehört hatte, seine eigene war.

Wie eine kalte Sturzflut kehrte sein Bewusstsein zurück. Schmerz durchflutete ihn. Er versuchte sich zu bewegen, doch sein zerschlagener Körper wollte ihm nicht mehr gehorchen, und er brach vornüber auf dem kalten, steinernen Boden zusammen.

Er war noch am Leben.

Plötzlich wurde ihm klar, was das bedeutete. Er hatte den Sturz überlebt, war um den raschen Tod, auf den er gehofft hatte, betrogen worden, war hier in der Grube gefangen, wo er schreien und betteln konnte, bis der Tod sich seiner erbarmte.

Panik erfasste Varka. Abermals schrie er auf, und - seine Stimme brach sich hoch oben an der unsichtbaren Decke und kehrte als spöttisches Echo zu ihm zurück. Ein krampfartiges Schluchzen schüttelte ihn, und er schlug die Hände vors Gesicht.

Quer über seine Stirn lief eine lange, tiefe Schramme, und als er sie berührte, stöhnte er auf.

Blut rann über seine Augenbraue und tropfte auf seine Wange. Welches Schicksal war schlimmer - rasch zu sterben oder langsam zu verhungern und in endlosen, qualvollen Stunden auf das Ende zu warten? Eine Antwort auf diese Frage erübrigte sich. Er hätte sich bereitwillig das Messer ins Herz gestoßen, um sein Ende zu beschleunigen, aber man hatte es ihm fortgenommen.

Doch dann schüttelte er diese trüben Gedanken ab. Er schaute nach oben. Irgendwo war dort die Falltür, durch die er hinabgestürzt war, irgendwo dort oben waren die Priester des Darxes, zweifellos davon überzeugt, dass ihr Werk vollbracht war. Sie hatten ihn verdammt und dem Tode überantwortet - aber es war doch möglich, dass es noch einen anderen Ausgang aus der Grube gab. Möglich war es...

Schwankend stand Varka auf. Nun erst wurde er seiner zahllosen Schnitte und Schrammen gewahr, seines übel verschrammten Arms, der verzerrten Muskeln, die ihm kaum gehorchten. Sein Kopf dröhnte, und ihm war schwindlig, doch er stützte sich an die Mauer und machte ein paar vorsichtige Schritte vorwärts.

So stolperte er blindlings an der Mauer entlang, die kein Ende zu nehmen schien. Ihm kam es vor, als habe er sich eine Ewigkeit lang vorwärts getastet, doch in Wirklichkeit war er erst ein paar Meter weit gekommen, als eA mit etwas zusammenstieß, das lautlos zu Boden fiel.

Zitternd blieb er stehen. Schließlich überwand er sich und bückte sich, um das Hindernis zu ergründen. Er griff in ein grobes Gewebe, das ihm unter den Fingern zerbröckelte und einen weißen, menschlichen Arm enthüllte. Verwesende Fleischreste und einige Strähnen dünnen, brüchigen Haars verrieten, dass diese unglückliche Frau erst vor kurzem gestorben war. Als er ihr konturloses Gesicht betastete, schrie er auf, denn plötzlich stand ihm wieder Aloethe vor Augen, wie sie in ihrem Blut vor ihm gelegen hatte.

Eine plötzliche Übelkeit stieg in Varka auf. Er lehnte sich an die Mauer und würgte, bis sich alles um ihn drehte, doch sein Magen war leer, und als der krampfartige Brechreiz endlich verging, war ihm nicht wohler.

»Ich verfluche dich, Dinmas!«, flüsterte er heiser. »Du bist schuld an allem - oh, bei allen Mächten, ich verfluche dich!«

Bei dem Gedanken an Dinmas stieg eine Welle der Wut und der Bitterkeit in Varka auf. »Ich verfluche euch!«, schrie er zur Decke hinauf. »Ich verfluche euch alle!« Er stieß furchtbare Verwünschungen gegen die Priester des Darxes aus, beschwor den Zorn der ganzen Unterwelt auf Dinmas' Haupt, verfluchte diejenigen, die ihn verurteilt und diesem Schicksal ausgeliefert hatten. Er trommelte mit den Fäusten an die Mauer, brüllte, bat, flehte. Endlich sank er erschöpft auf die Knie und streckte sich auf dem Boden aus.

Roter Nebel wallte vor seinen Augen, und die Zeit verschwamm, bis endlich eine ganz schwache Wahrnehmung in sein Bewusstsein drang.

Er glaubte eine Stimme gehört zu haben, ein tiefes, undeutliches Flüstern, das ganz aus der Nähe zu ihm drang. Jemand rief seinen Namen.

»Varka... Varka...«

Varka hob den Kopf. Er konnte nichts erkennen, und als er zu antworten versuchte, brannte seine Kehle, und er brachte nur ein Krächzen hervor.

