Cover

Leseprobe

 

 

 

 

HERBERT ZIERGIEBEL

 

 

Die andere Welt

 

 

KOSMOLOGIEN – SCIENCE FICTION AUS DER DDR, Band 2

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

DIE ANDERE WELT 

1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

7. 

8. 

9. 

10. 

11. 

12. 

13. 

14. 

15. 

16. 

17. 

18. 

19. 

20. 

21. 

22. 

 

 

Das Buch

Seit über neun Monaten sind drei Männer und eine Frau in ihrem Raumfahrzeug eingeschlossen. Sie waren Zeugen ihrer eigenen Beerdigung, haben keine Chance, die Erde wiederzusehen – sie gleichen Ameisen auf einem Korkstück, das auf den Wellen des Ozeans treibt.

Die vier Überlebenden ahnen nicht, dass man bereits nach ihnen sucht. Doch auch die kleine Rettungsexpedition ist den gnadenlosen Naturgewalten ausgesetzt...

Das ist der Konflikt dieses Romans: Die Konfrontation mit der ganzen Skala menschlicher Empfindungen, mit Leidenschaften, Furcht und Schwäche, aber auch mit Wagemut und ergreifender Menschlichkeit. Dem Leser wird nichts geschenkt; doch er wird auch über die letzte Zeile hinaus Anlass zum Nachdenken haben.

 

Herbert Ziergiebels Roman Die andere Welt, erstmals im Jahr 1966 veröffentlicht, erscheint als durchgesehene Neuausgabe im Apex-Verlag in der Reihe Kosmologien – Science Fiction aus der DDR.

Die andere Welt gilt bis heute als DAS Meisterwerk der DDR-Science-Fiction.

 

Der Autor

Herbert Ziergiebel,  (* 27. Juni 1922 in Nordhorn; † 11. September 1988 in Berlin).

Herbert Ziergiebel war ein deutscher Schriftsteller.

Ziergiebel wollte ursprünglich Ingenieur werden und erlernte zunächst den Beruf des Schlossers. Danach war er einige Zeit als technischer Zeichner und Konstrukteur tätig.

Während des Zweiten Weltkrieges war er im antifaschistischen Widerstand aktiv und wäre wegen illegaler Flugblätter in seiner Wohnung beinahe verhaftet worden, konnte aber kurz davor fliehen. Er tauchte zunächst in Tirol unter, wurde jedoch 1942 doch noch verhaftet und erst in Innsbruck, dann im KZ Dachau inhaftiert. Dort flüchtete er unter abenteuerlichen Umständen kurz vor der Befreiung 1945 durch die Amerikaner.

Er studierte nach dem Krieg Philosophie und Geschichte an der Humboldt-Universität in Berlin. Einige Jahre war er als Journalist u. a. in Budapest tätig, von wo er während des Volksaufstandes 1956 zurückbeordert wurde. Er hatte aber auch schon seine ersten Veröffentlichungen als freier Schriftsteller in Presse und Rundfunk (u. a. die Hörspiele Auf Wiedersehen, Gustav und Kapitän Brown verliert seine Wette).

Sein erster Roman Rebellen um Ferdinand von Schill wurde 1953 veröffentlicht. Es folgten zeitgeschichtliche Romane und Erzählungen wie 1959 Das Gesicht mit der Narbe (1962 von der DEFA verfilmt unter dem Titel Die letzte Chance – Regie: Hans-Joachim Kasprzik) und 1962 Satan hieß mich schweigen, in denen er sich mit seiner Zeit im KZ und den Wirren danach auseinandersetzt. Eine erste Skizze zu Das Gesicht mit der Narbe wurde bereits 1955 als autobiografische Kurzgeschichte unter dem Titel Die Flucht aus der Hölle veröffentlicht. Sein fast vergessener Roman Wenn es Tag wird (1963) ist ein familienbiografisches Werk, das in der Zeit der Weimarer Republik angesiedelt ist.

Nach seiner historischen Phase verlegte sich Ziergiebel auf Philosophisch-Fiktionales und veröffentlichte 1966 beim Verlag Das Neue Berlin seinen vielbeachteten Science-Fiction-Roman Die andere Welt, der – seiner Zeit weit voraus – die inneren Konflikte einer Raumschiffbesatzung schildert, die durch einen Unfall ins Weltall hinauskatapultiert wurde und mit der Tatsache ihres nahenden Todes zurechtkommen muss. Das Buch erlebte zahlreiche Nachauflagen und wurde ins Tschechische und ins Ungarische übersetzt. Franz Rottensteiner schrieb dazu: »Größere Ambitionen verrät Herbert Ziergiebels Raumfahrtroman Die andere Welt, eine ehrgeizige psychologische Studie einiger havarierter Raumfahrer.«

1972 folgte Zeit der Sternschnuppen, worin auf originelle und humorvolle Weise die Frage nach Leben im Weltraum beantwortet wird. Hier wird der Protagonist des Buches (samt seinem Dackel Waldi) von Aliens aufgelesen, weil ihnen aufgefallen ist, dass das irdische Mädchen, das sie vor ein paar tausend Jahren in Babylon mitgenommen hatten und infolge Dilatation kaum gealtert ist, nun einen Sexualpartner benötigen könnte. Großzügig setzen sie ihn und den Dackel noch einmal zu Hause ab, damit er sich zwischen seiner Heimat einerseits und einer Existenz zwischen den Sternen andererseits entscheiden kann. Er entscheidet sich gegen das Abenteuer.

Zerwürfnisse mit dem Schriftstellerverband der DDR im Zusammenhang mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann ließen es ruhiger werden um Herbert Ziergiebel. Er veröffentlichte lediglich noch die Science-Fiction-Erzählung Die Experimente des Professors von Pulex (erschienen im Sammelband Der Mann vom Anti) und 1975 unter dem Titel Vizedusa eine Sammlung humoristischer Anekdoten.

Danach zog er sich auf sein Grundstück Manik Maya in Spree-Au bei Berlin zurück, das seinen Lesern auch als Start- und Landeplatz der Raumschiffe aus seinen Romanen bekannt ist. Dort beschäftigte er sich viel mit Astronomie und verlegte sich mehr und mehr auf die Malerei.

Die Probleme der Umwelt und die Zukunft der Menschheit sollten das Thema eines weiteren Romans werden, der auf mehrere hundert Seiten angewachsen unter dem Arbeitstitel Am Tag als der Laleb kam unvollendet blieb.

Herbert Ziergiebel starb nach kurzer, schwerer Krankheit an einem Krebsleiden. Sein Grab befindet sich auf dem evangelischen Karlshorster und Neuen Friedrichsfelder Friedhof in Berlin-Karlshorst.

  DIE ANDERE WELT

 

 

 

 

 

 

Für Silvia und Jürgen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»Die gute alte Zeit - gut ist die alte Ja stets - sie ist dahin; die Gegenwart

Möcht' immerhin es sein, wenn sie nur wollte;

Gar Großes ist geschehen und geschieht.

Zu Größ'rem fehlt's nur an der Menschen Willen

Ein weit'rer Raum, ein grüner Feld ist denen.

Die ihre Streiche vor dem Himmel spielen.

Ob auch die Engel weinen, weiß ich nicht.

Allein die Menschen haben schon genug Geweint - weshalb?

Um wiederum zu weinen.«

 

aus: Das eherne Zeitalter von Lord Byron

 

 

 

 

 

 

 

  1.

 

 

Der Raum maß vier Schritte in der Länge und drei Schritte in der Breite. Cedrice Stuart hatte diesen Weg unzählige Male gemessen; er befand sich erst einundzwanzig Tage in diesem modernsten Gefängnis, das es auf der Erde im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts gab. Der Raum hieß Fok 2 und war eine Metallkammer mit einem runden Fenster. Es gab einen Liegesitz darin, eine Tafel mit Instrumenten, Sendern und Oszillographen, Steueranlagen und Radargeräte. Ringsum war das All mit seiner Stille, seiner uferlosen Weite, seiner Schwärze und seiner erhabenen Schönheit. Eine Messtafel zeigte die Geschwindigkeit der Fok 2 an. Sie betrug 2,6 km/s.

Theoretisch hatte der junge Mann bereits viele Millionen Kilometer zurückgelegt. In Wahrheit jedoch bewegte er sich keinen Zentimeter von der Stelle. Alles, was ihn umgab, war Imitation, war Lüge. Die Messinstrumente logen, und die Bordsender betrogen ihn. Die Sterne hinter dem Bullauge waren keine fünf Meter von ihm entfernt. Die ganze Einrichtung diente zur Aufrechterhaltung einer Täuschung. Cedrice Stuart wusste das. Er hatte sich diesem Test in der Fok 2 freiwillig unterzogen, und er war entschlossen, die drei Monate Einsamkeit und geisterhafte Stille mit aller Willenskraft zur Selbstdisziplin durchzustehen. Es war ein Test der Nerven und wohl auch der vorher nicht zu bestimmenden Charaktereigenschaften. Nur wer einen solchen Test erfolgreich bestand, hatte Aussicht, irgendwann einmal mit einem richtigen Raumschiff das Schwerefeld der Erde verlassen zu können.

