WILSON TUCKER
DIE STADT IM MEER
- Galaxis Science Fiction, Band 1 -
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE STADT IM MEER
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
Das Buch
Eine Armee von Frauen... auf dem Marsch zur Stadt der Mutanten...
Die Wagen krochen über die Landstraße auf die Vorgebirge zu. Gelegentlich sah ihnen ein Farmer nach. Nach und nach hatte es sich aufgeklärt, es wurde wärmer, die Regenmäntel verschwanden, und die Waffen wurden auf Feuchtigkeit untersucht. Schwerter klirrten an jeder Hüfte, Bogen und Köcher hingen auf jedem Rücken, ausgenommen denen der Offiziere. Jeder Soldat trug in einer Brusttasche ein Fläschchen mit Gift für die Pfeile für den Fall einer Gefahr. Der Waffenwagen war mit Pfeilen, Bogen und Speeren mit metallenen Spitzen beladen.
Die Offiziere und Soldaten der Kronkolonie West-Somerset zogen nach Westen und nahmen zum erstenmal die Bergkette in Angriff, die ihnen bis jetzt den Weg ins Innere des Landes versperrt hatte. Zum erstenmal kam ihnen zu Bewusstsein, dass es überhaupt ein Inneres gab.
DIE STADT IM MEER von WILSON TUCKER erscheint als erster Band der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.
DIE STADT IM MEER
ERSTER TEIL
1.
Er kam von den flachen, blauen Hügeln im Westen oder vielleicht auch aus der weiten, unerforschten Ebene, die dahinter lag und immer noch ein ungelöstes Rätsel war.
Groß, schlank und gerade gewachsen bot er mit seinem außergewöhnlich sonnengebräunten Körper einen scharfen Kontrast zu den Eingeborenen der Küstensiedlungen. Die Wache im Schilderhaus bemerkte ihn nicht, und so wanderte er ungestört durch die Stadt. Seine Größe - er maß einen vollen Fuß mehr als der größte der Eingeborenen - und seine braune Haut kennzeichneten ihn deutlich als Fremden, und er zog aller Blicke auf sich, aber mit der ihnen eigenen Ängstlichkeit mieden sie ihn.
Er war barhäuptig, sein Oberkörper unbekleidet, und er trug weder Schuhe noch andere Kleidungsstücke bis auf die knielange Hose. Auch das unterschied ihn von den Einwohnern der Stadt und den Angehörigen der Stämme entlang der Küste, ob sie nun in den Städten unter den Augen der Soldaten oder draußen im offenen Land lebten.
Der Fremde wanderte durch die Straßen und beobachtete die Menschen mit deutlichem Interesse, starrte ihre Feuer an und die paar Werkzeuge, die sie besaßen, und schien von ihrer Lebensweise und den verschiedenen Tätigkeiten, die sie verrichteten, fasziniert. Er betrachtete verwundert ihre blasse, weiße Haut, bemerkte ihren gleichförmig kleinen Wuchs und machte hier und da halt, um die lebhaft bunte Kleidung zu untersuchen, die von beiden Geschlechtern getragen wurde - und die die Eingeborenen von Kopf bis Fuß bedeckte.
Er war ein Außenseiter, das merkten sie auf den ersten Blick und hielten verstohlen nach den Soldaten Ausschau. Der Fremde war zu groß - nicht einer unter ihnen war annähernd so groß - ja, er war sogar ebenso groß wie die Soldaten! Seine Haut war zu dunkel, zu gebräunt. Kein Mensch an der ganzen langen Küste besaß eine solche Haut.
Kleidung trug er fast überhaupt nicht. Sogar die Männer aus den Bergen, die manchmal in die Siedlung kamen, um sich Feuer zu holen, trugen mehr auf dem Leib. Es war einfach unanständig. Und doch, an ihm schien es nicht unanständig. Bei diesem Fremden schien das unzureichende Kleidungsstück genug zu sein. Aber die Soldaten würden ihn bald erwischen. Man konnte nicht so in der Stadt herumlaufen.
Der Fremde ließ sich Zeit.
Er blieb auf dem Markt stehen und befühlte die ausgelegten Früchte, studierte mit Augen und Fingern die reifen, gelben Bananen aus dem tiefen Süden, einige aufgeschichtete, verschrumpelte Grapefruits und winzige Orangen. Er nahm eine Banane auf und blickte den Standeigentümer fragend an.
Er besaß keinerlei Zahlungsmittel, das war klar. Der Verkäufer wusste nicht recht, was er tun sollte. Nach einem hastigen Blick nach links und rechts, ob auch keine Soldaten in der Nähe waren, winkte er dem Fremden, weiterzugehen. Lächelnd nahm der Mann die Banane und ging weiter.
Er verbrachte fast zwei Stunden damit, die Ansiedlung zu durchstreifen, von den kleinen Farmen im Norden, wo er die Stadt betreten hatte, über die Werften am Wasser? bis zu den Farmen im Süden. Und dann wartete er. Er tat nichts, ging nirgendwo hin, sprach kein Wort. Er wartete einfach darauf, dass etwas geschah.
Er brauchte nicht lange zu warten.
Eine Sicherheitsstreife wurde auf ihn aufmerksam.
2.
Doktor Barra eilte quer über den Exerzierplatz, die Kompaniestraße entlang bis zum Büro des Kommandanten. Der übliche Abendregen trommelte ihr auf Kopf und Schultern, floss in Kaskaden an dem eng um den Körper, gezogenen Regenmantel herunter und tröpfelte in ihre hohen Stiefel. Der Exerzierplatz hatte sich in den allnächtlichen Schlammsee verwandelt, und nur eine dünne Schicht von Bruchsteinen gemahnte noch an seine eigentliche Bestimmung.
Barra verfluchte den Regen, ohne wirklich ärgerlich zu sein. Er kam regelmäßig, abends wie morgens. Er gehörte zu diesem seltsamen Land, und sie hatte sich seit langem an den ewig mit grauen Wolken bedeckten Himmel gewöhnt. Es geschah selten,- dass man die Sonne in einem Monat zweimal sah.
In der Kompaniestraße hatte sie wieder festeren Boden unter den Füßen und sah, dass im Büro des Kommandanten Licht brannte. Vor der Tür stand eine Schildwache.
»Barra«, gab sich die Ärztin der Schildwache zu erkennen.
Die Wache salutierte und öffnete die Tür. Barra trat ein und schloss die Tür hinter sich.
»Schöner Abend«, sagte sie.
Der Korporal sah auf und grinste.
Captain Zee wühlte in den Schreibtischschubladen. Ihr Kopf war kaum über den Schreibtisch hinweg zu sehen, und ihre einzige Antwort war ein Brummen. Dr. Barra zog den feuchten, Mantel aus und hängte ihn an einen hölzernen Haken neben der Tür; dann entledigte sie sich der schweren Stiefel. Schließlich suchte sie in ihren Taschen nach Tabak.
Der Captain fuhr hoch.
»Hier wirst du nicht deine Pfeife rauchen!«
»Genau das werde ich«, widersprach die Ärztin. »Wenn 'man so alt ist wie ich, wirkt das sehr beruhigend.«
Zee zog ein anklagendes Gesicht. »Du bist schon genau wie die Eingeborenen!«
»Hmmm - vielleicht. Ich bin auch um einiges länger hier als du. Warte mal ab.« Sie stopfte ihre Pfeife, zündete sie an und setzte sich dem Kommandeur der Militärmacht der Kolonie gegenüber an den Schreibtisch. »Neulich habe ich ein paar Exportlizenzen gesehen. Danach zu urteilen, wird die halbe Bevölkerung des Mutterlandes wie die Eingeborenen.«
Zee knurrte wieder. »Das Rauchen ist eine scheußliche Angewohnheit.«
»Vielleicht. Aber zu Hause wird jemand davon reich.«
»Das geht mich nichts an. Meine Aufgabe ist es, das Militär hier zu befehligen. Wenn die Leute zu Hause im Schmutz wühlen wollen, so ist das ihre eigene Angelegenheit.«
»Apropos Schmutz«, grinste Barra. »Der Platz draußen schreit nach einer neuen Lage von Steinen. Ich bin gespannt, was sie zu Hause sagen, wenn du schon wieder eine Schiffsladung Steine anforderst.« Sie blies einen Mundvoll Rauch gegen die niedrige Decke. »Sie bluten dies Land aus und jammern um jeden Penny, den sie hineinstecken müssen.«
Hauptmann Zee starrte in den Rauch. »Manchmal wünsche ich, dass ich einen anderen Beruf ergriffen hätte«, sagte sie abwesend.
»Sonst noch etwas?«, fragte Barra. »Übrigens haben wir heute einen Stromer aufgegriffen. Einen Fremden.«
Zee nickte. »Ich habe den Bericht. Er muss irgendwo hier liegen.«
»Hast du ihn gelesen?«
»Nur flüchtig. Warum?«
»Ich würde ihn sorgfältig durchlesen«, riet Barra. »Dieser Mann ist nicht von hier.«
»Ein Mann aus den Bergen«, zuckte der Captain die Achseln. »Ist wahrscheinlich gekommen, um Lebensmittel zu stehlen, oder um Feuer zu bitten.«
»Nein«, widersprach ihr Barra wieder. »Dieser ist anders. Ich sagte, er ist ein Mann und keine dieser lahmen Enten, die wir hier an der Küste haben. Dieser ist weder ein Eingeborener der Küste noch einer aus den Bergen.«
Der Captain und der Korporal starrten sie an.
»Woher ist er denn dann?«
Barra zuckte die Achseln und sagte leise: »Ich weiß es nicht.«
Zee beugte sich über den Schreibtisch, ihre Augen glänzten neugierig. »Holt ihn. Unter Bewachung.« Der Korporal salutierte, griff sich einen Regenmantel und verschwand.
Der Captain suchte in den Papieren auf dem Schreibtisch, ohne den Bericht der Sicherheitsstreife zu finden. »Wie sieht er aus?«, fragte sie die Ärztin.
»Groß«, antwortete Barra und beobachtete den Captain. »Noch größer als du.«
Zees Gesicht zeigte, dass der Hieb gesessen hatte. »Größer als ich?«
Barra nickte. »Um mindestens zwei Zoll. Ich sagte ja, er ist ein Mann. Sechs Fuß, zwei Zoll, wie ich gemessen habe, und ich habe zweimal gemessen. Wiegt hundertachtzig Pfund und hat Muskeln wie... wie... nun.« Sie breitete die Hände aus. »Ich bin sicher, dass er es mit fünf deiner Reiter aufnehmen kann.«
»Bei den gesegneten Inseln!« Der Captain suchte fieberhaft zwischen den Papieren. »Wie haben wir ihn gefangen? Hat er sich gewehrt?«
Die Ärztin grinste. »Hat er nicht. Die Streife ging einfach auf ihn zu und sagte: Nun komm mal schön mit. Und er ging mit. Er versteht unsere Muttersprache nicht, spricht, wie ich festgestellt habe, kein Wort, kam aber so friedlich mit wie ein Lamm. Fast, als hätte er darauf gewartet.«
»Ein Fremder!«, wiederholte Zee lebhaft. »Von hinter den Bergen.« Sie gab die Suche nach dem Bericht auf. »Acht lange Jahre habe ich jetzt in diesem Dreckloch gelebt, acht Jahre voll Regen und Schlamm. Meine Haut ist weiß geworden, und ich habe meinen Ehrgeiz verloren. Acht Jahre mit faulen, schlampigen Eingeborenen und Exportquoten, die eingehalten werden müssen, acht Jahre Betteln um Nachschub von zu Hause. Ich bin im Meer geschwommen und auf alle erreichbaren Berge geklettert. Ich habe auf der Halbinsel im Süden Bananen gepflückt und im Norden Eisblöcke geschnitten. Und acht Jahre lang habe ich mich gefragt, was wohl hinter den Bergen liegt! Und jetzt, nach acht Jahren, werde ich es endlich herausfinden!«
»Vielleicht«, meinte Barra.
»Was meinst du damit?«
»Ich habe doch gesagt, der Mann kann nicht sprechen.«
»Schwindel.«
Barra lächelte entwaffnend. »Es gibt einen anderen Weg.«
»Und der wäre...?«
»Wir haben einen Führer. Schick eine Expedition aus.«
Vor Schreck über die Waghalsigkeit dieses Vorschlags fiel Zee in ihren Stuhl zurück. Sie machte den Mund auf, um die Ärztin einen Dummkopf zu schimpfen und schloss ihn wieder, ohne etwas zu sagen.
»Das... das wäre leichtsinnig«, sagte sie schließlich.
»Zee, sieh mal auf die Karte.« Dr. Barra drehte sich in ihrem Stuhl um und zeigte auf die Wand. »Sieh mal: Da ist ein langer Streifen Land, das wir kennen. Nicht ganz zweitausend Meilen vom Land des ewigen Schnees bis zu der tropischen Halbinsel - das ist die Kronkolonie West-Somerset. Zweitausend Meilen...« Sie sprang auf und trat an die Karte. Ihr Finger zeigte auf das nördliche Ende.
»Hier gibt es nichts als ein paar armselige Eingeborene, die im Sommer kärglich leben und im Winter hungern und frieren. Hier unten finden wir schon etwas mehr; hier bearbeiten wir Metalle für den Export und bauen Korn an. Und hier bauen wir Äpfel und Trauben an, hier Tabak, hier Baumwolle und schließlich hier unten im Süden Früchte, die es zu Hause nicht gibt. Zee, das ist die ganze Länge dieses Landes, und wir kennen sie. Was wissen wir aber von seiner Breite?«
Barra fuhr mit dem Finger von der Küste zu den Bergen. »Wir kennen nur ein paar hundert erbärmliche Meilen. Denk doch, Zee, nur ein paar hundert Meilen, und dann halten uns die Berge auf. Und was ist dahinter? Was zeigt die Karte? Ein großes, weißes, leeres Gebiet, bezeichnet unbekannt. Zee, siehst du die Möglichkeiten?«
»Ich sehe nur einen großen weißen Fleck.«
»Aber so ist es doch nicht in Wirklichkeit! Denk an die Geschichte! Denk an die Karten vor hundert Jahren. Wie sahen die aus? Da gab es die Inseln und einen engen Kanal, der uns vom Großen Kontinent trennte, und auf der anderen Seite des Kanals lagen die Kronkolonien. Und hinter den Kolonien? Wieder große weiße Flächen mit der Bezeichnung ,unbekannt'. Der ganze Große Kontinent unbekannt, Zee, und noch heute ist nicht alles erforscht! Denk doch daran, was die Expeditionen alles fanden! Denk an den unendlichen Reichtum, den sie entdeckten und immer noch entdecken! Besieh dir die Karten der bekannten Welt heute... Da sind die Inseln, der Kanal, die Kolonien, aber hinter den Kolonien, wo die unbekannten Flächen waren, sind heute ganze Länder verzeichnet und stehen uns offen. Da hast du deine Antwort, Zee.«
»Aber da ist ein Unterschied zwischen West-Somerset und dem Großen Kontinent.«
»Aber nur in einer Hinsicht - es gab keine Bergkette hinter dem Kanal und den Kolonien. Hier haben wir die Berge. Hinter den Bergen liegen weite Ebenen - die Eingeborenen haben oft davon gesprochen.«
»Die Eingeborenen erzählen auch von Barbaren, die mit dem Blitz spielen und Fleisch essen«, erinnerte sie der Captain.
»Dummer Aberglaube! Was weiß dieses Küstenvolk vom Innern des Landes! Sie sind nie über die Berge hinausgekommen. Sie erfinden Geschichten, um die Jungen zu erschrecken und die Alten zu amüsieren.«
»Vielleicht, Barra, vielleicht. Aber aus welchem Grund glaubst du, dass es dort ein Paradies gibt?«
Barra schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es dort ein Paradies gibt, Zee. Ich fasse nur die Möglichkeiten ins Auge, gemessen an dem, was wir auf dem Großen Kontinent gefunden haben. Ja, steckt denn kein Fünkchen Abenteuerlust in dir, Zee?«
»Nein.«
»Zee, ich bin Ärztin. Ich habe den menschlichen Körper länger studiert, als ich zugeben möchte. Ich habe den Mann, den die Streife brachte, untersucht, wie es Vorschrift ist. Sein Körper ist gesund, kräftig, vital. Nein - ich sagte nicht, dass auf der anderen Seite der Berge ein Paradies liegt, aber ich erkläre hiermit, dass es dort ein Land gibt, dessen Klima viel gesünder ist als das, in dem wir hier leben. Warte nur, bis du den Mann siehst.«
»Doktor, dein Benehmen ist befremdend. Ich habe dich noch nie so sprechen hören.« Zee starrte die Ältere an.
»Es ist mein gutes Recht, mich befremdend zu benehmen - ich bin plötzlich vom Ehrgeiz gepackt, Zee. Ich muss sehen, was auf der anderen Seite der Berge liegt!«
Schweigen. Barra rauchte ihre Pfeife und blies den Rauch an die Decke. Der Captain lauschte dem Regen auf dem Dach und sah dem Rauch zu, der sich aufwärts ringelte. Sie schien den Tabakgeruch nicht zu bemerken. Draußen hörte man die regelmäßigen Schritte des Wachtpostens.
Zees Augen wanderten zur Karte. Die Kronkolonie West-Somerset erstreckte sich wie ein riesiger Viertelmond von Norden nach Süden, den tiefen Ozean auf der einen, die Berge auf der anderen Seite. Was lag hinter Bergen und Meer? Unbekannt.
In den acht Jahren, seit sie ihr Offizierspatent bekommen und sich nach einer Abschiedsaudienz bei der Königin hierher eingeschifft hatte, war sie immer wieder unterwegs gewesen, hatte die Eingeborenen beim Ernten beobachtet, hatte die Bevölkerung überwacht und dafür gesorgt, dass der größte Teil der Ernten nach Hause verschifft wurde. Außerdem hafte sie Moral, Gesundheit und Kampfkraft ihrer Truppen aufrechterhalten. Mehr hatte sie nicht zu tun. Nur ein paar hundert Meilen zwischen See und Bergen zu bewachen. Was war auf der anderen Seite?
Auch zu Hause hatte man darüber gesprochen. Mit mehreren Tausend anderer Mädchen hatte sie sich beim Militär verpflichtet, und von da an war das Militär ihr Lebensinhalt gewesen. Sie hatte nie ans Heiraten gedacht und jeden Gedanken daran in ferne Zukunft geschoben, vielleicht bis zu ihrer Pensionierung. Die Männer auf den Inseln waren nur wenig besser als die Eingeborenen. Sie waren ein paar Zoll größer und natürlich gebräunter als die Männer der Kolonien. Sie waren selbstverständlich intelligenter, ansehnlicher und zeigten einige Handfertigkeit. Aber im Augenblick konnte sie mit ihnen nichts anfangen.
Die Ärztin hatte das Wort Mann seltsam hervorgehoben.
Wieder glitten ihre Augen über die Karte und die weißen Stellen hinter den Bergen.
»Er hat keinen Widerstand geleistet, sagtest du?«, fragte sie plötzlich.
Barra schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht.«
»Ein gutes Exemplar in physischer Hinsicht?«
»Perfekt. Ich wünschte, ich hätte seine Zähne! Und ich wette, er kennt weder Schnupfen noch Magenverstimmung oder Arterienverkalkung. Mein Gott - was für ein Körper!«
Captain Zee sah sie nachdenklich an. »Für eine Ärztin sprichst du aber sehr enthusiastisch.«
»Ich?« Barra war entrüstet. »Ich spreche nur als Ärztin, nicht als Frau.«
»Das hoffe ich. Der Fremde spricht nicht?«
»Er kann nicht«, antwortete Barra. »Er versteht unsere Sprache nicht. Kennst du seine?«
»Warum ist er hergekommen?«
»Weiß ich nicht. Die Eingeborenen haben der Streife erzählt, dass er nur herumgegangen ist und sich alles angesehen hat.«
Zee kniff die Augen zusammen. »Spionage?«
»Für wen?«
Das konnte sie nicht beantworten. »Ich möchte gerne wissen, warum er gekommen ist. Wenn er physisch so ist, wie du sagst, ist er hier fehl am Platze und sicherlich intelligent genug, das zu erkennen. Die Männer aus den Bergen bleiben nie hier - sie können unter diesen Bedingungen nicht leben. Diesem Mann müsste es auch so gehen.«
»Aber«, entgegnete die Ärztin, »bis jetzt hat er noch gar nichts tun können. Er wurde doch sofort festgenommen. Und jetzt will er wahrscheinlich schon wieder fort.« Sie paffte vor sich hin und fügte hinzu: »Ich würde es jedenfalls wollen.«
Captain Zee warf ihr einen misstrauischen Blick zu. Dann klopfte es an der Tür, und der zurückkehrende Korporal trat mit tropfnassem Regenmantel in Begleitung zweier Wachen und des Fremden ein.
Der Korporal salutierte. »Der Stromer, Captain.« Sie trat beiseite, .um den nassen Mantel auszuziehen.
Captain Zee starrte den Mann offenen Mundes an.
»Barra! Bei allen Heiligen, er ist ja nackt!«
»Nicht ganz«, kicherte Barra. »Der Kerl trägt doch eine Art Hose.«
»Aber das ist unanständig!«
»Das scheint ihn nicht zu stören.«
3.
Der Captain kam langsam hinter dem Schreibtisch hervor und ging mit ungläubigem Staunen auf den Mann zu. Dr. Barra beobachtete den Ausdruck eines völlig neuen Gefühls auf ihrem Gesicht. Sie glaubte zu erkennen, was sie sah. Zee blieb auf Armeslänge vor dem Mann stehen.
»Barra, er ist so groß!«
»Wahrscheinlich ist das hinter den Bergen die normale Größe.«
»Und sieh dir diese Bräune an! Ich habe noch nie jemand gesehen, der so braun ist!«
»Da drüben scheint ja auch die Sonne. Immerzu.«
Schließlich sah Captain Zee dem Mann in die Augen. Die Schocks, die sie erhielt, jagten einander so, dass es fast wie ein einziger schien. Er senkte weder den Blick noch wich er dem ihren aus, wie die Eingeborenen; er hielt ihren Blicken stand, suchte, ja erzwang ihre Aufmerksamkeit. Und erschreckte sie mit einer intensiven - ja, was war es eigentlich? - Kraft vielleicht, Lebendigkeit oder eine innere Spannung, die sich in seinen Augen offenbarte. Er starrte zurück, ruhig, anmaßend und aufmerksam.
Was hatte Barra über ihn gesagt? Dass der Mann gesund und - vital sei. Ja, das war's. Vitalität. Wie er so dastand, ruhig und unbewegt, schien sich seine Vitalität in seinen Augen konzentriert zu haben und sie wie die unwiderstehliche Kraft eines Magneten anzuziehen. Und noch etwas war da, etwas, das sie nicht gleich definieren konnte, etwas, das einem Mann nicht anstand.
Seine Augen hatten einen Ausdruck, der sie an etwas erinnerte, das lange her und weit fort war.
Er zuckte mit den Wimpern, und sie trat zurück. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich jetzt auf andere Dinge als nur seine Augen, und sie bemerkte, dass er am ganzen Körper nass war. Sie wandte sich an den Korporal.
»Warum hast du ihm keinen Mantel gegeben?«
»Hab ich versucht, Captain. Er weigerte sich, ihn anzuziehen, Captain.«
»Er weigerte sich?«
»Ja, Captain. Die Wachen haben mir erzählt, er weigert sich auch, nur ein Stück von den Kleidern anzuziehen, die man ihm angeboten hat, Captain.« .
Barra unterbrach sie. »Er will es so, Zee. Ich glaube nicht, dass er Kleidung braucht.«
»Aber das ist doch Wahnsinn! Er wird sich eine Lungenentzündung holen!«
Die Ärztin blickte zu dem Mann hinüber. »Ich glaube kaum«, stellte sie fest, »dass er so lange hierbleiben wird.«
»Er wird bleiben, bis ich ihn entlasse«, schnappte Zee.
Barra antwortete nicht. Sie beobachtete den Mann.
Schließlich fragte Zee: »Hat er etwas gegessen?«
»Nur etwas Obst, Captain. Sonst nichts.«
»Nun, wir kommen also wenigstens etwas voran. Das zeigt, Doktor, dass er entweder Obst kennt und es gerne ißt, oder dass es ihm völlig fremd ist und er es daher probiert hat.«
»Offensichtlich«, kommentierte Barra. »Eins oder das andere.« Der Captain runzelte die Stirn. Wollte sich die Ärztin über sie lustig machen? Was sollte sie nur mit ihm anfangen? Wenn er hierblieb, musste er mehr Kleidung tragen, und wenn er sich weigerte, musste man ihn in die Berge zurückschicken. Oder ihn ständig im Wachgebäude halten.
Dr. Barra, die anscheinend Gedanken lesen konnte, sagte: »Ich finde, er würde ein guter Führer für unsere Expedition sein.«
Sie erhob sich von ihrem Stuhl, ging an die Wandkarte und nahm sie herunter. Der Fremde folgte ihr mit den Blicken. Nachdem sie die Karte auf dem Schreibtisch ausgebreitet hatte, zeigte sie auf einen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Wilson Tucker/Apex-Verlag/Successor of Wilson Tucker.
Bildmaterialien: Alex Schomburg/Christian Dörge.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Peter Sladek.
Übersetzung: Gisela Stege/Christian Dörge (OT: The City In The Sea).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 16.07.2018
ISBN: 978-3-7438-7515-9
Alle Rechte vorbehalten