Hier bin ich, wollte er rufen. Es kümmerte ihn nun nicht mehr, wer dieses unbekannte Wesen sein mochte, und wenn es Darxes selbst war - er war nicht mehr fähig, Angst zu empfinden. Das Flüstern schien vom anderen Ende der Grube zu kommen. Angestrengt starrte er in die Dunkelheit, und nun begann sich wie ein schwankendes Irrlicht ein blasses Etwas zu materialisieren. Nach und nach nahm es Gestalt an, und ein kaltes weißes Licht ging von ihm aus, das durch die Dunkelheit strahlte und die Umrisse der Grube zeigte. Es erhellte auch die Falltür im Dach. Sie war so hoch oben, dass Varka nur wie durch ein Wunder bei dem Sturz mit dem Leben davongekommen war.

Doch darauf achtete Varka nicht. Er beobachtete, wie das lichtumstrahlte Etwas Gestalt annahm, und begann am ganzen Körper zu zittern. Er musste wahnsinnig sein. Das war die einzig mögliche Erklärung. Sie konnte nicht dort stehen und ihn anschauen - sie war tot. Er selbst hatte sie sterben sehen.

Aber das von dunklem Haar umrahmte Antlitz war unverkennbar - unverkennbar waren auch ihre feuchten Augen, selbst hinter dem dünnen Schleier, den sie trug.

Varka fand seine Stimme wieder. »Aloethe?«

Die schimmernde Vision lächelte und machte eine Bewegung, als wolle sie ihn umarmen.

»Oh, Aloethe!« Er stand auf und ging wie ein Schwimmer, der in tiefes Wasser watet, auf sie zu.

Die Erscheinung - denn nur das konnte es sein - wartete, bis er nur noch wenige Schritte vor ihr stand, dann begann sie zu verblassen. Varka bat sie stammelnd zu bleiben, aber schon hatten sich die Konturen verwischt, und kurz darauf war alles verschwunden.

Unglücklich starrte Varka die Wand an, vor der sie gestanden hatte. Ob die Wand sich geändert hatte oder ob seine Augen ihm einen Streich gespielt hatten, wusste er nicht - doch an der Stelle, wo Aloethe gestanden hatte, war nun in der Mauer ein glattes, symmetrisches Loch, gerade hoch und breit genug für einen Mann seiner Größe.

»Varka... Varka...«

Die Stimme rief ihn aus dem Tunnel jenseits der Mauer. Voll ängstlicher Erwartung trat Varka auf das Loch zu und schaute hindurch. Der Tunnel ging einen Abhang hinunter, der ebenso dunkel wie die Grube war. Von unten stieg ein warmer Lufthauch auf, der prickelnd über Varkas Gesicht strich. In einiger Entfernung stand Aloethe und schaute ihn unverwandt an. Sie hob die Hand und winkte ihm, dann drehte sie sich um und ging den Tunnel hinab.

Varka lief ihr nach.

Je tiefer der Tunnel in den Felsen führte, desto abschüssiger und rauer wurde der Weg. Der steinige Boden schnitt in Varkas Füße, und einmal stürzte er und schlitterte den Hang hinunter, bis er an einer Kurve des Tunnels gegen die Mauer stieß. Während er sich mühte, wieder auf die Beine zu kommen, wartete die gespenstische Gestalt, die stets in gleicher Entfernung von ihm zu schweben schien, auf ihn, winkte ihm dann wieder und ging weiter. Varka stolperte hinter ihr her, und nach einer Weile fiel ihm auf, dass die Atmosphäre im Tunnel sich nach und nach unmerklich verändert hatte, obwohl er nicht sagen konnte, in welcher Weise. Licht kam nur von der Erscheinung vor ihm, der Tunnel schlängelte sich noch immer abwärts - und dennoch war irgendetwas eindeutig anders; er konnte es in der dumpfen Luft fast riechen. Diese neue, verwirrende Erkenntnis beschäftigte Varka so sehr, dass seine Schritte sich unwillkürlich verlangsamten, und als er schließlich wieder nach vorn schaute, war die Gestalt von Aloethe verschwunden.

Varka verwünschte seine Nachlässigkeit und rannte ihr nach. Sie war vor kurzem um eine Kurve des Tunnels gebogen - doch als er selbst dort ankam, war niemand zu sehen. Aloethe war spurlos verschwunden, und vor ihm lag nicht ein weiterer endloser Gang, sondern eine Tür.

Die Tür war aus dem gleichen Naturstein gehauen, aus dem auch der Felsen um den Tunnel bestand, und war nur angelehnt. Unter ihr sickerte Licht durch, und die Luft war hier viel frischer.

Varka holte tief Atem Die Tür sah schwer aus, und er hatte nur noch wenig Kraft. Aber Aloethe musste diesen Weg gegangen sein... Er stemmte sich mit aller Kraft gegen die Felsplatte und verlor fast das Gleichgewicht, als sie augenblicklich aufschwang. Vor ihm lag ein Gemach.