Gut war dieser Raum der Wahrheitsfindung imitiert worden. Am Bordfenster zogen vertraute Planeten vorüber, Sternbilder wechselten ihre Position, und die Erde gab dem Eingeschlossenen ihre Kugelgestalt preis. Nur sehr selten wurden die Stille und die Einförmigkeit durch Anordnungen von draußen unterbrochen. Der Prüfling musste mit den Problemen, die auf ihn zukamen, selbst fertig werden, und es waren ungeahnte Probleme, die er zu bewältigen hatte. Es gab keinen Tag mehr und keine Nacht, die Uhr zeigte zwar die Stunde, aber kein Datum an. So kam es, dass Cedrice Stuart sein Bordtagebuch bereits falsch datiert hatte. Er wähnte sich schon dreißig Tage in der Fok 2.

Anfangs hatte Cedrice viel gelesen, doch die Stille machte ihn immer hellhöriger. Das Ticken der Armbanduhr störte ihn, und selbst das Umblättern der Buchseiten nahmen seine empfindlich gewordenen Sinne wahr. Je mehr er sich nach dem Ende des Testes sehnte, desto mehr dehnte sich die Zeit. Nach jeweils drei Stunden hätte er Gymnastik treiben müssen; mit diesen Übungen nahm er es schon seit Tagen nicht mehr so genau. Auch das Schlafen bereitete ihm Schwierigkeiten. Dieses natürliche Bedürfnis, das zum selbstverständlichen Lebensrhythmus gehört, empfand er unter diesen Bedingungen immer weniger. Cedrice Stuart verspürte nicht mehr jene wohltuende Müdigkeit, die den Schlaf forderte. Die zunehmende Schlaffheit seines Körpers ließ ihn in den Ruhestunden mehr dahindämmern als schlafen. Nicht anders verhielt es sich mit den Mahlzeiten. Er besaß einen Vorrat an Konserven mit einer Spezialnahrung, aber er aß ohne Appetit und genauso unregelmäßig, wie er edle vorgeschriebene Arbeiten verrichtete.

Cedrice Stuart bildete in seinem Verhalten durchaus keine Ausnahme. Jeder der zukünftigen Kosmonauten, hinter denen sich in diesem Raum die Tür für Monate schloss, wusste, dass er sich keinen Millimeter fortbewegte und dass man Willensstärke und Selbstdisziplin von ihm erwartete. Und jeder, der diesen Raum betrat, nahm sich vor, immer daran zu denken, sich keine Blöße zu geben. Doch spätestens nach zwanzig Tagen hatte auch der pedantischste Prüfling das Zeitgefühl verloren. Fast alle unterlagen der Fiktion, sich in einem wirklichen Raumschiff zu befinden, und mit dem Verlust des Zeitempfindens verlor sich auch früher oder später der Wille zur Disziplin. Am schlimmsten wirkte sich die Stille aus. Außer den geisterhaft am Bordfenster vorbeischwebenden Planeten oder dem lautlosen Pendeln einiger Messinstrumente rührte sich mitunter tagelang nichts. Die überreizten Nerven forderten die Phantasie heraus und regten zu wirren Träumen an. Draußen an den Bildschirmen beobachteten Ärzte und andere Spezialisten jede Bewegung und Äußerung des Eingeschlossenen. Zeigten sich krankhafte Symptome, so erfolgten über Lautsprecher Ermahnungen, in schweren Fällen wurde der Test abgebrochen.

 

Bei Cedrice Stuart erwiesen sich Ermahnungen vorerst noch nicht als erforderlich, wenngleich seine Akte bereits eine Anzahl von Minuspunkten aufwies. Sie bezogen sich vor allem auf seine mangelnde Bereitschaft zur Hygiene und zu den Gymnastikübungen. Er hatte sich seit Tagen nicht mehr rasiert; sein blonder Bart wucherte üppig, und im Gegensatz zu den Ärzten außerhalb der Testkammer zeigte Cedrice sichtliches Vergnügen, das tägliche Wachstum seines Bartes zu überprüfen.

Cedrice hatte etwas Nahrung zu sich genommen und gab sich nun redlich Mühe zu schlafen. Nach wenigen Minuten hatte er das Empfinden, bereits Stunden in der Ruhelage verbracht zu haben. Er stand wieder auf und fing an, auf und ab zu wandern. Vier Schritte hin, vier zurück. Es ist doch kurios, kam es ihm in den Sinn, da gibt es Menschen, die werden mit Gefängnis bestraft. Sie bekommen abwechslungsreicheres Essen als ich, und sie dürfen auch einmal täglich an die frische Luft. Und ich bewerbe mich um die Ehre, ein Vierteljahr eingesperrt sein zu dürfen. Immerhin, bald liegt die Hälfte der Zeit hinter mir...

Er gähnte und fühlte sich durch den kurzen, unruhigen Schlaf müder als zuvor. Abermals legte er sich hin und schloss die Augen. Wer weiß, vielleicht bin ich sogar schon viel länger hier?, sinnierte er, manch einer hat sich schon zu seinen Gunsten geirrt. Auf jeden Fall bin ich noch nicht nervös, und nach dem Test gibt es Ferien, acht lange Wochen nur Wasser und Wald und Anne...

Unzählige Male hatte Cedrice sich alles ausgemalt: den See im hohen Norden, das Blockhaus, ein Boot und dazu sein Mädchen. Es war die günstigste Jahreszeit, sie konnten hinausschwimmen und wie die Steinzeitmenschen kampieren. Er schwelgte in den Träumen künftiger Freuden, sah das Blockhaus vor sich, das sein Vater einst mit einigen Waldarbeitern gebaut hatte, und er dachte an die kleine Bucht, die der dichte Schilfgürtel freigab. Fast ein Jahr war er nicht mehr dort gewesen - zum letzten Male mit dem Vater wenige Wochen vor der Katastrophe. Der Sprung in die Vergangenheit, die nun neun Monate zurücklag, staute sich wie eine Hürde vor ihm auf, und wohin auch seine Gedanken eilten, die Bilder jener Stunden waren so lebendig in ihm, als hätte sich die Katastrophe erst vor wenigen Augenblicken abgespielt.

Cedrice wollte nicht daran denken. Vor dem Test hatte ihn der Arzt gewarnt und ermahnt. Na ja, dachte Cedrice jetzt, der hat leicht reden, er sitzt draußen mit seinen Kollegen. Woran soll ich sonst denken, wenn nicht an die Darwin, die zertrümmert in der Nähe des Kraters Klutarch liegt? Ich möchte wissen, ob die Besatzung jemals gefunden und zur Erde gebracht werden kann. Versprochen hatte man es. Was für ein Versprechen... Cedrice stand auf und trat ans Bordfenster. Er konnte den künstlichen Mond beobachten. Deutlich hoben sich die dunklen und hellen Ebenen voneinander ab. Irgendwo lagen dort die Trümmer der Darwin und die sechs Raumfahrer, bedeckt vom Staub einer anderen Welt. Die Suche nach ihnen war aufgegeben worden. Nur ich allein bin jetzt interessant, ging es Cedrice durch den Kopf, ein Versuchstier in einem Glaskasten. Ein Summton ließ ihn zusammenzucken. An der Schalttafel leuchtete eine Schrift auf: »Sie haben seit vierzehn Stunden keine Gymnastik getrieben.«

Cedrice las den Satz und dachte: Na und? Wieso seit vierzehn Stunden? Habe ich nicht erst vorhin an den Expandern gehangen? Seitdem sollen vierzehn Stunden vergangen sein? Er überlas seine letzte Eintragung im Bordtagebuch. Von Gymnastik kein Wort, aber Cedrice entsann sich genau, die Eintragung unmittelbar nach den Übungen gemacht zu haben. Er stand vor einem Phänomen und ahnte, dass etwas mit seinem Zeitgefühl nicht in Ordnung war. Dennoch fühlte er sich durch diesen Hinweis erleichtert, denn demnach musste seit seiner letzten Eintragung ins Bordtagebuch fast ein ganzer Tag vergangen sein.

An der Wand waren Expander angebracht, mit denen er seine Bein- und Armmuskulatur kräftigen konnte. Der Gedanke, dass bereits ein Drittel seiner freiwilligen Gefangenschaft hinter ihm lag, beflügelte seinen Eifer. Zehn Minuten lang spannte er die Federn der Expandier, bis er erschöpft innehielt. Als er sich hinlegte, um etwas auszuruhen, übermannte ihn nach wenigen Augenblicken tiefer Schlaf.

Die Tage an Bord des »Gespensterschiffes« schlichen träge dahin, und mit jeder Stunde wurde der Eingeschlossene unruhiger. Es können wirklich nur noch wenige Tage sein, sagte er sich, zwei, höchstens drei. Ich schaffe es, ich will es schaffen.

In Erwartung der bevorstehenden Freiheit wurde Cedrice heiter. Er begann zu pfeifen und zu singen, hielt vergnügte Selbstgespräche oder versuchte, am Bordfenster die projizierten Sterne zu zählen. Es wäre besser für ihn gewesen, Gymnastik zu treiben, doch daran dachte er nicht mehr. Es lohnte nicht. Einige Male hatte er versucht zu lesen, aber die Lektüre langweilte ihn. Er sehnte sich nach einer körperlichen Tätigkeit, nach etwas Sinnvollem.

Draußen am Bildschirm wurde sein Verhalten beobachtet und registriert. Auch daran dachte Cedrice nicht mehr. Er empfand wie ein gefangenes Tier, ging auf und ab oder stand am Bordfenster oder auch vor den Bordinstrumenten, wo die Zeiger der Messgeräte pendelten. Diese sinnlosen Bewegungen störten ihn. Mitunter verspürte er das unbändige Verlangen, auf diese Messuhren einzuschlagen. »Luftdruck, Luftfeuchtigkeit, Geschwindigkeit, Koordinaten«, murmelte er dabei, »alles Imitation, alles nur, um mich zu ärgern...« Er fuhr herum, als es im Lautsprecher knackte. Eine trockene sachliche Stimme hallte durch die Kammer. »Cedrice Stuart, nehmen Sie sofort Ihre Gymnastikübungen auf!«

Einen Moment zögerte Cedrice. Ihm lag eine scharfe Antwort auf der Zunge, doch er beherrschte sich. Wozu aufregen? Man soll diesen Pedanten ihren Willen lassen. Unwillig trat er an die Expander und machte lustlos ein paar Übungen. Nach zwei Minuten hielt er inne und nahm seinen Platz am Bordfenster wieder ein. Jetzt werden sie mir wieder ein paar Minuspunkte geben, ging es ihm durch den Kopf. Wennschon, ich pfeife darauf. Schließlich habe ich den Test bis jetzt mit Anstand durchgehalten, und in ein paar Tagen bin ich draußen. Ich werde Anne sofort anrufen, sie soll alles für die Reise fertigmachen. Nur weg von hier. Am Näsisee werde ich Bäume fällen und das Dach vom Blockhaus reparieren. Und schwimmen werden wir, jeden Tag. Das Leben kann wirklich schön sein, und am schönsten ist es, wenn man richtig arbeiten kann. Ich freue mich auf Anne... Wieder summte es am Schaltpult. Eine Lampe leuchtete auf. Cedrice überlegte und brauchte eine Weile, ehe er begriff, was dieses Summen zu bedeuten hatte. Er bewegte einen Schalter und meldete sich. Undeutlich und verzerrt forderte ihn eine Stimme auf, Angaben über den Sauerstoffgehalt und die Luftfeuchtigkeit in der Fok 2 zu machen. »Lächerlich!«, rief er zurück, »seid nicht so pedantisch, ich komme ohnehin in wenigen Stunden raus.«

Unlustig gab er die geforderten Messwerte durch, dann fügte er hinzu: »Hören Sie, Doktor Nierenz, ich habe durchgehalten und alles getan, was Sie von mir wünschten. Ich denke, es ist jetzt genug. In diesen letzten Stunden möchte ich weder Gymnastikübungen machen noch solche albernen Zahlenwerte durchgeben. Um ehrlich zu sein, mir reichen die drei Monate. Ich bin heilfroh, endlich wieder wie ein Mensch leben zu können. Ende.«

Er lauschte und wartete auf Antwort. Als sich niemand meldete, trat er zum Bordfenster. Es ärgerte ihn, dass man seinen Kommentar ohne Widerspruch hinnahm; er hätte sich gern etwas unterhalten. Nach einer Pause sagte er laut: »Höflichkeit wird hier offenbar klein geschrieben. Ich lege mich jetzt aufs Ohr und bitte darum, rechtzeitig geweckt zu werden, wenn meine Zeit um ist. Nicht eine Minute länger bleibe ich in diesem Käfig.« Cedrice kam nicht dazu, den Sitz herunterzudrücken. Die Stimme des Arztes hallte durch den Raum. Sie war so klar und deutlich zu vernehmen, als stünde der Doktor neben ihm. »Cedrice Stuart, hören Sie mir gut zu. Was ich Ihnen jetzt sagen werde, sollen Sie in aller Ruhe aufnehmen. Sie haben das Zeitgefühl verloren. Es handelt sich nicht um wenige Stunden, die Sie noch in der Fok 2 verbringen müssen, sondern um genau einundvierzig Tage, acht Stunden und vier Minuten! Besinnen Sie sich jetzt auf Ihre Aufgaben, und befolgen Sie meine Anweisungen. Sie wiederholen jetzt Ihre Gymnastikübungen, ist das klar? Anschließend nehmen Sie das Abendessen ein. Danach füllen Sie das Bordtagebuch aus, schreiben Sie Ihre Gedanken hinein, dazu die üblichen Messwerte. Wenn Sie das getan haben, werden Sie sich rasieren. Das wäre vorerst alles - haben Sie mich verstanden?«

Cedrice Stuart hatte verstanden, aber nichts begriffen. Mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens betrachtete er den Lautsprecher, aus dem die Stimme gekommen war. »Was will er von mir?«, murmelte er. »Wieviel Tage soll ich noch hierbleiben?« Plötzlich lächelte er, denn ihm kam der Gedanke, die Worte des Arztes müssten ein Trick gewesen sein. Man wollte am Ende des Testes lediglich noch einmal seine Reaktion überprüfen. Dieses Vergnügen wollte Cedrice dem Arzt gern machen. Er wandte sich zum Mikrophon und sagte gelassen: »Ich habe Sie ausgezeichnet verstanden, Doktor, aber auf mich wirken solche Tricks nicht. Lassen Sie Ihre psychologischen Experimente, ich bin schließlich kerngesund, und ich weiß sehr genau, dass meine Zeit abgelaufen ist. Was das Rasieren anbelangt, so werde ich mir den Bart nach einem heißen Bad abnehmen lassen. Good-bye, Doktor, grüßen Sie Alexander Wulko von mir.«

Er lächelte triumphierend. Es dauerte nicht lange, als abermals eine Stimme erklang. Diesmal war es der Chefausbilder, Alexander Wulko, mit dem Cedrice befreundet war.

»Hör zu, Cedrice«, sagte Wulko, »was dir der Doktor eben sagte, entspricht der Wahrheit. Du hast noch knapp anderthalb Monate vor dir, daran ist nicht zu rütteln. Nimm dich zusammen, Junge, du schaffst es. Beschäftige dich, lies, schreibe oder dichte meinetwegen, und befolge vor allem die Anordnungen des Arztes. Und jetzt fange mit der Gymnastik an. Ein zweites Mal können wir ein solches Gespräch nicht führen.«

Die Worte des Chefausbilders erdrückten ihn fast. Er wusste, dass Wulko die Wahrheit sprach. Verstört setzte er sich und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. »Anderthalb Monate noch«, flüsterte er, »das ist nicht möglich«, und er dachte: Das halte ich nicht durch, niemals. Ich werde verrückt in dieser Stille, ich kann nicht mehr, ich will raus... Und während er dies dachte, wurde ihm bewusst, dass alles zu Ende war, wenn er jetzt nicht den Anordnungen des Doktors Folge leistete. Einige Minuten lang regte er sich nicht. Dann siegte der Wille in ihm.

Er erhob sich und begann mit den Übungen. Was danach folgen sollte, hatte er bereits vergessen. Während er die Expander auseinanderzog, bemühte er sich, die Worte des Doktors ins Gedächtnis zurückzurufen, aber er erinnerte sich nur daran, das Zeitgefühl verloren zu haben. Nach zehn Minuten stellte Cedrice seine Übungen ein. Die Stille fraß in seinem Gehirn; das sinnlose Sternengeflimmer hinter dem Bordfenster erschien ihm wie Hohn. Das Pendeln der Messinstrumente brachte sein Blut erneut in Wallung. Er klopfte gegen die Glasscheiben. Als das nichts half, schlug er mit der Faust dagegen. Gleich darauf kam aus dem Lautsprecher die Aufforderung, unverzüglich das Essen einzunehmen und dann das Bordtagebuch weiterzuführen.

»Zum Teufel, was denn für Eintragungen!«, schrie er wütend zurück. »Bin ich ein Dichter? Habe ich etwas erlebt? Wollt ihr ein Poem auf die Fok 2? Es ist zum Kotzen, ich schreibe nichts. Und Hunger habe ich auch keinen. Lasst mich jetzt endlich in Ruhe!«

Er stieß noch ein paar Verwünschungen aus und warf sich stöhnend auf den Liegesitz. »Eintragungen ins Bordtagebuch«, brabbelte er vor sich hin, »jeden Tag das gleiche - wozu? Feuchtigkeit normal, Luftdruck normal, Kraftübungen gemacht, Gummilösung gefressen - Theater ist das alles, nichts als Theater...« Er stierte gegen das Deckenpolster. Sein Bart fiel ihm ein. Vielleicht sollte ich mich doch rasieren? kam es ihm in den Sinn, vielleicht beruhigen sie sich dann. Aber wozu, wenn ich doch noch ein Leben lang hier zubringen muss? Nein, nun gerade nicht, dachte er widerspenstig, über meinen Bart bestimme ich, von Kosmetik war nicht die Rede beim Einstieg in diesen Affenkäfig.

Die Stunden verrannen, ohne dass sich etwas rührte. Allmählich wurde sein Kopf klarer. Er stand! auf, nahm das Bordtagebuch und blätterte darin. Die wenigen beschriebenen Seiten enthielten nur Stichworte und Zahlen. Gut, dachte Cedrice, ich werde etwas einschreiben. Keine Zahlen und keine Luftfeuchtigkeit. Er überlegte einen Augenblick, dann schrieb er: »Auf der Kruste dieses herrlichen Planeten gibt es nichts Vollkommeneres als den Menschen. Keine Kreatur gleicht ihm. Er allein, dieser Homo sapiens, ist sich seines Daseins auf der Erde und im All bewusst. So ist er auch das Maß aller Dinge.

Viele wunderbare Eigenschaften hat der Mensch an sich selbst gepriesen: seinen Schöpfergeist, seinen Edelmut, seinen kühnen Gedankenflug, sein unaufhaltsames Vorwärtsstreben, sein Wissen um die geheimnisvollen Zusammenhänge des Universums und zahlreiche andere Attribute. Ich kenne jedoch noch zwei Eigenarten, die man gar nicht oder nur sehr selten und schamhaft erwähnt. Sie sind auch durchaus nicht geeignet, ihn mit dem Glorienschein der Allmacht und Vollkommenheit zu umgeben. Aus tiefster Überzeugung nenne ich die erste dieser Eigenschaften: Es ist dies der ewige Irrtum, der ihm auf den verworrenen Wegen seiner Geschichte folgte. Jeden dieser Irrtümer hat der Mensch mit Blut und Tränen bezahlt. Waren nicht auch die Charles Darwin und ihr Flug ein Irrtum? Welch ein Weg von den wahnwitzigen Kriegen des Altertums und der Neuzeit bis zu diesem Sternenflug!

Wie dem auch sei, aus den Irrtümern erwuchsen dem Menschen der kritische Verstand und damit die zweite Eigenart: seine Zweifel. Sie haben die Allmacht des Aberglaubens gebrochen und der Wissenschaft den Weg geebnet...« Cedrice dachte einen Moment nach, dann fügte er hinzu: »Erst diese Vorrechte, sich zu irren, seine gewonnenen Erkenntnisse immer wieder zweifelnd zu überprüfen, geben ein gerechtes Bild vom Menschen. Ich weiß nicht, ob es für mich der richtige Weg ist, den ich gewählt habe...«

Er klappte das Buch zu und legte es auf das Schreibpult zurück. Dann nahm er eine Konserve aus dem Schrank, schluckte widerstrebend einen Löffel voll von dem Brei hinunter und legte sich schlafen. Doch er fand keine Ruhe.

 

Es konnte Abend oder Morgen sein. Cedrice wusste es nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Er konnte sich auch nicht besinnen, wie lange er gelegen hatte. Ein stechendes Läuten ließ ihn zusammenschrecken. Er nahm sich vor, ruhig zu bleiben, doch das Läuten lieh nicht nach. Endlich sprang er auf und schaltete die Klingel ab. Dann griff er zum Telefonhörer. Der Apparat durfte nur in ganz besonderen Fällen in Anspruch genommen werden, zum Beispiel bei einer plötzlich auftretenden Krankheit. Cedrice trommelte auf die Taste. »Hören Sie, Doktor Nierenz!«, rief er in die Muschel, »ich kann das verfluchte Geläute nicht mehr hören, begreifen Sie? Ich will meine Ruhe haben. Im Weltall läutet es auch nicht, was soll also der Unsinn? Ich lasse nicht auf meinen Nerven herumtrampeln!«

Die Verbindung wurde unterbrochen.

Er ahnte nicht oder war nicht mehr fähig, zu begreifen, dass es schlecht um ihn stand. Man hatte ihm, dem Sohn des tödlich verunglückten Kosmonauten Roger Stuart, manches zugutegehalten. Jetzt jedoch war auch bei Cedrice Stuart das Maß voll, seine Disziplinlosigkeit hatte die Norm des leichten Raumkollers überschritten. Es war reine Formsache, wenn der Test noch einige Minuten andauerte und dem Eingeschlossenen sogar noch eine Prüfung auf erlegt wurde. Vorerst hatte er jedoch einen Augenblick Ruhe.

Für Cedrice war diese Ruhe alles andere als Erholung. Das Schweigen machte ihn konfus. Als er am Bordfenster den Mond wieder auftauchen sah, wurde die Erinnerung an die Darwin in ihm geweckt. »Ein feines Grab«, sagte er, »ein exklusives Grab. Wenn der Schatten über sie hinwegstreicht, liegen sie in einem Kühlschrank von minus hundertfünfzig Grad Celsius, und wenn die Sonne kommt, liegen sie in einem Backofen von plus hundertzwanzig Grad.

Ich möchte nicht dort liegen. Aber ich weiß genau, wie alles kam...«

Sein Selbstgespräch wurde wieder durch anhaltendes Läuten unterbrochen. Erschrocken blickte er auf den Oszillographen, auf dem sich Kurven abbildeten. Gleichzeitig leuchteten Lampen auf. Es war ein Warnsignal, er hätte jetzt den Kurs der Fok 2 ändern müssen. Doch Cedrice tat nichts. Er schaltete das Läuten ab, griff zu dem Tagebuch und schrieb hinein: »Ein Meteorit kommt auf mich zu. Es ist zu Ende, wir stürzen auf den Mond. Warum hält man mich hier seit Monaten gefangen? Und weshalb verursachen die Aufseher immer wieder störenden Lärm vermittels einer elektrischen Glocke? Ich wünsche, mit dem Direktor zu sprechen...«

Cedrice hatte nicht bemerkt, dass die Tür geöffnet worden war. Doktor Nierenz und Alexander Wulko wollten den Prüfling aus seiner Einsamkeit befreien.

Als Cedrice sich umwandte und die beiden bemerkte, nickte er. »Gut, dass ihr kommt.« Er deutete auf das Bordfenster. »Wenn ich ein starkes Glas hätte, könnte ich euch die sechs zeigen.« Er zog Doktor Nierenz zum Fenster. »Sehen Sie dort die dunkle Stelle, Doktor? Das ist die Darwin...«

Alexander Wulko sagte begütigend: »Gehen wir hinaus, Cedrice, der Test ist beendet.«

Beim Klang der Stimme horchte Cedrice auf. Aufmerksam sah er Wulko an, aber er begriff nicht, was vor sich ging. Er redete auf Wulko ein und erinnerte ihn an Szenen, die mit dem Absturz der Darwin zusammenhingen. Doktor Nierenz unterbrach Cedrices Redeschwall. Er rüttelte ihn derb an der Schulter. »Sie sind frei, Stuart, gehen Sie hinaus.«

Cedrice trat einen Schritt zurück. »Ihre Tricks kenne ich, Doktor, aber diesmal legen Sie mich nicht mehr herein. Ich habe ein lückenloses Gedächtnis.« Und abermals rekonstruierte er die Katastrophe der Darwin, als wäre er selbst an Bord gewesen.

Der Arzt nickte Wulko zu. »Er kommt von allein zu sich, es ist nicht weiter schlimm.« Sie gingen hinaus und löschten das Licht in der Fok 2. Nur von draußen drang durch die geöffnete Tür ein Lichtschein in die Kammer, die für den Eingeschlossenen lange Zeit eine fremde, eine andere Welt gewesen war.

Für Cedrice Stuart war diese Prüfung zu früh gekommen. Sein Aufenthalt in dieser einsamen Kammer hatte Erinnerungen in ihm geweckt, mit denen er noch nicht fertig werden konnte. Auf ihm lasteten das Unglück mit der Charles Darwin und der damit verbundene Tod seines Vaters. Hätte der Test angedauert, so würde er sich vermutlich selbst mit einem der Insassen des verunglückten Raumschiffes identifiziert haben. Doch das war nun vorbei; die Gesprächsfetzen, die von außen in die Kabine drangen, riefen den jungen Mann bald in die Wirklichkeit zurück. Seine wirren Träume waren wieder Geschichte geworden, Geschichte, die zwar einen Anfang hatte, aber kein End)e. Denn zu derselben Stunde, da Cedrice Stuart die langwierige Prozedur ärztlicher Untersuchungen über sich ergehen lassen musste, wurde an einem anderen Ort das Raumschiff Charles Darwin zum Gegenstand einer erregten Debatte.

 

 

 

 

 

  2.

 

 

Auf der Westseite Sumatras, wenige Kilometer vom erloschenen Vulkan Indrapura entfernt, stand auf einem großen Felsplateau in dreitausend Meter Höhe das Observatorium Manik Maya. Es wurde seit drei Jahren von Professor Shagan geleitet, einem vitalen, etwas eigenbrötlerischen Wissenschaftler. Er war vierundsechzig Jahre alt und! galt als Fachmann für Asteroidenforschung. Zu seinen Mitarbeitern gehörten drei Assistenten. Außerdem lebte auf Manik Maya noch die pausbackige Köchin Kantjil, vor deren Mundwerk sich Professor Shagan genauso fürchtete wie Kantjil vor den Geistern, die in den Schluchten und erloschenen Kraterhöhlen ihr Unwesen trieben.

Ein- bis zweimal in der Woche versorgte ein Hubschrauber das Observatorium mit Zeitschriften, Filmen, Büchern und Lebensmitteln und brachte wissenschaftliches Material von Manik Maya zurück in die Stadt. Es war erst wenige Tage her, da zwei Assistenten das Observatorium auf diesem Wege verlassen hatten. Einer der beiden war in seiner Freizeit bei einer Kletterpartie abgestürzt und hatte sich ein Bein gebrochen. Der andere, Damar Wulan, Shagans rechte Hand, musste den Verletzten ins Tal begleiten. Er hätte am nächsten Tag zurück sein müssen, doch stattdessen kam ein Telegramm von ihm, in dem er um einige Tage Urlaub bat. Er wollte zur Insel Flores, seine erkrankte Mutter besuchen.

So blieben auf Manik Maya nur die beiden Frauen und der. Professor zurück. Eine dieser beiden Frauen war die schon erwähnte Köchin, die andere Shagans Assistentin, ein junges Mädchen namens Nanga. Die Köchin nannte sie Engelchen, Sternchen oder auch schwarzhaariges Prinzesschen. Kantjil war eine einfache, biedere Frau aus dem Dorfe, und ihr gefielen solche schmückenden Attribute. Es gab jemanden auf Manik Maya, der Nanga auch gern so genannt hätte. Doch Damar Wulan war viel zu schüchtern, um seine Gefühle für das Mädchen so offen kundzugeben, und Nanga gab ihrem Kollegen auch wenig Anlass, diese Schüchternheit abzustreifen. Sie überhörte seine versteckten Werbungen.

 

Nun war sie allein mit dem knurrigen Professor, und das war gewiss kein Vergnügen, denn mit dem wortkargen Shagan ließ sich nur selten eine Unterhaltung führen, die andere Themen als seine Forschung berührten. Es war Nanga nicht einmal unangenehm, dass sie ihren Chef in den letzten Tagen nur selten sah. Shagan hockte unablässig in der Kuppel des Observatoriums, beobachtete, rechnete und fotografierte. Sie wertete seine Aufnahmen aus, eine ermüdende Tätigkeit. Die Negative mussten auf einen kleinen Bildschirm projiziert werden. Kantjil, die ab und zu ihr schwarzhaariges Prinzesschen besuchte, glaubte, alle Sterne der Welt seien auf diesen Platten abgebildet. Doch Nangas Aufmerksamkeit galt einem Lichtpunkt, genauer einem winzigen Lichtstreifen, nach dem sie seit Tagen vergeblich suchte.

Am Nachmittag des vierten Tages kam Professor Shagan zu ihr. An ihm war nichts von der Würde eines Professors. Im Halbdunkel des Arbeitszimmers sah seine Gesichtshaut aus wie ungegerbtes Leder; das struppige Haar hing ihm ungepflegt in die Stirn. Seine Bewegungen waren schlaksig, sein Kittel war längst nicht mehr weiß, und rasiert hatte er sich schon seit Tagen nicht.

Und genauso hörte sich auch sein Gruß an, als er eintrat; brummig und abwesend.

Er griff eines der Negative heraus und hielt es gegen das Licht. Nanga unterrichtete ihn vom Resultat ihrer Bemühungen. Er nickte. »Ich weiß«, sagte er, »Sie brauchen nicht weiter zu suchen. Er ist nicht mehr auf seiner Bahn. Ich habe vorhin von zwei anderen Observatorien Nachricht erhalten. Man hat dort die Suche ebenfalls eingestellt.«

Er, das war ein kleiner Himmelskörper, ein Asteroid, der auf Manik Maya entdeckt worden war und die Bezeichnung Rhe 37 erhalten hatte. Man kannte seinen Bahnverlauf und seine Geschwindigkeit, und er hätte in diesen Tagen wieder in ihr Blickfeld treten müssen. Es war keine Tragödie, dass er nicht wieder aufgetaucht war, aber Shagan tat, als habe er einen nahen Verwandten verloren. »Er ist nicht mehr auf seiner Bahn«, wiederholte er, und nach einer Pause; »Eine unangenehme Sache. Ich hätte wer weiß was darum gegeben, dieses Trümmerstück wiederzufinden.«

Der Ernst, mit dem er das sagte, machte sie stutzig. Zwar waren ihr seine Unruhe und Verbissenheit, mit der er in den letzten Tagen gearbeitet hatte, aufgefallen, aber sie hatte das auf das Fehlen der beiden Assistenten zurückgeführt. Die Besorgnis um einen verlorengegangenen Asteroiden wollte nicht zu ihm passen. Etwas verwundert sagte Nanga: »Es wäre nicht das erste Mal, dass wir einen Asteroiden aus den Augen verlieren. Was ist daran außergewöhnlich?«

Er sah sie abwesend an, als habe er ihre Frage nicht verstanden. Vielleicht wollte er auch nicht antworten. Er machte kehrt und sagte: »Ich erwarte Sie heute im Salon. Wir haben Mittwoch, und es sind neue Bänder aus Europa eingetroffen.«

»Gewiss«, sagte Nanga und bereute sogleich ihre Zustimmung. Die Mittwochabende waren die einzige Entspannung, die Shagan sich und seinen Mitarbeitern gönnte. Es waren Konzertabende, Professor Shagan hätte ein umfangreiches Archiv klassischer und moderner Musik auf Tonbändern eingerichtet. Jetzt, da zwei Mitarbeiter fehlten, verspürte Nanga nicht viel Neigung, einen Abend mit dem knurrigen Professor allein zu verbringen. Ihr lag eine Entschuldigung auf den Lippen, doch Shagan hatte bereits die Tür geöffnet.

Er kam nicht weit, denn draußen erwartete ihn die Köchin. Der Professor wollte das Weite suchen, doch Kantjil ließ ihn nicht fort. Sie beklagte sich. Sie hatte immer etwas zu klagen und meist nicht ohne Grund. Geduldig hörte er sich die Vorwürfe der Köchin an. Sie beschwerte sich, weil er seit Tagen ihr Mittagessen verschmähte und weil er den Kittel nicht wechselte. Kantjil durfte sich solche Worte erlauben und ihn auch auf den Stoppelbart und die ungepflegten Fingernägel aufmerksam machen.

Nanga konnte den Monolog bis in ihr Arbeitszimmer hören. Später beklagte sich Kantjil bei ihr. »Was ist mit dem alten Knurrhahn, Sternchen? Ist er krank?«

»Nein«, sagte Nanga, »ein Asteroid! ist nicht mehr auf seiner Bahn, das ist alles.«

»So - und das ist wichtig?«, erkundigte sich Kantjil argwöhnisch.

Nanga schüttelte den Kopf. »Nein, Kantjil, es ist nicht wichtig.«

 

In der Abgeschiedenheit unterm Sternendach waren Schallplatten- oder Tonbandkonzerte für alle eine angenehme Entspannung. Es war üblich, sich an diesen Abenden umzukleiden; Kantjil sorgte für schmackhafte Überraschungen, der Professor, ein Weinkenner, suchte selbst einige Flaschen aus. Über seiner wissenschaftlichen Arbeit konnte er das Essen, die Morgentoilette und sogar das Schlafen vergessen - diese Mittwochabende vergaß er nicht. Nanga hatte das Empfinden, als wenn er auch hierin eine Art Arbeit erblickte, wobei er die Musik offenbar in mathematische Gleichungen auflöste.

An diesem Abend war Nanga weder an Musik noch an einer Unterhaltung mit ihm gelegen. Lustlos betrat sie den kleinen Salon, der zu Shagans Arbeitszimmer gehörte. Der Professor erwartete sie bereits. Er hatte sich die Ermahnungen seiner Köchin zu Herzen genommen, war rasiert und sah in seinem Tropenanzug recht feierlich aus. Auf dem Tisch standen wie immer Gläser und Wein. Heiter und zuvorkommend bot er Nanga einen Platz an. »Kantjil hat heute wohl kein Verlangen nach Musik?« Die Frage klang mehr wie ein Wunsch.

»Ich glaube nicht«, sagte Nanga.

»Sie ist ein Lästermaul«, knurrte er, »man muss froh sein, dass ihre Zunge angewachsen ist. Bei dem Gedanken, es könnte Wanderzungen geben, überläuft es mich kalt.« Nanga lächelte pflichtschuldig und schwieg.

»Also hören wir uns an, was ihnen eingefallen ist.« Shagan schaltete das Tonband ein. Das Crescendo einer modernen Komposition füllte den Raum. Nanga bemühte sich, die Musik zu erfassen, doch sie konnte sich nicht konzentrieren. Der mandeläugige Damar kam ihr in den Sinn und der verletzte Kollege, und sie fand dieses Beisammensein allein mit dem Professor fade. Es ärgerte sie, dass er nicht ein Wort für die beiden abwesenden Assistenten fand. Die Musik erschien ihr scheußlich, und sie dachte bei sich: Kantjil hat Recht, er ist ein knurriger Egoist, unhöflich und taktlos.

Sie beobachtete ihn verstohlen. Es kam ihr vor, als wäre seine Ruhe nur gespielt. Seine Bemerkung über den Asteroiden Rhe 37 fiel ihr wieder ein. Vor einigen Jahren hatte Shagan ein Buch über diese kleinen Himmelskörper veröffentlicht und darin eine recht umstrittene Theorie vertreten. Nach seiner Ansicht stammten all diese Trümmerstücke einschließlich der Meteoriten, die in die Atmosphäre der Erde gelangten, von einem ehemaligen Planeten, der zur Zeit des Tertiärs, also vor sechzig Millionen Jahren, aus unerforschter Ursache zersprungen sei.

Im Lautsprecher brummte ein Bass-Solo. Einen Augenblick bemühte sich Nanga zuzuhören. Dann erfasste ihr Blick eine Karte an der Wand. Noch nie hatte Shagan diese Karte hier aufgehängt. Auf ihr waren verschiedene Bahnen von Asteroiden abgebildet; einige hatten sie auf Manik Maya entdeckt. Sie versuchte, das Gewirr der Linien zu verfolgen. Plötzlich war Stille. Der Professor hatte das Band gestoppt. »Gefällt Ihnen die Musik nicht?«, fragte er.

»Nein«, sagte sie.

»Warum nicht?«

»Ich weiß es nicht.«

»Auf jeden Fall haben wir den gleichen Geschmack. Sie wollen alle etwas Neues schaffen, aber bei dieser neumodischen Musik werde ich immer wieder an einen Hühnerhof erinnert, auf dem ein Knallfrosch explodiert ist.« Er sah, dass Nanga nur zerstreut zuhörte, und schwieg. Nach einer Pause nahm er die Weinflasche und füllte die Gläser.

Sie sagte: »Bitte nicht für mich.«

Shagan achtete nicht auf ihren Einwand. Er schob ihr das Glas zu. »Vielleicht sind wir der Kunst gegenüber ungerecht«, spann er seinen Gedanken weiter, »ein wirklich schöpferischer Künstler, gleich, ob Maler, Dichter oder Komponist, kann sich nicht vor den Problemen unserer Zeit verstecken. Wir auf Manik Maya suchen nach Asteroiden, fotografieren Nebelflecke, analysieren Spektralaufnahmen - eine verhältnismäßig geregelte Tätigkeit. Ein Künstler dagegen, der unsere Wirklichkeit erfassen und wiedergeben will, wird von ungezählten positiven und negativen Erscheinungen beeinflusst. Die jammervollen Geräusche, die wir eben hörten, sind das beste Beispiel dafür...«

Er wartete auf eine Antwort, doch Nanga nickte nur. Sie war mit ihren Gedanken woanders.

Shagan ging ein paar Schritte auf und ab. »Ich weiß«, sagte er schließlich, »es ist nicht sehr vergnüglich für Sie, mit dem alten Shagan allein zu sein.« Er winkte ab, als sie seine Bemerkung zurückweisen wollte. »Mir fehlen unsere beiden Kollegen auch, Nanga, aber ich habe Sie heute nicht nur der Musik wegen zu mir gebeten. Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen. Vielleicht ist es ein Fehler, meine Vermutungen auszuplaudern, einerlei - ich möchte mich wenigstens mit Ihnen darüber unterhalten.«

Das war ein neuer Ton bei ihm, und es musste schon etwas Wichtiges sein, wenn er auf ihrer Anwesenheit beharrte.

Er nahm einige Dokumente aus der Rocktasche und breitete sie auf dem Tisch aus. »Um Ihnen meine Überlegungen zu erklären, muss ich die Zeit um neun Monate zurückdrehen. Vor neun Monaten ereignete sich die Katastrophe mit der Charles Darwin.«

 

Professor Shagan nahm aus den Dokumenten einen Zeitungsausschnitt heraus und las: »Nach sorgfältiger Prüfung aller von Fachkommissionen und Experten zusammengestellten Unterlagen über die Katastrophe gelangt die Untersuchungskommission zu dem Schluss, dass die Charles Darwin am 1. November des vergangenen Jahres mit einem unbekannten Himmelskörper zusammengestoßen sein muss. Es ist anzunehmen, dass die automatische Steuerung des Raumschiffes versagte. Die Kollision erfolgte etwa zwei Sekunden nach achtzehn Uhr neunundzwanzig Minuten Weltzeit. Das Raumschiff befand sich in diesem Augenblick in AR = 197° 2', D = 18° 21'. Mehrere astronomische Stationen konnten dreieinhalb Stunden später unweit des Kraters Plutarch eine starke Staubentwicklung beobachten und fotografieren. Es muss nach allen Berechnungen als erwiesen gelten, dass diese Staubentwicklung von dem abgestürzten Wrack der Darwin herrührte. Die Untersuchungskommission gelangte zu der einmütigen Ansicht, dass die sechs an Bord befindlichen Raumfahrer Opfer dieses tragischen Unglücks geworden sind...«

Professor Shagan faltete den Ausschnitt zusammen und legte ihn zu den Papieren zurück. »Die weiteren Angaben sind im Augenblick nicht wichtig - ich habe die Zahlen über Geschwindigkeit, Umlaufbahn und so weiter im Kopf.« Er schlürfte einen Schluck Wein und stand dann auf. »Und jetzt möchte ich Ihnen etwas zeigen, Nanga. Bitte, kommen Sie mit zur Karte.«

Verwundert folgte sie ihm. Shagan zeichnete mit einem Bleistift eine langgestreckte Ellipse nach. »Das ist die Bahn unseres Asteroiden Rhe 37. Hier, an dieser Stelle, erfolgte die Kollision mit der Darwin. Und nun sehen Sie sich die Umlaufzeit unseres Trümmerstücks an, und vergleichen Sie die Daten der Untersuchungskommission.«

Sie beugte sich vor, um die Zahlen und den Bahnverlauf aus dem Gewirr von Strichen, Linien und Punktierungen herauszufinden. Dann stieß sie einen Ruf der Überraschung aus. »Die Darwin kollidierte mit unserm Asteroiden!«

Er nickte. »So könnte es gewesen sein. Ich kam durch Zufall in diesen Tagen darauf, weil ich seinen Bahnverlauf noch einmal nachrechnete.«

»Aber weshalb kam damals nicht die Untersuchungskommission auf den gleichen Gedanken?«

»Weil wir erst seit heute wissen, dass sich der Asteroid nicht mehr auf seiner Bahn befindet. Die Kommission konnte kaum zu einem andern Schluss gelangen. Phantastisch, nicht wahr? Eins zu hundert Millionen und mehr ist die Chance einer derartigen Kollision - aber einmal passiert es eben...«

Shagan deutete auf die Karte. »Betrachten Sie die Flugrichtung beider Körper.«

In diesem Augenblick wurde ihr klar, worauf seine Überlegungen hinausliefen. Beide Körper, das Raumschiff und der Asteroid, hatten für eine winzige Strecke die gleiche Flugrichtung. Nach dieser Darstellung konnte das Trümmerstück Rhe 37 nicht frontal mit der Darwin zusammengeprallt sein, sondern musste das Raumschiff am Heck getroffen haben. »Ich begreife es nicht ganz«, sagte Nanga verwirrt, »wenn Ihre Zeichnung richtig ist, dann könnte die Darwin nicht auf den Mond gestürzt sein. Sie wäre ins All geschleudert worden.«

»Und wer sagt Ihnen, dass sich die Katastrophe nicht so abgespielt hat? Das Foto besagt gar nichts. Die Staubentwicklung kann durch Bruchstücke des Asteroiden hervorgerufen worden sein. Man sagt, die automatische Steuerung und die Beschleunigung hätten wahrscheinlich versagt. Was aber, wenn sie nicht versagt haben? Wir kennen annähernd die Geschwindigkeit von Rhe 37. Sie war hier, in Sonnennähe, besonders groß. Nehmen wir an, der Asteroid wurde vom Radar des Raumschiffes erfasst. Nehmen wir weiter an, dass die automatische Beschleunigung nicht versagt hat - weshalb eigentlich auch? Sie ist hundertfach ausprobiert und hat sich immer glänzend bewährt. In diesem Falle könnte sich folgendes ergeben haben - ich sage ausdrücklich: könnte: Das Raumschiff steigert seine Geschwindigkeit, aber dieser zunehmende Schub reicht nicht aus, um dem hinterherrasenden Asteroiden zu entgehen. Das Trümmerstück setzt auf das Heck auf. Der Anprall ist nicht stark genug, um die Darwin zu zerstören, aber er reicht aus, um die Antriebsaggregate zu beschädigen. Folglich kann die zuvor auf genommene Geschwindigkeit nicht mehr gedrosselt werden. Die Darwin würde manövrierunfähig aus der Erdwirkungssphäre entweichen und zu einem Planetoiden der Sonne werden.«

Sie hatte auf einmal das Verlangen nach einem Schluck Wein. Was ihr Shagan soeben auseinandergesetzt hatte, erschien ihr so phantastisch, dass sich alles in ihr sträubte, diesen Gedanken weiterzuentwickeln. Nanga kannte die Einzelheiten der Katastrophe. Sie hatten auf Manik Maya darüber gesprochen, waren nicht mehr und nicht weniger bestürzt und erschüttert gewesen als alle anderen, die von diesem Unglück erfuhren. Nach den nüchternen Darlegungen des Professors gewann jedoch das Schicksal der sechs Menschen eine ganz andere Bedeutung für sie. Hier auf Manik Maya war Rhe 37 entdeckt und seine Umlaufbahn errechnet worden. Die Darwin und alles, was über die Vorgänge geschrieben und gesprochen worden war, berührte auf einmal ihre private Sphäre.

Nanga hatte Platz genommen. Sie blätterte in Shagans Zeitschriften und Unterlagen. Tagelang war die Besatzung von der Leitstation gerufen worden. Tagelang immer wieder der gleiche Satz: »Hier Station drei, wir rufen die Darwin, meldet euch!« Dabei war die Hoffnung, die Verbindung wiederherstellen zu können, bereits nach wenigen Stunden gesunken. Dreieinhalb Stunden nach Unterbrechung der Funkverbindung trafen Fotos in der Leitstation ein, die das Schlimmste befürchten ließen. Mehrere Observatorien hatten in der Nähe des Kraters Plutarch eine ungewöhnlich starke Staubentwicklung beobachtet und fotografiert. Zunächst glaubten die Astronomen an einen Meteoraufschlag. Der Staub, so hieß es übereinstimmend in allen Berichten, sei mehrere Kilometer hochgewirbelt worden. Durch die Sonnenstrahlung sah es aus, als enthielte die Wolke alle Farben des Spektrums.

Als sich die Darwin nach mehr als vierundzwanzig Stunden noch immer nicht gemeldet hatte, zweifelte niemand mehr an einer Katastrophe. Automatische Raumsonden wurden gestartet, und der Flug eines bemannten Suchraumschiffes wurde vorbereitet. Die Bemühungen blieben ohne Erfolg; der Erdtrabant gab sein Geheimnis nicht preis. Einzig die Fotos blieben als Beweis des Aufschlages, und die Berechnungen der Wissenschaftler stimmten mit den Beobachtungsergebnissen überein. Nach diesen Berechnungen musste das Raumschiff bei der Kollision zermalmt worden sein. Dabei waren Teile des Raumschiffes infolge der Geschwindigkeit noch eine beträchtliche Strecke weitergeflogen und auf einer spiralenförmigen Flugbahn schließlich in der Nähe des Plutarch niedergegangen.

Tagelang hatte die Presse über diese Katastrophe berichtet. Dann überschatteten andere Ereignisse das Geschehene. Nur einmal noch, dreieinhalb Monate nach dieser Tragödie, erinnerten kurze Nachrichten an die Darwin und ihre sechs Opfer. In der Nähe des Ortes, an dem der Start erfolgt war, hatten sich Wissenschaftler, junge Kosmonauten und die Angehörigen der Verunglückten versammelt. Ansprachen waren gehalten worden, Gedenkreden, und schließlich hatte man einen schlichten Obelisk enthüllt. Er enthielt die Inschrift: Solange Menschen zu den Sternen streben, wird man ihrer gedenken. Sie werden immer mit uns sein.

Auf den sechs Grundflächen des Obelisken waren die Namen der Verunglückten eingemeißelt: Michael Kowtun, Sonja Kamirsky, Dsching Hiao Khungtaidschi, Roger Stuart, Dahli Shitomir, Nemeth Gyula.

Professor Shagan hatte ebenfalls Platz genommen. »Ich weiß«, sagte er, »meine Überlegungen klingen phantastisch - vielleicht sind sie es auch wer weiß. Was ist Ihre Meinung?«

Nanga holte tief Luft, dann erwiderte sie: »Ich finde, Ihren Überlegungen liegen zu viele Zufälle zugrunde. Wenn der Zusammenprall so erfolgte, wie Sie es vermuten, dann hätten die sechs Besatzungsmitglieder wenigstens noch einige Minuten am Leben sein müssen. Es wäre also Zeit gewesen, eine Meldung an die Station durchzugeben, wenigstens einen Satz oder einen Hilferuf. Aber sie haben geschwiegen. Nein, Professor, Ihre These kann nicht stimmen.«

»Schön, sie ist zumindest ungewöhnlich«, gab Shagan zu, »es sind auch nur ganz private, nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Überlegungen. Aber der Zufall ist nun einmal ein mathematisch nicht erfassbares Ding. Nehmen wir an, der Asteroid wäre zersplittert und hätte dabei die Antennen der Darwin abrasiert. Sie können nicht mehr senden und nicht mehr empfangen. Es können auch Defekte in den Sendern aufgetreten sein - wer will das feststellen? Ist Ihnen bekannt, dass sich an Bord der Darwin ein Labor befand, in dem durch Assimilation verschiedene Kohlehydrate erzeugt wurden?«

Sie bejahte stumm. Die Gelassenheit, mit der er das Unglück auf seine Weise rekonstruierte, verwirrte sie. »Ein interessanter Gedanke«, fuhr Shagan fort, »überlegen Sie: Das Labor befand sich in der Spitze des Raumschiffes. Sollte es intakt geblieben sein, dann könnten die sechs sogar noch leben. Nicht sehr üppig, aber es reichte. Außerdem besaßen sie noch andere Lebensmittelvorräte. Verhielte es sich so, dann wären sie in der Lage, hochinteressante Forschungen durchzuführen.« Seine Worte empörten sie. »Sie sind ein Zyniker!«, sagte sie wenig freundlich. »Wie können Sie so reden? Zum Glück entwickeln Sie jetzt Phantastereien, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen.«

Ihre Empörung erheiterte ihn. Belustigt erwiderte er: »Natürlich ist es bequemer, die Toten in Ruhe zu lassen. Nur richten sich Tatsachen nicht nach Glauben oder Unglauben. Gewiss, ich kann keinen Beweis für meine Überlegungen erbringen aber ist die andere, die offizielle Version bewiesen? Solange wir sie nicht vom Mond heruntergeholt haben, so lange bleibt auch die offizielle Erklärung eine unbewiesene These. Beenden wir das Thema.« Shagan nahm einige Papiere vom Tisch und verbarg sie sorgsam in der Rocktasche.

Sie sagte: »Wenn Sie sich Ihrer Sache so sicher sind - warum fassen Sie dann Ihre Überlegungen nicht schriftlich ab und übergeben sie der Obersten Raumbehörde?«

»Ich bin mir meiner Sache eben nicht sicher«, antwortete er. »Es spricht einiges dafür, mehr nicht. Und das ist wohl zu wenig für eine wissenschaftliche Debatte in der Obersten Raumbehörde.«

»Und wenn nun doch etwas Wahres daran ist?«

Shagan hob die Schultern. »Es ist mein Privatvergnügen, solche Kombinationen anzustellen. Ich danke Ihnen, dass

Sie mir zugehört haben, vergessen Sie dieses Gespräch.« Er verbeugte sich linkisch und schlurfte hinaus.

 

 

 

 

  3.

 

 

Nanga vergaß dieses Gespräch nicht. Im Gegenteil, der Gedanke, Shagan könnte mit seinen Überlegungen tatsächlich auf einer richtigen Spur sein, ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Waren es wirklich nur private, nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Ideen, die er ihr entwickelt hatte? Sie kannte diesen eigensinnigen Gelehrten lange genug. Shagan mochte vielleicht einen völlig anderen Grund haben, sich nicht an die Oberste Raumbehörde zu wenden. Im Präsidium dieser Behörde sah Birger Sjögren. Zwischen ihm und Shagan hatte es vor Jahren einen wissenschaftlichen Streit gegeben, in dem Shagan unterlegen war. Bei diesen Auseinandersetzungen hatten wohl auch persönliche Antipathien eine Rolle gespielt, und Shagan war nie darüber hinweggekommen.

Nun hatte er etwas entdeckt. Vielleicht war es nicht weniger fragwürdig als seine frühere Theorie über den angeblich zersprungenen Planeten Pränuntius, wie er ihn genannt hatte, ein Planet, der einmal zwischen der Mars- und Jupiterbahn existiert haben sollte. Aber eine Theorie über einen zersprungenen Planeten zu entwickeln blieb immer noch Theorie; was er jetzt über die mögliche Existenz der Darwin, sagte, wog schwerer. Shagan tat, als spiele er nur mit solchen Überlegungen - in Wahrheit jedoch war er mehr davon überzeugt, als er sich eingestehen wollte. Fürchtete er eine neue Niederlage? Nanga war überzeugt, dass Shagan nichts wünschenswerter gewesen wäre als ein wissenschaftlicher Erfolg. Er fürchtete sich, noch mehr von seinem Prestige als Wissenschaftler einzubüßen. Waren das die Gründe?

Je länger Nanga darüber nachdachte, desto überzeugter wurde sie, dass es solche Motive waren, die ihn von einer Veröffentlichung abhielten. Doch sie war sich selbst unschlüssig. Es gab Lücken in seinen Gedankengängen, und es schien überhaupt absurd, nach einem dreiviertel Jahr noch an die Existenz von sechs Verunglückten glauben zu wollen. Aber hinter den Zahlen und der trockenen These stand etwas anderes. Wenn nun doch etwas Wahres daran war? Dieses »Vielleicht«, rief Emotionen in ihr wach; sie hatte das Bedürfnis, mit jemandem darüber zu sprechen, doch auf Manik Maya war nur noch Kantjil, der sie sich hätte anvertrauen können.

Am Nachmittag, als sie im Observatorium Aufnahmen von Sonnenflecken machte, gesellte sich die Köchin zu ihr. Kantjil kam öfter in das Kuppelgebäude - weniger, weil sie sich für die Forschungsarbeiten interessierte; sie wollte nur ein wenig schwatzen. An diesem Nachmittag war sie sogar sehr vergnügt. »Hast du bemerkt, Prinzesschen«, rief sie frohlockend, »meine Moralpredigt hat Wunder gewirkt. Der alte Knurrhahn hat einen schneeweißen Kittel angezogen, sein Hemd ist ebenfalls rein. Ich bin sehr zufrieden. Gegessen hat er heute für zwei. Du siehst, mein Täubchen, so muss man mit den Männern umgehen. Merk dir das für später, wenn du einmal heiratest.«

»Ich will es mir merken«, versicherte Nanga lächelnd. Kantjil betrachtete die Sonnenscheibe auf dem Schirm. »Was machst du jetzt, Goldengelchen?«

»Ich fotografiere die Sonnenflecken, Kantjil.«

»Aha, diese kleinen Punkte sind also Sonnenflecken. Und

was habt ihr davon, wenn ihr sie endlich auf der Platte habt? Könnt ihr sie beseitigen?«

Nanga musste lachen. »Nein, Kantjil, beseitigen können wir sie nicht, aber studieren kann man sie. Außerdem sind diese kleinen Punkte hundertmal größer als die Erde. Und wenn es zu viele von ihnen gibt, wirkt sich* das nachteilig auf den Funkverkehr und viele andere Dinge aus.«

»Ja«, antwortete die Köchin bieder, »Reinlichkeit ist alles. Ich weiß das von meinem Vater. Er hat im Steinkohlenbergwerk gearbeitet. Jeden Tag musste er baden. Er konnte keinen Schmutz ausstehen.«

Nanga beendete ihre Arbeit. Während sie die Kuppel schloss, fragte sie unvermittelt: »Wurde deine Familie schon einmal von einem Bergwerksunglück betroffen?«

»Schon mehrere Male«, versicherte Kantjil, »aber es ist immer gut ausgegangen - wenigstens für Vater.«

»Also waren es nur leichte Unglücksfälle?«

»Wenn du das Lebendigbegrabensein leicht nennst. Einmal hat es eine Explosion gegeben. Sie waren fünfhundert Meter unter der Erde - niemand konnte zu ihnen. Die Schächte waren fast alle verschüttet. Einige hat man durch Bohrungen herausgeholt. Dann war alles still. Es gab keine Klopfzeichen mehr, und soviel man auch bohrte - in den Schächten schienen nur noch Tote zu liegen. Eine Kommission beriet und kam zu dem Schluss: Es lebt keiner mehr. Das war nach vierzehn Tagen. Die größten Bohrgeräte waren schon abtransportiert, nur ein paar Probebohrungen wurden noch gemacht. Am achtzehnten Tag drangen durch eine solche Probebohrung Hilferufe. Es war der Schacht, in dem sich auch mein Vater aufhielt...«

»Und ihr? Hattet ihr noch gehofft, als man die Arbeiten einstellte?«

Zögernd antwortete Kantjil: «Meine Mutter hat noch gehofft, sie hat immer daran geglaubt, dass er noch lebt. Ich war damals noch zu klein, ich wusste nicht, was sterben ist. Heute würde ich auch hoffen, bis zuletzt...«

Kantjil redete und redete, und Nanga war bis in ihr Innerstes getroffen. Die schlichte Darstellung der geschwätzigen Alten hatte ihrer Phantasie neue Nahrung gegeben.

 

Shagan hatte sich hinter seinem Schreibtisch in ausländische Fachzeitschriften vertieft, als Nanga anklopfte und eintrat. »Gut, dass Sie kommen«, sagte er erfreut, als habe er seine Assistentin erwartet. »Sie haben sich mit arabischer Grammatik beschäftigt. Ich habe hier das Jahrbuch der Asteroiden von diesem Hassan Dschamburi im Original. In seinen graphischen Darstellungen hat er auch unsern Rhe 37 berücksichtigt. Ich komme nur nicht mit der Übersetzung zurecht, helfen Sie mir bitte.«

»Professor, ich will Ihnen gern behilflich sein«, sagte Nanga ebenso freundlich, »aber ich möchte zuerst etwas anderes mit Ihnen besprechen.«

Shagan schob die Zeitschrift zur Seite, wechselte seine Brille und sah Nanga abwartend an. Sie nahm Platz und fuhr fort: »Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass Sie Ihre These nicht für sich behalten dürfen.«

»Sie meinen meine Phantastereien - so klassifizierten Sie doch gestern meine Überlegungen.«

Nanga wurde einen Schein dunkler. »Es war nicht so gemeint, bitte verzeihen Sie. Sie haben Recht, man soll nicht vorschnell ein Urteil fällen. Was auch immer an Ihren Überlegungen richtig oder falsch sein mag, Sie müssen sie schriftlich abfassen und der Obersten Raumbehörde übergeben.«

»So?«, sagte er heiter, »ich muss? Warum muss ich?«

»Das wissen Sie selbst am besten.«

Shagan erhob sich. Er ging ein paar Schritte auf und! ab, überlegte und sagte schließlich weniger freundlich: »Gar nichts weiß ich, gar nichts. Ich sagte Ihnen gestern bereits, dass es mein Privatvergnügen war, die Katastrophe noch einmal auf andere Weise zu rekonstruieren. Lassen wir es dabei.«

Sie ließ sich durch seinen barschen Ton nicht beirren. »Ich habe viel darüber nachgedacht, Professor. Wenn Sie nun doch recht hätten? Wenn die Charles Darwin wirklich noch existierte und die Besatzung...« Sie sprach ihren Gedanken nicht zu Ende.

Er winkte ab. »Das mit dem .Überleben' war gestern nur so eine Bemerkung von mir. Und das andere? Eine Spekulation; man würde meiner These niemals zustimmen. Aber etwas anderes könnte eintreten. Man wird sagen: Zuerst hat er einen Planeten berechnet, der nicht mehr existiert, und nun wartet er mit einer neuen Sensation auf. Nein, Nanga, ich gehe kein Risiko mehr ein, ich möchte meinen Ruf als Wissenschaftler nicht verlieren - begreifen Sie das?«

»Nein«, sagte sie.

»Dann lassen Sie es«, knurrte er.

Ruf als Wissenschaftler, dachte sie, als wenn es in einem solchen Fall um irgendwelche Ehrbegriffe ginge. Wie oft hatten sich Menschen bei der Erforschung der Erde verirrt, waren von der Außenwelt abgeschnitten worden. Niemals hatte man sie aufgegeben, selbst nach Toten war gesucht worden. Ihr fielen Beispiele ein, die sie aus der Literatur kannte, und sie erzählte davon. Erstaunt über ihren Eifer, hörte er zu, und für einen Augenblick schien es, als stimmten ihn diese Beispiele nachdenklich.

»Es mag schon stimmen, was Sie da von vergangenen Expeditionen erzählen«, erwiderte er bedächtig, »nur haben Sie vergessen, dass es im All weder Inseln noch Packeis, noch ein rettendes Seil gibt. Nehmen wir einmal den extremsten Fall an. Nehmen wir an, sie wären durchgekommen, ihr Labor intakt geblieben. Nach meinen Berechnungen, die zwar hypothetisch, aber nicht ausgeschlossen sind, müsste sich die Darwin der Sonne bis auf hundert Millionen Kilometer nähern. In dieser Entfernung bewegt sich die Venus auf ihrer Bahn.« Shagan sah sie bedeutungsvoll an, dann fügte er hinzu: »Das ist die eine Seite, was sich jedoch niemals ermitteln lassen wird, das ist der Bahnverlauf selbst. Sie melden sich nicht, und das spricht zunächst gegen meine These, sie bleiben unsichtbar und unhörbar...«

Schweigen. Der Professor hatte die Hände auf den Rücken gelegt und wanderte auf und ab. Nanga lag eine Erwiderung auf den Lippen. Sie wusste, dass er Recht hatte, dass es kaum eine Überlebenschance für die sechs gab, doch darum ging es ihr in diesem Augenblick gar nicht mehr. Warum gab Shagan seine Überlegungen nicht weiter? Es war ja nicht nur Gedankenspielerei, auch wenn er so tat, als sei die Angelegenheit für ihn längst erledigt. Und wenn seine These stimmte - hatten Tote kein Recht auf die Erde? Nanga trat auf ihn zu. »Bitte, Professor Shagan, unternehmen Sie etwas.«

»Was? So lassen wir doch endlich das Thema.«

»Sie haben Angst, das ist der wirkliche Grund.«

Er sah sie betroffen an. »Wovor sollte ich Angst

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Herbert Ziergiebel/Apex-Verlag/Successor of Herbert Ziergiebel.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Peter Sladek.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 07.07.2018
ISBN: 978-3-7438-7447-3

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /