Cover

Leseprobe

 

 

 

 

DOUGLAS R. MASON/A. E. VAN VOGT/

GORDON R. DICKSON/BRIAN W. ALDISS u.a.

 

 

SCIENCE-FICTION-SOMMER 2018

 

 

 

 

Science-Fiction-Romane

und -Erzählungen

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

Douglas R. Mason: DER ZEIT-EFFEKT (Dilation Effect) 

Douglas R. Mason: DAS JANUS-SYNDROM (The Janus Syndrome) 

James E. Gunn: DIE HÖHLE DER NACHT (The Cave Of The Night) 

A. E. van Vogt: DAS GESTÄNDNIS (The Confession) 

James White: DIE LICHTER HINTER DEN FENSTERN (The Lights Outside The Windows) 

Roger Dee: EIN PROBLEM AUF BALAK (Problem On Balak) 

Gordon R. Dickson: DER AGENT (Spacepaw) 

Brian W. Aldiss: VERHANDLUNGSSACHE (Basis For Negotiation) 

John Rackham: DER LETZTE SALAMANDER (The Last Salamander) 

Colin Kapp: DIE PHASE DES SCHRECKENS (Lambda I) 

Michael Moorcock: IM FLUSS (Flux) 

Chelsea Quinn Yarbro: DER VIERTE APOKALYPTISCHE REITER  

(Time Of The Forth Horseman) 

 

Das Buch

Der Sammelband SCIENCE-FICTION-SOMMER 2018 beinhaltet auf über 1000 Seiten vier Romane und acht Erzählungen internationaler Spitzen-Autoren wie Douglas R. Mason, James E. Gunn, A. E. Van Vogt, James White, Roger Dee, Gordon R. Dickson, Brian W. Aldiss, John Rackham, Colin Kapp, Michael Moorcock und Chelsea Quinn Yarbro. Dabei reicht das Spektrum von Space Opera über New-Wave-SF bis hin zur düsteren Dystopie. 

  Douglas R. Mason: DER ZEIT-EFFEKT (Dilation Effect)

 

 

 

 

1.

 

 

Dogood trommelte ein Solo auf den Rand der Sichtscheibe und schaute über eine flache, schmutzfarbene Landschaft zur glatten, leeren Kurve des Horizonts. Dreimal in drei Minuten hatte er den Sucher verlassen, und das war ein Zeichen seiner Nervosität.

Auf Copreus war es immer gleichmäßig zwielichtig. Im schattenlosen Licht der Kommandokabine spiegelte sich sein Bild in der Plexiglasscheibe. Sein Gesicht wirkte wie das eines missmutigen Engels. Er war groß und breitschultrig und hatte auf der linken Brusttasche seines weißen, gegürteten Overalls eine blaugoldene stilisierte Erdkarte. Die Schulterstücke wiesen ihn als Controller aus.

Weitgesetzte graue Augen starrten ihn an. Der Haarschopf über der hohen Stirn war braun, und die Brauen waren dicke, gerade Stricke. Er hatte ein schmales Gesicht mit einer langen, wissensdurstigen Nase. Es war ein noch vertrautes Gesicht, und das hieß schon etwas, wenn man nahezu am Ende des allmählich auslaufenden Kontinuums war.

Nachdem er sich über diesen Punkt beruhigt hatte, kehrte er zu seiner Konsole zurück, um weiterzutrommeln. Dieses Trommeln beschleunigte keineswegs die Annäherung des langweiligen Beibootes, auf das er so dringend wartete, doch es bewahrte ihn vor dem Zähneknirschen.

Schließlich schob er den elfenbeinfarbenen Schreibstift in seinen Schlitz und fand etwas anderes für seine müßigen Hände. Er wusste, dass dies alles nur Ersatzbeschäftigungen waren, denn er verspürte den dringenden Wunsch, seine abwesende Kollegin mit einem Splisseisen zu verprügeln.

Ein Blick auf die Energiekonsole ergab, dass alle Systeme liefen. Die Centaur war zum Abheben bereit, und sein Finger schwebte zum letzten Countdown über dem Verzögerungsknopf. Zwei Minuten nachdem das Beiboot angedockt hatte, konnten sie diesen Aschenhaufen mit Kurs Zeta-Leuchtfeuer verlassen, um auf dem ersten kurzen Bein rationalisierter Zeit zu stehen.

Er ließ sich zum Funktisch treiben und fuhr die Antenne aus. Der Erkennungston des Beibootes kam klar in Stärke neun herein, und er ließ die Antenne kreisen wie seit ihrer Landung.

Der einzige organisierte Laut, den er je gehört hatte, war der Peilton des Robotstrahls gewesen; er schaute verdutzt drein, als plötzlich ein völlig fremdes Geräusch hereinkam. Doch der Autorecorder hatte ihn schon aufgenommen. Ein schmales Band schob sich aus seinem Ausgabeschlitz.

Unvermittelt blieb das Band wieder stehen, und dann kam aus irgendeiner ungeheuren Feme eine Antwort, die nicht einmal der auf Hochtouren laufende Verstärker verständlich machen konnte.

Zwei Schiffe bewegten sich also in dieses riesige, leere Niemandsland zwischen Rand und innerem Ring des IGO-Raumes hinein. Vor Jahren noch wären es höchstens ein paar Patrouillenboote gewesen, doch die Tage der Kanonenbootdiplomatie waren längst vorüber. Die überwältigende Überlegenheit der Inter Galactic Organization war schon vor langer Zeit so weit reduziert worden, dass sie gerade noch ein fragwürdiges Gleichgewicht erhalten konnte; im Übrigen hatte sie sich auf jene Gebiete zurückgezogen, die sie noch halbwegs zu beherrschen vermochte.

Die Kräfte der Outer Galactic Alliance befanden sich nun auf dem Vormarsch. Ein Jahrtausend lang war sie von den hochentwickelten Kulturen der IGO in Schach gehalten worden, doch jetzt hatte sie außerhalb der Galaxis neue Verbündete gewonnen. Ein hochentwickeltes System stand einem barbarischen Rivalen gegenüber, und die Zeit schenkte ihre Gunst den Barbaren.

Dogood gab die Daten zum Dekodieren ein. Das schmale Textband, das aus dem Fuß des Hauptscanners rockte, stellte fest, dass das Original in scotischer Sprache gehalten war. Das nähere Schiff lag außerhalb der rationalisierten Zeit und war vierzig Minuten von der Gravisphäre von Copreus entfernt.

Obwohl während der ganzen letzten Zeit mit Rücksicht auf die Geheimhaltung der Mission Funkstille geherrscht hatte, musste jemand eine kleine Kopfrechnung gemacht und ein Schiff ausgeschickt haben, das ein wenig herumschnüffeln sollte.

Nim, Copreus konnten sie haben. Eine Woche sorgfältigster Überprüfung hatte keinen Beweis für nützliche oder wertvolle Minerale erbracht, die eine Geste der Stärke gegenüber der OGA gerechtfertigt hätten. Jetzt musste man nur lebend wieder zurückkehren, wenn auch mit leeren Händen.

Er nahm seinen Raumanzug aus dem Schrank und begann sich mit raschen, geschickten Bewegungen anzuziehen. Mit einem Auge überwachte er den Text.

Es war ein Routinebericht an einen Vorgesetzten über Position und Kurs. Aus dieser Entfernung mussten sie schon Größe und Status des Schiffes auf Copreus kennen. Die Bestätigung dafür kam auch sofort: Achtung, ziviles Schiff zerstören. Mindestens zwei Crewmitglieder für Vernehmung am Leben lassen. Ende.

Ende des Funkspruchs und öffnen der Einstiegsluke fielen zusammen. Ausgefüllte Zeit erscheint einem viel kürzer als Wartezeit. Das Beiboot hatte angedockt und den Passagier in die Kommandokapsel entlassen. Dr. Ava Mallam schob ihren Helm zurück und schüttelte ihre rotgoldene Mähne aus. Auf ihrem Handschuh lag ein faustgroßer Klumpen eines silberadrigen Minerals, und sie lachte über das ganze Gesicht.

»Die Spektralanalyse war recht ordentlich«, berichtete sie mit ihrer tiefen, warmen Stimme. »Es gibt genug Infrangom. Jedes Baby in der ganzen Galaxis kann seinen Nachttopf daraus bekommen. Auf dem Rückweg habe ich es ausgerechnet.«

Sie war die Statistikexpertin und musste wohl Recht haben. Da er sie kannte, wusste er, dass sie wahrscheinlich die Kalkulation in den Bericht auf nehmen würde.

»Fein, Ava«, sagte er. »Großartig. Du hast noch zwanzig Sekunden Zeit, dich in deine Hängematte zu schwingen. Wir haben nämlich Besuch. Scoten.«

Das war der Tod ihrer Freude, und er hätte es ihr vielleicht doch ein wenig taktvoller beibringen können. Man sollte nicht so tollpatschig sein, wenn gerade der Expeditionszweck erfüllt wurde. Sie schnallte sich schweigend an, und erst als sie damit fertig war, drohte ihre Honigstimme jede Düse zu verstopfen. »Und was könnte die Scoten in diese Gegend bringen, Bob?«

»Vielleicht nur eine schlaue Vermutung«, meinte er. »OGA- Agenten könnten sich den Kurs der Centaur ausgerechnet haben. Ein Glück, dass wir reisefertig sind. Hoffentlich können wir das Glück auch noch ausnützen und Zeta erreichen. Danach müssten sie Wahrsager sein, wenn sie uns über Radio noch ausmachen wollten.«

»Das kommt mir aber merkwürdig vor.«

»Was denn?«

»Dass OGA so weit im neutralen Raum das Leuchtfeuer in Betrieb hält. Die IGO-Patrouillen haben sich doch zurückgezogen.« Sie bemühte sich sehr um einen ruhigen, normalen Unterhaltungston, und er spielte mit, obwohl er ihr nichts entgegenhalten konnte, was sie nicht selbst wusste.

»Ist doch ganz einfach. Der Funkweg ist nicht der einzige Weg hinaus, nur der einzige hinein. Wenn sie ihn zerstören, dann schlagen sie ihre Tür vor ihrer eigenen Nase zu. Und sie brauchen Jahrhunderte, um diesen Leitstrahl wieder aufzubauen. Übrigens, das Zeta-Leuchtfeuer hat einen eingebauten Zerstörungsfaktor. IGO muss vielleicht zu machen.«

»Rückzug der Legionen. Ist früher auch schon vorgekommen.«

»Diesmal haben sie aber jede Chance, die Barbaren auszusperren.«

Die Centaur setzte sich in Bewegung, und darauf mussten sie sich nun konzentrieren. Dogood navigierte genau nach dem Handbuch und aktivierte jedes Instrument, bis alles blinkte, was blinken sollte. Selbst bei normaler Geschwindigkeit konnte die Centaur jedem Militärschiff im Raum davonlaufen. Sie war als schnelles Überwachungsschiff gebaut, hatte nur Platz für eine Crew von zweien, dafür aber eine ungebärdige Kraft. Dogood ließ sie rennen. Wie ein Komet stieg sie aus dem Zwielicht von Copreus auf.

 

Der Kommandant der Scoten beobachtete den Start auf seinem Scanner. Mit einem Zorn, dem das trockene Geklapper und atonale Geklicke seiner Sprache nichts von seiner Wucht nahm, wandte sich Entemena an seinen Navigator. Noch fünf Minuten, dann wäre das fremde Schiff auf Copreus eine hockende Ente ohne Fluchtmöglichkeit gewesen. Jetzt würde es eine wilde Jagd zwischen den Sternen werden, die noch dazu wenige Aussichten bot. Die Argon konnte, wenn sie auch ein eben erst zugelassener brandneuer Kreuzer war, keine solchen Geschwindigkeiten erreichen.

Entemena versuchte es erst gar nicht. Er befahl eine Kursänderung, die selbst seine Reptiliencrew an den Rand der G-Toleranz brachte, und machte sich am Schenkel eines Dreiecks entlang auf zum fernen Funkfeuer.

Gleichzeitig signalisierte er der sich sammelnden Squadron, dass die Beute ausgemacht sei. Weit solle sie nicht kommen. Er gab den Befehl aus, ihr die Lebenslinie, den Funkleitstrahl, nicht abzuschneiden, aber sonst ließ er alles offen. Irgendwann einmal musste ja das Erdenschiff Zeit verlieren, wenn es beim

Einschwenken auf die Station die Geschwindigkeit reduzieren musste. Dann bekam man es zu fassen. Sein bitterer Geist delektierte sich an dieser Möglichkeit.

 

Ava Mallam unterbrach ihre Routinearbeit am Navigationstisch, um die ganze Funkskala abzutasten. Eine sehr einfühlsame Suche brachte die Argon auf den Scanner wie einen Lachs ins Netz. Fünfunddreißig Sekunden Arbeit an ihrer narrensicheren TK-1/500 erbrachten einen gestochen scharfen Hochglanzabzug, den sie am Scanner befestigte.

»Ist schon in Ordnung. Die schaffen es nie. Wir erreichen Zeta zwei Stunden früher als die Eidechsen. Wir werden schon Lichtjahre voraus sein, wenn sie sich zeigen.«

Dogood machte sich nicht die Mühe, das nachzuprüfen. Wenn sie das sagte, so genügte es ihm. Sie sah hinreißend aus und hatte gelegentlich eine etwas verrückte Art, aber sie war die beste Mathematikerin, die er kannte. Einen gewissen Vorbehalt behielt er für sich. Es hatte keinen Sinn, sich vorzeitig Gedanken zu machen.

Die kalten Reptil-Scoten waren Söldner der OGA, hominoid, aber blasse Zerrbilder von El-Greco-Verzerrungen menschlicher Körperlichkeit ohne erkennbare menschliche Regungen. Ihnen lebend in die Hände zu fallen wäre der sichere Tod für ihn, für die Statistikerin jedoch ein langes, qualvolles Sterben. Wenn sie sich schon die Mühe machten, der Centaur den Weg abschneiden zu wollen, dann würden sie auch nicht aufgeben. Die Centaur war also immer in Gefahr, bis sie die Gravisphäre der Erde erreichte.

Ava Mallams Verständigungsgeschick war nicht auf die kosmische Skala beschränkt. Sie hatte die Harmonie in Dogoods Verhaltensmuster erfasst und die Quelle begriffen. »Mach dir keine Sorgen, Controller«, sagte sie in der förmlichen, protokollarischen Art, der sie seit der ersten Stunde ihrer Mission gefolgt war. »Ich weiß Bescheid. Die kriegen mich nicht. Ich habe hier meine Pille.« Mit einem schlanken Finger deutete sie auf die Schulter. »Ich behaupte nicht, es sei an der Zeit, den menschlichen Leib abzustreifen, denn eine solche Einstellung würde auf meine Gesellschaft abfärben, und wo blieben dann die gesellschaftlichen Imperative? Ich lese jedoch das Kleingedruckte, wenn ich Verträge unterschreibe, und deshalb verspreche ich dir, dass ich dann keine gefühlsschwangere Szene hinlegen werde.«

Dogood nahm diesen Ton auf. »Damit rechnete ich auch nicht, Dr. Mallam. Da du schon davon sprichst, muss ich wohl erwähnen, dass es vielleicht nötig wird. Ich glaube nicht, dass sie uns so einfach durch wischen lassen. Sie sind weit von ihrem Territorium entfernt, und der Zufall ist kein Auslöser. Ich möchte deinen Erfolg wirklich nicht herunterspielen, aber Copreus nützt uns nichts. Innerhalb einer Woche wird eine Invasionseinheit der OGA dort sein mit einer Squadron, die scharf schießt. Ohne heißen Krieg könnten wir nicht ein Gramm Erz dort wegholen.«

»Aber den Fund werden wir doch berichten?«

»Klar. In Zeta haben wir dafür genug Zeit. Selbstverständlich werde ich deinen außerordentlichen Beitrag zum Erfolg unserer Mission gebührend herausstreichen. Ich bin überzeugt, dass du den Bollinger-Preis bekommst.«

Posthum natürlich, hätte sie am liebsten geantwortet, doch sie ging auf seinen Ton ein. »Das wären fünfzigtausend Credits, und ich kann mir einen Studienurlaub von fünf Jahren gönnen. Einen prähistorischen Kurs. Diese Periode fasziniert mich, besonders die letzten Abschnitte, als der Mensch begann, nach draußen zu schauen. Kannst du dir den Rummel vorstellen, als sie endlich eine winzige Kapsel von Konservendosengröße zum Mond schossen? Ich möchte wissen, wie es war, damals gelebt zu haben.«

»Was man so hört, war es für die meisten Menschen ziemlich ungemütlich.«

»Das ist es für einige heute auch noch.«

Ava Mallam schwieg dann und verkapselte ihre Libido, um sich einer neuen Feineinstellung zu widmen. Diesmal war es das Zeta-Leuchtfeuer, das sie aus der großen Leere fischte und auf den Hauptscanner bannte.

Das war nach Copreus geradezu eine Erfrischung. In Farbe glühte es wie eine keltische Schulterspange auf schwarzem Samt. Dieses Leuchtfeuer war das letzte einer ganzen Reihe, ging vom Sonnensystem mit dem Heimatplaneten Erde aus und war das leistungsfähigste und raffinierteste der ganzen Serie. Es war wie eine riesige geodätische Kuppel, und jede Facette trug Wappen und Devise eines Planeten der Inter Galactic Organization.

Bei Ava Mallam löste es Pessimismus aus. Es war von unvorstellbarer Energie, aber sie rechnete nicht mit einer ähnlich großen Stabilität. Sie sah die Motten im Gewebe.

Vielleicht fiel bald der Vorhang für die humanoiden Kulturen. Sie waren so weit gekommen, wie man es sich nicht vorzustellen gewagt hatte, nachdem das Glück in der Vergangenheit eher einem Ein- und Ausatmen geglichen hatte. Oder wie einem Schritt rückwärts, um Anlauf zu nehmen für einen Sprung vorwärts. Aber diesmal würde es ein Rückzug vom weitest entfernten Punkt sein, der je erreicht werden konnte. Vielleicht war dann der Kreis geschlossen. Jetzt begann der lange Abstieg, bis die letzte Landkreatur wieder durch Nebel und Sumpf in die See watschelte. Der Exit des homo sapiens, der von einem Quastenflosser verfolgt wurde.

Sie fand, dies sei sehr schade, da sie dem sensitiven Typ angehörte; wenn man das so wie ein Gott von außen sah... Es war gut, dass Dogoods Stimme sie aus ihren Überlegungen riss, ehe sie sich in Selbstmitleid verlor.

Er hatte sie schon zweimal angesprochen und legte nun etwas an Lautstärke zu, um ihre Versonnenheit zu durchbrechen. »Ava?«

»Ja, hier.«

»Nur eine Nanosekunde deiner Zeit. Kannst du den Scoten zu direkter Rede veranlassen?«

»Hältst du das für klug?«

»Er weiß, wo wir sind, und er weiß, dass wir wissen, wo er ist. Ich möchte gern wissen, was er zu sagen hat.«

»Das sind alles nur Lügen.«

»Selbst Lügen und Irrtümer sind primitive Verständigungsmittel.«

»In Ordnung.«

Erst bekamen sie keine Antwort, doch sie ließ nicht locker.

Die Argon saß wie ein Käferchen oben links im Hauptscanner.

»Erdenschiff Centaur mit IGO-Lizenz«, rief Dogood mit monotoner Stimme. »Wir bitten vom Konvergenzkurs abzugehen. Bitte bestätigen.«

Nach der dritten Wiederholung ruckte das Band aus dem Aufnahmegerät. »Scotisches Schiff Argon, Reduziert Geschwindigkeit und ändert Kurs meine Richtung. Sonst zerstöre ich das Funkfeuer. Nach Besprechung wird euch Weiterreise gestattet.«

»Ihr habt kein Recht, ein Zivilschiff anzuhalten. Dies ist laut Interstellarvertrag neutraler Raum. Ich werde IGO von der Anwesenheit einer militärischen Einheit unterrichten.«

»Das ist naiv. IGO hat keine Schiffe in diesem Gebiet. Denkt doch realistisch. Wenn ihr unserem Befehl nicht gehorcht, wird euer Schiff vernichtet.«

»Würden sie wirklich das Funkfeuer vernichten?«, fragte Ava.

»Niemals! Es ist viel zu nützlich.«

»Also nur ein Bluff?«

»Richtig.«

»Dann würde ich es es ihm sagen.«

Ehe Dogood noch darauf reagieren konnte, ergoss sich die süße Honigstimme schon in den leeren interstellaren Raum. »Ihr werdet gebeten, euren Kurs zu ändern. Die wahnsinnige Drohung, das Funkfeuer zu zerstören, wird voll Verachtung zur Kenntnis genommen. Ende.«

»Schade.«

»Wieso? Wir haben doch sonst nichts zu sagen.«

»Schade, weil sie jetzt wissen, dass dieses Schiff ein sehr weibliches Besatzungsmitglied hat. Jetzt werden sie's noch nachdrücklicher versuchen.«

»Das spielt doch keine Rolle. Wenn sie uns fangen, ist mein Sitz frei.«

 

Ava Mallams Kalkulation differierte nur um eine halbe Minute. Die Centaur dockte am Zeta-Funkfeuer an, und der heraneilende Scote näherte sich mit zwei Stunden Abstand in einem sich ständig verkleinernden Winkel. Aber Dogood verlor keine Zeit. Ehe das Schiff noch zur Ruhe gekommen war, befand er sich mit einem vorbereiteten Bericht und einem Auszug aus dem Log in der Druckkammer.

»Mach die Tür nicht auf und lass keine Fremden ein«, sagte er.

In der Kuppel eilte er einen schwankenden Steg entlang, der zum Zentrum führte, wo wie ein ungeheurer Kern der Generator hing. Darüber lagen die Versorgungsbuchten; es gab auch ein Dock, in dem die Schiffe Meteoritenschäden ausbessern oder Energievorräte auffüllen konnten.

Früher, als die IGO-Patrouillen noch regelmäßig unterwegs waren, konnte man die Station fast als gemütliches Heim und sichtbaren Vorposten der Zivilisation betrachten. Jetzt war sie düster, ein zum Untergang bestimmter Außenposten, ein von der Legion aufgegebenes Fort.

Im Kontrollraum war davon nichts zu bemerken. Die Androiden-Operateure ließen an Tüchtigkeit nichts zu wünschen übrig. Dogood sah zu, wie seine Mitteilung kodiert und über einen Prioritätenkanal weitergeleitet wurde. Er hielt die Daten ja auch für, ungeheuer wichtig. Sobald sie durchgegeben waren, wurden die Originale im Reaktor vernichtet. Nur Luzifer persönlich konnte sie dort wieder herausholen.

Er sah zu, wie die ersten kodierten Gruppen durchgegeben wurden, ehe er sich an den leeren Funktisch setzte. Früher hätte er seine Ankunft ankündigen und dann mit einem halben Dutzend anderer Schiffe warten müssen, bis er an der Reihe war, und die Zeit hätte er dazu benützt, in den zollfreien Läden allerhand Andenkenkram zusammenzukaufen und in der Stationskantine zu essen.

Methodisch trug er sämtliche Daten der Centaur ein, bis zum Körpergewicht der Besatzung. Ein zeitlicher Irrtum von einem Prozent hätte die Erledigung dieser Angelegenheit ohne Belästigung seitens der Scoten gestattet. Er war also gar nicht überrascht, als Ava Mallam ihm über Sprechfunk zurief:

»Bob, beeil dich! Sie ziehen alle Register und kommen schnell heran!«

»Bin gerade fertig. Willst du nicht einen Sprung an den Strand tun und deine Krone gerade zurechtrücken?«

»Die kann ruhig schief hängen. Beeil dich nur. Du machst mich nervös.«

Dogood überlas noch einmal seinen Eintrag. Wenn er jetzt auf den Unterbrecherknopf drückte, hatte er genau tausend Sekunden Zeit, um zur Centaur zurückzukehren und sie auf dem Strahl umzudrehen. Er rannte zur nächsten Boutique und musterte das dort ausgestellte Spielzeug. Die Erde war durch einen großen, weißen Koalabären mit rosa Seidenschleife und Hufeisen vertreten. Er schob seine Kreditkarte in den Schlitz und holte den Bären mit dem Greifhaken von seinem Sitzbaum herab.

Dann war er schon wieder am Tisch, setzte das zusätzliche Gewicht noch ein und drückte auf den Operationshebel.

Ein gedämpftes orchestrales A erfüllte die Kuppel, und eine Außenampel blinkte rot und gelb. Als er die Luftschleuse der Centaur hinter sich hatte, war das A zum As geworden, und der gelbe Blinker ging langsam auf blau-grün über. Zweihunderfünfzig seiner tausend Sekunden waren abgelaufen.

Fünfzehn brauchte er, um den Bären auf Mallams Konsole zu setzen. »Ein kleiner Tribut an eine charmante Partnerin«,

sagte er. »Eigentlich hättest du einen stieläugigen Wassergeist aus Corona bekommen sollen, aber ich dachte, im Moment würdest du doch die irdische Fauna vorziehen.«

Sie war verpackt wie das Reklamebild eines Raummannes, so dass dem glücklichen Gewinner keine freudige Demonstration möglich war. Sie tat aber einen entzückten Schrei, der ihn veranlasste, nach seinem Tonstärkeregler zu greifen, und er war recht zufrieden, dass sein Geschenk »auf fruchtbaren Goden gefallen« war.

Ava Mallam war äußerst praktisch veranlagt. »Du hast ihn doch sicher in deinem Protokoll erwähnt?«, fragte sie.

»Natürlich«, versicherte er ihr.

Noch hundert Sekunden. Die Centaur schwebte langsam auf dem ausgehenden Leitstrahl dahin. In der Kontrollkabine war der Summer doppelt so laut zu hören wie in der Kuppel und schon zu einem grellen C geworden. Die pulsenden Farbquadrate am Scanner waren nur noch einen Hauch weit von Grellrot entfernt.

Die Argon sah sehr nahe aus. Dogood wusste natürlich, dass der Kommandant ihn leicht mit seinen Waffen erreicht hätte. Aber an diesem Punkt war der Streuwinkel sehr groß, und ein einziger Treffer genügte zur Zerstörung des Funkfeuers. Für Dogood war das Grund genug, daran zu glauben, dass keine Vernichtung der Funkglieder beabsichtigt war.

Die Centaur tat einen ordentlichen Satz, als sie den Leitstrahl verließen und die Schirme dunkel wurden. Ava Mallam schob ihren Helm zurück, um ihren Glücksbären ein wenig genauer anzusehen; da war das Scotenschiff schon ein halbes Lichtjahr entfernt.

Es war eine Mischung aus Erleichterung und großer Freude, die nun auf ein Relais tippte, das die Psychologen mit einer Sperre versehen hatten. Sie schob sich von ihrem Tisch weg und ließ sich zu ihrem Kommandanten treiben.

Ehe ihm eine ausweichende Reaktion möglich war, hatte sie sich schon über seine Konsole gebeugt und ihm einen Kuss auf seine intelligente Stirn gehaucht.