Strahlendes Licht blendete ihn, und er kniff die Augen zu. Der Raum, eine Art Höhle, war riesig, doch mehr konnte er mit seinen geblendeten Augen nicht erkennen. Unsicher ging er weiter. Er wurde sich nur dumpf einer Farbenpracht bewusst, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Milde Wärme umschmeichelte seinen zerschlagenen Körper. Seine verschrammten Füße hinterließen auf dem schimmernden Boden Blutspuren.

Weiter vorn konnte er breite, flache Stufen erkennen, die zu einer Plattform führten. Darauf stand ein Tisch, der mit Speisen geradezu überladen war.

Seine Beine waren bleischwer und wollten ihm kaum gehorchen. Er stolperte bis zur ersten Stufe, brachte es aber nicht fertig, den Fuß zu heben. Er ließ sich auf alle viere nieder und versuchte hinaufzukriechen - doch die Treppe schien meilenweit hinaufzuführen, und die Zeit verrann. Die Höhle um ihn begann sich zu drehen, schneller und schneller, und Varka verlor das Bewusstsein.

 

 

 

 

 

 

  Drittes Kapitel: Die Herrscherin

 

 

 

Als Varka wieder zu sich kam, merkte er, dass er auf einer harten Fläche lag, die sich wie Stein anfühlte. Ihm war leer und dumpf im Kopf, und er hätte gern noch viele Stunden so dagelegen und die Wärme genossen. Doch das sollte offenbar nicht sein, denn auf seine geschlossenen Augen fiel ein Schatten, und eine Stimme, die ihm bekannt vorkam, sprach zu ihm.

»Varka?«

Es war dieselbe Stimme, die in der Grube nach ihm gerufen hatte, doch nun war sie nicht mehr so hässlich verzerrt. Es war eine tiefe und ungewöhnlich musikalische Stimme. Varka öffnete die Augen.

Er war auf alles Mögliche gefasst, nur nicht darauf, dass an dem Mann, der neben ihm stand, nichts Sonderbares war. Er hatte schwarzes Haar und einen schwarzen Bart und blickte teilnahmsvoll auf ihn hinab.

Das Licht schmerzte; Varka schloss die Augen wieder. »Ich fühle mich, als hätte man mir den Kopf gespalten!«, stöhnte er.

»Das überrascht mich nicht«, sagte der Fremde mit einem Lächeln. »Du hast dir einige hässliche Verletzungen zugezogen, als du in die Grube fielst.«

Verletzungen? Die Grube? Langsam kehrte die Erinnerung zurück; Varka dachte an das Gericht, das Grauen im Tempel des Darxes... Er hätte längst tot sein müssen!

Verwirrt versuchte er sich aufzusetzen. »Wo bin ich hier?«, fragte er. »Warte ich immer noch auf meine Hinrichtung? Bin ich immer noch im Tempel?«

Der andere hob ein wenig spöttisch die Augenbrauen. »Wohl kaum«, sagte er. »Du meinst wohl die Vollstreckung des Urteils vor der Grube? Oh, ja, das hat stattgefunden, doch nun ist es vorbei. Du hast nichts mehr zu befürchten.«

»Dann bin ich also tot?« Varka schauderte.

»Nein«, sagte der Fremde. Varka blickte ihn verwundert an. »Du bist lebendig - zumindest so lebendig, wie ein menschliches Wesen hier sein kann.«

»Hier - was - was für ein Ort ist das?«

Der Fremde lächelte. »Es sieht wie eine Höhle aus, nicht wahr?«

Zornig schlug Varka mit der Hand auf die Steinplatte, auf der er lag. Ihm war eingefallen, dass er gesehen hatte, wie man Leichen auf ähnliche Platten legte. »Ich will endlich wissen, wer du bist!«, rief er.

Der Fremde wurde ernst. »Ich bin Darxes, der Herr der Unterwelt, der König der Nacht und so weiter. Du kennst meine anderen Titel.«

»Darxes! Bei allen...«

Darxes unterbrach ihn. »Ich bitte dich, überlege dir gut, was du sagst. Ich bin im Augenblick zu einer Auseinandersetzung mit launenhaften Sterblichen nicht aufgelegt.«

Varka war sprachlos. Er zweifelte zwar nicht daran, dass dieser Mann wirklich Darxes war, aber er hatte eine imposante, schreckliche Gestalt mit donnernder Stimme und grimmigem Blick erwartet, eben jenen Gott, dessen Legenden seit vielen Generationen den Gläubigen Ehrfurcht und Angst eingeflößt hatten. Der gutmütige, fast alltägliche Mann vor ihm passte ganz und gar nicht in dieses Bild.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Louise Cooper/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Christiane Kashin und Christian Dörge (OT: The Book Of Paradox).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 14.09.2018
ISBN: 978-3-7438-8063-4

Alle Rechte vorbehalten

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