Mit ihrer Aureole glänzenden, weichen Haares sah sie kühl und anemonenhaft aus, und das war eine große Versuchung für sein konditioniertes Nervensystem. Ein spekulatives Nervchen umging jedoch die Sperre; schade, dass das Signal deshalb zu spät im Zentrum ankam, denn als das Greif- und Festhaltekommando seine Hände erreichte, war sie schon wieder außer Reichweite.

Er kalkulierte so: selbst der Sekundenbruchteil des körperlichen Kontakts musste sich tagelang in ihrem Behälter rationalisierter Zeit halten, und so konnte die winzigste Geste zur kosmischen Bedeutung gelangen. Dieser Gedanke verstärkte wenigstens andeutungsweise die allmählich zusammensackenden psychischen Barrieren, welche die Crew als erotische Objekte - und Subjekte - abschirmte. Geistesgegenwärtig verwandelte er die besitzergreifende Bewegung in ein großmütiges Winken. »Ah, ist doch gar nicht der Rede wert. Betrachte das Ding als Ausdruck meines Edelmutes. Und überdies kannst du eine kleine Pause einlegen und ein Jahr oder auch zwei schlafen. Ich rode das Dickicht schon, bevor du von den Spinnweben ganz eingeschlossen bist, aber ich blase vorher eine Warnung in mein Jagdhorn.«

»Oh, du kannst dann alles verwenden, was du in der Hand hast.«

 

Dogood zog den Anzug aus und hängte ihn sorgfältig in seine Nische. Anschließend prüfte er sämtliche Konsolen nach und blieb etwas länger an Ava Mallams Funktisch stehen. Ein ganz schwacher, zarter, kultivierter Duft nach Sandelholz hing noch darüber. Es kostete ihn einige Anstrengung, nicht an sie zu denken.

Es gab eine Theorie, nach der eine entsprechend konditionierte gemischte Crew für eine lange Reise wesentlich vorteilhafter sei als eine eingeschlechtliche, doch die schwankte mm ein wenig.

Plötzlich schien die Centaur einen Schlag versetzt zu bekommen und seitlich wegzurutschen, so dass er automatisch nach einem Halt an der Decke griff. Gleichzeitig ging sein Gehirn in eine langsame Drehbewegung innerhalb des Schädels über.

Als sich die Szene wieder stabilisiert hatte, war alles so wie vorher. Mit zwei Schritten war er an seinem Tisch, bevor das Schiff denselben Hüpfer nach der anderen Seite tat. Er biss die Zähne zusammen, um seinen revoltierenden Magen zu beruhigen und versuchte den Alarmknopf für alle Stationen zu erreichen. Er sah seine Hand langsam über die Instrumentenkonsole kriechen, und dann war es auf einmal nachtschwarz um ihn.

Ein letzter Gedanke, der wie ein Insekt in ein Stück Bernstein eingebettet war, trug ihn in die Bewusstlosigkeit: Er hatte den Scoten also doch unterschätzt. Jemand pfuschte am Funkleitstrahl herum. Sie konnten unendlich lange daran auf gehängt bleiben; Ava schlief in ihrem Gurtbett, und er selbst trieb handlungsfähig in einem Halbschlaf dahin.

 

Dogood machte die Augen auf, denn ein Ton, den er im Raum nie zu hören erwartet hatte, weckte ihn auf. Er war ein schöner Beweis dafür, dass er noch am Leben war.

Er identifizierte ihn als ein Amselsolo, und er wusste, er war zu Hause.

Auf den rechten Ellenbogen gestützt schaute er sich um. Es war ein Raum von viermal sechs Metern, und ihm war, als sehe er ihn zum ersten Mal. Ihm schien, er sei mit einem Lift tief in den Keller hinabgefahren und nun sei er wieder auf dem Weg nach oben. Dieses Gefühl ließ sich nicht abschütteln.

Er wusste aber auch, dass dies sein eigenes Zimmer war, das er eine ganze Weile bewohnt hatte. Er stand von seinem Bett auf und ging zum Ankleidetisch, um sich durch persönlichen Augenschein davon zu überzeugen, dass es ihn tatsächlich und hier gab.

Gewichtslos und von einer schlafenden Oberfläche sanft eingehüllt warf er die Papierbettwäsche in die Abfallklappe, ehe seine verzögerten Reflexe den Unterbrecherknopf drücken konnten.

Ein Teil seines Geistes wusste das alles. Es war früh, doch er musste aufstehen und Energie verströmen. Das war jetzt schon das zweite Mal in dieser Woche, dass er das Bettzeug zu früh wegwarf, und es war doch ausgeschlossen, dass sein Vorrat vor Monatsende aufgefrischt werden konnte. Also würde er bald ohne sein Papiernest sein.

Die Cybernat International Inc. war wirklich nicht geizig, doch die Anforderung einer Extragarnitur musste ja sämtliche Kanäle durchlaufen. Er konnte sich gut vorstellen, wie der Verwalter des Männerschlafblocks H das Formular ausfüllte: Zimmer 216, Dr. Ben Duguid verlangt Auffüllung seines Bettzeugs. Grund: zerstreuter Irrer... Die ganze Firma hatte dann tagelang etwas zu belächeln.

Auf seinem Persönlichkeitsblatt konnte es sich auch niederschlagen als Verhaltensmuster. Nur ein solcher Tropfen täglich in eine Kanne, dann läuft sie auch einmal über und fällt der Conform, dem niemals schlafenden Auge, auf.

Ein Knopfdruck öffnete die Jalousietüren; barfuß ging er hinaus auf den warmen, thermoplastischen Fliesenboden seiner privaten Veranda, deren Winkel ihm einen ungehinderten Ausblick gestattete.

Viel zu sehen war ja nicht. Einige dünne, kadmiumgelbe Stangen wuchsen aus dem Horizont, soweit es einen gab, und die großen Blöcke der Wohnhäuser zeichneten sich als schwarzgraue Vierecke mit sauberen Kanten ab. Es war noch nicht hell genug, um Farben hervortreten zu lassen. Alles war nackt und unnatürlich, etwa so, als habe der Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts die bunten Flicken noch nicht fest aufgenäht.

Und dann traf es ihn wie ein Schlag zwischen die Augen: Dann war er also Duguid? Ben Duguid? Das schien er zu wissen und gleichzeitig nicht zu wissen.

Er atmete tief die natürliche, unkonditionierte Luft ein und fand sie ein bisschen zu scharf und auch für seinen Geschmack ein bisschen zu feucht. Trotzdem richtete er seinen Geist auf das Hier und Jetzt aus. Nach langer Zeit hatte er also diesen Traum wieder zu träumen begonnen. Vielleicht hatte er damit niemals aufgehört, aber es war schon lange her, dass er mit einer so klaren Erinnerung daran aufgewacht war. Selbst als Kind war er ein bemerkenswerter Träumer gewesen, der sich an das immer gleiche Zukunftsthema gehalten hatte. Allerdings war dies das erste Mal, dass er ein so scharf umrissenes Bild des Mädchens zurückbehalten hatte, praktisch ein Bild von allen Seiten. Da musste er aufpassen! Wenn Conform diese Verwirrung in seine Personalakte brachte, dann bekam er diese Missgeburten niemals mehr von seinem Rücken.

Er ging wieder hinein und spielte auf der Servicekonsole eine Frühstückssonate: Kaffee, Brötchen, gegrillter Hering. Das Warnlicht, das wieder einmal zu spät kommen würde, übersah er großzügig.

Während der gute Servicegeistautomat seine Wünsche erfüllte, duschte er und schlüpfte in seinen weißen, gegürteten Overall mit der großen Aufschrift CYBERNAT quer über den Schultern. Um sie zu sehen, musste er sich vor dem Spiegel den Hals ausrenken. Die Identitätsplakette auf der linken Brusttasche war dafür umso besser zu sehen, und er nahm sie ab, um sie genau zu studieren.

Der Schlafnebel hob sich immer mehr, und edles erschien wahrscheinlicher. Da war er also nun, und er sah sich in Person und in Farbe, als sei er sein eigener Steckbrief. Dr. Ben Duguid, Cybernat. Department K, Sektor Operative Forschung. Alter: einunddreißig. Identifikationsserie TX/M/938/DC/9.

Es war ein Tag wie jeder andere, nur dass es früher war als sonst.

Diese Tatsache ließ sich nicht ableugnen. Er schaute wieder in den Spiegel, hauchte ihn an und entdeckte, dass der Kondensfilm seine untere Gesichtshälfte verdeckte. Ober dem Nebel starrten ihn weitgesetzte grüne Augen mit grauen Flecken an; über der hohen Stirn lag dichtes, braunes Haar; das Gesicht war schmal und hatte eine dünne, lange, gerade Nase. »Du bist ein gutaussehender Teufel«, sagte er zu seinem Spiegelbild und drehte den Kopf so, dass er sich im Profil betrachten konnte. Haarschnitt? Wieso brauchte er einen Haarschnitt?

Der Raumservice machte Ding, weil das Frühstück in der Klappe stand. Aber erst musste er durch sein Tagebuch blättern. Ah, da war es. Gestern, genau um zehn Uhr, war er in Thelmas Tonsory gewesen und hatte sich den überfälligen Haarschnitt verpassen lassen. Schwarz auf weiß - das konnte nicht lügen. Jede zweite Woche war er vorgemerkt.

Der Raumservicewecker machte ungeduldig Ding-ding, denn auch ein Mechanismus hat seinen Stolz, und er setzte sich zum Essen.

Dann trieb er also langsam vom Programm weg? Musste wohl eine unausgewogene Drüsenfunktion sein. Haarschnitt nach dem Rezept Zeitlupe.

Das passte aber zu seinem Doppelleben. Jekyll und Hyde, oder Jekyll eins und Jekyll zwei; schließlich wies sein altes ego keine aus dem Rahmen fallende Züge auf.

Er aß nur die Hälfte und signalisierte, dass abserviert werden könne. Erst als er auf seine Armbanduhr sehen wollte, fiel ihm ein, dass er sie ja abgelegt und auf dem Tisch neben der Wegwerfkaffeekanne vergessen hatte.

 

Von seinem Raum im Wohnturm aus ließ er sich im Elevatorschacht nach unten treiben. Dogood rutschte immer wieder in die Dimensionen seines Traumes zurück. Hai Bladon teilte mit ihm die Kabine. Er war ein kleiner, stämmiger Mensch, der

aus lauter Kreisen zu bestehen schien. Sein schwarzes Haar fiel in matten Locken um sein schwarzes Gesicht. »Geht's dir auch gut, Ben?«, fragte er.

Die Kabine hatte sich zu einem Ballon gerundet und mit raffinierten Instrumenten gefüllt; sie schrumpfte abrupt zu den ihr gemäßen Dimensionen zusammen, und Dogood musterte seinen Gefährten so scharf, als habe dieser gerade eine Sexumwandlung hinter sich.

»Was hast du gesagt, Hai?«

»Ob es dir auch gutgeht. Ich dachte schon, du siehst aus, als wolltest du jeden Moment glatt auf den Rücken fallen.«

»Na, na, das klingt ja ein bisschen... neckisch, was?«

»Nein, im Ernst. Du hast richtiggehend benommen ausgesehen.«

»Mir geht's aber ganz gut.«

»Vielleicht brauchst du nur eine Brille. Herrje, ich hatte scheußliche Schwierigkeiten, bis ich meine Linsen bekam. Geh lieber zum Arzt. Lass dich doch mal gründlich überholen für all die Steuern, die zu zahlst. Er meint, bei der Cybernat hat ein Irrer die ganze Einrichtung geschaffen. Diesen Schrumpfköpfen hat er schon lange den Krieg erklärt. Oder vielleicht übst du zu viel. Die vielen Trainingsstunden im Kleinkaliberschießen! Conform wird allmählich denken, du bereitest eine Revolution vor.«

Dogood hielt es für einen Schicksalsschlag, nach einem so frühen Tagesbeginn ausgerechnet den redefreudigsten Bewohner des H-Blockes als Kabinengefährten zu haben. Er war dann froh, als er auf die Außenbahn des Expressbandes umsteigen musste, um zum Cybernat-Turm zu gelangen.

Geschickt bediente er sich der Ausweichbuchten und erreichte sein Ziel mit einem Strom, der in kaleidoskopischen Farben aus dem Frauenschlafblock G quoll. Bladon wurde von der Flut weggespült. Das war Strategie! Jetzt fühlte er sich auch etwas stabiler, als habe seine Aktivität die sich lockernde Psyche wieder in ihr Loch zurückgeschüttelt.

Ein Stück weiter oben und vor ihm wechselten zwei Mädchen auf eine andere Bahn über, die spiralig auf die seine führte. Dazu gratulierte er sich.

Den einen Kopf mit dem rotgoldenen, wellig wippenden Haarschopf kannte er doch; er griff verblüfft nach dem nächsten senkrechten Halt. »Darf ich vielleicht?«, fragte eine Brünette mit dem Etikett CINE SUPPLY ein bisschen indigniert, doch das hörte er nicht. Allen Zubringergesetzen zum Hohn drängte er sich vor, bis er hinter dem rotgoldenen Leuchtfeuer war.

»Ava, dann bist du also auch hier?« Er verstand seine Frage aber selbst nicht. Und das fragende, verständnislose Gesicht, das sich ihm zuwandte, ließ sein eigenes Wissen noch nebelhafter erscheinen.

Natürlich war es Ava. Es war dasselbe Oval mit den vollen, schwellenden Lippen, die jetzt leicht vor Staunen geöffnet waren. Ein weniger intelligentes Wesen hätte so ausgesprochen dumm ausgesehen.

In den strahlenden braunen Augen flackerte kein Erkennen auf. Aber Dogood war ein Mensch von bemerkenswerter Sensivität und spürte, dass es hier ein eigenes Problem gab. Eine etwas heisere, leise, tiefe Stimme löste bis zu einem gewissen Grad das Problem der Verständigung. »Was soll das mit dieser Ava und so? Muss ihr wohl ähnlich sein. Kenne ich Sie vielleicht von Cybernat her?«

 

 

 

 

 

2.

 

 

 

Dogood besah sich die Inschrift auf ihrem blass-apricotfarbenen Kasak. Diese Plakette log nicht. In unauffälliger, hübsch geschwungener Schrift stand da Cybernat. Ehe sie ihn noch einen Psychopathen nennen konnte, hatte er sich schon wieder aufgerichtet.

»Wie lange sind Sie denn schon bei Cybernat?«

»Soll das etwa eine Meinungsumfrage sein?«

»Hab' ich Sie nicht schon mal gesehen?«

»Na, ist ja schließlich auch ein riesiges Unternehmen.«

»Ich hätte Sie schon mal in den Hallen oder auf den Laufgängen sehen müssen. Sie braucht man doch nur einmal zu sehen, dann vergisst man Sie für alle Zeiten nicht mehr. Jawohl.«

»Jawohl?«

»Nur gewissermaßen eine altmodische Redensart, um den Schlag der Frühmorgenschmeichelei zu lindem.«

Der Schlag war jedenfalls kräftig genug, um ihre Atmung zu beschleunigen, ob vor Freude oder Zorn konnte er nicht recht feststellen, denn der hübsche Anhänger an einer feinen Elektrumkette lag an einem strategisch besonders interessanten Punkt.

Schließlich gelang es ihm doch, die Legende zu lesen. Averil Marlowe. Cybernat. Department OG. Produktspezifikation TY/F/414/DC11 las er laut.

»Ah, Sie können ja lesen!«

»Nicht besonders gut, wenn sich dieses Medaillon ständig bewegt. Das stört ungeheuer.«

Die Aussteigbuchten für den Cybernat-Turm lagen rechts. Sie trat vom Expressweg herab und war schon drei Meter vor ihm, ehe er überhaupt bemerkt hatte, was vorging. In der allerletzten Sekunde folgte er ihr und stellte fest, dass Hai Bladon ihn wieder eingeholt hatte.

»Was ist denn heute mit dir los?«, fragte Hai. »Du bist heute unruhig wie eine Springbohne.«

Das sagte er im Wesentlichen zur leeren Luft, denn Dogood hatte sich seinem Ziel inzwischen wieder genähert.

»Flucht in panischer Angst bringt Sie auch nicht weiter. Sind Sie nicht doch überzeugt, dass wir uns schon mal gesehen haben?«

Zum ersten Mal schien ihre Haltung ein wenig erschüttert zu sein, etwa so, als sei sie ordentlich verblüfft.

»Ich bin überzeugt, dass wir uns noch nie gesehen haben. Oder... ich weiß es nicht. Ich glaube nicht. Erinnern kann ich mich jedenfalls nicht. Ist es denn so wichtig?«

»Sehr wichtig.«

Jetzt wirkte sie fast verstört, als habe ihr Geist etwas aus einem Haufen herausgezogen, das nicht so leicht zu begreifen war. »Entschuldigen Sie bitte. Vielleicht sollte ich sagen, dass ich gerade ein paar Wochen im Krankenhaus hinter mir habe. Anpassungsschwierigkeiten. Sehr wirksam, weil ich nämlich nicht einmal genau weiß, was sie nun wie angepasst haben. Sie haben sehr gründlich gearbeitet. Vielleicht kenne ich Sie wirklich, wenn Sie's schon behaupten. Das Gedächtnis kann nämlich sehr darunter leiden.«

»Kennen Sie etwa eine Ava Mallam?«

Diesmal las er etwas wie panische Angst in ihren Augen, und sie wich so weit vor ihm zurück, wie es die Balustrade gestattete.

Dogood ließ nicht locker. »Sie kennen sie also?«

»Ava Mallam? Sie sagten Ava zu mir, als Sie mir nachkamen. Was soll denn das alles? Ehrlich, ich weiß es nicht. Der Name klingt bekannt, aber er ist dem meinen ja auch ähnlich. Und wenn ich ja sage? Wohin gehen Sie von hier aus? Zeit haben wir ja keine, weil wir beim Tor sind.«

Das stimmte, und sie schwamm im Hauptstrom mit, ehe er noch etwas sagen konnte. Hai Bladon verkündete wieder seine Meinung.

»Was willst du überhaupt von der, Ben? Ich dachte, du hättest einen langfristigen Paarungskontrakt mit dieser Dunklen von PR?«

Dogood blieb stehen und sah Bladon an. Das war richtig, obwohl er sich dessen noch vor einer Minute nicht bewusst gewesen war. Aber Averil Marlowe war schon verschwunden. »Ich hab' sie mit einer anderen verwechselt«, behauptete er. »Mein Gedächtnis hat mir einen Streich gespielt. Eine Wucht ist sie trotzdem. Wo ist eigentlich Department OG?«

»Nie gehört. Frag mal bei der Information nach. Arbeitet sie dort?«

Viel zu spät fiel ihm ein, dass er schon zu viel gesagt hatte. Bladon war freundlich, aber eine alte Klatschbase. Die ganze Geschichte, mit erotischen Fransen und Schnörkeln verziert, hatte garantiert bei Cybernat die Runde gemacht, ehe noch der halbe Vormittag um war.

»So wichtig ist das auch wieder nicht«, antwortete er.

 

Die Gewohnheit lenkte Dogoods Schritte zu seinen Büroräumen. Halb unbewusst las er sein Türschild. Operative Forschung K. Lab. Direktor - Dr. Ben Duguid.

Hinter der Doppelschwingtür lag der Empfangsraum mit einem halben Dutzend Schalenstühlen aus Plastik, die auf hohen, biegsamen Säulen standen und vollauf geblühten Tulpen glichen. Auf dem Boden lag ein ovaler, puderblauer Wuschelteppich. An einer Konsole arbeitete ein auf eine Säulenplatte montierter Android, der vom Nabel aufwärts der klassischen Aphrodite nachgebildet war. Eine Schwingtür aus Korbgeflecht arbeitete wie ein Ventil, das die Klienten vor der Maschinerie schützen sollte.

Als er durch die Schwingtür ging, drehte sich der Android langsam um, nahm seine Persönlichkeit und seine elektrische Aura auf und hob einen eleganten Finger, um Aufmerksamkeit zu finden. Dogood bekämpfte den plötzlichen Drang, diesen Finger am Knöchel abzubeißen.

»Was ist denn los?«, fragte er.

Es klickte samten, summte diskret, und eine Stimme, die nur das Bestreben zu gefallen kannte, sagte: »Direktor, für Sie liegen zwei Mitteilungen vor. Miss Cain telefonierte von Public Relation, und die Sekretärin des Vorsitzenden rief von Hull City aus an. Die entsprechenden Informationen finden Sie auf Ihrem Band.«

»Danke.«

»Ich soll Sie daran erinnern, dass die Produktionsdirektoren um zehn Uhr zur Vorführung kommen.«

»Dann tu's doch.«

»Verzeihung, Sir. Was soll ich tun?«

»Mich daran erinnern.«

»Woran?«

»Ich hab' doch nicht den ganzen Tag zu verschwenden, um mit einem verblödeten Torso zu reden.«

Das war ein billiger Sieg, und Dogoods Triumphgefühl überlebte nicht einmal die paar Schritte zu seinem Schreibtisch.

Zuerst nahm er sich Deborah Cain vor, die auf seinem Bildschirm erschien. Sie hatte hoch aufgetürmtes schwarzes Haar und regelmäßige Züge, die dem kritischen Auge etwas schwer Vorkommen mochten, vielleicht sogar missmutig. Oder hämisch. Er musste von allen guten Geistern verlassen gewesen sein, als er ausgerechnet mit ihr einen Paarungskontrakt einging.

»Ah, da bist du ja, Ben«, sagte sie. »Endlich. Seit Tagen versuche ich dich zu erreichen. Du weißt doch, wir müssen bei der Bevölkerungskontrolle einzahlen. Vor dem Vierzehnten, sonst verfällt der Kontrakt, und wir müssen ganz von vorne anfangen.«

Dogood schaute auf seinen Terminkalender. »Das wäre also morgen.«

»Ich weiß, dass es morgen ist. Sag mal, was ist mit dir los? Wir treffen uns wie gewöhnlich in der Verwaltungskantine. Dreizehn Uhr. Aber Punkt! Wenn du dich verspätest, zersteche ich dein Bild mit Nadeln.«

»Hässlich von dir, sehr hässlich! Das ist ja Leichenschändung und nicht weniger.«

»Sei nicht so schmutzig, sondern lieber da.«

Sie schaltete ab, und er durfte einen blanken Bildschirm bewundern.

Nachdenklich spielte er alle Einzelheiten des Anrufes aus Hull durch. Er sollte also sofort Koestler anrufen.

James Koestler, der Sekretär des Vorsitzenden, redete schon, ehe sich sein Bild auf dem Schirm richtig herausgeformt hatte. »Dr. Duguid, bitte schalten Sie Ihren Zerwürfler ein.«

Als er das getan hatte, erschien statt des Gesichtes eine sich langsam drehende Windmühle, die gegenüber Koestlers Blaubartwangen und Ochsenaugen ein wesentlicher Fortschritt war. Die Mitteilung erwies sich dagegen als recht kummerbeladen.

»Der Vorsitzende hat für heute siebzehn Uhr eine Konferenz angesetzt. Mit Ihrer Abteilung hat sie nichts zu tim, aber sie wird dort stattfinden. Das dürfte nicht schwierig sein, denn solche Konferenzen haben Sie schon öfter abgehalten. Es ist dieselbe Demonstration vorgesehen wie für die Produktionsingenieure heute früh. Bereiten Sie sich auf zwanzig Teilnehmer vor, die Sie als eine Gruppe von Tochtergesellschaften des Nordwestens vorstellen. Und sprachen Sie mit keinem darüber, außer mit denen von Ihren Leuten, die es unbedingt wissen müssen. Sorgen Sie dafür, dass am Nachmittag Ihre Abteilung leer ist, falls jemand zu früh ankommen sollte und die Gefahr besteht, dass er erkannt wird.«

Der Nachteil des Zerwürflers war der, dass man nicht dazwischenreden konnte; das heißt, man konnte es wohl, wenn es auch der andere nicht hörte. Deshalb konnte er Koestler auch nicht bremsen, bis er seinen Antwortknopf drückte. Dogood fischte eine Zigarette aus einer Schreibtischlade.

»Damit Sie nicht unnütz über den Sinn der Sache nachzudenken brauchen«, fuhr Koestler fort, »sage ich Ihnen, dass die Teilnehmer nur indirekt mit Cybernat zu tun haben. Es ist eine Blaustern-Sicherheitsangelegenheit. Sogar die Tatsache der Zusammenkunft würde schon Spekulationen auslösen. Ich rate Ihnen daher, die Vorbereitungen zu treffen, um sie dann sofort zu vergessen. Klar?«

»Klar, Dr. Koestler. Muss ich dabei sein?«

»Das müssen Sie, als Alibi für die Benützung Ihrer Abteilung. Zum Glück sind die Produktionsbesprechungen sowieso grundsätzlich vertraulich, und es fällt daher kaum auf, wenn der Konferenzraum abgeschlossen wird. Im Informationssilo muss Ihre Anwesenheitsplakette hängen, damit jeder sieht, dass Sie noch arbeiten. Sonst noch etwas?«

»Was ist mit Erfrischungen? Für Kleinigkeiten gibt es einen Automaten, aber für so viele Leute reicht er nicht.«

»Also tun Sie was. Aber seien Sie überaus vorsichtig.«

Dogood dachte einige Minuten lang darüber nach. Koestler hatte zwar versucht, gerade diese Möglichkeit auszuschalten, doch die Versuchung war bei den tausend Möglichkeiten viel zu groß.

Die Zeit hatte einen großen Mund und würde doch alles verraten.

Er machte eine kleine Runde durch sein Reich. Erst ging er ins Labor, das sich als langes Viereck an den Empfangsraum, sein eigenes Büro und den Zentralbüroraum mit sechs Mitarbeitern und Schreibtischen anschloss. Die Maschine, an der sie gearbeitet hatten, war operationsbereit und mit einer Reihe von Diagrammen und statistischen Zeichnungen bestückt. Sie bezeichneten jenen Punkt, an dem ein Produkt zu kompliziert wurde, als dass es von einem vollautomatisierten Gerät bearbeitet werden konnte. Er meinte dazu, diese Maschine sei die bisher beste Nachbildung.

Gestern noch war er darauf stolz gewesen, doch schließlich hatte er eine Panne konstruiert, die sie für eine Woche beschäftigt halten würde. Jetzt konnten sie auf den Boden stampfen und die Fäuste schütteln, weil sie den ganzen Kram noch einmal durchexerzieren mussten.

Etwas von der Magie der Maschine war verschwunden, wenn auch ein fast zärtlicher Klaps auf das schlanke, angenehm gerundete Gehäuse den Eindruck vermitteln konnte, es sei einem hübschen, exponierten Körperteil eines Renoir-Aktes nachgebildet. Den Klaps versagte er sich und ging zum Konferenzraum weiter, dem größten und elegantesten Raum seiner Abteilung, der mit dreißig Pullman-Sesseln ausgestattet war.

Alles war in Ordnung. Jede Armstützenkonsole zeigte das grüne Wartelicht. Am Podium drückte er sämtliche Knöpfe durch und ließ schließlich die Trennwand zum Labor in die Wand verschwinden.

In diesem Moment ging die Tür zum Hauptbüro auf, und ein kleines, zierliches, hübsches Mädchen in einem schwarzgrauen Kasak und mit kornblumenblauer Schleife im blonden Haar erschien. Es war seine Assistentin Sue Bairstow, die das Heim der Abteilung im Auge behielt. »Ah, Sie sind's, Direktor.«

»Wer hätte es sonst sein sollen?«

»Nim, irgendjemand, und dem hätte ich gesagt, er soll nicht an der Anlage herumpfuschen, weil ich sie durchgeprüft habe.«

»Und das sagen Sie nicht, weil's ich bin. Sind alle da?«

»Klar. Und begierig, Ihren Befehlen zu lauschen, Meister.«

Dogood stieg vom Thron herab und lehnte sich an die Bürotür. Drei standen am Fenster. Trudy Gale und Jim Kent arbeiteten am Zeichenbrett, und das war charakteristisch für sie. Sue Bairstow blieb in seiner Nähe und lauschte ihm voll übertriebener Aufmerksamkeit, um, wie es schien, sofort nach allen Rieh hingen davonzuspritzen, wenn er es verlangte.

»Jim und Trudy, euch beide hätte ich gerne für die Demonstration um zehn. Um siebzehn Uhr kommt eine Besuchergruppe, aber die übernehme ich selbst. Das heißt also, dass wir heute nicht abhauen können, doch ein Problem ist das nicht. Für die nächsten drei Tage ist weiter nichts vorgesehen. Ihr könnt also alles so lassen, wie es ist, und am Nachmittag macht ihr blau.«

»Ich habe noch einige Ablagerückstände«, sagte Sue Bairstow. »Ich bleibe also, falls Sie mich brauchen sollten. Etwa um Ihnen ein parfümiertes Handtuch auf die Stirn zu legen.«

»Ein nettes, großzügiges Angebot und trotzdem: nein. Ihren Eifer können Sie bei anderen Gelegenheiten sicher noch beweisen. Sie hängen besser Ihren Bleistift an den Nagel und gehen wie ein liebes Mädchen nach Hause.«

»Welche Gruppe ist es denn, Chef?« Die Frage klang unschuldig, und Reg Fodens dunkles, schmales Gesicht sah ebenso füchsisch aus wie sonst. Er wollte nur immer alles genau wissen.

»Keine Details bekannt. Ein paar von den Außenstellen wollten mit den Eierköpfen persönlich reden. Macht nichts, wenn die Leute das erfahren, das erspart uns später vielleicht Probleme.«

Dogood hatte das Gefühl, keine besondere Arbeitswut zu verspüren. Es kostete ihn schon Anstrengung, den Sichtschirm einzuschalten, und die Mühe, den sich langsam bewegenden Mitarbeitern einen Schritt voraus zu bleiben, war auch nicht gering.

Er malte Männchen auf seine Schreibunterlage. Die meisten Angelegenheiten konnte das Hauptbüro selbst erledigen, und es nahm volle zwanzig Minuten in Anspruch, bis er zwei Vorgänge mit seinen Initialen abgezeichnet hatte, die mit allen verfügbaren Daten wieder an ihn persönlich zurückgehen sollten, damit sie von ihm selbst bearbeitet werden konnten.

Es wurde aber immer schwieriger, seine introspektiven Überlegungen in Schach zu halten. Er hatte etwas zu tim, und die Gedanken in seinem Kopf liefen in eine ganz andere Richtung; das trieb ihm Schweißtropfen auf die Stirn. Und ein wenig benommen fühlte er sich auch. Ein parfümiertes Handtuch wäre gar keine schlechte Idee.

Übrigens lagen Spuren eines feinen Duftes in der Luft, die schwer zu identifizieren waren, auf keinen Fall aber zu Sue Bairstow gehörten, die sich an Lavendel und Pfirsich hielt. Der Duft hatte etwas mit Sandelholz zu tun und erinnerte ihn an Averil Marlowe.

Seine Hand lag schon am Knopf des Sprechgerätes, um den Informationssilo anzurufen, doch die Vorsicht warnte ihn. Alle Gespräche zwischen den Abteilungen wurden überwacht. Man musste immer damit rechnen, dass man in die Verlegenheit kam, sich das Playback anhören zu müssen. Er drückte lieber auf die Sprechtaste für Sue. »Halten Sie die Festung mal für eine Weile, ich muss ausgehen«, sagte er.

»Erwarten Sie jemanden?«

»Nein. Vielleicht kommt neu: eine Anfrage zur zweiten Konferenz. Da geben Sie nur den üblichen Weg an. Eintritt vom E-Korridor aus.«

»In Ordnung.«

»Kommen Sie mal einen Moment in mein Büro.«

»Mit einem parfümierten Handtuch?«

Dogood kam ihr zur Tür entgegen und umrundete sie schnuppernd. Sie folgte ihm mit dem Kopf und drehte ihn dann schnell zur anderen Seite, als er aus dem toten Winkel hinter ihr herauskam. Sie sah ihm mit ungläubig geöffnetem Mund nach, als er kommentarlos zur Außentür ging.

»Was soll denn das Schnuppem?«, fragte sie, als er die Tür aufmachte. »Dürfen wir hoffen, dass eine zarte Jungfrau an ihrem Schreibtisch nicht mehr sicher ist?«

»War nur Routine. Hier riecht es irgendwie merkwürdig, und ich wusste nicht, ob es Ihr Duft ist. Jetzt sind Sie aber freigesprochen.«

»Die Damen vom Rotary-Club lassen Ihnen das aber nicht durchgehen. Die jagen Sie mit Schimpf und Schande zur Stadt hinaus.«

Dogood musste im Informationssilo auf eine freie Zelle warten. Er war überlaufen von einer Horde Mädchen in schwarzen, enganliegenden Trikots. Er kam sich vor wie eine Nonne beim Hexensabbat, die man für diesen Zweck genau nach Größe, Farbe, Rang und Geschlecht ausgesucht hatte. Sie kicherten nur deshalb nicht hinter vorgehaltenen Fächern über ihn, weil sie in ihren Trikots keine Fächer verstecken konnten.

Selbstverständlich wäre es einfacher gewesen, sich an die Spitze der Schlange zu drängen, statt sich hinten anzustellen, doch das Fairness-Syndrom hielt ihn am Schwanz der Schlange fest. Aber er hätte ja jetzt am Schreibtisch sitzen und arbeiten sollen. Wenn er sich schon auf den Marktplatz stellte, musste er sich wenigstens an gewisse Spielregeln halten.

In der Zelle verlor er keine Zeit; er drückte auf den Knopf nicht aufgezeichnete Anfrage und tippte dann Averil Marlowe, Department O. G. TY/F/414/DC11.

Die vorherige Benutzerin hatte einen schweren Duft nach wilden Rosen hinterlassen, und so musste er eine Zigarette anzünden, um die aufdringlichen Rosen zu dämpfen. Deshalb sah er nicht, wie sich das Band aus dem Informationsschlitz schob, doch als er den ersten Zug an der Zigarette tat, war es da: Details zurückgezogen. Conform.

Eine volle Minute lang schaute er das Band an. Sein geistiges Auge sah sie, wie er sie vom Expressband her in Erinnerung hatte. Sie musste also gewusst haben, dass Conform interessiert war und hatte ihn vielleicht sogar für einen anderen gehalten. Conform war ja überall; vielleicht hatte er sogar in seinem eigenen Büro einen Spitzel sitzen. Etwa Reg Foden. Wenn es eine Conform-Angelegenheit war, konnte jede weitere Anfrage gefährlich werden.

Er tippte: Cybernat, Dept. O. G. 

Diesmal wurde der Bildschirm von Zuckungen befallen und lieferte ihm das Diagramm eines teilweisen Zusammenbruches der Sektion. Sie war aufgeführt als Dritte in der Hierarchie einer Gruppe von zwölf Spezialisten, die mit Programmieren und der Sammlung von Produktenmustern beschäftigt war; dazu gehörte eine ausgezeichnete berufliche Qualifikation, und die Öffentlichkeit hatte viel in sie investiert. Conform wäre natürlich außerordentlich interessiert, falls sie je als unzuverlässig angesehen werden müsste.

Diese Gruppe saß im anderen Turm. Deshalb hatte er sie vorher auch noch nie gesehen. Der Cybernat-Komplex war in Zwillingstürmen untergebracht, die in jedem zehnten Stockwerk durch überfliegbare Lufttunnels miteinander verbunden waren. Jeder Turm war jedoch eine selbständige Einheit mit eigener Kantine und Erholungsanlage. Wenn man nicht gerade direkt miteinander zu tun hatte, konnte man denken, man arbeite für eine ganz andere Firma.

Department O. G. lag im vierundzwanzigsten Stock; das hieß, dass man im eigenen Gebäude bis zum zwanzigsten Stock nach oben fahren, den Lufttunnel benützen und die nächsten vier Stockwerke im anderen Turm zurücklegen konnte.

Er musste herausbekommen, was Ava vorhatte. Ava, da war schon wieder dieser Name. Das war ihr Name, auch wenn sie es ableugnete, und sie wusste es.

Im Lift hatte er wieder einen Anfall von Übelkeit, und plötzlich erschien seine Traumwelt plastisch und sehr solid um ihn herum. Als er zur Halbtür gehen und Ava Mallam aufwecken wollte, trat er im zwanzigsten Stockwerk auf den Fliesenboden der Halle hinaus und musste sich an einer Topfpalme festhalten.

Vielleicht war genau dies auch Averil Marlowe zugestoßen. Conform hatte nicht nur ein ausgeklügeltes Sicherungssystem, sondern auch einen Hospitalflügel. In den höheren Rängen war es nämlich ungeheuer wichtig, dass nicht einmal Zufallsfehler vorkamen.

Die vier letzten Stockwerke legte er zu Fuß über die Treppe zurück. Die körperliche Bewegung brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Als er den Empfangsraum des O.-G.-Sektors erreichte, war er nichts als Duguid, der nicht recht sicher war, ob er nicht doch umkehren und in sein Büro zurückgehen sollte.

Der Empfangsroboter war hier nur eine glatte, rechteckige Konsole mit einem einzigen flexiblen Arm, der mit einem Greifer ausgestattet war. Er schrieb seine Anfrage auf einen Block, riss das Blatt ab und schob es in einen dafür vorgesehenen Schlitz.

Sein eigenes Modell war viel moderner und besser, und er hämmerte schließlich mit beiden Fäusten auf das Museumsstück. »Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte von oben her eine blechern-kehlige Stimme. »Miss Marlowe wird in zwei Minuten hier sein.«

Dogood trug einen Stuhl zur Trennwand, deren untere Hälfte aus undurchsichtigem Glas bestand. Vom Stuhl aus konnte er in ein großes Büro spähen, in dem die Sklaven der O.-G.-Sektion schufteten.

Dann ging eine Tür auf, und Ava kam heraus. Sie schaute auf und bemerkte ihn, als habe sie seinen Kopf genau dort zu sehen erwartet.

Sie wirkte ernst und nachdenklich und keineswegs vergnügt. Ihr langes Haar schwang elastisch, und die Hände ließ sie wie eine Schlafwandlerin hängen.

Als sie an der Ecke verschwand, stieg er vom Stuhl herab und ging ihr entgegen. Ihm erschien es ganz natürlich, dass er ihr die Hand entgegenstreckte, als sei es ein ganz formelles Zusammentreffen.

Irgendeine Gedankenverbindung ließ ihn den galanten Satz heraussprudeln: »Allein diese weiche Hand ist schon eine ganze Frau.«

Sie versuchte die Hand zurückzuziehen, doch das ließ er nicht zu. »Was wollen Sie, Dr. Duguid?«, fragte sie. »Ich nehme nicht an, dass sie mich holen ließen, um mir das zu sagen. Und ich habe Ihnen schon erklärt, dass ich Ihre Ava Mallam nicht kenne.«

»Sagen Sie ihn noch einmal. Nur den Namen. Sagen Sie Ava Mallam und sagen Sie's immer wieder.«

»Ava Mallam. Ava Mallam. Ava Mallam.« Sie betete den Namen herunter wie ein Lama seinen heiligen Spruch. Dann wurde ihre Stimme leiser, bis sie nur noch ein Wispern war. Dazu bewegte sie den Kopf im Rhythmus ihres Herzschlages. Endlich schwieg sie und ließ den Kopf sinken, so dass ihr Haar wie ein schimmernder Wasserfall nach vorne fiel. »Ich kann nicht mehr. Warum zwingen Sie mich, das zu tun? Wer sind Sie überhaupt? Bitte, lassen Sie mich in Ruhe. Ich rufe sonst den Sicherheitsdienst.«

Der Empfangsroboter hatte sonst kein reiches Gefühlsleben, schützte jedoch die Rechte der Sektion. »Ich habe den Direktor informiert, dass es hier eine Störung gibt«, sagte die Blechstimme. »Der Sicherheitsdienst ist unterwegs.«

Und das stimmte. Dogood ließ ein wenig zu spät ihre Hand los und drehte sich zu ihnen tun, als sie ankamen.

Sie waren erstaunt, wie ruhig es hier zuging, denn sie hatten mindestens einen rabiaten Amokläufer mit einer Axt erwartet. Und übrigens war auch das Rangabzeichen ein Hinweis darauf, dass man besser vorsichtig wäre.

Der Anführer der Gruppe in der blaugrauen Uniform der Cybernatinternen Sicherheitskräfte war ein breitbrüstiger Bursche mit einem Piranhagebiss und roten Stoppeln, die aggressiv aus seinen Ohren starrten.

»Wo gibt's Ärger, Direktor?«, fragte er.

»Keinen Ärger. Ihr Empfangsroboter muss etwas missverstanden haben. Vielleicht ist seine Geräuschempfindlichkeit schlecht eingestellt. Wir versuchten nur eine Wiedergabe bestimmter Silben. Es tut mir leid, dass Sie überflüssigerweise gerufen wurden.«

»Das macht nichts. Dafür werden wir ja bezahlt. Stimmt das alles, Miss Marlowe?«

»Sie kennen also Miss Marlowe?«

»'türlich. Sie ist ja schon ein paar Jahre in der Sektion.« Und er holte sich auch gleich die Bestätigung. »Stimmt doch, Miss?«

»Ja. Ist schon recht, Carter. Dr. Duguid geht jetzt sowieso. Der Ruf war überflüssig.«

Dogood hörte sich sagen: »Ich habe mittags hier zu tun. Ich erwarte Sie also um halb eins, wie vereinbart, in der Kantine.«

Er fürchtete schon, damit würde er nicht wegkommen. Carter war intelligent genug, die winzige Pause und eine gewisse Spannung zu bemerken, denn er sah scharf von einem zum anderen.

»Gut«, antwortete sie. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen, Ihre Freundin zu finden. Ich werde nachfragen.«

 

Dogood erschien kurz bei der ersten Konferenz, die glatt ablief. Dann schloss er sich in seinem Büro ein und arbeitete voll wütender Konzentration bis zum Mittag an ein paar laufenden Angelegenheiten. Punkt zwölf Uhr schoss er in die Servicestation hinab und ließ sich die Haare schneiden. Anschließend eilte er in den anderen Turm und war um halb eins in der Kantine. Zwei Runden musste er machen, bis er ihr rotgoldenes Haar entdeckte. Sie saß allein vor einem Tischautomaten mit vier Plätzen. Sie erschrak, als er sie ansprach.

»Sie sind aber sehr pünktlich, Dr. Duguid«, sagte sie.

»Ben. Oder Bob.«

»Bob?«

»Sagt Ihnen der Name etwas? Macht nichts. Im Moment ziehe ich Ben vor. Dachten Sie etwa an etwas anderes?«

»Es gibt etwas, das ich Ihnen erzählen sollte, doch mit Ihrem Problem hat das nichts zu tun. Es ist eine persönliche Angelegenheit. Ich sagte Ihnen ja schon, dass ich im Hospital war. Und wenn ich Ihnen nun noch den Grund sage, werden Sie nicht annehmen, dass ich eine sehr verlässliche Zeugin bin.«

»Versuchen Sie's einmal.«

»Ich weiß nicht, in welcher Geistesverfassung ich war, ehe ich in Behandlung kam. Mit ihrer Therapie hatten sie jedenfalls

Erfolg. Ich nehme an, dass ich in einem kritischen Angstzustand war, der ausgefallene somatische Effekte zur Folge hatte. Sie kennen doch diese Körper-Geist-Sache. Niemand sieht da je richtig durch. Und niemand hat je immer alle Tassen im Schrank. Ich hätte es selbst nicht geglaubt, aber bei mir ist es amtlich festgehalten.«

»Was ungefähr?«

»Es war so, als rutsche mein Zeitschema nach rückwärts. Angegangen ist es damit, dass ich dachte, wir hätten den vorhergehenden Tag, und da versuchte ich mich nun zu überzeugen. Für mich war es auch der vorhergehende Tag, und der richtige Tag war in meinem Kopf da wie ein Vorwissen der Zukunft, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Und diese somatischen Effekte?«

»Das ist ja das, was mir Angst machte. Ein paar Beispiele sind auf der Karte eingetragen. Es scheint, als hätte ich eines Tages meine Nägel ganz kurz geschnitten und sie lindgrün lackiert, so dass sie zu einem neuen Kaftan passten, den ich abends tragen wollte. Das war gegen elf Uhr in der Vormittagspause. Gegen Mitte des Nachmittags saß ich an meinem Schreibtisch, und da hatte ich plötzlich das Gefühl, es sei der falsche Tag. Als ich nach einem Mikroband im Regal griff, bemerkte ich, dass meine Nägel lang und elektrumblau lackiert waren.«

»Halluzination. Eine sehr lebhafte Vorstellungskraft.«

»Aber sie blieben so«, erklärte sie. »Danach ging ich zum Arzt. Nun ja, gegangen wäre ich sowieso, denn die Sektion machte einen Bericht. Man hätte mich ja doch aufgefordert.«

Sie streckte eine schlanke, aber sehr energische Hand aus, als wolle sie etwas beweisen.

Dogood reagierte sehr schnell, nahm sie, fand sie warm, glatt und sehr menschlich. Sein Computergeist lochte allerdings das Gefühl einer kleinen Kränkung, weil sie die Nägel zum neuen Kaftan passend lackiert hatte, in dem sie Gott weiß wen hatte treffen wollen. Ihre Augen waren jedoch sehr ernst und ziemlich besorgt, so dass er dieses Gefühl unterdrückte und sehr sanft blieb.

»Das ist aber außerordentlich störend. Man hat immer gleich das Gefühl, als verliere man den Verstand oder werde zu einem Monster. Am schlimmsten ist es, wenn man glaubt, ganz auf sich allein gestellt zu sein, irgendwo auf einem Ast zu sitzen und von allen Menschen und jeder Verständigungsmöglichkeit mit ihnen abgeschnitten zu sein. Aber ganz so ist es ja nicht. Auf etwas gemäßigte Art ging es mir ähnlich. Ich will nicht behaupten, dass ich es verstünde, aber ich habe das Gefühl, dass ich es eines Tages tun werde und nichts Unheimliches daran ist. Ich denke, wir leiden an der gleichen Krankheit. Das ist eine Angelegenheit des Wissens. Die Erde war trotzdem rund, wenn auch die Flacherdlinge sie für flach hielten.«

Das heiterte sie doch ein wenig auf. »Es klingt ja ganz so, als seien Sie die rechte Hand von Ursache und Wirkung.«

Wie eine Wahrsagerin hielt er noch immer ihre Hand, und beide wurden sich dessen gleichzeitig bewusst. Sie zog sie zurück, und er fühlte, wie eine einzigartige Identität ihn wie ein Gewand einhüllte. Etwas verspätet fiel ihm dann ein, dass Deborah Cain in einem anderen Teil des Kantinenwaldes auf ihn wartete.

Er schaute auf sein Handgelenk - die Uhr war nicht da. »Wie spät ist es?«, fragte er sie.

Das war eigentlich eine einfache Frage, die keine Panik hätte auslösen dürfen; aber zwei ungebetene Gäste hatten sich zum Picknick gesellt.

Beide waren schwarz gekleidet; der eine war ein dünner, dunkler Mann mit gegürteter Uniformjacke und dem CS-Monogramm auf den Epauletten, seine Gefährtin war blass und blond, trug eine Art kurzen Kaftans und die gleichen Insignien auf der linken Brust, weshalb sie zu genauerer Inspektion einluden.

An der Zentralkonsole wählten sie ihre Mahlzeit aus; nichts Besonderes, weder dürftig, noch raffiniert. Um ihren Adleraugen etwas Gutes zu tun, bestellten sie je ein Glas Karottensaft. Dogood beugte sich ein wenig über den Tisch und redete weiter, als habe er nur aus Höflichkeit eine Pause eingelegt. Das war mit den Fremden am Tisch nicht ganz einfach. Es war auch danach, doch etwas Besseres konnte er nicht aus dem Ärmel schütteln.

»Wie ich schon sagte, gab es ein ziemliches Durcheinander im Terminkalender, und seine Sekretärin sagte zu ihm: Ich fürchte, ich habe für Sie bei einer Besprechung von Produktionsberatern und für ein Essen der Damen vom Rotary Club gleichzeitig zugesagt. Und darauf antwortete der Abteilungsleiter: - Dogood grinste von einem Ohr zum anderen -: Nun, dann lieber die Damen, weil sie für meine Füße so ausgezeichnet sind.«

Die Reaktion war gemischt. Averil gelang ein etwas schiefes Lächeln, womit sie den Versuch belohnte. Das CS-Mädchen riss ungläubige blassblaue Augen auf, etwa so, als kandidiere sie um die Präsidentschaft beim Damen-Rotary und das hier sei eine kalkulierte Verunglimpfung. Der Seniorpartner nahm ein winziges Schlückchen Karottensaft, war davon deutlich erfrischt und fragte ohne jede Vorrede: »Sie sind doch Miss Marlowe von Cybernat, was?«

Ihre Augen suchten Hilfe bei Dogood, und er fühlte so sehr mit ihr, als habe sich ihr Adrenalin in seinen eigenen Kreislauf geschmuggelt. Ihre instinktive Bitte an ihn berührte ihn tief. Für ihn gab es nicht den geringsten Zweifel daran, dass alles, was ihr zustoßen könnte, auch ihn beträfe.

»Ja, das stimmt«, antwortete sie.

»Lasmech, Controllern: Lasmech, C. S. Meine Assistentin Gerda Sibley.«

»Ja?«

»Nur ein Wort, Miss Marlowe.«

Der Ton schloss Dogood automatisch von diesem Dialog aus, und es schien erwartet zu werden, dass er sich unauffällig zurückzog.

Averils braune Augen suchten jedoch wieder Hilfe.

»Duguid«, sagte er. »Auch von Cybernat. Machen Sie nur weiter. Mich könnten Sie übersehen. Miss Marlowe und ich sind uralte Freunde. Ich bereite eben eine Versetzung vor, so dass sie künftig in meiner Abteilung arbeiten wird. Sie ist nämlich eine der besten Statistikerinnen in unserem Geschäft, und ich brauche sie ganz dringend.«

Damit drückte er aus, dass Cybernat seine Leute beschützte und Lasmech sich streng an den Buchstaben zu halten habe.

Gerda Sibley hatte eine freche, schrille Keifstimme. »Das muss aber eine ganz neue Entwicklung sein, denn in ihrer Akte steht nicht ein Wort davon, dass sie aus dieser Sektion versetzt werden soll.«

Also hatten sie sich vor diesem Besuch gut informiert.

Averil zögerte, und Dogood hoffte, sie möge keine zu lange Pause machen. »Ja, es ist tatsächlich eine ganz neue Entwicklung«, antwortete sie. »Erst jetzt habe ich ihr zugestimmt. Das Firmenkomitee muss erst noch seine Einwilligung geben. Reden Sie nur weiter. Was hier gesprochen wird, sollte Dr. Duguid sowieso hören.«

»Sind Sie sich dessen bewusst, dass es etwas geben könnte, was CS interessieren könnte?« Lasmech sprach eintönig, so dass es ebenso eine Feststellung wie eine Frage sein konnte. Er begann zu essen und kaute bedächtig auf einem Happen Nusskotelett mit Gemüseersatz herum.

»Nein«, sagte sie.

»Nun, Sie könnten Recht haben. Aber wir sorgen uns um Ihre Gesundheit. Ausgefallene Symptome. Halluzinationen können für eine Gemeinschaft gefährlich werden. Wir müssen uns davon überzeugen, dass die Ihnen angediehene Behandlung auch gewirkt hat. Wenn Sie sich jedoch versetzen lassen, werden Sie sowieso einer ärztlichen Prüfung unterzogen. Die müsste dann jeden Zweifel ausschließen. Sie werden es sicher zu schätzen wissen, dass Conform nur die Sicherheit und die Wohlfahrt der großen Masse im Auge hat.«

»Sie sind ja ungemein besorgt.«

Lasmech legte seine Gabel weg. Kalte, graue Augen schienen sie hypnotisieren zu wollen. »So sehr besorgt, dass uns nichts über Sie verborgen bleiben kann.«

Der Reptilienblick huschte genießerisch über ihre Figur, und Dogood sah im gleichen Moment die Reaktion: eine Gänsehaut.

»Wir sollten gehen«, sagte er. »Sie könnten sich gerade noch in der Sektion umsehen.« Automatisch schaute er auf sein Handgelenk, fand aber keine Uhr.

Lasmech zog ein durchsichtiges Plastiksäckchen aus seiner Brusttasche und legte es mit einer betonten Geste auf den Tisch. »Ist es das, was Sie suchen, Direktor?«

Dogood nahm es. Das Durcheinander da drinnen waren die Überreste einer Uhr.

»Die meine?«, fragte er erstaunt.

»Ich glaube. Ich hatte schon die Absicht, Sie deshalb zu besuchen. Sie müssen sich gegen solche Geistesabwesenheiten schützen. Ein Mann Ihres Ranges kann ebenso viel Gutes wie Schlechtes bewirken. Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass es nicht das Letztere wird.«

 

 

 

 

 

3.

 

 

 

Dogood saß allein in seinem Büro, versuchte die Sache durchzudenken, kam jedoch nicht über die Tatsache hinaus, dass er sich wohler fühlen müsste, wenn er sie in seiner eigenen Abteilung hätte.

Sie war dankbar gewesen, einen Verbündeten gegen Conform zu haben, doch sonst hatte das Zusammentreffen nicht viel gebracht. Für einen brandneuen menschlichen Kontakt hatte sie ihn eigentlich recht geschickt auf der Gleichgültigkeitsskala hin und her geschoben.

Über Deborah Cain und sein Verhältnis zu ihr hatte er dabei nicht nachgedacht. Das tat er jetzt. Tatsache war, dass es zwischen ihm und Averil eine so feste Bindung gab, dass sie sich jeder Analyse entzog. Sie gehörte irgendwie zur Einrichtung seines Geistes. Etwas aus dem Unterbewusstsein hatte sich an den Rand durchgekämpft und sich einen Namen gegeben. Seltsam, ein sexuelles Element war da kaum vorhanden, obwohl sie ganz eindeutig eine sehr beachtens- und begehrenswerte Frau war. Er war eher bereit, die Beziehung zu ihr als eine intime familiäre Bindung zu bezeichnen.

Deborah wollte die Sache jedoch nicht so ansehen. -Sie stellte ihn vor die Wahl, und an deren Ausgang gab es keinen Zweifel. Nein, einfach war diese Geschichte nicht. Sie hatten einen Paarungskontrakt beantragt, und wenn man zu einem so späten Zeitpunkt wieder ausstieg, so deutete das auf eine gestörte Verhaltensweise hin. Das war schon wieder ein Schatten auf seinem Persönlichkeitsbild.

Zum Glück gab es einige Eintragungen darüber, dass er in letzter Zeit wiederholt zusätzliche Mitarbeiter beantragt hatte. Die Genehmigung lag auch praktisch schon vor und bedurfte nur noch einer kleinen Nachhilfe Koestlers.

Um fünfzehn Uhr ging er durch das Labor in den Konferenzraum. Die Erinnerung an Koestlers Nachdruck war von den Ereignissen überlagert worden. Jetzt schien gar nichts Bemerkenswertes mehr daran zu sein; es war nur eine Routineangelegenheit, die man hinter sich bringen musste. Er hatte seine Rolle als Ben Duguid. Alles andere war ein merkwürdiges Fantasiegebilde, das allmählich verblasste und seinen Platz als Kuriosum fand, mit dem man sich einrichten konnte.

Ava ausgenommen. Ihr Erscheinen hatte der bekannten Traumfolge einen Stützpunkt in der realen Welt gegeben. Und was dazu? Es müsste interessant sein, ihre Hospitalakte einsehen zu können. Sie hatten sicher genaue Aufzeichnungen über das, was in ihrem Kopf vorging oder vorgegangen war.

Nachdem sich diese Idee geformt hatte, gewann sie immer mehr an Bedeutung. Vielleicht war die Antwort auf diese Frage im Ergebnis dieser Sitzungen zu finden, in den Videobändern mentaler Bilder, die zu jeder umfassenden psychologischen Untersuchung gehörten. Auch sein eigenes Videoband musste vorhanden sein. Wenn Lasmech diesem Gedankengang folgen wollte, brauchte er nur die beiden Bänder miteinander zu vergleichen. Angenommen, ihre Traumfolgen glichen den seinen. Angenommen... ach, zum Teufel, sie würden ihnen gleichen. Sie konnte sich, falls man an ihrem Geist mit einem wirksamen Mittel herumgepfuscht hatte, daran vielleicht nicht erinnern, aber da waren sie bestimmt. Er würde also ebenso auf ihren Bändern erscheinen wie sie auf den seinen.

Lasmech konnte dann herausbringen, wie lange sie einander schon kannten. Er würde Fragen stellen, sehr viele Fragen. Bladon erinnerte sich zum Beispiel an die Unterhaltung auf dem Expressband. Also musste er diese Aufzeichnungen nachsehen. Nun, sehr schwierig konnte das nicht werden, wenn er Averil in seine Abteilung holen wollte.

Von seinem Büro aus rief er das Hospital an. Friedman, der Direktor des psychologischen Flügels, stand im gleichen Alter wie er. Er war kaum als Freund zu bezeichnen, doch sie nannten einander beim Vornamen.

»Barney, hier spricht Ben Duguid. Wie laufen die Dinge in deiner verdrehten Welt?«

Die antwortende Stimme erklärte, Gott sei immer noch im Himmel und die Schnecke im Salat; sie klang ein wenig salbungsvoll, als komme sie gerade aus einer psychologischen Sitzung. Dogood entdeckte, dass er den Mann eigentlich nie gemocht hatte, und er musste sich ziemlich anstrengen, um herzhafte Freundlichkeit zu heucheln. Das Gesicht auf dem Schirm war schwer von zu fettem Unterhautgewebe, und Hängebacken, Mehrfachkinn und Tränensäcke waren über das Anfangsstadium hinaus. Sonst sah er aber mit seinen dichten dunklen Brauen recht gut aus, wenn sein blauschwarzer Bartwuchs ihn auch immer etwas unrasiert wirken ließ. Die Lippen waren voll, feucht und sehr rot und stachen daher von der allgemeinen Blässe der Haut ziemlich ab.

»Hör mal zu, ich habe ein Problem.«

»Jeder hat ein Problem.«

»Ich habe vor und alle Aussicht, meine Abteilung zu vergrößern, und nun brauche ich vor allem ein Mädchen vom O. G., das die richtige statistische Erfahrung hat. Ich glaube aber, sie

ist bei dir in Behandlung. Kann ich mir mal bei dir die Unterlagen ansehen, damit ich mir ein Bild machen kann? Ava heißt sie. Averil Marlowe. Kannst du dich an den Fall erinnern?«

Kleine, gepflegte Hände mit glatten, spitz zulaufenden Fingern zeichneten die Abwesende figürlich in der Luft nach. »Sie hat in jeder Beziehung die richtigen Statistiken. Aber du weißt ja, die Statistik ist die Hure der Geschichte und kann lügen wie gedruckt. Was sie jedoch enthüllt, ist wichtig. Ha, ha!«

Die höfliche Lüge ist das Schmieröl der Zivilisation. »Sehr gut gesagt, sehr wahr«, antwortete Dogood. »Du hast immer noch die alte Schlagfertigkeit, den alten Witz. Und was ist jetzt mit den Unterlagen?«

»Tut mir fruchtbar schrecklich leid. Ich täte dir diesen Gefallen sehr gern, aber da kann ich nichts machen. Das müsstest du doch wissen, Ben. Vertraulich. Ich kann dir eine kodierte Eignungsbeurteilung geben, und die würde Hinweise enthalten auf instabile Elemente und gesundheitliche Defekte. Mehr geht nicht. Alles andere unterliegt einer sehr begrenzten Auskunftspflicht. Die ist ein Schutz für uns alle. Nur ein im Dienst ergrauter und hart gewordener Psychiater kann in der Schlacke die nackte Seele erkennen. Ha, ha!«

»Na, das ist doch auch schon etwas. Wann lässt du da drüben deine Jalousien herab?«

»Nicht vor neun Uhr abends. Jede Menge Nachtarbeit. Es heißt ja schon im Sprichwort: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Und wenn es dir heute gefällt, dann tu's eben morgen wieder. Warum willst du das wissen?«

»Könnte ich morgen den Bericht bekommen?«

»Na, na! Das ist doch eine ganze Menge Material und ein dicker Auftrag. Ich muss das Zeug erst aus der Zentralregistratur holen lassen. Vielleicht gegen Mittag. Und nur für dich, Ben.«

»Vielen Dank. Lass es mich wissen, wenn ich dir einen Gefallen tun kann.«

»Im Moment nicht. Schreib's auf die kosmische Schiefertafel.«

Im Hintergrund piepte etwas. »Da hörst du's. Die Pflicht gongt. Mein nächster Klient. Vielmehr Klientin. Sehr interessanter Fall. Schlehenäugiger kleiner Kobold, Geist wie ein Kopfkissenbuch. Das weiß sie nicht einmal, und das ist schade. Sie ist hier wegen neurotischen Benehmens auf Rolltreppen. Wenn ich die Seiten umdrehe, finde ich vielleicht einen Lustmolch wie dich auf der Rolltreppe. Geht auf ein Fingerschnippen in tiefe

Hypnose, so leicht ist sie zu beeinflussen. Ich glaube, ich lasse mir von ihr eine Wollmütze mit Ohrenklappen stricken. Na, dann bis morgen.«

Der Psychiater verblasste allmählich, so dass sein Mund zuletzt verschwand. Kräftige, schneeweiße Zähne zerbissen eine simulierte Ekstase. Dann wurde der Schirm dunkel.

 

Der erste Ankömmling im Konferenzraum war ein sehr aufrechter, sehr eckiger Mann mit grauem Haar und einem dünnlippigen, blutleeren Mund. Dogood hörte die Schritte, denn er hatte seine Bürotür absichtlich nicht geschlossen. Er ging also, um die Honneurs zu machen, und fand, dass hier mit leichter Konversation nichts zu erreichen war.

»Duguid«, sagte er. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie in meiner Sektion willkommen heißen zu können. Ich weiß nichts über diese Konferenz, außer dass sie nach Büroschluss stattfindet. Sie werden ja jedenfalls wissen, weshalb Sie hier sind.«

»Ja, das ist so.«

»Den Waschraum finden Sie, wenn Sie durch das Labor gehen.«

»Den brauche ich nicht.«

»Ich nehme an, dass die anderen Teilnehmer auch bald kommen. Sie haben jedenfalls noch eine halbe Stunde Zeit.«

»Ich beabsichtige die Zeit zur Durchsicht des Sitzungsprogramms zu benützen.«

»Dann lasse ich Sie allein.«

»Genau das wäre mir angenehm.«

Dogood spielte mit dem Gedanken, ihn zu fragen, ob er vielleicht gern etwas Gebäck hätte. Aber da blinkte ein Licht am Rednerpult, das anzeigte, er werde am Videogerät in seinem Büro verlangt. Das war ein guter Grund, sich mit Anstand zurückzuziehen. »Sie entschuldigen doch sicher. Ich werde gebraucht.«

Es war Barney Friedman. Nach seiner Sitzung mit dem Kopfkissenbuch war sein Gesicht blaurot wie eine reife Pflaume. Dogood ahnte, was nun kommen würde.

»Ah, da bist du ja, Ben. Sei mal schön ehrlich zum alten Barney. Welches Interesse hast du an dieser Averil?«

»Wie meinst du das? Ich dachte, das hätte ich dir doch erklärt.«

»Wie gut kennst du sie?«

»Nicht sehr gut. Sie ist bei Cybernat, seit einigen Jahren sogar. Ein so großartig aussehendes Mädchen muss dir doch mal in die Augen stechen. Ob du's nun glaubst oder nicht - sie ist jedenfalls eine Mathematikerin von höchsten Graden.«

»Das steht in ihren Unterlagen. Aber du hältst etwas zurück.«

»Was denn? Und warum?«

»Okay, wenn du's nicht sagen willst. Aber sie kennt dich recht gut. Du hast ihr Angst eingejagt, alter Junge. Du bist fest in ihr Fantasieleben verwoben.«

»Wie denn?«

»Mehr verrate ich nicht. Vielleicht war das schon zu viel. Aber ich würde mir die Sache noch mal überlegen. Ein täglicher Kontakt kann da nämlich gefährlich werden.«

»Pass mal auf, ich kenne mich in deiner Halbwelt nicht aus, aber wäre es nicht vielleicht doch eine gute Therapie, wenn sie sich darüber klar wird, dass sie mich nur im Alltag zu sehen braucht - das heißt, falls das, was du sagst, auch wirklich stimmt.«

»Du hast die Möglichkeit sehr schnell begriffen.«

»Barney, wenn es dir unangenehm ist, dann vergiss es. Ich finde auch jemand anderen. Es gibt allerdings nicht viele mit der richtigen Qualifikation.«

»Zugegeben. Du bist ein wichtiger Faktor in ihrem Leben.«

»Aus der Unterhaltung ging das aber nicht hervor. War ganz und absolut geschäftlich. Schau mal, ich hab' eine Menge Extraarbeit. Schick mir doch den Bericht herüber, dann denke ich darüber nach.«

»Da tätest du gut daran. Wenn dir schon nach einer zufälligen Begegnung so viel an ihr liegt, dann kannst du dir ja ausmalen, was du mit ihr in deinem Büro anstellst. Pass auf, mein Junge, du bist nämlich ein psychologischer Atomzertrümmerer. Wenn ich dich auf meine Couch kriege, muss ich dich in Blei packen.«

Inzwischen hatten sich im Konferenzraum etwa ein Dutzend Männer versammelt. Obwohl sie sich in ihrer körperlichen Erscheinung recht deutlich voneinander unterschieden, so hatten sie im Übrigen doch eine Art Familienähnlichkeit, die sich nicht recht definieren ließ. Ganz gewiss waren sie keine Ingenieure, sondern eine Art sehr hoher Verwaltungsbeamter.

Sie schienen einander schon zu kennen und ließen sich an ihren Tischen nieder; jeder von ihnen schien bereit zu sein, mit dem letzten schwachen Atemzug auf der Einhaltung der Tagesordnung zu bestehen. Für den Regisseur dieser Szene schienen sie kaum Interesse aufzubringen, und nach zwei Versuchen einer wenigstens visuellen Kontaktaufnahme gab er auf und zog sich zu seinem Modell in das Labor zurück.

Von hier aus sah er, wie Koestler und der Vorsitzende gemeinsam ankamen. Er hatte Howard G. Muller, den Befehlshaber der Cybernat, nur einmal gesehen, als er sich um den Posten eines Direktors der Operativen Forschung bewarb. Der Mann mit dem silbermähnigen massiven Schädel, dem monolithischen Torso und der vollen, etwas nasalen Stimme hatte in ihm den Eindruck erweckt, er sei zwei Meter hoch. Sah man ihn frei im Raum stehen, dann war er sogar von etwas unterdurchschnittlicher Größe. In der Form glich er fast einem Kubus; das wurde noch durch einen stahlgrauen, mit Metallfäden versetzten und reich in Falten gelegten Anzug unterstrichen.

Dogood bemühte sich auch hier um Kontaktaufnahme, doch Koestler kam ihm zuvor.

»Ah, Dr. Duguid. Ich sehe schon, die meisten Delegierten sind da. Wir werden genau um siebzehn Uhr, wie vorgesehen, beginnen. Sie werden sich erinnern, Herr Vorsitzender, dass Dr. Duguid an der Konferenz teilnehmen sollte.«

»Mein hat ihm doch hoffentlich den Sicherheitsaspekt dargelegt?«

»Natürlich. Und ich bin überzeugt, dass wir uns auf ihn verlassen können.«

»Es wäre anders sehr nachteilig für ihn.«

Dieser Dialog, der in seiner Gegenwart geführt wurde, reizte Dogood. »Mir ist es egal, Herr Vorsitzender, ob ich gehe oder bleibe«, sagte er. »Fast die gesamte Forschung, die hier geleistet wird, ist als geheim eingestuft. Sie wissen, dass dieser Bürokomplex hier der einzige auf dem ganzen Cybernat-Gelände ist, in dem nach den Vorschriften zur Industriespionageabwehr streng gesiebt wird. Ich glaube, ich weiß genau, was Sicherheitsvorschriften sind.«

Müller schien das nicht zu hören. Er drehte sich auf dem Absatz um. und marschierte davon, um die letzten Ankömmlinge zu begrüßen.

Eine angeregte Unterhaltung hatte es sowieso nicht gegeben, und die paar müden Ansätze dazu starben nun auch noch. Der führende Mann dieser letzten Gruppe war groß und mager und hatte einen unglaublich runden Rübenkopf. Seine Augen waren von einem verwaschenen Blassblau und saßen so flach im Gesicht, als seien sie angeklebt. Er trug einen Overall in Olivgrün mit einem schwarzen Ledergürtel und hatte über dem Arm eine Fliegerkombination hängen, deren großer Plexiglashelm dramatisch im linken Ellbogen ruhte.

Mit diesem Anzug wäre er tadellos getarnt gewesen, ohne ihn musste ihn jeder erkennen. Dogoods Interesse, das bisher recht vage gewesen war, nahm um etliche Punkte zu. Dieser Mann war nämlich der Minister für Technologie der Nördlichen Hemisphäre persönlich, Andrew Sinclair McMahon, der vom Olymp herabgestiegen war, um unter den Sterblichen zu weilen.

Trotzdem wusste Dogood noch lange nicht, worum es bei dieser Sitzung ging. Was die Delegierten an gesellschaftlichen Redensarten gespart hatten, das verwendeten sie jetzt zu langen Darlegungen von Tatsachen, die Dogood, der sehr schnell begriff, an die Decke gehen ließen.

Wenn man die politischen Schnörkel wegließ, dann waren sie dabei, ein sehr wertvolles Paket der Regierung der Südlichen Hemisphäre unter den Nasen, genauer gesagt, unter den Füßen wegzuziehen.

Es ging um Infrangom, ein Halbmetall, das bisher in winzigsten Mengen aus schwer zugänglichen extremen Tiefen der Erdkruste gefördert worden war. Vor Jahren war es als das Wunder begrüßt worden, das die ganze Leichtbauweise revolutionieren musste, und das selbst auf Gebieten, wo die Technologie seit unendlich langer Zeit auf dieser Linie arbeitete. Hatte man das Material erst einmal in Form gebracht, so war es durch Hitze, Drücke, Chemikalien oder andere Einflüsse, die sich der menschliche Geist ausdenken konnte, nicht zu zerstören. Die eine Hürde, die mitten im Weg zum Fortschritt stand, war die einfache Tatsache, dass es viel zu wenig davon gab. Was man hatte, reichte nicht einmal für einen ordentlichen Briefbeschwerer.

Ziemlich widerstrebend hatte man die Forschung aufgegeben. Utopia musste eben noch warten.

Und jetzt, so schien es wenigstens, war eine sehr nützliche, wenn auch noch immer begrenzte Menge davon entdeckt worden. Da der Zufall oft schlechte Streiche spielt, musste das Material ausgerechnet in der Südlichen Hemisphäre gefunden werden.

Man bekam ein Stückchen Film darüber zu sehen, und da gab es Arbeit für ihn. Er dämpfte das Licht und stellte den Projektor so scharf ein, dass das Bild tadellos auf der Schiebewand zum Labor erschien. Zu seiner Überraschung war ihm die Szene vertraut - Teil des Cybernat-Reiches, für das sein geübtes Gedächtnis auch sofort den Namen fand: Thomson's Falb.

Es war ein in den Bergen eingebetteter Industriekomplex mit hohen, schneebedeckten Gipfeln im Hintergrund. Es gab ein paar Hangar-ähnliche Gebäude und da und dort einen Schimmer blaugrünen Wassers, da die besorgte Firmenleitung Seen angelegt hatte, um die aus der gewohnten Umgebung Verbannten bei guter Laune zu halten. Viele gab es davon sowieso nicht, denn fast alles war automatisiert. Bei näherem Hinsehen wirkte der Komplex wie eine kleine Stadt, die in Schlaf-, Erholungs- und Geschäftsviertel unterteilt war.

Aber das Geschäft wickelte sich hier deutlich im Untergrund ab. Die beiden beherrschenden Bauten waren rübenköpfige Türme mit etlichen Ablegern, die großen Ameisenhaufen glichen. Umgeben war die ganze Anlage von einem Verteidigungssystem in der Art modern zurechtgemachter neusteinzeitlicher Erdwälle.

Dogood wusste auch ohne die mit McMahons heller Stimme vorgetragene Erklärung, wo dieser Komplex lag - in unmittelbarer Nähe des äquatorialen Niemandslandes, das als neutrale Pufferzone zwischen Norden und Süden diente. Man hätte ganz sicher auch ohne diese Anlage die Verträge eingehalten. Der glitzernde Hintergrund war der Mount Kenya. Hier, im Lande Punt, am Südrand der Nördlichen Hemisphäre, hatte Cybernat etliche Minenkonzessionen. Region Zwanzig. Verwaltungssitz: Neu Karthago.

McMahon flüsterte nur noch, als wolle er verhindern, dass die Schallwellen seiner Worte die akustischen Fliesen erreichten, denn irgendein Forscher hätte sie ja etwa in seiner Abwesenheit herausschütteln können. »Sie sehen also, es ist ziemlich eindeutig, dass die Ader unter dem Äquator durchgeht, so dass sie fast völlig unter der neutralen Zone liegt, die wenigstens theoretisch zum Territorium der Südlichen Hemisphäre gehört. Schürf rechte wurden nicht überschrieben, als die Pufferzone errichtet wurde. Aber es müssen beim Internationalen Gerichtshof Anträge für Minenprojekte gestellt werden. Das wurde getan, als Cybernat eigene Pläne verfolgte. Sorgfältige Schätzungen kommen auf zwei Kilometer in abbauwürdiger Breite. Der Wert des Infrangoms, das voraussichtlich gefördert werden kann, lässt sich nicht annähernd abschätzen. Es wäre jedoch die Basis für unser gesamtes Raumprogramm der nächsten hundert Jahre.«

Er legte eine Pause ein, damit diese Mitteilung ordentlich in die Gehirne der Zuhörer einsickern konnte, und ein griesgrämig aussehender Delegierter der rechten Ranke benützte sie zu einer Frage.

»Herr Minister, das wird eine Frage der Logistik. Wir sprechen hier nicht von den kleinen Paketen, wie sie normalerweise bei vielen Cybernat-Unternehmen üblich sind. Wie ich höre, werden hier Industriediamanten gefördert. Man kann also nicht plötzlich damit anfangen, Roherze herauszuholen. Die von der Südlichen Hemisphäre sind ja auch keine Narren. Sie haben jedes Recht, beim Internationalen Gerichtshof eine Inspektion zu fordern. Wie können wir die dann umgehen?«

McMahon bewies, dass er auch Schwierigkeiten mit Leichtigkeit aufspürte. »Das ist so, Senator. Wir können Cybernat natürlich nicht veranlassen, eine eigene Anlage für dieses Erz zu schaffen, aus genau den gleichen Gründen. Nein. Wir müssen mit äußerster Diskretion Vorgehen. Mit al-ler-äus-ser-ster. Aber ich gehe davon aus, dass wir einen Weg finden wollen und werden. Die Vorräte eines strategisch lebensnotwendigen Materials darf man nicht in andere Hände fallen lassen. Es ist ganz einfach unsere Pflicht, diesen Vorteil für unser Volk zu sichern.«

Hierzu war die Zustimmung einmütig, wenn das Echo auch nur aus ein paar Kopfnickern bestand; wenigstens sprang keiner auf und schrie entrüstet »nein«!

»Wir werden also«, fuhr McMahon fort, »das Erz herausholen und die Tunnels wieder auffüllen. Dazu werden wir den Aushub früherer Minenoperationen verwenden. Das neue Erz wird dann offen und für jeden sichtbar gelagert. Man wird es so machen, dass die Haufen, die Sie hier im Bild sehen, nach und nach durch anderes Material ersetzt werden, ohne dass dies nach außen hin zu bemerken sein wird. Aber dann hat sich die Lage geändert. Eine gesetzlich vorgeschriebene Eingabe an die Region Zwanzig kann gemacht werden, um die Erlaubnis zu erhalten, das Erz zur Weiterverarbeitung abzutransportieren.«

Dazu gab es eine ganze Reihe von Fragen und Antworten, die Dogood widerstrebende Bewunderung abforderten. Ein patriotischer Ton hatte sich inzwischen eingeschlichen, und es gab viele Phrasen wie »grundsätzlich«, »zum Allgemeinen Wohl« und dergleichen. Man war dabei, einem nichtsahnenden Besitzer einen Wert von vielen Milliarden zu entziehen und klarzustellen, dass das moralische Recht auf der eigenen Seite lag.

Dann bemerkte Dogood plötzlich, dass es auf der Labor-Uhr achtzehn Uhr war, und nun kam McMahon zum Schluss seiner Rede. Als dann plötzlich sein eigener Name auftauchte, war er hellwach und außerordentlich interessiert.

»Das wäre also erledigt. Ich brauche kaum darauf hinzuweisen, wie wichtig äußerste Vorsicht ist. Jeder Delegierte hier wurde deshalb zu dieser Sitzung gebeten, weil die von ihm geleitete Abteilung an irgendeinem Punkt in diesem Projekt steckt. Nur Sie selbst kennen als einziger aus Ihrer Abteilung die Tatsachen und die Wichtigkeit der anstehenden Entscheidungen. Die Rolle von Cybernat ist klar, und der Vorsitzende steht mit seinem ganzen Herzen hinter dem Projekt. Dr. Duguid ist ein junger Abteilungsleiter der Cybernat-Organisation, aber er wird die momentan dort vorhandene Maschinerie neu zu planen haben, um sie den Gegebenheiten anzupassen. Man kennt sein Improvisationstalent. Die Probleme werden es ungemein strapazieren. Ein großer Teil der Arbeit kann in seinem Labor ausgeführt werden; dazu braucht er zusätzliche Mitarbeiter, wenn auch der Gegenstand dieser Arbeit nur ihm selbst bekannt sein wird. Jeder hier Anwesende, ich eingeschlossen, steckt nun bis über die Ohren in dieser Sache und untersteht also von jetzt an den Sicherheitsvorschriften vom Blauen Stern. Für die meisten von uns ist das nichts Neues. Nötige Instruktionen gehen Ihnen durch Conform-Agenten zu, die selbst nichts vom Inhalt der überbrachten Mitteilungen wissen. Sie sind an eine solche Arbeit gewöhnt, da sie es beim Regierungspersonal nicht anders machen. Der Kontakt mit Cybernat wird direkt mit dem Vorsitzenden oder mit mir aufgenommen.«

Anschließend löste sich die Versammlung rasch auf. Die Hälfte der Delegierten war schon gegangen, ehe Dogood die Möglichkeit hatte, die Gastfreundschaft des Hauses anzubieten. Also gab er auf und verschwand in sein Büro.

Koestler blieb kurz an der Tür stehen. »Dr. Duguid, Sie sind ein Glückspilz«, sagte er. »Sie sehen, wie wichtig dieses Unternehmen ist, und gehören dazu. Der Gewinn daraus wird überwältigend werden. Jawohl. Allerdings sind auch die Strafen für Schwatzhaftigkeit überwältigend. Ich nehme an, Sie haben mich verstanden.«

»Ich habe Sie verstanden. Wenn Sie alle hier fertig sind, werde ich den Laden schließen und die Katze hinauslassen.«

»Nehmen Sie die Sache nicht zu leicht. Andererseits dürfen Sie natürlich auch nicht herumlaufen und demonstrieren, welch schwere Last auf Ihren Schultern ruht. Das würde man am ehesten bemerken. Es gibt ein altes Sprichwort, nach dem das größte Geheimnis am schnellsten die Runde macht.« Koestler versetzte seinem Gegenüber einen herzhaften Stoß vor die Brust, um seine Komplizenschaft zu demonstrieren. »Lassen Sie die Katze hinaus, aber nicht aus dem Sack, verstanden?«

 

Averil Marlowe war allein in ihrem Zimmer, duschte und verschwendete rücksichtslos einen halben Credit für eine Doppelration extrafeinen Badeschaums. Der warme, weiche, beruhigende, aprikosenfarbene Brei hüllte sie in Träume vom Unbekannten. Spannungen verschwanden, tropften von den süßen Hügeln ihrer Brüste, rollten langsam mit dem Schaum von den Abhängen der Schultern und versenkten die Last ihres Kummers im knöcheltiefen Sumpf des Wohlbehagens.

Dann sprühten die nadelfeinen Strahlen der Duschdüse alle Beschwernisse weg. Als dann noch der Trockner die letzte Feuchtigkeit aufgesaugt hatte, war sie voll Optimismus und Lebensfreude wie ein Hühnchen im Ei kurz vor dem Schlüpfen. Egal, was Conform auch denken mochte, ihre Vergangenheit war tot. Alles war in Ordnung.

Diese Stimmung hielt die drei Schritte vom Duschraum zur Schlafzimmertür an. Dort sah sie sich, wie es schon unzählige Male geschehen war, als schlanke Nackte im Spiegel ihres eingebauten Kleiderschrankes.

Der Zweifel traf sie wie ein Gummistöpsel, den man an ihre Stirn geschossen hatte. Wer bin ich? Was tue ich hier an diesem Ort, in dieser Zeit, warum schaue ich mit diesem Augenpaar?

Das war eine grundsätzliche Überlegung, die sie mitten im Schritt einhalten ließ. Nun sah sie aus wie Venus, die Schaumgeborene, die an einer windverblasenen Küste aus einer Muschelschale steigt und nicht recht weiß, ob sie mit der Gastfreundschaft der Eingeborenen rechnen kann.

Vertraut und doch fremd. Ihr Haar war noch feucht und lag wie eine kupferfarbene enge Kappe um ihren Kopf. Die Augen blickten nachdenklich. Sie konnte, wenn sie sie ein wenig zusammenkniff, zwei blasse Miniaturen ihres Spiegelbildes erkennen, und diese wiederum schauten ihr aus immer kleiner werdenden unzähligen Pupillen entgegen, eine unendliche Reihe, die sich allmählich in Mikrobilder verlor. Darüber konnten Philosophen unendlich lange diskutieren, wie sie früher darüber stritten, wie viele Engel auf der Spitze einer Stecknadel Platz hatten.

Ein leichter Schwindel ließ sie vorwärts fallen, als ein leises Summen von der Tür her die Bildreihe unterbrach. Sie brauchte eine volle Minute, bis sie sich zu orientieren und nach einem dünnen Morgenrock zu greifen vermochte. Der Summer meldete sich erneut.

Sie musste erst ein paarmal tief durchatmen, ehe sie auf den Knopf drückte, der die Tür auf schob. Dann meinte sie, dass viel mehr Atemübungen ratsam gewesen wären, denn vor ihr stand Lasmech, der ungefragt hereinmarschierte.

»Machen Sie die Tür zu, Miss Marlowe«, befahl er. »Was ich Ihnen zu sagen habe, ist nur für Ihre Ohren bestimmt.«

Er ging ihr voran in das Schlafzimmer, und sie hörte, wie er verschiedene Schrankfächer und Schubladen öffnete. Als er zurückkam, stand sie noch neben der Tür, als wollte sie Weggehen, doch mit einer gewissen Bitterkeit wurde ihr klar, dass ihr niemand im Stockwerk Unterschlupf gewähren würde, wenn sie von Conform gesucht wurde.

»Was wollen Sie?«

»Sie waren nicht offen mit mir. Sie verbergen etwas.«

Sie kannte sich mit Blicken aus und wurde sich darüber klar, dass sie in einer ganz bestimmten Hinsicht nicht genug verbarg, und sie wurde rot.

»Ich weiß nicht, was Sie damit meinen.«

»Ich denke, das wissen Sie. Fangen wir mit Dr. Duguid an. Wie lange kennen Sie ihn schon?«

»Sie haben doch selbst gehört, was er sagte. Nicht lange, obwohl ich glaube, dass ich ihm schon öfter über den Weg gelaufen bin. Er will, dass ich in seine Abteilung komme.«

»Und wie denken Sie darüber?«

»Nun, ich meine, das sollte ich tun. Es ist eine sehr interessante Arbeit auf meinem Gebiet. Eine Veränderung ist wahrscheinlich sehr gut.«

»Ah, natürlich. Diese geheimnisvolle Krankheit... Woran erinnern Sie sich da?«

»An nichts. Sie wissen doch, wie es ist. Die Klinik arbeitet

gründlich. Wahrscheinlich war ich überarbeitet, aber ich erinnere mich an gar nichts. Krankheit ist doch kein Verbrechen.«

»Aber gewisse Krankheiten können gefährlich werden. Wenn ich Sie für unzuverlässig hielte, könnte ich Sie zur Beobachtung wegschicken. Das wissen Sie doch?«

»Hat sich O. G. etwa über schlechte Arbeit beschwert?«

»Offen gesagt, nein. Aber unter gewissen Umständen kann Conform unabhängig davon Vorgehen.«

»Warum sollte Conform das wollen? Was haben Sie gegen mich?«

»Ich persönlich gar nichts. Es ist eher so, dass ich für Ihre ungestörte Sicherheit sorgen könnte, wenn Sie mitspielen. Ich bin sehr an Ihnen interessiert.«

Trotz des Schafsgesichts und der trockenen, pedantischen Stimme, mit der das gesagt wurde, war sie sich völlig darüber klar, wo sein Interesse lag. Er kam langsam auf sie zu. Sie spürte hinter sich die harte Türfüllung und zitterte.

»Ich will mehr über Dr. Duguid erfahren«, sagte Lasmech. »Ich bin nicht zufriedengestellt. Direkte Fragen sind deshalb schwierig, weil er in gewisser Weise durch seine Stellung geschützt ist. Sie können mir aber helfen. Nehmen Sie den Job in seiner Sektion an. Freunden Sie sich mit ihm an. Werden Sie intim mit ihm, wenn Sie wollen.« Seine Eidechsenaugen drückten Gefallen an diesem Aspekt aus. »Ich werde Ihnen sagen, wonach Sie Ausschau halten sollen.«

»Und wenn ich nicht will?«

»Oh, Sie wollen, wenn Sie die Alternative kennen.«

»Ein falscher Bericht und eine Beobachtungseinheit.«

»Das ist nur eine, wenn auch die beste Möglichkeit. Es gibt noch ganz andere. Ein Ausweg ist nicht möglich. Ich werde Sie entsprechend dafür bezahlen. Denken Sie ruhig darüber nach. Ich werde Sie wieder besuchen. Ich bin überzeugt, dass Sie die Vorteile erkennen, wenn Sie mich in Ihrer Ecke sehen. Gefühlsmäßig binden sollten Sie sich an Dr. Duguid allerdings nicht. Er hat einen Paarungskontrakt mit einem Mädchen namens Deborah Cain, die sehr einflussreiche Kontakte hat. Er kann diese Vereinbarung nicht einfach umstoßen.«

Lasmech ging mit schnellen Schritten zur Tür, und sie musste einen Schritt ausweichen, um nicht plattgedrückt zu werden. Im Vorübergehen legte er eine kalte, trockene Hand auf ihren Arm. Dann war er gegangen.

Averil Marlowe sah ein, dass sie den teuren Badeschaum verschwendet hatte. Sie schlüpfte schnell in ein schwarzes Kettenpanzerkatzenhemd mit breitem Elektrumgürtel und setzte sich an ihren kleinen Tisch, um die Angelegenheit in Ruhe zu überlegen.

Als Ausgangspunkt wählte sie die Krankheit, die das Problem ausgelöst haben musste. Sie kam nicht weiter. Sie wusste positiv, dass sie nach einem Aufenthalt von zwei Wochen den Behandlungsflügel mit einer Entlassungskarte und einer Krankengeschichte verlassen hatte. Wie sie dorthin gekommen war? Sie hatte keine Ahnung. Sie kannte auch den Grund nicht, weshalb sie gegangen war.

Über diesen Punkt hinaus schienen die Erinnerungen in Ordnung und normal zu sein. Sie wusste zum Beispiel noch genau, wie sie, ein Band um das Haar und die Hände hinter dem Rücken, in der Empfangshalle der Technischen Lehranstalt, Unterstufe, gestanden hatte. Das war ihr erstes traumatisches Erlebnis des Erwachsenwerdens, als sie an drei Wochentagen ihr Heim verlassen musste. Es gab viele Erinnerungslücken, doch sie waren normal.

Endlich kam sie zu der Begegnung mit Duguid auf dem Expressweg. Die war bedeutsamer, als es den Anschein hatte. In einem dunklen Sinn schien sie zu wissen, dass sie ihn schon seit langem, kannte. Aber sie konnte sich keines Ortes erinnern, an dem sie ihn schon gesehen haben konnte.

Doch er hatte sie erkannt. Oder sie mit einer anderen Frau verwechselt. Da sie keinen anderen Ausgangspunkt fand, musste ihr dieser genügen. Er war auch gar nicht unangenehm, und er war ein Gegengift, welches das Brechmittel Lasmech neutralisieren konnte.

Sie streckte ihre Hand nach dem Videogerät aus, überlegte es sich jedoch noch einmal. Wuchs in ihr jetzt schon die Angst, die Lasmech in sie gesät hatte? War sie denn bereit, ihrer Sicherheit wegen ein Geschäft zu machen, und war dies ihr erster Schritt zur Übernahme einer Judas-Rolle? Und wenn es so wäre? Sie schuldete ihm ja nichts. Er war ein Fremder. Und es war eine gesellschaftliche Pflicht, Conform zu unterstützen. Ergab sich daraus ein persönlicher Vorteil, so war er reiner Zufall.

Aber: Konnte sie Lasmech trauen? Es war doch nur allzu deutlich, was er wollte. Würde sie so weit gehen, um eine Beobachtungseinheit auszuschalten?

Sie schwankte, war unentschieden. Aber ihr Dilemma wurde von außen her gelöst. Das Videogerät ließ das geflügelte Roß, das Firmenzeichen der Fernmelde- und Nachrichtenfirma, aufleuchten, und ein leises Piepen kündete einen Anrufer an.

Sie vollendete die angefangene Handbewegung, und Dogood erschien wie ein Dschinn, der seinen Kopf aus der Flasche streckt. Dass der Anschluss so schnell klappte, schien ihn zu überraschen.

»Ava?«, fragte er.

»Averil. Averil Marlowe.«

»Was haben Sie denn mit Ihrem Haar angestellt? Es liegt ja ganz glatt an?«

»Es ist noch feucht.«

»Ihr Gesicht wirkt ganz anders. Dieses glatte Haar unterstreicht die Perfektion der Form und so. Was haben Sie denn an? Lassen Sie den Showmaster einen kurzen Blick darauf werfen.«

Ah, das tat gut! Die Vögel der Depression hörten mit dem Nestbau in ihrem Haar auf. Seine Absicht mochte sich am Ende mit der Lasmechs decken, aber er ließ das auf viel nettere und liebenswertere Art durchblicken.

Aber sie wollte sich in nichts hineinmanövrieren lassen. »Ich wollte Sie gerade anrufen«, sagte sie. »Ich habe nämlich über den Job nachgedacht, den Sie mir in Ihrer Sektion anbieten. Wenn dieses Angebot noch gilt, nehme ich es an.«

»Fein. Die Arbeit wird Ihnen sicher gefallen. Und meine Mitarbeiter sind ein angenehmer Verein. Sie haben auch nicht endlos mit immer nur ein und demselben Problem zu tun. Das ist nämlich großartig. Was tun Sie jetzt eigentlich?«

»Jetzt im Moment?«

»Was Sie jetzt tun, weiß ich ja. Später meine ich. Können Sie mir eine oder vielleicht auch zwei Stunden opfern?«

»Wofür?«

»Ich hole Sie in fünfzehn Minuten am Tor ihres Kindergartens ab, und dann sage ich es Ihnen. Einverstanden?«

»Das ist aber sehr arrogant. Ich könnte ja auch mit einem anderen ausgehen wollen.«

»Nun, dann rufen Sie ihn eben an und erklären ihm, dass es nicht geht. Bis dann.«

 

Dogood hatte noch drei Minuten Zeit. Im Kiosk der Empfangshalle saß auf einem Podium ein entzückender Android in der Gestalt eines Meermädchens, das sich in der Freizeit eine lange Perücke kämmte. Es konnte aber auch eine Lorelei sein, denn der Kamm glänzte golden. Er sah sich im Alkoven gerade die Nachrichtensendung an, als ihn ein Finger zwischen den Schulterblättern sanft berührte. Sie war angekommen.

Sie hatte dasselbe Kleid wie vorher an, und über dem Arm trug sie ein fülliges weißes Cape mit einem großen, ovalen Clip daran. Sie war daran gewöhnt, immer einen guten, sehr guten Eindruck zu hinterlassen, aber es überraschte sie doch, dass er leicht schwankte, als er auf stand und an der Wand Halt suchen musste.

Ein Kompliment war ja ganz schön, aber das ging denn doch zu weit. Das war nicht mehr seriös gemeint. Lasmech war da schon ehrlicher. So kalt, wie es eine von Natur aus warme Stimme zuließ, sagte sie: »Ich weiß wirklich nicht, weshalb ich bereit war. Sie zu treffen, aber da bin ich nun. Was wollen Sie?«

Dogoods Blickfeld klärte sich wieder. Er hatte Ava Mallam gesehen, als sie mit ihrem weißen Raumanzug über dem Arm, auf dem das große Planetenzeichen der Erde bis zum Kleingedruckten deutlich zu lesen war, in der Lukenöffnung stand, und jetzt das, eine unwahrscheinliche Parallele zum tiefen Raum mit der Lorelei im Hintergrund. »Nicht hier, Ava«, bat er leise. »Seien Sie geduldig. Alles wird sich klären, alles wird sich glätten. Bis auf Sie natürlich, Ava, die kein Alter je welken lassen kann. Gehen wir.«

Es war eine schweigsame Fahrt. Sie wählten nicht den Weg durch das hellerleuchtete Freizeitviertel, sondern die ruhigen Versorgungsstraßen zu den Cybernattürmen, die unendlich viele Biegungen machten, so dass sie schließlich aus einer ganz anderen Richtung kamen.

Der ganze Komplex wurde von Androidenhausmeistern bewacht, und er musste seine Kennnummer angeben, um eingelassen zu werden. Dann standen sie im Konferenzraum, und er legte etliche Schalter um.

»Jetzt können wir ungehindert reden«, sagte er. »Das ist der einzige Ort, der gegen alle Überwacher voll abgeschirmt ist. Sie brauchen keine Angst zu haben und können sagen, was Sie wollen. Sind Sie wirklich sicher, dass Sie gar nichts von Ava Mallam wissen?«

 

 

 

 

 

5.

 

 

 

Averil Marlowe wählte den Mitteltisch der vordersten Reihe und setzte sich. Das Licht war sehr schwach, und das Gefühl einer vollständigen Isolierung in diesem riesigen, stillen Bau nahm allmählich von ihr Besitz. Schreien? Damit kam sie nicht weiter. Sie war närrisch gewesen, als sie mitkam. Dieser Duguid musste, und wenn er auch noch so nett und angenehm wirkte, ein Irrer sein. Am besten wäre nun ein Sprung, ein Satz nach links, denn dort schien ein Büro zu sein. Das musste außerhalb des abgeschirmten Kreises liegen, sonst hätte er es ja benützt.

Er schien jedoch nicht an eine Vergewaltigung zu denken oder wenigstens einen solchen Impuls unter Kontrolle zu haben. Er lehnte an seiner Konsole. Seine Eröffnungsrede hatte auch gar nicht bedrohlich geklungen.

»Sie sehen in diesem Kettenhemdchen einfach umwerfend aus.«

»Um das zu sagen, braucht man keinen weiten Weg und keine Abschirmungszone.«

»Richtig, richtig. Aber jeder Unterricht geht vom Bekannten zum Unbekannten, von der Tatsache zur Theorie, und das ist nur die Erkenntnis einer Grundwahrheit der Situation.«

»Wenn Sie jede Kleinigkeit so langatmig erklären, muss ich mich wundern, dass in dieser Sektion überhaupt je eine Arbeit fertig wird.«

»Gut, dann fasse ich mich eben kürzer. Sie sagen, der Name Ava Mallam bedeute Ihnen nichts; es könnte aber doch sein, dass mit diesen Therapiesitzungen Ihr Gedächtnis blockiert wurde. Wenn wir tief genug graben könnten, wäre es möglich, dass wir etwas finden.«

»Warum ist das so wichtig für Sie? Die Tatsache, dass ich Ihre Ava Mallam nicht kenne, beeinträchtigt doch meine Arbeit als Statistikerin nicht.«

Ein anderer Gedanke schoss Dogood durch den Kopf. Vielleicht war er nur egoistisch, und es wäre für sie besser, nichts zu wissen. Übrigens wäre es auch für ihn besser gewesen, ohne die Wirrnis dieser sich wiederholenden Fantasien zu leben. Er zog sie in die Sache hinein, um seine eigenen Probleme zu lösen.

»Ich denke, das hat sich in meinem Kopf ziemlich aufgebläht«, gab er zu. »Seit Jahren habe ich nun diesen Traum von einem

Raumflug. Es ist immer dasselbe - eine kleine Kabine in einem Raumschiff. Sie sind das andere Crewmitglied. Das heißt, Ava ist es. Vergangene Nacht hatte ich den lebhaftesten Traum, zu glauben, dass die eine Situation richtig, die andere falsch war. Dann begegnete ich Ihnen auf dem Expressweg, und da schien mir, dass Sie der Schlüssel zu allem sein müssten. Und jetzt zweifle ich daran, dass es richtig war, Sie damit zu belasten. Sagen Sie es offen, wenn es ihnen nicht passt. Mit dem Job hier hat das gar nichts zu tun. Das geht in Ordnung. Ich brauche Sie hier.«

Sie war von seiner Aufrichtigkeit überzeugt, denn was er sagte, klang nach Wahrheit. »Ich helfe, wo ich helfen kann«, hörte sie sich sagen. »Was soll ich also tun?«

»Sind Sie sicher, dass Sie weitermachen wollen?«

»Schauen Sie, jetzt bin ich soweit. Und interessiert.«

»Ihre Unterlagen sind im Hospital. Wir könnten, um einen Anfang zu machen, einen Blick hineinwerfen und nachsehen, was dran ist.«

»Man wird Ihnen nie einen Einblick erlauben.«

»Ich meine, wir sehen jetzt nach. In einer Stunde sind die Büros geschlossen. Nur Androiden sind noch da. Ich denke, wir könnten hineinkommen und uns selbst bedienen.«

»Was ist die Strafe dafür?«

»Eine Strafe gibt es nicht. Ich habe hier ein kleines Gerät, das für fünfzehn Minuten jedes mechanische Gehäuse außer Gefecht setzt. Ich habe es für einen Cybernat-Klienten entwickelt, der mit Androiden handelt. Das Gerät ist selbstverständlich geheim, aber ich habe ja schließlich meinen Prototyp. In einer Viertelstunde können wir drinnen und wieder draußen sein.«

»Hoffentlich haben Sie Recht.«

»Gut. Das wäre also erledigt. Inzwischen können wir essen gehen. Am Rand des Hospitalkomplexes gibt es ein Speiselokal mit Balinesenband und einer ausgezeichneten, temperamentvollen Bauchtänzerin.«

»Was könnte sich ein Mädchen sonst noch wünschen!«

»Wenn Sie mir Zeit lassen, werde ich es herausfinden.«

Averil Marlowe war, während sie aßen, zweimal versucht, ihm von Lasmechs Vorschlag zu berichten, aber die guten Minuten gingen vorüber; Dogood schuftete wie ein Sklave, um sich von seiner angenehmsten and aufmerksamsten Seite zu zeigen, und sie wollte diese nette Stimmung nicht verderben.

Übrigens war es ja auch ihr eigenes Problem. Conform würde von ihr nur sehr unwichtige Dinge zu hören bekommen. Dafür konnte ihr Lasmech wirklich keine Vorwürfe machen, besonders dann nicht, wenn er selbst keine schmutzigen Ziele verfolgte. Jetzt fühlte sie sich angenehm entspannt und behaglich und wie ein anderer Mensch. Was immer auch ihre Vergangenheit enthielt, die Gegenwart war viel erfreulicher, und das traf in dieser Beziehung sicher noch mehr auf die Zukunft zu.

Die vergnügliche Grundlage erhielt jedoch einen ernstlichen Stoß, als sie heimlich in das Geschäftsviertel zurückkehrten. Dogood folgte den Bodenstraßen, weil sie unverdächtiger waren; irgendwie unterstrich jedoch gerade dieser Umstand die Illegalität des Vorhabens. Sie hatte immer das Gefühl, dass die wenigen Leute, denen sie begegneten, an der nächsten Polizeirufbox halten und die Gendarmen alarmieren würden. Außerdem war es kalt. Die Expresswege und Lufttunnels waren geheizt und wurden bei gleichmäßigen achtzehn Grad gehalten. Die Bodenwege schlichen sich am Rand des Systems entlang und waren offen dem Nachthimmel und seiner Kälte ausgeliefert.

An der letzten Querstraße blieb Dogood stehen. Vier Maschinenwärter mit weißen Helmen und Kopflampen waren über die breite Veranda des Hospitals gegangen und eilten nun einem Lufttunnel entgegen, in dem sie einander dann begegnen mussten.

Es geschah instinktiv, und es war eine sehr natürliche Reaktion, dass er Averil in eine Ecke drückte und sie so fest in die Arme nahm, dass jeder Versuch, sich frei zu strampeln, im Keim erstickt wurde.

Man hätte nicht einmal bis fünf zählen müssen, dann gab sie selbst auf. Sie hörte Schritte auf den Metallstufen herabkommen und sah auch die Lichter. Ihr Körper gab seine Versteifung auf, und ihre Hand legte sich ganz selbstverständlich an seinen Nacken. Ihre Lippen waren sehr weich, sehr warm und sehr voll. Eine Ecke seines Ingenieurgeistes berechnete sofort den Elastizitätskoeffizienten.

Eine sich entfernende Stimme sagte etwas von armen Teufeln, die nicht einmal zwei Credits aufbrächten, um sich ein Bett zu leisten, und die Antwort darauf, die sie nicht mehr verstanden, löste allgemeines Gelächter aus.

Die Hand an seinem Nacken packte eine Haarsträhne und zog heftig daran. Als sie endlich wieder reden konnte, sagte sie: »Jetzt sind sie weg. Sie können also die Pantomime wieder aufhören.«

Aber er legte seine Hände an ihr Gesicht, hielt sie fest und spielte mit einem Finger in ihrem seidigen Haar. »Ava.«

»Averil.«

»Ava oder Averil. Mir ist es egal, was wir dort drinnen finden. Mir ist es auch egal, ob du vielleicht deinen Liebhaber ermordet oder den Juniorchef in deinem Büro mit einem Videoband erwürgt hast. Zwischen dir und mir gibt es ein starkes Band. Spürst du das nicht auch?«

»Ich weiß nicht... Ben, bedränge mich nicht. Ich sehe ja, dass du daran glaubst. Und ich... weiß es ganz einfach noch nicht.«

Sein Gesicht war nur ein paar Fingerbreiten von dem ihren entfernt, und so berührten ihre Lippen ganz sanft seine Stirn, ehe sie sich losmachte.

Seine Reaktion war für diese einfache Kleinigkeit maßlos übersteigert. Er drückte seine Hand auf die Stelle, als sei sie mit Vitriol begossen worden.

»Was ist denn?«

Dogoods Welt stabilisierte sich nur langsam wieder, als der flüchtige Eindruck von einer Kabine in seinem Raumschiff, von einem samtenen, sternenbesetzten Viereck hinter ihrem Kopf verblasste und der offene Himmel über der Bodenstraße und Averils besorgtes, angstvolles Gesicht zur Realität wurde.

»Zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort hast du das schon einmal getan oder wirst es wieder tun«, antwortete er. »Das weiß ich so gewiss, wie ich noch nie etwas gewusst habe. Später werden wir das alles einmal sortieren.«

»Und wie passt deine Freundin Deborah Cain in dieses Bild?« platzte sie heraus.

»Wieso weißt du von ihr?«

»Lasmech hat es erwähnt.«

»Warum?«

»Vielleicht weil er mir klarmachen wollte, dass ich mich nicht allzu sehr auf dich verlassen soll.«

»Darüber reden wir noch. Jetzt wollen wir einen Blick dahinein werfen.«

Sie querten die offene Veranda, und Dogood versuchte die Tür zu öffnen. Sie war versperrt. Er musterte die Knopftafel und fand den für HAUSMEISTER (nach 22.00 Uhr). »Versuch doch ein wenig normal auszusehen«, bat er sie, da sie warten mussten. »Stell dir doch vor, du hättest deine Handtasche auf der Couch vergessen und willst sie nun abholen.«

Die Nachtbeleuchtung innen reichte aus, um einen Roboter zu erkennen, der aus einem Alkoven hinter dem Empfangstisch herausglitt. Er lief vorwärts, blieb stehen, wandte sich langsam um zur Tür und streckte eine Art Hand aus, die in einen Klauengreifer auslief.

Der Roboter drückte auf einen versteckten Knopf, und ein Streifen der transparenten Tür schob sich nach innen. Gleichzeitig streckte er vier flexible Arme aus - zwei an jeder Seite -, bildete damit eine Art Käfig und sagte mit dünner Blechstimme: »Zweck des Besuches angeben und Identitätsnummer nennen.«

Dogood schätzte blitzschnell die Lage ab. Vor einiger Zeit hatte er mit jedem Robotermodell in Produktion experimentiert, aber die Gehäuse unterschieden sich sehr voneinander. Er konzentrierte sich auf fünf Zentimeter über der Brustkonsole und brachte seinen Blaslähmer für einen Zielschuss in Position.

Der Roboter war als Haushund entwickelt und setzte sich in Bewegung, sobald sein Drehsensor das Bild der kleinen Waffe aufgenommen und festgestellt hatte, dass es sich dabei nicht um einen Personalausweis handeln konnte, auch nicht um eine Besuchskarte. Die Röhrenarme suchten wippend nach einem Halt. Dann waren alle Relais gesperrt.

Dogood schlüpfte hinein und schloss die Tür.

»Das war aber knapp«, bemerkte Averil. »Du hättest zu Wellblech werden können. Ist dir meine Krankheitsgeschichte so viel wert?«

»Komm weiter.«

Der Schreibtisch-Android wurde lebendig, als sie die Halle querten. Er war einfach aufzuhalten. Man brauchte nur die Hand auf den Alarmknopf zu legen.

Sie fuhren fünf Stockwerke nach oben und befanden sich nun in einer weiteren Halle, wo auf einem Wandbrett THERAPIE-STATION glühte. Ein weiterer patrouillierender Hausmeister wurde aufgehalten, ehe sie vor Friedmans Tür ankamen.

Dogood konnte sie leicht öffnen. Dann standen sie in einem geräumigen Zimmer, das etwa acht Meter im Quadrat maß und in sanften Pastelltönen gehalten war. Zwei Ingres-Akte aus dem goldenen Zeitalter waren auf einem Milchglaswandschirm eingeätzt, hinter dem ein rosafarbener Diwan stand. Links und rechts öffneten sich Türen zu den anderen Räumen der Station,

Friedmans Schreibtisch war ein außerordentlich raffiniertes Stück Metall mit einer Projektionsvertiefung von einem halben Meter im Quadrat, die ihm ein tadelloses 3-D-Playback seiner Kollektion von Gedankenbändern ermöglichte. Spulen, die sauber mit Etiketten beklebt und in Regalen aufgereiht waren, stellten die tägliche Ernte menschlichen Kummers dar.

Es hatte etwas Endgültiges, als Averil die mit der Bezeichnung TY/F/414/DC11 fand.

Dogood wurde plötzlich von Zweifeln gepackt. Schließlich hatte man sie für krank gehalten. Wenn man nun alles wieder aufrührte, konnte es nicht gut für sie sein. Vielleicht stellte es sogar die ganze Behandlung in Frage, so dass sie für eine ordentliche Arbeit nicht mehr taugte.

»Ich weiß nicht recht«, sagte er. »Glaub mir, ich will dir nicht wehtun. Ich bin bereit, das hier sein zu lassen und alles zu vergessen.«

»Vielleicht du, aber ich nicht. Du hast mich neugierig gemacht. Jetzt muss ich es wissen. Schließlich ist das hier ein Stück von mir.«

Sie nahm ihm die Spule ab und legte sie ein. Friedmans Stimme gab einen einführenden Überblick über den Fall. Er nahm dabei auf den praktischen Arzt des Bezirks Bezug, der schwere Halluzinationen ohne Beeinträchtigung der normalen Fähigkeiten festgestellt hatte. Berichtet hatte die Sache ein gewisser George Conrad, der einen Paarungsantrag gestellt hatte.

»Daran kann ich mich gar nicht erinnern«, sagte Averil. »George ist in der O.-G.-Sektion. Er hat ganz bestimmt nicht ein Wort darüber zu mir gesagt, seit ich wieder herauskam. Diese Ratten haben alles sehr sauber blockiert.«

Nun begann sich die Projektionsmulde mit einem sanften grünen Licht zu füllen, das sich allmählich zu Formen verdichtete. Farben machten das funktionelle Schwarz und Weiß lebendig. Seltsam, als die Farbe wieder verschwand, wurden die Bilder noch plastischer. Tiefe Couches mit kunstvollen Clips. Geschwungene, gebogene Schotten mit unzähligen Mikrogeräten und Instrumenten.

Dogood atmete schwer. »Die Centaur.«

»Centaur?«

»Unser Raumschiff. Ich kenne es sehr gut. Du siehst von

deinem Platz aus zur Navigationskonsole. Schau ein bisschen weiter, dann erkennst du das Erdensymbol auf einer Plakette. Es zeigt alle Kontinente auf einem Gitter konzentrischer Kreise, umgeben von einem Kranz aus Olivenblättern.«

Wie auf ein Stichwort verschob sich das Bild um zwei Kompasspunkte.

»Das konntest du ja nicht wissen«, sagte Averil. »Außer du hast das Band schon vorher einmal gesehen. Sag mir die Wahrheit. Hast du es schon gesehen?«

Sie sahen einander an, warteten angstvoll auf die Wahrheit, und ihre Augen schienen durch einen Gedankenfaden miteinander verbunden zu sein.

»Nein«, antwortete er.

»Nicht, dass es mir etwas bedeuten würde. Ich muss glauben, dass es mein Band ist. Nein, ich denke nicht daran, irgendwelche Schwierigkeiten zu machen, aber ich kann mich nicht erinnern, je etwas dergleichen gedacht zu haben. Es könnte durchaus jemand anderer sein. Wo bist denn du?«

»Ich kenne diese Gedankenreihe nicht. Du warst oft lange Zeit allein in der Kontrollkabine.«

Fünf Minuten lang sahen sie sich das Band an. Das Auge wanderte über die Kabine; dann verließ deren Bewohner den Tisch und ging herum, richtete hier und da ein Instrument aus, prüfte Skalen und Uhren nach. Einmal hatte man einen langen Blick in den Raum hinaus, und die Sterne waren scharf und klar und ohne jede hemmende Lichtbrechung zu sehen, als sie an einem Fenster stand. Zwei Hände erschienen im Blickfeld; sie stemmten sich gegen den Fensterrahmen. Es waren schöne, schlanke Hände. Und dann war die Spiegelung eines Gesichtes zu erkennen.

Averil Marlowe war wie zu Stein erstarrt. Ein Fremder hätte nicht den Sprung zur Erkenntnis getan, aber sie hatte lange genug mit sich selbst gelebt, um die Lücken im Muster ausfüllen zu können. »Das ist unheimlich«, sagte sie. »Das bin ja ich. Soweit stimmt es also. Nein, geträumt habe ich das nicht. Spielt es denn eine Rolle? Es gibt Leute, die viel verrücktere Dinge träumen als das hier und trotzdem nicht so gründlich durchleuchtet werden.«

Dogood hielt die Spule an und suchte nach einem anderen Beispiel. Diesmal war es eine kleinere Kabine mit einem einfachen, klaren Schott und einem hohen, schmalen Schrank, einem Ankleidetisch mit ovalem Spiegel und einem kleinen Bild, das vermutlich Schiffe zeigte. Das Auge beobachtete ein Blinklicht in der Decke.

»Da muss ich wohl auf einem Bett liegen und hinaufschauen«, sagte sie.

»Das ist ein Ruf von der Kontrollkabine. Signal für deine Schicht am Steuer.«

»Jetzt werde ich mich klar in diesem Spiegel sehen. Hoffentlich schlafe ich nicht nackt.«

Nun kam auch ein Ton dazu, ein gedämpftes Kichern, das entweder ein guter Witz war oder ein Beweis dafür, dass jemand bei ihr im Bett war. Dogood schaltete ab.

Averil sagte: »Eine Verführungsszene. Wenn du dort bist, wer ist dann im Kontrollraum? Das ist doch Pflichtverletzung. Ich muss ja total verrückt sein, damals ebenso wie jetzt.«

Wieder kam das leise Kichern, wurde nun lauter und glucksender, hörte dann aber wie abgeschnitten auf. Es kam irgendwo von links, nicht unmittelbar von hinter der geschlossenen Tür, sondern eher von einem Raum weiter.

»Das ist Friedman«, sagte Dogood. »Der Mann des Geistes macht Überstunden. Schnell, wir müssen weg.«

»Ich muss mich dafür entschuldigen«, sagte sie auf dem Weg nach unten, »dass ich zu voreiligen Schlüssen kam. Ich nehme an, dass du dich in deinem Verhalten der Crew gegenüber genau an den Buchstaben der Vorschriften hältst.«

»Du scheinst es noch immer nicht ernst zu nehmen.«

»Was erwartest du von mir? Na, schön. Du träumst also vom Raumflug. In der Nördlichen Hemisphäre muss es täglich Tausende solcher Flüge geben. Wohin führt uns das?«

Sie schlug mit ihrer kleinen Faust an die Wand der Liftkabine, und erst später fiel ihr ein, dass es eine bessere Demonstration wäre, an seine Stirn zu klopfen. »Das hier ist solid. Das ist real. Wir leben jetzt und haben unsere Probleme zu lösen. Vergessen wir die ganze Sache. Können wir das überhaupt?«

Damit hatte sie Recht. Dogood konnte nicht noch weitergehen. »Du könntest Recht haben«, antwortete er. »Jedenfalls danke ich dir, dass du mitgekommen bist. Was wir gesehen haben, schafft viel mehr neue Probleme, als es gelöst hat. Ich werde versuchen, diese ganze Sache zu vergessen.«

Er öffnete die Tür der Liftkabine, schob Averil aber sofort wieder hinein und knallte die Tür zu. Ein schwarz-grüner Conform-Luftwagen hing über dem Parkplatz hinter der Veranda. Er beobachtete ihn durch das Guckloch, wie er sich auf seine Kufen niederließ und vier schwarzuniformierte Conform-Agenten militärisch-zackig heraussprangen. Eine fünfte Gestalt, in der er Lasmech erkannte, kletterte etwas langsamer aus der Hauptluke.

»Warum fahren wir wieder nach oben? Du sagtest doch, die Lähmung hielte fünfzehn Minuten an. Die Zeit läuft allmählich ab.«

»Conform. Lasmech ist draußen. Du hast ihm doch hoffentlich nicht gesagt, wohin du gehen wolltest?«

»Das wusste ich ja nicht.«

»Natürlich nicht. Entschuldige.«

»Ja, das müsste dir schon leidtun. Es war auch ein ungehöriger Vorschlag. Und wenn ich schon von ungehörig rede, dann bist du dir doch hoffentlich klar darüber, dass dein alter Freund Friedman da oben ist.«

»Darauf hoffe ich sogar.«

Der Roboter in der Halle stand noch immer da in einer fragenden Pose, als sie zum zweiten Besuch durch Friedmans Tür gingen. Dogood war mit drei Schritten dort und riss sie auf.

Sie standen nun in einem kleinen Vorraum mit drei bequemen Liegestühlen, einem ovalen Tisch und einem Zeitungsständer. An der Tür gegenüber stand Hydrotherapie.

Ein surrealistisches Bild bot sich Dogood, so dass er mitten im Schritt stehen blieb und auch die Dringlichkeit seiner Mission vergaß. Ein dunkelhaariges, gut gebautes Mädchen in winzigem psychedelischem Höschen stand auf dem Kopf am Rand eines herzförmigen Beckens; ihr dicker, blauschwarzer Pferdeschwanz hing ins Wasser und schwamm in einem lässigen S herum. Sie hatte eben einen perfekten Rauchring aus einer Zigarre geblasen, die sie in ihrer linken Hand hielt. Friedmans überraschtes Gesicht - er hatte auch eine Zigarre in der Hand - zeigte sich im breiten Rahmen ihrer hübschen, gespreizten Beine.

Ein guter Psychiater ist kaum zu erschüttern. Friedman erholte sich erstaunlich schnell. »Wie bist du hier hereingekommen? Begreifst du nicht, welchen Schaden du anrichten kannst, wenn du ein Subjekt in Trance störst?«

»Barney, das kannst du dir gleich sparen. Du kriegst nämlich Ärger«, erwiderte Dogood. »Stell diese Akrobatin wieder auf die Füße, und hör mir zu. Eine Conform-Abordnung ist unterwegs hier herauf. Tu genau das, was ich dir sage, dann geht es noch mal glatt für uns alle.«

Friedman zweifelte nicht an der Ernsthaftigkeit Dogoods, denn er war seinem ganzen Herzen nach Realist. »Fenella, das war ausgezeichnet«, sagte er. »Jetzt schön langsam und glatt zurückwippen und auf die Füße. Jetzt!«

Das gelang ihr ganz vorzüglich, und er führ fort: »Jetzt nimmst du deine Siebensachen und wartest hinter dem Wandschirm. Setz dich auf einen Stuhl und rede kein Wort. Beweg dich auch nicht.« Er selbst schlüpfte, während er sprach, in seinen weißen Coverall, den er griffbereit über ein Geländer drapiert hatte.

Er nahm ihr die Zigarre ab, und sie verschwand. »Ihr werdet es kaum glauben«, behauptete er, »aber dieses Mädchen kann auf gewöhnliche Art nicht einmal auf einem meterbreiten roten Teppich laufen, ohne dass sie sich schwindlig fühlt.«

»Ich nehme an«, bemerkte Averil, »dass es ungeheuer nützlich ist, einen nackten Mann neben sich stehen zu haben.«

»Sie hätte ja schließlich hineinfallen können, und dann musste ich sie doch retten. Oder sollte ich sie vielleicht ertrinken lassen. Aha, dann seid ihr also zusammen gekommen, um diese Information zu suchen, die ich euch schicken wollte.«

»So ungefähr«, gab Dogood zu. »Aber wir hatten keine Zeit. Lasmech und seine Knaben müssen auf die gleiche Idee gekommen sein. Auf dem Weg nach oben habe ich ein paar von deinen Robotern abgeschaltet. Deshalb denkst du dir besser eine Geschichte aus.«

»Wieso? Eine Geschichte?«

»Du gehst jetzt in dein Büro und sprichst mit Lasmech. Sag ihm, du musst ein wenig Überstunden machen. Ich höre zu. Wenn du Unsinn redest, dann lass ich dein nacktes Zombiemädchen wie eine Lady Macbeth herausmarschieren.«

»Schön. Diesmal wenigstens. Aber lass es nicht zur Gewohnheit werden. Zugegeben, jetzt könnte es ein bisschen peinlich werden. Aber ich warne dich: Wenn du diesen Trick noch mal versuchst, dann werde ich die Sache so hindrehen, dass sie wie der Vergewaltigungsversuch eines Irren aussieht. Der Irre bist du.«

»Versucht doch mal.«

Jedenfalls wollten sie zu Fenella hinter den Schirm verschwinden, wenn Lasmech auf einer Durchsuchung bestehen sollte.

Der Luftaustausch hatte bereits für den Abzug des Rauches gesorgt. Dogood zog seine Schuhe aus und dämpfte das Hauslicht zu einem matten Glühen.

Fenella saß ruhig da wie eine holzgeschnitzte Figur, schaute geradeaus und hatte ein rosenholzfarbenes Kleidchen auf dem Schoß liegen. Dogood bewegte die Hand vor ihren Augen; sie blinzelte nicht. Sie blieb also in Hypnose, bis sie von ihrem Meister herausgeholt wurde.

Die Minuten tröpfelten dahin. Gelegentlich hörte man Friedman schallend lachen. Der Arm der Sicherheit lachte jedoch nicht. Eine Seelengemeinschaft wurde also nicht hergestellt.

Ein wenig widerwillig bewunderte Dogood diesen Geistbeuger und Seelenfledderer. Dann legte er Averil die Hand auf die Schulter und wurde so bewegungslos wie Fenella. Die Tür des Vorzimmers klickte. Friedman sagte: »Es ist eine sehr gut ausgestattete Praxis. Hier hindurch, bitte. Ich habe einen Hydroraum. Es gibt für die Therapie nichts Besseres als Wasser. In Deutschland gab es einen Mann, der hat ein ganzes Behandlungssystem allein darauf aufgebaut, dass die Leute in flachem Wasser herumliefen. Da kriegt man alle Spannungen los. Er ließ seine Patienten vier Stunden lang ununterbrochen im Wasser herumtappen. Hätten Sie die Zeit dafür? Probieren Sie's mal. Ziehen Sie die Schuhe aus, krempeln Sie die Hosenbeine hoch und waten Sie ein bisschen. Vielleicht könnten Sie damit ein Problem lösen.«

Die innere Tür ging auf, und alle Lichter flammten auf. Dogood griff ein wenig fester um Averils Schulter. Fenella schien gar nichts zu bemerken.

»Sehr interessant, Dr. Friedman«, sagte Lasmech. »Wann verlassen Sie das Gebäude?«

»Bald. Ich brauche noch eine halbe Stunde, um meine Notizen zum letzten Fall zu sichten. Das muss unbedingt geschehen, solange die Eindrücke noch frisch sind.«

»Wer ist Ihr letzter Fall?«

»Aber, aber! Sie wissen doch, dass die Behandlungsliste vertraulich ist.«

»Nicht für Conform. Ich brauche zwei Minuten, um die Vollmacht zu bekommen, Ihre ganze Registratur durchzufilzen. Und Sie werden dann ewig in meinem Gedächtnis als Obstruktionist haften bleiben.«

Friedman kannte sich ausgezeichnet mit Geistern aus und kam zu der Überzeugung, das Gedächtnis dieses Mannes sei kein sehr angenehmer Ort. »Nun ja, ein Sicherheitsrisiko ist der Fall ja nicht, soviel ich weiß. Die letzte Patientin war Fenella Harding. Ich habe den Fall selbst übernommen. Interessante Halluzinationen.«

»Schön. Ich gehe also jetzt, Doktor. Wenn Sie das Haus verlassen, werden Sie in der Halle einen Sicherheitsmann bemerken. Ich habe den Verdacht, dass jemand versuchen könnte, in das Gebäude einzudringen.«

»Weshalb denn?«

»Ich bin ein Fragensteller, kein Fragenbeantworter, Dr. Friedman. Sollten sich irgendwelche verdächtige Umstände ergeben, rufen Sie sofort mein Büro an.«

»Umstände welcher Art?«

»Das zu entscheiden überlasse ich Ihnen.«

Die Lichter wurden bis auf die Notbeleuchtung wieder gelöscht, und die Tür fiel zu. Dogood lockerte seinen Griff, und Averil rieb sich die Schulter, damit das Blut wieder zirkulieren konnte. Der große Zeiger des klinischen Chronometers rückte um zwei Striche weiter.

Barney Friedman erschien und wischte sich mit einem großen Taschentuch die Stirn trocken. Sein Gesicht lag noch in den Standardlächlerfalten des professionellen Vertrauenerweckers, doch seine Augen drückten deutliches Missbehagen aus.

»Es gibt einen Hinterausgang durch den regionalen Buchhaltungs- und Verrechnungsblock«, sagte er. »Zwei Stockwerke nach oben, dann durch den Lufttunnel. Anschließend ins Erdgeschoss und auf den Uplane Square hinaus. Kapiert? Aber du wirst Fenella mitnehmen müssen. Sie macht dir keine Mühe.«

»So?«, fragte er.

»Du kannst ihr natürlich ihr Hemdchen anziehen, wenn es dich stört. Du lieber Gott, muss ich dir wirklich jede Kleinigkeit erklären?«

»In diesem Trancezustand?«

»Ah, das meinst du. Ja, natürlich. Ich lass dir fünf Minuten Zeit, zu verschwinden, dann kannst du ihr sagen, du hättest sie gesehen, wie sie herumirrte, und willst sie jetzt nach Hause bringen.«

Friedman ging zu einem sanften, aber sehr entschiedenen Ton über, als er mit seiner Patientin sprach. »Fenella, mein süßes Blümchen, in fünf Minuten wirst du aufwachen. Du bist bei sehr netten Leuten. Der große Blonde ist Dr. Ben Duguid. An den hältst du dich, da kann dir nichts passieren. Du glaubst den beiden alles und du tust auch, was sie sagen.«

 

Fünf Minuten waren keine sehr lange Zeit. Sie hasteten gerade auf den Platz hinaus, als Fenella wie angewurzelt stehen blieb und - verständlicherweise - fragte: »Wo bin ich denn?«

Sie hatte einen warmen Kontraalt, der trotzdem leicht wie eine Feder war, und Dogood, das Ziel ihrer Frage, sah, dass ihre Augen klar und leuchtend waren, sogar intelligent und weich wie schwarze Milch.

Er nahm ihre Hand und tätschelte sie väterlich. »Beruhige dich, Fenella. Es ist alles in Ordnung. Wir bringen dich nach Hause.«

»Zu dir nach Hause oder zu mir?«

»Zu dir. Du hattest einen Schwindelanfall, aber jetzt geht es dir wieder ganz ordentlich. Richtig?«

»Wenn du meinst...«

Friedmans Instruktionen machten sich bezahlt. Ihr war nur noch wichtig, sich in die Familie einzufügen und deren Oberhaupt Untertänigkeit zu beweisen.

»Mich braucht ihr ja nicht«, stellte Averil fest. »Warum bringst du sie nicht auf dein Fantasieraumschiff? Sie würde bei allem mitspielen.«

Dogood brachte die beiden endlich wieder in Bewegung. Er selbst hielt sich in der Mitte, um weder Überblick, noch Kontakt zu verlieren. Die Bodenstraße ging in eine lange Rampe über, die zu einem tieferliegenden Platz führte. Nun waren sie am Rand des Vergnügungsviertels angelangt. Die meisten der hier herumlaufenden Leute trugen die schwarz-weißen Plaketten der Arbeiter unterster Grade. Alle Gebäude waren mit grellblinkenden Lichtzeichen bestückt: Fische, Reisebüro, Tanzpalast, Damenbar, und in letzterem war der Bestand in langen Schaufenstern ausgestellt. Dann gab es ein Lachhaus. Hier lehnten sich lachende Androiden aus Löchern in der Mauer, als sei es ein Ausdruck himmelhoher Begeisterung, wenn sie mit den Köpfen durch die Wand gingen.

Der Lärm des Viertels wurde durch akustische Schilde gemildert, aber als sie zwei Meter jenseits dieser Schilde waren, überfiel der Krach sie wie eine Bande von Schlägern. Fenella hängte sich wie eine verzweifelte Klette an Dogoods Arm, und Averil musste sich als Boxerin betätigen, um seine Aufmerksamkeit auf ein brandneues Phänomen zu lenken, das in ihrer Nähe einige Unruhe auslöste.

Zwei Wagen ließen sich auf den Parkplatz herab, und kaum hatten die Kufen den Boden berührt, als auch schon etliche Männer heraussprangen. Conform suchte das Viertel heim.

»Hier herein!«, schrie Dogood und stieß die nächste Schwingtür auf. Zwei Schritte, dann schien sich der Boden unter ihren Füßen aufzulösen, und eine schlüpfrige Rutsche, die wie eine Kehle konstruiert war, zog sie in ein Durcheinander kaleidoskopischer Farben, kakophonischer Geräusche und exquisiter Wohlgerüche. Fenella wurde glatt um zehn Sitzungen zurückgeworfen, und Dogood musste sie wie einen Gipsverband von sich abpflücken. Dann zog er sie auf die Füße und steuerte sie mit einer Hand unter ihrem Arm.

Ein umfangreicher Kehldeckel schwang zurück, und es gab nur einen Weg, den sie gehen konnten. Vor ihnen lag eine breite Arkade, auf der sich links und rechts zahllose kleine Shows abspielten. In transparenten Käfigen tanzten Nackte zu einem dröhnenden Rhythmus. Als sie ein reichverziertes Gitter querten, blies ein warmer Luftstrom Fenellas Röckchen über ihren Kopf.

»Dr. Duguid, von dieser Seite Ihres Charakters ahnte ich bisher nichts«, bemerkte Averil. »Ich nehme an, nach so langen und anstrengenden Raummissionen bedürfen Sie doch einer gewissen Entspannung.«

»Warum hackst du so auf mir herum?«, erwiderte ihr Dogood. »Amüsier dich doch lieber, oder tu wenigstens so.«

Die jedem Vorschlag zugängliche Fenella tänzelte bereits, doch er führte sie zu einem Schießstand, wo die Zielfiguren kleine Barockengel mit Spinnwebenflügeln waren, die, mit einer Walhalla im Hintergrund, nach allen Seiten wippten.

Dogood nahm von einem Ständer eine Maschinenpistole und überlegte dazu, dass man ja nie Vorhersagen könne, wann sich ein Hobby bezahlt machte. Dann begann er ein systematisches Massaker unter den himmlischen Heerscharen.

Nach anfänglicher Verwirrung erwies es sich als gute Therapie. Er vergaß, wo er war, und die Konkurrenz mit dem Computer, die ihre Flucht tarnte, wärmte sein Herz.

Ein menschlicher Budenbesitzer hätte die Sache sehr bald abgestellt, aber der geschäftsführende Android beobachtete ohne jede Gefühlsregung den wachsenden Haufen zertrümmerter rosa Plastik. Er folgte dem dritten Robotergesetz und bewegte sich vorsichtig ein Stück zur Seite, wo es weniger wahrscheinlich war, dass er eine verirrte Kugel auffing, so dass er sich für weitere Dienste intakt halten konnte.

Als der letzte Engel das Zeitliche gesegnet hatte, sah sich Dogood um und fand, dass sich hinter ihm eine beträchtliche Menge angesammelt hatte. Fenella klatschte in die Hände.

»Das macht fünf Credits«, sagte der Roboter. »Sie können jeden Preis aussuchen, den Sie wollen.«

Ausgestellt waren hauptsächlich mannshohe Spielzeugtiere. Dogood holte sich einen Pandabären heraus und gab ihn Fenella. Dann fiel sein Blick auf einen weißen Bären, der ihm das Gefühl des déjà-vu vermittelte. Diesen weißen Bären reichte er Averil, und schlagartig waren Lärm und Menge um ihn herum weg. Zwischen ihnen stand eine Konsole, die viel komplizierter war als alles, was das einundzwanzigste Jahrhundertsich hatte ausdenken können, und Ava steckte in einem plumpen Raumanzug mit einem transparenten Plexiglashelm.

In den Augen hinter der Maske dämmerte ein Wiedererkennen. Aber die Stimme, mit der sie sprach, war nicht die ihre, und plötzlich sah er sie wieder in ihrem Kettenhemdchen vor sich.

Lasmech, gefolgt von Gerda Sibley, hatte sich durch die Menge gedrängt, die sich schnell verkrümelte, als wirke die schwarze Uniform als Zentrifuge mit mittlerer Fliehkraft. »Sie findet man ja an recht merkwürdigen Orten, Dr. Duguid«, sagte Lasmech. »Miss Marlowe, ich weiß schon. Und wer könnte diese neue Freundin sein? Nein, sagen Sie nichts, lassen Sie mich's raten. Vielleicht Fenella Harding?«

Fenella, die keine Lüge aussprechen konnte, antwortete einfach: »Sie sind aber ein guter Rater. Genauso heiße ich nämlich. Woher wissen Sie das?«

»Sie sind doch Patientin von Dr. Friedman und haben ihn heute besucht?«

»Ja.«

»Wann sind Sie weggegangen?«

Das war ganz leicht, denn der weitblickende Friedman hatte die Erinnerung an die private Sitzung blockiert. Sie erinnerte sich nur daran, dass sie zur ganz normalen Zeit gegangen sei, und das brachte sie ohne jede Verlegenheit vor.

»Einundzwanzig Uhr. Ich war die letzte Patientin.«

»Wo trafen Sie Dr. Duguid?«

»Irgendwo in der Nähe des Naga. Ich habe dort mit Miss Marlowe zu Abend gegessen«, erklärte Dogood schnell. »Sie erkannten einander als gemeinsame Patientinnen im Hospital. Ich nahm sie mit, denn sie sollten mal sehen, wie die andere Hälfte der Menschheit lebt.«

Lasmech sah nicht sehr erfreut drein. »Stimmt das, Miss Harding?«, fragte er.

»Ja.«

Der Buden-Android mischte sich trotz des für ihn damit verbundenen Risikos ein, und das war ihm hoch anzurechnen. »Sie haben die höchste Punktzahl in den letzten einundzwanzig Tagen herausgeschossen und einen Hauptpreis gewonnen«, sagte, er. »Nehmen Sie das hier an mit der Gratulation des Besitzers.«

Erst glaubte Dogood schon, der Android vertraue ihm ein weiteres lebendes Mädchen an, das er nun in sein Gefolge einreihen müsse, aber die lebensgroße und äußerst naturalistische Gestalt, die ihm auf hohen Absätzen entgegenstelzte, war eine raffinierte Puppe, die zu einem winzigen symbolischen Lendenschurz und vielen Glasperlenketten nur noch eine reichhaltige Garnitur von Schaltern trug, die hübsch um ihren Nabel herum angeordnet waren.

Die Idee, diese Puppe Lasmech zu vermachen, tauchte flüchtig in seinem Kopf auf; doch der trug noch immer eine essigsaure Miene zur Schau und würde sie wohl kaum nett behandeln. Er prüfte also die Nabeldekoration nach, fand den Schalter für schnellen Lauf und schickte die Puppe dem Engelhaufen entgegen.

Aus zwanzig Metern Entfernung hob er die schnell aus dem Ständer gerissene Pistole und schoss einmal, ohne zu zielen. Der Kopf sprang in die Luft; er war sauber am obersten Nackenwirbel abgeschossen. Der Körper blieb in Läuferpose bewegungslos stehen.

Lasmech blieb ein wenig zurück, denn die Geschwindigkeit, mit der alles ablief, verblüffte ihn. Zögernd gab er vor sich selbst zu, dass dies vielleicht doch nicht der geeignete Ort sei, um Informationen aus einem verdächtigen Subjekt herauszuquetschen. »Dr. Duguid, Sie entwickeln ja außerordentlich interessante Fähigkeiten«, sagte er. »Wir wollen .hoffen, dass der Einsatz Ihres Unterhaltergeschicks nicht weiter nötig sein wird. Ich will Ihr abendliches Vergnügen nicht länger stören.«

Er drehte sich auf dem Absatz um und marschierte davon.

Gerda Sibley, die Dogood voll Interesse beobachtet hatte, vergaß den Mund zu schließen, ließ eine rote Zungenspitze über die Lippen spielen und schenkte dem Meisterschützen das verständnisvolle Lächeln eines Sadisten für einen Sadisten und folgte ihrem Chef.

»Warum hast du das getan?«, fragte Averil. »Es war schrecklich!«

Fenella war erstaunlich ruhig und vernünftig. »Es hat aber den Conform-Kerl wunderbar abgeschreckt. Das machte ihm einen Strich durch seine Rechnung. Gehen wir jetzt nach Hause? Ich bin müde.«

 

Averil Marlowe, allein in ihrem Zimmer, setzte ihren weißen Bären auf den Ankleidetisch und sich selbst auf das Bett, um ihn anzuschauen. Einmal stand sie auf und streichelte ihn. Da war etwas direkt unter der Oberfläche ihres Bewusstseins, etwa ein Wort, das sich weigerte, in die Erinnerung zurückzufinden.

Der Bär bekam den letzten Blick geschenkt, ehe sie das Licht löschte und ihre Gedanken sich nach Belieben mit Dr. Ben Duguid beschäftigen konnten. Vierundzwanzig Stunden hatten genügt, ihn so fest wie einen alten Mieter in ihrem Kopf zu verankern. Und das fand sie nicht einmal merkwürdig. Er schien dort zu Hause zu sein, als habe er da seine Lebensnische.

Wie mochte er wohl mit Fenella zurechtkommen? Hoffentlich, dachte sie, nicht allzu gut. Dieser Gedanke überraschte sie selbst am allermeisten.

 

 

 

 

 

 

5.

 

 

 

Dogood war nahe daran, Fenella mit einem Schlag auf den Kopf zu betäuben und sie einfach auf dem Gehsteig abzulegen, weil er ratlos war. Was sollte er mit dem Mädchen anfangen? Er hatte sie zur Veranda ihres Schlafblocks gebracht, doch sie weigerte sich kategorisch, auch hineinzugehen. Da war er gegangen, worauf sie ihm mit sechs Schritten Abstand folgte wie eine geduldige Fellachenfrau, und sie war keiner vernünftigen Überlegung zugänglich.

Nein, Vernunft fehlte. Sie sagte, es sei nur irgendein Gefühl,

und sie bringe es nicht fertig, ihn aus den Augen zu lassen. Bei hellem Tag, meinte sie, sei mit ihr sicher alles in schönster Ordnung, aber allein und bei Nacht? Du lieber Gott, da würde sie eine Gänsehaut aus grünen Männchen kriegen!

Friedman schien, absichtlich oder nicht, vermutlich jedoch absichtlich, die Empathie ein bisschen übertrieben zu haben.

Man konnte doch einen treuen Hund auch nicht einfach mit einem Fußtritt davonjagen, Dogood am allerwenigsten. »Na, schön, Fenella«, stöhnte er. »Aber sei um Himmels willen wenigstens leise. Wir haben schon genug Ärger am Hals, auch ohne der Sittenpolizei aufzufallen. Du musst im ersten Morgengrauen verschwinden.«

In seiner Wohnung benahm sie sich dann so betont unauffällig, dass sie überall im Weg stand. Dogood neigte allmählich zu dem Glauben, er müsse an multipler Vision leiden.

Er brachte sie in seinem eigenen Bett unter und baute für sich ein Behelfsnest auf der Wohnzimmercouch. Sie jammerte so kläglich, dass ihr Gebieter ihr schließlich erlaubte, die Tür offenzulassen, und sie wünschte ihm gute Nacht in einem Ton, der deutlich machte, dass sie nur notgedrungen bereit sei, sich mit dem Zweitbesten zu begnügen.

Dogood brauchte lange zum Einschlafen. Nach einer Stunde gab er seine Bemühungen als aussichtlos auf und richtete sich auf eine lange Nachtwache ein.

Als er dann erneut die Augen öffnete, um wieder einmal auf seine Uhr zu schauen, beobachtete er seine eigene Hand auf einer Konsole, die sich zu einem Alarmknopf bewegte.

Er musste wohl bewusstlos gewesen sein. Warum? Die Centaur lag doch immer unerschütterlich ruhig im Raum. Er hatte die Absicht gehabt, Ava aufzuwecken, aber nach dem Log hatte sie die letzte Wache doch erst zwanzig Minuten hinter sich. Das Schiff musste also vom Leitstrahl gerutscht sein.

Er strich sich mit der Hand über die Stirn und entdeckte, dass sie schweißfeucht war.

Langsam bewegte er sich in der Kabine herum und überprüfte alle Instrumentenkomplexe. Alles war in Ordnung. Er konnte nichts tun, und es hatte keinen Sinn, sie herzuholen; außer vielleicht, um die Isolierung zu beenden. Du lieber Gott, und sie war doch erst gegangen! Er musste wohl ziemlich weich werden im Kopf.

Eine unlogische Gedankenreihe tauchte auf und ließ sich nicht mehr abweisen, Er war allein auf der Centaur. Sie hatte das Schiff verlassen. Durch die Luke und hinaus in die Unendlichkeit, Sie war verschwunden.

Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit setzte er die Navigationskonsole auf Autopilot und schob die Tür zum Messeraum auf. Er musste nachschauen.

Im kleinen, halbrunden Ruheraum blieb er stehen, wäre aber am liebsten zu seinen Instrumenten zurückgerannt. Im Schott waren zwei Öffnungen. Die links Zu seiner Kabine stand offen, die andere war geschlossen.

Sehr langsam schob er die Tür auf und spähte hinein. Eine winzige Nachtlampe gestattete ihm einen Rundblick. Es war nicht viel zu sehen,

Ihr Raumanzug lag sauber gefaltet bereit zu sofortigem Gebrauch; der weiße Bär saß an einer Leine unter dem runden Sichtfenster. An der einzigen flachen Schottstelle hing eine Reproduktion von Klees »Auslaufende Schiffe«, und eine schmale Akzelerationscouch, die zum Schlafen aufgeklappt war, enthielt die Eigentümerin dieses Raumes; sie war sichtbar da, atmete und schlief.

Selbst im Schlaf strahlte sie eine Energie aus, die seine Handlung lächerlich erscheinen ließ. Er war froh, dass sie nicht zur Tür schaute. Wenn er ihr sagte, er habe nur nachsehen wollen, ob sie noch im Schiff sei, musste er sich ja selbst auslachen.

Irgendwie fand er es sehr störend, dass sie so ruhig schlafen konnte. Ihr Haar lag fächerartig auf dem Kopfteil, und im schwachen Licht glänzte es wie poliertes Kupfer. Schönheit war selbstverständlich, Symmetrie gab dem Bild die Vollendung; nichts hätte daran geändert werden dürfen, Sie war der schlafende Beweis dafür, dass der goldene Schnitt jedem ästhetischen Urteil zugrunde liegt.

Außerhalb der rationalisierten Zeit war es ein Schlaf, der einen großen Teil eines Lebens überdauern konnte; Träume, die ein Jahr dauerten. Das alles hatten die Techniker vorher nicht durchdacht. Eine reguläre Raumcrew durchlebte viele Lebensspannen.

Aber die Stabilität war sehr hoch. Die Raumflotten hatten sehr viel weniger Fälle von seelischen Zusammenbrüchen als der Durchschnitt der übrigen Bevölkerung.

Was ging hinter dieser Stirn vor? Wo und wie war die echte, die ganz richtige Ava Mallam? Wer war überhaupt echt - er,

der bewusste Beobachter, oder die Traumfolge, die sich in ihrem Kopf abspielte? Der Raum war ebenso unendlich klein wie unendlich groß. Überlegte man richtig, so musste man zugeben, dass man im inneren Raum ebenso viel Platz zum Manövrieren hatte wie in der Galaxis, die man mit unvorstellbaren Geschwindigkeiten durchmaß.

Plötzlich kam ihm zu Bewusstsein, dass er ja hier ein Eindringling war. Man war so konditioniert, dass man die Privatsphäre des anderen achtete. Er hätte nie kommen dürfen.

Dogood schloss die Tür und kletterte weiter in die Kommandokapsel. Als er sich an seiner eigenen Konsole niederließ, schien die Centaur ein wenig zu taumeln, als sei sie eben auf eine der berüchtigten Taschen noch größerer Leere geprallt, die in diesen verdammten Unendlichkeiten so selten Waren.

Aber das Taumeln war nur wie ein Blitz gewesen und wurde nirgends sonst registriert als in seiner Erinnerung; doch fünf Minuten später wiederholte es sich.

Diesmal war es auch spürbarer und eine messbare Veränderung im Band der rationalen Zeit, wie sich aus den feinen Haarlinien am Navigatorblatt ablesen ließ. Die Centaur folgte noch immer stur ihrem Kurs, doch das Band war schmäler geworden, wenn auch nur um einen Strich an beiden Seiten.

Es war undenkbar, dass ein Funkfeuer versagte. Da gab es keinen einzigen bekannten Fall in der ganzen Geschichte der Raumfahrt. Und die Scoten hatten auch keine Möglichkeit, den Strahl zu manipulieren. Entweder er arbeitete hundertprozentig - oder gar nicht,

Aber der Energiestrahl war belastet. Überlastet? Nachdem dieser Gedanke aufgetaucht war, erkannte er ihn als richtig. Mehr als ein Schiff war der Centaur in diesen Sektor gefolgt. Jedes verbrauchte Energie. Man fraß sich bereits zum Sicherheitsfaktor durch.

Warum taten sie das? Sie waren gefährlich, aber doch nicht dumm.

Dogood versuchte immer noch, die Sache durchzudenken, als das Band wieder schrumpfte. Wieviel mehr konnte das System ertragen, ehe die Toleranzgrenze erreicht war? Für die Scoten musste das aber auch zutreffen, nicht nur für die Centaur. Wirklich? Sie hatten fantastische Reisen gemacht, und viele davon waren nur wegen ihres Reptilien-Stoffwechsels möglich gewesen. Sie konnten das Band bis zum letzten für sie erträglichen Millimeter einengen. Selbst ein sehr abgeschwächter Strahl würde für sie noch reichen. Sie konnten jahrelang in einem winterschlafähnlichen Zustand weiterleben, und das war lange genug, um die Crew der Centaur auszuhungern, die sich an eine regelmäßige Nahrungsaufnahme halten musste.

Was war der Gegenstand dieser Übung?

Die Wahrheit traf Dogood wie eine Offenbarung. Es gab nur eine Möglichkeit: Eine große Flotte war zusammengeholt worden, die nun tief im IGO-Raum zuschlagen würde. Die Anwesenheit der Centaur in diesem Sektor war reiner Zufall. Sie hatten nicht geahnt, dass ein Erdenschiff sich in der Randzone bewegte.

Aber sie würden wohl erwarten, dass er zwei und zwei zusammenzählte. Sie würden auch wissen, dass er, wenn er beim nächsten Funkfeuer die Rationalzeit verließ, sofort seine Beobachtungen signalisieren würde. Deshalb würde man -ihm nicht erlauben, dieses nächste Funkfeuer zu erreichen.

Wieder taumelte die Centaur und ging dann in eine langsame Drehbewegung über. Er versuchte sie mit ein paar Raketenstößen zu stabilisieren. Nun war aber die Flugroute bis auf ein schmales Band zusammengeschrumpft. Ein Systemzusammenbruch musste sie aus dem Kurs werfen, so dass sie in dieser unendlichen Weite ganz auf sich allein gestellt herumirren konnte, ohne in den nächsten Lebensaltern Landfall auf einem Planeten machen zu können.

Was sollte, was musste er nun tim? Ava hatte ein Recht darauf, zu erfahren, wie es um sie stand. Oder war er egoistisch und wollte einen Teil der Last auf sie abwälzen? Oder lag ihm nur daran, sie zu sehen?

Nein, das war es nicht. Er wollte wissen, bewusst erleben und sich von Bob Dogood verabschieden. Ein persönliches Zurückziehen in sich selbst.

Er war erst zwei Schritte weit gekommen, als es um ihn herum schwarz wurde und er die nächsten sechs über Deck schlitterte. Eine Weile lehnte er sich dann an das Geländer; die Centaur schwankte, er fiel rücklings in den engen Raum zwischen Tisch und Schott.

 

Dogood bewegte seinen Kopf und fand, dass er warm und weich auf einem Kissen lag. Die Schlafnebel hüllten ihn wieder

ein, doch dann strich ihm eine Hand über den Kopf, und nun fügten sich die Bruchstücke zu einem Muster zusammen.

Er lag ziemlich fest verschnürt in einem pneumatischen Schoß, und das bewegliche Kissen an seiner Nase war ein lebendes Zwerchfell. »Ava?«, sagte er.

Er drehte den Kopf, um sich visuell zu überzeugen, dass seine Vermutung richtig war, und da dachte er, jetzt müsse er verrückt werden. Sein Computer hatte jedes Recht, bei solchen Daten zu streiken.

Über ihm lehnte eine freundlich-besorgte Fenella Harding, verkürzt in ihrer Perspektive, und das Gesicht war umgekehrt zwischen dem V, das ihre Brüste bildeten, sichtbar. Da sie im Vordergrund waren, beherrschten sie das Bild. Ihm war, als werde er von der Großen Mutter Hera aufgeweckt. Sein erster Gedanke war der, dass er tot und an der ganzen Mythologie doch etwas Wahres sein müsse.

Fenella war von seiner Reaktion verblüfft. »Was ist denn, Ben?«, fragte sie. »Ist was nicht in Ordnung? Du bist von dieser schmalen Couch runtergefallen. Ich weiß wirklich nicht, warum du ausgerechnet hier schlafen wolltest. In deinem Bett und bei mir hättest du's viel bequemer gehabt.«

Die Stimme drang durch einen lebenden Transmitter direkt an sein Ohr und klärte die Sache. Tatsachen trabten hörbar herum und suchten ihren Platz. Es war vor allem taghell. Er schob die Locken aus seinem Gesicht, wohin die Schwerkraft sie hatte fallen lassen und sagte: »Vielen Dank, Fenella, du bist eine großartige Hilfe. Wie spät ist es denn, um Himmels willen? Du solltest schon längst hier weg sein.«

»Das ist aber ein bisschen schwierig.«

»Das kann ich mir denken.«

»Wir haben beide verschlafen. Jetzt ist es gleich halb neun, und in den Korridoren ist ziemlich viel Betrieb.«

Nim musste Dogood handeln. Vorerst setzte er sich auf. Das war nicht sehr vorteilhaft, denn sein Kopf schmerzte von einem engen Eisenreif, der um seine Schläfen lag. »Ich dusche jetzt«, sagte er. »Du machst Kaffee und ziehst dein Hemdchen an. So, wie die Dinge im Moment liegen, würde sie jeder zufällige Besucher ebenso missverstehen wie meine lauteren Absichten.«

Kaum hatte er begonnen, sich im Leben des neuen Tages zurechtzufinden, als sie an die Plexiglastür hämmerte.

Er war sehr verbittert, weil kein Winkel seiner kleinen Wohninsel mehr ihm gehörte. Jeder, der mit Fenella einen Paarungskontrakt abschloss, musste sich mit einem Siamesischen-Zwillingssyndrom herumschlagen. Durch das beschlagene Glas konnte er sehen, wie sich ihr Mund bewegte, doch er hörte keinen menschlichen Laut. Es war so, als rede er mit einem Fisch. Er drehte also das Wasser ab und machte die Tür auf.

»Ja, was ist denn schon wieder?«, fragte er gereizt.

»Sei nicht so zu mir! Da war doch noch etwas. Und dein Haar ist ganz angeklatscht und dunkel, du siehst damit ganz anders aus. Soll ich dir den Rücken schrubben?«

»Was war sonst noch?«

»Ah, ein Anruf. Ich hab' ihn abgenommen, bevor ich mich erinnern konnte, wo ich war. Ein Mädchen. Deborah Sowieso. Die würde dir bestimmt nicht gefallen. Sah schrecklich übellaunig aus.«

»Was wollte sie denn?«

»Als sie sah, dass nicht du es warst, hat sie wieder abgeschaltet. Sie sagte, sie sähe ja, dass du's gar nicht wissen wolltest. Die hast du jedenfalls los. War ja auch gar nicht dein Typ.«

»Wann war das?«

»Bevor du von dieser schmalen Couch gefallen bist, auf der du unbedingt schlafen wolltest. Ich war so besorgt um dich, dass ich gar nichts anderes mehr denken konnte. Hast du ein Glück, dass ich es war! Die andere hätte dich am Boden verbluten lassen.«

Dogood verspürte ein wenig Mitleid mit Barney Friedman. Wenn er Fenella in tiefer Trance hielt, tat er allen Menschen einen großen Gefallen. Er trocknete sich erst gar nicht ab, schlüpfte in seinen Morgenrock und ging zur Außentür. »Du wartest hier. Aber rühr dich nicht. Und geh nicht ans Video. Ich bin sofort wieder da.«

Es, dauerte keine zwei Minuten, da war er wieder zurück. Sie stand noch am selben Fleck und schwankte ein wenig.

»Das ziehst du jetzt an, und kein Wort dagegen!«

Es war ein Reservearbeitsanzug aus dem Schrank des Hausmeisters, und sie hatte einige Schwierigkeiten, den Reißverschluss ganz bis obenhin zuzuziehen. Die Plakette an der Brusttasche stand in einem kühnen Winkel vom Torso ab. Ihre langen schwarzen Locken fielen ihr ins Gesicht. Niemand, der seine fünf Sinne in Ordnung hatte, konnte denken, sie sei tatsächlich ein Handwerker, der Reparaturen ausführte.

»Willst du mir wirklich helfen?«, fragte er.

»Aber sicher! Das weißt du doch. Schau doch nur, wie ich für dich gesorgt habe, als du aus dem Bett fielst, wo du doch gar nicht da hättest schlafen sollen.«

»Gut. Wir schneiden dir jetzt etwas von deinem Haar ab. Das wächst wieder von selbst nach. Wird interessant aussehen.«

»Magst du mich dann auch noch so gern wie mit Haar?«

»Noch viel lieber.«

»Ah, dann ist's gut.«

Als das Haar abgeschnitten und ihre schlanke Mitte mit ihrem Kleidchen ausgepolstert war, konnte man sie bei schlechter Beleuchtung für einen ziemlich fetten und weibischen Hausknecht halten.

Er ging noch einmal weg und kam mit einem dicken Stoß Papierhandtüchern zurück. »Die nimmst du. Damit gehst du ins Erdgeschoss und über die Lieferantenveranda hinaus. Ab mit dir.«

»Wann seh' ich dich wieder?«

Dogood war im Grund ein herzensguter Mann und verkniff sich deshalb ein: Hoffentlich-niemals-Wieder. Er sagte: »Du kannst mich am Abend anrufen und mir erzählen, wie du's geschafft hast.«

Als sie gegangen war, stopfte er das abgeschnittene Haar in einen Socken und kam sich wie ein Mörder vor, der die letzten Spuren seines Opfers beseitigt. Den Socken schob er in seine Aktentasche. Später, wenn er ein Stück von seiner Wohnung entfernt war, konnte er ihn wegwerfen. Sollte er je einmal gefunden werden, dann konnte sich der Finder mit dem Nachdenken darüber die Zeit vertreiben.

Später nahm er dann den Socken aus der Tasche und ließ ihn unauffällig auf einem Expressweg nach Denham City, Transregiondepot, über das Geländer fallen. Fünf Minuten später öffnete er seine Bürotür. Er summte sogar ein paar Takte von Griegs Morgen, weil das die einzige Melodie war, an die er sich je erinnern konnte. Der Empfangs-Android hob einen eleganten Finger, und seine prächtige Laune welkte dahin. »Dr. Koestler wartet auf Sie«, wurde ihm mitgeteilt.

Als er durch die Schwingtür ging, stach sie ihm ein symbolisches Messer zwischen die Schulterblätter in Form einer weiteren Mitteilung: »Miss Cain wartet auch.«

»Wo?«

»Sue Bairstow nahm sie in das Hauptbüro mit.«

»Sehr gut. Du rufst sofort Sue Bairstow an und sagst ihr, sie solle Miss Cain aufbewahren, bis ich mit Koestler fertig bin.«

Der Wachhund des Vorsitzenden hatte sich in seinem Büro behaglich niedergelassen und spielte am Schreibtisch mit einem Versuchsmodell, bei dem eine unregelmäßig geformte Masse auf einen Kegel so zentriert wurde, dass sie ein Minimum an Bewegungen ausführte. Koestler benützte dazu einen Granitstein, der so unregelmäßig war, wie man sich ihn nur wünschen konnte. »Ah, da sind Sie ja, Duguid«, sagte er und schaute auf. »Ein raffiniertes Ding. Ihre Entwicklung?«

»Eine gemeinsame Idee. Ich habe nämlich ein gutes Team. Wir spielen gelegentlich mit Ideen. Ein rollender Stein nimmt schnell Tempo auf.«

»Dafür sind Sie heute früh von der langsameren Sorte.«

Das überhörte Dogood, da er mit einer Entschuldigung eine Schuld zugegeben hätte. Er rutschte lieber auf seinem Stuhl herum wie ein Mann, der ein reichhaltiges Programm hatte, und fragte: »Weshalb wollten Sie mich sehen?«

An Koestler war ein guter Schauspieler verlorengegangen. Jeder hätte zuhören können, und vielleicht hoffte er auf Lauscher. »Eine unserer Forschungsfilialen könnte die Hilfe eines Spezialisten aus Ihrer Sektion brauchen«, sagte er. »Es wäre vielleicht billiger und einfacher, wenn wir gewisse Maschinen umbauen, statt neue anzuschaffen. Diese Filiale ist ein wenig abgelegen und wird nicht für so wichtig gehalten, dass man viel Kapital investieren möchte. Wenn Sie sich für ein paar Tage freimachen würden, könnten Sie vielleicht einen Rat geben.«

»Sicher. Wann soll es sein?«

»Sobald wie möglich. Heute, wenn Sie Ihr Programm entsprechend umbauen können. Es liegt den Leuten sehr viel daran, schnell vorwärtszukommen.«

»Heute ginge es ganz gut. Wo liegt diese Filiale?«

»In der Region Tripoli. Warm. Dort wird es Ihnen gefallen.«

»Wäre es nicht besser, ich würde mir eine Hilfe mitnehmen? Sie wissen ja, dass ich die Versetzung einer statistischen Fachkraft in meine Abteilung beantragt habe. Wenn Sie diese Sache etwas beschleunigen könnten, wäre es eine große Hilfe.«

»Sicher. Sie haben also schon eine bestimmte Person ins Auge gefasst?«

»Ja, ein Mädchen von O.G. Sie ist bereit, in meine Abteilung zu kommen. Müßte eine sehr wertvolle Mitarbeiterin werden. Ich habe mich genau umgehört. Die Qualifikationen sind genau richtig, und hier sind die Einzelheiten.« Dogood tippte mit der linken Hand auf einer kleinen Tastatur, worauf sich aus dem Schlitz ein dünner bedruckter Metallstreifen herausschob. Den riss er ab und reichte ihn Koestler.

»Schön. Ich werde mich darum kümmern. Sie können sich Ihre Reisedokumente und dergleichen diesen Nachmittag abholen. Ein firmeneigener Transkontinentalwagen steht Ihnen zur Verfügung, ein Luftwagen natürlich. Ab sechzehn Uhr ist er einsatzbereit.«

»V. I. P.-Behandlung.«

»Nun ja, der Vorsitzende legt sehr großen Wert darauf, dass die Sache ohne Zeitverlust über die Bühne geht.«

Hinter der Tür zum großen Büro war eine Bewegung zu vernehmen; das erinnerte ihn daran, dass noch jemand auf ihn wartete. Aber etwas verblüffte Dogood doch. Es waren zwei Türen, je eine am Ende eines kurzen Ganges von etwa zwei Metern Länge, denn in beiden Räumen gab es links und rechts von den Türen tiefe, eingebaute Wandschränke. Er hatte jedoch nicht gehört, dass die äußere Tür geöffnet worden wäre.

Er huschte also auf leisen Katzenpfoten durch sein Büro und riss abrupt die Tür auf.

Reg Foden hob sein dunkles, schmales Gesicht auf, denn er kroch auf Händen und Knien am Boden herum. »Ich wollte gerade zu Ihnen kommen, Dr. Duguid, um Ihnen die Entwürfe für diesen Automaten aus elastischem Stahl zu bringen«, sagte er von unten her.

»Dann schieben Sie's nur ruhig über den Boden und lassen Sie's unter dem Schreibtisch liegen. Es kann sein, dass sie dort ein paar Tage warten müssen. Ich muss nämlich verreisen. Dr. Koestler, dies hier ist Reg Foden. Er hat ab und zu mal eine gute Idee.«

Als der Mann gegangen war, sagte Koestler: »Hoffentlich haben Sie eine gute Reise. Wenn Sie zurück sind, berichten Sie mir, ja?«

Er hatte inzwischen auch das Druckgerätchen für sich selbst benützt und reichte Dogood nun ein dünnes Metallplättchen. Darauf war zu lesen: Sicherheitsdienst wird Foden überprüfen. Inzwischen passen Si-e auf.

»Danke sehr, Dr. Koestler«, sagte Dogood laut. »Das müsste ganz interessant werden. In dieser Gegend war ich nämlich noch nicht.«

 

Aufpassen war, im eigentlichen Sinn des Wortes, im Moment eine bloße Theorie. Erst musste er noch mit Deborah Cain ins Reine kommen. Natürlich hatte er ein schlechtes Gewissen, und das war ja das Ärgerliche. Er hätte diese Entwicklung niemals zulassen dürfen. Recht hatte sie ja. Er rief also den Empfangs-Androiden an, der dem Hauptbüro Bescheid geben sollte, dass er jetzt frei sei wie ein Vogel.

Sie stürmte herein, und damit erstickte sie seine Selbstvorwürfe im Keim; an der Tür verhielt sie den Schritt nur so lange, bis sie ihn mit ihren Furienaugen entdeckt hatte, weil sie ihm die lange, dicke Halskette aus Elektrum am liebsten um den Hals gelegt und fest zugezogen hätte.

Das Warten hatte ihre Laune nicht verbessert, wohl aber ihre Taktik. Sie war ein dunkler, stämmiger Typ in engsitzendem weißem Mandarinkleid. Ihre Augen sprühten zornige Blitze. »Deine houri hat dir sicher erzählt, dass ich schon mal angerufen habe, und da war sie am Video«, begann sie mit messerscharfer Stimme. »Ich versuchte barmherzig zu sein und dir dein unverzeihliches Benehmen der letzten Tage zu verzeihen. Zum Glück hat es mich jedoch davor bewahrt, mich mit einem degenerado zusammenzutun. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich mit dir fertig bin. Es ist einfach meine verdammte menschliche und moralische Pflicht, jedes andere unglückliche Mädchen vor einem solchen Schicksal zu bewahren.«

Da war sie schon am Tisch angekommen, und Dogood öffnete den Mund, um ein Wort zugunsten des Angeklagten zu sprechen. Sie wehrte jedoch ab. »Nein, halt den Mund! Es wird dir nicht gelingen, die Situation noch zu ändern.«

Sie stemmte beide Hände auf die Platte, beugte sich weit vor und zischte ihm entgegen; »Du Sexmaniak!«

Ehe ihm ein besänftigendes Wort einfiel, war sie schon hinausgerauscht.

Ihr Spruch: Die Götter sind gerecht - sie machen unsere angenehmsten Laster zu Folterinstrumenten, hatte ihm schon immer gut gefallen. Überhaupt hatte sie zu seinem großen Vergnügen gern literarisch abgerundete Phrasen verwendet, was er auf ihre Tätigkeit als Abteilungsleiterin für Public Relations zurückführte.

Im Übrigen war eine große Last von seinen Schultern und seiner Seele gefallen. Er nahm die Kette, die sie auf den Tisch hatte fallen lassen und wog sie nachdenklich in der Hand. Das Medaillon trug die beiden hübsch verschlungenen Monogramme DC und BD, Symbol eines mit dem anderen verbundenen Schicksals. Das genügte, bei ihm die Gänsehaut mit den grünen Männchen zu erzeugen. Er steckte das Ding in die Tasche und ging zu Sue Bairstow hinaus, um sie über das zu unterrichten, was in seiner Abwesenheit zu geschehen hatte.

 

Averil Marlowe hatte sich zweimal durch die gleiche Faktorenanalyse gewühlt, als das Blinklicht auf ihrem Video sie zum Abteilungsleiter rief.

Jeder Pausenanlass war ihr willkommen. Anders als Dogood, der ja sein Problem kannte, suchte sie noch immer nach einer geeigneten Definition dafür, ob sie mm ein Problem habe oder nicht. Ein Teil ihres Verstandes machte ihr klar, Dogood sei ein liebenswerter Trottel, der sie in seine ganz persönlichen Fantasien einbeziehen wolle.

Andererseits anerkannte ein tieferes Stockwerk ihres Geistes das, was er sagte. Sie selbst hatte das Gefühl, ihn schon sehr lange zu kennen. Wenn es stimmte, dass für jede Frau irgendwo in unserer Menschenwelt die männliche Hälfte existierte und auf das Erkennen wartete, dann konnte dieser Mann ihre Hälfte sein.

Sie machte sich mit dem Gedanken vertraut, ihn nie mehr zu sehen. Okay. Sie hatte einen interessanten Job, und man konnte unzählige Erfahrungen und Erlebnisse sammeln, ehe das Große Vergessen den Faden abschnitt. Das musste doch reichen. Also brauchte sie ihn nicht.

Als sie noch zwei Schritte vom Büro des Chefs entfernt war, wusste sie, dass all das nur eine Selbsttäuschung war. Vielleicht brauchte er Hilfe; die hatte sie auch gebraucht, ehe man sie im Hospital überholte. Sie sollte ihn besser vor Lasmech warnen. Diese Entscheidung war eine Erleichterung für sie, denn sie schien absolut richtig zu sein. Fast war sie nun fröhlich.

Ein wenig Euphorie war auch das, was sie brauchte. Der Direktor der OG-Sektion war ein großer, magerer alter Her, der schon ein wenig gebückt ging und einen kahlen Eierkopf hatte. Er hatte eine hohe Keifstimme, die immer vorwurfsvoll klang. Allerdings war seine Annahme berechtigt, dass seine Abteilung die Beute anderer einflussreicherer Direktoren war, die trotz seiner Proteste alle tüchtigen Mitarbeiter für ihre eigenen Abteilungen herauspickten.

»Warum sind Sie hier mit Ihrer Arbeit nicht zufrieden, Miss Marlowe?«, fragte er. »Ich bin überrascht, dass Sie eine Versetzung beantragen. Sie wissen doch, dass ich Sie nach Ihrer Krankheit an den gleichen Posten wie vorher gesetzt habe. Dabei hätten Sie mit einem minderen Posten zufrieden sein müssen. Ich habe von Ihnen wirklich mehr Loyalität erwartet.«

»Ich habe ja gar nicht um Versetzung gebeten, Direktor. Der Vorschlag wurde mir gemacht. Ich arbeite gern hier und bin Ihnen für Ihre Hilfe außerordentlich dankbar.«

»Sie hätten doch den Vorschlag ablehnen können.«

»Ich denke aber, eine Veränderung wäre ganz gut.«

»Vielleicht. Vielleicht. Ihr jungen Leute denkt aber niemals an die für mich damit verbundenen Unbequemlichkeiten. Ich habe ja Termine einzuhalten. Aber immer werden über meinen Kopf hinweg Entscheidungen getroffen. Es wäre wenigstens ein Gebot der Höflichkeit gewesen, mir zu sagen, was da im Gange ist.«

»Man hat mir diesen Vorschlag erst gestern gemacht. Selbstverständlich hätte ich Sie Rechtzeitig vorher unterrichtet.«

»Das können Sie sich jetzt sparen. Mir scheint, Ihre Dienste werden von anderen höher geschätzt als von mir. Sie gehen also noch heute. Für Ihre Versetzung zum Department K liegt eine besondere Weisung vom Vorsitzenden vor. Das wäre alles. Ich kann, wenn ich ehrlich bin, nicht behaupten, es hätte mich gefreut.«

Von diesem Mann ging so etwas wie eine schwächliche Bosheit aus. Averil hatte das Gefühl, damit wolle er jeden Dank von ihrer Seite unmöglich machen. »Dann will ich nur meine persönlichen Sachen zusammenholen und gehen. Leben Sie wohl, Direktor«, sagte sie.

Immerhin war es ein Stück ihres Lebens, das sie abgeschlossen hinter sich ließ. Sie hatte Jahre in dieser Abteilung verbracht, die irgendwie zu ihrer seelischen Einrichtung gehörte. Wie konnte es sein, dass, wie Duguid sagte, er und sie zusammen auf einer Stufe einer ganz anderen Realität standen?

Sie griff nach, ihrer Tasche. Wirklich, es war wenig da, was an die lange Zugehörigkeit zur Abteilung erinnerte. Ein morbider Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Sie bereitete sich auf den Tod vor und musste jetzt alles schön sauber und ordentlich für den nächsten Benutzer ihrer Raum-Zeit-Nische zurücklassen.

Im Department K hatte sie Duguid zu sehen gehofft, da sie einer Versicherung bedurfte, dass das, was sie tat, auch sinnvoll sei. Er war aber nicht da. Sue Bairstow brachte sie ohne viel Begeisterung ins Hauptbüro. Alle schienen schon zu wissen, dass der Boss sie persönlich ausgesucht hatte, und alle schienen auch Nachteile davon zu erwarten.

Jim Kent und Trudy Gale nickten ihr unverbindlich zu. Die einzige einigermaßen vernünftige Begrüßung kam von Reg Fo- den, der vor allem sofort ein genaues körperliches Inventar aufnahm, als wolle er von ihr ein Bild malen. »Hierher, Averil«, sagte er. »Teilen Sie meine kleine Ecke mit mir, bis Ihr Schreibtisch gebracht wird. Von Ben werden Sie heute nicht mehr viel zu sehen bekommen. Von seiner Freundin hat er eine gewaltige Abreibung bezogen, und jetzt ist er auf Tauchstation gegangen. Hat ja Recht. Aber schließlich hat er ihr doch Unrecht getan. Einen Paarungskontrakt einfach zu verpatzen! Vergangene Nacht hatte er ein Mädchen bei sich zu Hause. Wie eine Fregatte kam sie hereingesegelt und hat ihn unter die Wasserlinie gedrückt. Aber das werden Sie ja wissen, nehme ich an.«

»Nein, über Dr. Duguid weiß ich sehr wenig. Ich wurde hierher versetzt, weil es in dieser Sektion ziemlich viel Extraarbeit gibt. Wenn jemand mir sagen könnte, welche Art Arbeit es ist, könnte ich sofort anfangen.«

»Nun ja, bis jetzt haben wir nichts für Sie. An unsere Arbeitsweise müssen Sie sich wohl erst gewöhnen. Manchmal sitzen wir nur da und denken nach, und manchmal denken wir nicht mal. Wir leben von unseren Ideen. Welche Art Ideen haben Sie? Ich hätte eben jetzt eine recht gute.«

Er sprach sehr freundlich, aber diese Freundlichkeit kam aus dem Mund und vertrocknete, ehe sie die Augen erreichte. Irgendwie glich er einem Reptil.

Sie hätte nie auf diesen Vorschlag eingehen sollen. Sie sah voraus, dass sie eines Tages irgendwie in die Intrigen der Sektion verwickelt werden könnte, und das passte ihr nicht.

»Wenn jetzt im Moment für mich nichts zu tun ist«, hörte sich Averil Marlowe sagen, »dann komme ich später wieder.

Ich habe die andere Abteilung überstürzt verlassen, weil es, wie mir gesagt wurde, sehr eilig sei. Ich werde meine Umschreibung veranlassen.«

Umschreibung und neue Abzeichen waren nur ein Vorwand; sie musste hier weg. Die Registrierung hätte auch noch einen Tag warten können.

Wanderlust schien die Frauen ihrer Altersgruppe erfasst zu haben, denn an ihrem Schalter stand schon eine lange Schlange an. Sie fühlte sich heimat- und besitzlos und hatte Mitleid mit sich und allen übrigen, die hier warteten. Zudem fiel ihr auch Fodens Bemerkung über seinen Direktor ein. Dieser Mann würde alles übertreiben und war sicher ein Störfaktor. Es stimmte allerdings, dass Duguid nichts von einem Paarungskontrakt erwähnt hatte. Nun, viel Zeit dafür war ja auch nicht gewesen. Was verbarg er sonst noch vor ihr? Sobald sie nicht in seiner Nähe war, kamen die Zweifel an ihm.

Die Schau nach innen schirmte sie nach außen ab.

Sie bemerkte daher nicht, wie es plötzlich viel kälter und viel stiller zu werden schien, als drei Conform-Garden in der Lobby auftauchten.

Der eine blieb am Eingang stehen, die anderen beiden marschierten direkt auf sie zu. Das bemerkte sie erst, als je einer direkt neben ihr stand.

»Averil Marlowe?«, fragte der Mann rechts.

Zum ersten Mal kam ihr dieser Name nicht vertraut vor. Aber er stand auf ihrem Namensschild und in den Papieren, die sie gerade hatte vorlegen wollen. Er hatte Recht.

»Ja.«

»Sie müssen mitkommen.«

»Wohin?«

»Die Fragen stelle ich. Sie folgen den Weisungen.«

»Ich werde in meiner Sektion erwartet. Ich rufe dort an und sage, wo ich bin.«

»Das ist nicht nötig.«

»Ich habe ein Recht, zu erfahren, wohin ich gebracht werde.«

Darauf bekam sie keine Antwort. Der schweigende der beiden Männer packte sie am Ellbogen. Die Leute in ihrer Nachbarschaft waren vorsichtig zurückgewichen. Sie war völlig allein. Niemand war bereit, für ihre Freiheit etwas zu riskieren. Nun flammte ihr Stolz auf. Sie ließ sich nicht von der Bühne zerren oder stoßen. Nein, sie nicht.

»Nehmen Sie Ihre Hände von mir«, fuhr sie die beiden an. »Das ist völlig unnötig, dass Sie mich anfassen.« Und sie ging mit.

 

Dogood kehrte mit einem ganzen Paket Reisepapieren in sein Büro zurück und rief seine Assistentin zu sich.

»Ist das Mädchen vom OG noch nicht aufgekreuzt?«, fragte er, und beinahe hätte er den Namen »Ava Mallam« benützt.

»Sie kam und ging wieder.«

»Sagte sie, wohin sie ging?«

»Ich denke, in den Administrationssilo.«

»Wie lange ist das schon her?«

»Gute halbe Stunde. Sie sollte eigentlich schon zurück sein.«

Er wartete eine weitere halbe Stunde, und das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, verstärkte sich von Minute zu Minute. Dann rief er OG an. Vielleicht war sie dorthin zurückgekehrt.

Man sagte ihm, sie sei nicht zurückgekommen, und alle für Averil Marlowe einlaufenden Mitteilungen sollten an das Department K weitergeleitet werden.

Der Hausmeister ihres Schlafblockes trottete davon, um nachzusehen. Dogood wusste im Voraus, dass sie nicht dort sein würde.

Er nahm seine Aktentasche. Sie war schwer. Ah, sie enthielt ja noch dieses Geistband. Vielleicht konnte es ihm nützen. Als er den Administrationssilo erreichte, war er atemlos.

Unter Weiblich DC 11 lag keine Registration auf ihren Namen vor. »Stimmt das auch?« drängte er. »An diese Frau würden Sie sich ganz bestimmt erinnern. Sie ist groß und rothaarig, und sie machte sich auf den Weg hierher.«

Nahm man einen gewissen Rang ein, so lief sofort alles nach einem gewissen Protokoll ab. Die Frau am Schalter sagte ihm also nicht, er solle sich zum Teufel scheren, sondern dachte einen Moment nach. »Ach, die! Sie kam gar nicht an den Schalter, weil sie mit zwei Conform-Garden wegging.«

»Wann war das?«

»Vor ungefähr einer Stunde.«

Also wieder Lasmech. Er war nicht zufrieden mit den Erklärungen der vergangenen Nacht, oder Friedman hatte ihm einen Wink gegeben, nachdem der Beweis gegen ihn selbst aus seiner Praxis entfernt war. Es wäre für ihn ganz einfach gewesen, in aller Unschuld zu berichten, er glaube, jemand habe mit dem Profilbericht der Marlowe herumgepfuscht.

Dogood bestellte sofort einen Stadtwagen und ließ sich vom Androidenpiloten zum Conform-Hauptquartier bringen.

Es war eine sehr eindrucksvolle Burg, fast eine Festung aus imitiertem Portlandstein und Bändern schwarzen Basalts. Wäre der Bau kleiner gewesen, hätte man an ein Mausoleum für einen Ölscheich des zwanzigsten Jahrhunderts denken können, doch solche Denkmäler waren längst aus der Mode. Es war einfach, in die Halle zu gelangen, aber die Schwingtür schloss sich mit einem scharfen Klicken hinter ihm, und er wusste, hinaus würde er nur mit der Spezialerlaubnis des obersten Bosses kommen.

Eine Frau, die Gerda Sibleys ältere Schwester hätte sein können, starrte ihm teilnahmslos entgegen, bis er einen Meter vor ihrem Tisch stehenblieb.

»Wurde Miss Averil Marlowe hierher gebracht?«, fragte er sie.

»Wer sind Sie?«

Das war eine gute Frage, und Dogood hätte sie auch gern und ausführlich beantwortet, aber ihr Ton sagte ihm nicht zu. Er kannte das alte Sprichwort von den kleinen Bürotypen, die nur dann hüpfen, wenn jemand eine Peitsche zischen lässt. Er lehnte sich über den Tisch, setzte eine ziemlich hämische Miene auf und erklärte mit einem nicht zu überhörenden schneidenden Unterton: »Das geht Sie nichts an, wer ich bin. Wenn ich nicht sofort eine freundliche Antwort auf eine freundliche Anfrage bekomme, kriegen Sie einen Tritt in den Hintern, dass Sie durch die geschlossene Tür fliegen. Schauen Sie in Ihrem Eingangsbuch nach.«

Es war mindestens ein Teilerfolg. Sie drückte auf einen Hebel, und auf einer beleuchteten Wandtafel erschienen die Eingänge des Morgens.

»Der Name steht nicht auf der Liste.«

»1st Lasmech da?«

»Controller Lasmech hat zu tun. Er wird den Vormittag hindurch keinen Besuch empfangen.«

»Mich schon. Rufen Sie ihn an.«

»Wie heißen Sie?«

»Direktor Duguid von Cybernat.«

Die Stimme am anderen Ende war nicht zu hören, aber in den blassblauen Augen über dem Sprechgerät blühte die dunkle Blume der Bosheit auf.

»Sie hatten Recht, Direktor«, sagte sie. »Er wartet sogar auf Sie. Gehen Sie direkt nach oben. Zimmer 31 im neunten Stock.«

»Kommen Sie nur rein, Dr. Duguid!«, rief Lasmech. »Ich dachte schon, dass Sie kommen würden. Miss Marlowe war sehr gesprächig. Sehr! Aber Sie werden doch noch ein paar Lücken ausfüllen können.«

Averil Marlowe wurde von breiten Spangen an einem freistehenden Brett aufrecht gehalten; zwei dieser Spangen hielten ihre Knöchel im Abstand von einem halben Meter, zwei weitere ihre Handgelenke in Kopfhöhe. Sie war nicht ansprechbar. In seiner leidenschaftlichen Suche nach der Wahrheit hatte er sie abgeschält wie eine Zwiebel; ihre Kleidung bestand nur noch aus einem mit Elektroden bestückten Schädelkäppchen, das ihr rotes Haar verbarg.

Sie folgte ihm mit den Augen, die nur noch aus Pupillen zu bestehen und um Verzeihung zu bitten schienen.

 

 

 

 

 

6.

 

 

 

 

 

Wie eine rote Welle überflutete ihn der Zorn. Dogood sah Lasmech von einem Schimmer umgeben, wie durch die erhitzte Luft eines Kohlenbeckens. Die Wut würgte ihn geradezu, so dass er keinen Ton herausbrachte.

Lasmech hatte keine solchen Hemmungen. »Ihnen zuliebe«, sagte er, »wird Miss Marlowe die ganze Sache noch einmal durchgehen. Dann werden Sie nämlich wissen, wie unklug es ist, etwas zurückhalten zu wollen.«

Averil hatte solche Angst davor, dass sie sich anstrengte, die Halteklammern zu sprengen. Einmal war mehr als genug. Lasmech sagte: »Operator, die ganze Folge wiederholen.« Ein Android kam staksend ins Bild, streckte die Hände aus nach einer langen Reihe von Mikroschaltern neben ihrem Kopf und...

Diese Bewegung ließ bei Dogood sämtliche Sicherungen durchbrennen. Sein Zorn hatte ein sicht- und treffbares Ziel. Im nächsten Moment hatte er seinen kleinen Blaster in der Hand und bestrich damit in einer schwingenden Bewegung alle ihm wichtig erscheinenden Ziele, bis er schließlich den Lauf direkt auf Lasmechs Nase richtete. »Das Ding hier lähmt den Bewegungsmechanismus«, erklärte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Gott weiß, was es in deinem Madengehirn anstellen wird, du Strolch. Glaub mir, Lasmech, eine einzige hastige Bewegung, dann bist du ein totes Schwein. Nimm das Mädchen vom Brett. Ich zähle bis drei. Danach hast du keine Interessen mehr.«

Lasmech bewegte sich schon bei eins, denn er war restlos überzeugt. Sonst war er nur blass, jetzt leuchtete er kreideweiß. Seine dürftige Menge roten, warmen Blutes hatte alle Außenregionen verlassen, um seinen Lebensnerv zu nähren, der, wie Dogood als sicher annahm, eine mit Steinen und verdickter Galle gefüllte Gallenblase sein musste.

Aus dem Augenwinkel heraus sah Dogood Gerda Sibley, die hinter dem Tisch ihres Chefs gestanden hatte; ihr befahl er mit einer Handbewegung, sie solle vortreten. Der Blaster war noch immer auf ihren Boss gerichtet, dem auch seine Worte galten: »Sag deinem blonden Gespenst, es soll Stillstehen.«

»Tu, was er sagt«, flüsterte Lasmech seiner Gehilfin zu. »Diesmal ist er zu weit gegangen. Jetzt kann ihn und das Mädchen nichts mehr retten.« Gleichzeitig drückte er den Knopf, der die Klammern an Averils Händen und Füßen löste, und er wandte sich Dogood zu.

Averil Marlowe zog sich sofort aus der Feuerlinie zurück. Lasmech und Gerda Sibley beobachteten sie, als sie hinter Dogood herumtappte und ihre Sandalen, die Unterwäsche und ihren lindgrünen Coverall zusammensuchte. Wo sollte sie sich anziehen? Da es keine andere Möglichkeit gab, schlüpfte sie schnell in ihre Kleider. »Ich bin fertig.«

Lasmech löste seine Augen von ihr und schaute Dogood an. »Ihr könnt nicht gehen. Die Türen öffnen sich nur von innen, wenn der Empfangstisch den Befehl dazu hat.«

Dogood hatte inzwischen nachgedacht. Für Typen wie Lasmech gab es nur ein Verfahren: Fußtritte austeilen, wenn man sie nicht selbst beziehen wollte. Aber der Mann war intelligent, und er sah seine Interessen in Balkenlettern auf einer Seite Kleingedrucktem. Dogood ließ also den Lauf seines Blasters ein wenig sinken ünd schlug einen Ton an, der ihn selbst am meisten überraschte.

»Gut, Lasmech. Ich glaube Ihnen. Setzen Sie sich an Ihren Tisch und entspannen Sie sich. Ich will Ihnen was sagen. Es wird Sie überraschen, zu hören, dass ich Sie jetzt vor einem sehr hässlichen Dilemma bewahrt habe. Einzelheiten kann ich aus Gründen der Geheimhaltung nicht geben, aber wenn Sie mich auf Ihr Folterbrett spannen würden, wäre das Ihren Vorgesetzten ganz und gar nicht recht. Ich verlange, dass Sie sofort den Vorsitzenden der Cybernat anrufen. Sagen Sie ihm, dass ich mit einem Mitglied meiner Abteilung bei Ihnen bin. Sie sehen dann schon, wie er reagiert.«

»Und wenn ich mich weigere? Sie haben sich selbst außerhalb des Gesetzes gestellt, als Sie sich den Weg hier herein erzwangen und sich in eine gesetzlich genehmigte Vernehmung mischten. Ihr Vorsitzender kaum Sie nicht loseisen.«

»So viel will ich Ihnen sagen: Department K macht mehr als nur die Forschung für Cybernat. Es wird also auch nicht der Vorsitzende von Cybernat sein, der Sie aus Ihrer Stellung feuert. Weiß Gott, weshalb ich Ihnen diesen Gefallen tue.«

Lasmech erkannte die Wahrheit, wenn er sie hörte, und er kam sofort zu einer Entscheidung. Er konnte diese Sache zurück- stellen, sich etwas anderes einfallen lassen und diesen verdammten Bastard später fertigmachen. Und das Mädchen auch. Besonders das Mädchen, weil es Zeuge seiner Demütigung war.

»Es wird nicht nötig sein, Ihren Vorsitzenden anzurufen«, sagte er langsam. »Ich werde meine Nachforschungen anstellen, wann es mir passt. Inzwischen kommen immer mehr Anklagen gegen Sie zusammen. Sie werden die Stadt nicht verlassen, bevor ich mit meinen Ermittlungen durch bin. Für jetzt können Sie gehen.«

»Dann rufen Sie doch unten in der Halle an und machen Sie dort klar, dass wir die besten Freunde sind.«

»Wir?«

»Miss Marlowe kommt mit mir.«

Lasmech zögerte nur einen Sekundenbruchteil. »Na, schön. Sie hat mir bereits ziemlich viele Informationen gegeben. Keine davon richtet sich gegen das Interesse der Öffentlichkeit, aber die medizinische Seite ist recht aufschlussreich. Da sie für Ihre Abteilung neu ist, können Sie nichts dagegen haben, wenn sie erneut klinisch überprüft wird. Controller Sibley wird Sie nach unten bringen.«

 

 

Sie waren auf einem leeren Fußweg zum Cybernat-Gelände, als Averil Marlowe endlich sprach. Dort, wo sie gerade waren, hatte Dogood sie vor achtundvierzig Stunden angesprochen.

»Das ist nicht gut«, sagte sie jetzt. »Wir können nicht gewinnen. Aber vielen Dank dafür, dass du mich dort rausgeholt hast.«

»Alles hängt davon ab, was du unter »gewinnen« verstehst. Wir gewinnen ein wenig Zeit. Das ist doch nicht schlecht.«

»Zeit, um was zu tun?«

»Etwa um etwas über uns herauszufinden. Sagt dir der Name Ava Mallam noch immer nichts?«

»Ich weiß nicht. Du hast diesen Namen so oft gebraucht, dass er mir allmählich vertraut ist. Aber ich kann nicht mehr darüber nachdenken. Ich brauche unbedingt Schlaf.«

»Dafür ist unterwegs Zeit genug. Wir fliegen nach Afrika.«

»Du hast doch gehört, was er sagte. Wir dürfen die Stadt nicht verlassen.«

»Das kann er mit Cybernat ausmachen, wenn wir weg sind. Wichtig ist, dass wir ihn jetzt loskriegen. Ich werde mit dem Vorsitzenden sprechen. Ich denke, er wird die Hexenjagd schon abstellen. Wenn er ein paar Tage Zeit hat, wird er schon was tun.« Dogood legte eine Hand auf ihren Arm, und sie fühlte durch den dünnen Stoff ihres Kleides deren Wärme. »Vertrau mir doch«, bat er.

»Was bleibt mir anderes übrig?«

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, und da nahm sie aus dem Augenwinkel heraus, gerade am Rand ihres Blickfeldes, einen dunklen Schatten wahr. Sie wirbelte weiter herum und sah den Weg entlang. Ein Conform-Wächter hatte den Expressweg an einer Aussteigbucht verlassen und kam in hundert Metern Entfernung an ihnen vorüber.

An der Veranda bei Cybernat war ein weiterer postiert. Als sie die Halle vor Department K betraten, war dort ein dritter, der neben der Tür zum Empfangsraum an der Wand lehnte. Er sah kurz Dogood an und hakte ihn auf einem Zettel im linken Ärmelaufschlag ab. Averil atmete erleichtert auf, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten.

Der Empfangs-Android erkannte den Herrn und

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Authors/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Peter Sladek.
Übersetzung: Horst Pukallus, , Susi-Maria Roediger, Christian Dörge, Birgit Reß-Bohusch und Leni Sobez (Susi-Maria Roediger mit freundlicher Genehmigung der Edition Bärenklau/Literatur-Agentur J. M. Munsonius).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 12.07.2018
ISBN: 978-3-7438-7491-6

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /