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Leseprobe

 

 

 

 

 

CHRISTIAN DÖRGE (HRSG.)

 

Raymond Chandlers

Philip Marlowe

 

 

 

 

Erzählungen

 

 

Apex Crime, Band 8

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

Max Allan Collins: DAS PERFEKTE VERBRECHEN (The Perfect Crime) 

Benjamin M. Schutz: DIE BLONDINE MIT DEN SCHWARZEN AUGEN  

(The Black-Eyed-Blonde) 

Loren D. Estleman: DAS LIED DER PISTOLEN (Gun Music) 

Joyce Harrington: GRACE (Saving Grace) 

Jonathan Valin: MALIBU CATCH-TEAM (Malibu Tag-Team) 

Dick Lochte: DIE BLONDINE MIT DEN TRAURIGEN AUGEN (Sad-Eyed Blonde) 

W. R. Philbrick: DER LEERE ÄRMEL (The Empty Sleeve) 

Sara Paretsky: DER GEBER BESTIMMT DEN EINSATZ (Dealer's Choice) 

Julie Smith: RUBY (Red Rock) 

Paco Ignacio Taibo II: DER TIEFSTE SÜDEN (The Deepest South) 

Francis M. Nevins, jr.: BEGEGNUNG IM DUNKELN (Consultation In The Dark) 

Roger L. Simon: IM DSCHUNGEL DER STÄDTE (In The Jungle Of Cities) 

John Lutz: STERNSCHNUPPE (Star Bright) 

Simon Brett: DER STARDUST-MORD (Stardust Kill) 

Robert J. Randisi: SCHLIESSFACH 246 (Locker 246) 

Stuart M. Kaminsky: BITTERE LIMONEN (Bitter Lemons) 

Robert Crais: DER MANN, DER DICK BONG KANNTE (The Man Who Knew Dick Bong) 

Edward D. Hoch: DER GLANZ DES OSTENS (Essence D'Orient) 

Jeremiah Healy: IN AUSÜBUNG DES DIENSTES (In The Line Of Duty) 

Ed Gorman: DAS ALIBI (The Alibi) 

James Grady: DER SPIELPLATZ DES TEUFELS (The Devil's Playground) 

Eric van Lustbader: ASIA (Asia) 

Robert Campbell: MÄUSE (Mice) 

 

Nachwort: ER BRACHTE DIE WORTE ZUM TANZEN 

Frank MacShane über Raymond Chandler 

 

Das Buch

 

Raymond Chandler hat ihn erfunden, Humphrey Bogart hat ihn unnachahmlich gespielt: Privatdetektiv Philip Marlowe. Nun wird die Kultfigur der Krimi-Literatur in dieser einzigartigen, von Christian Dörge zusammengestellten und herausgegebenen Anthologie zu neuem Leben erweckt in 23 Kriminal-Geschichten mit Philip Marlowe, geschrieben von den besten Spannungsautoren der Welt: Max Allan Collins, Benjamin M. Schutz, Loren D. Estleman, Joyce Harrington, Jonathan Valin, Dick Lochte, W. R. Philbrick, Sara Paretsky, Julie Smith, Paco Ignacio Taibo II., Francis M. Nevins jr., Roger L. Simon, John Lutz, Simon Brett, Robert J. Randisi, Stuart M. Kaminsky, Robert Crais, Edward D. Hoch, Jeremiah Healy, Ed Gorman, James Grady, Eric Van Lustbader und Robert Campbell.

 

Ergänzt wird diese Anthologie durch ein Nachwort von Frank McShane.

  Max Allan Collins: DAS PERFEKTE VERBRECHEN

  (The Perfect Crime)

 

 

 

Sie war der erste Filmstar, für den ich je arbeitete, doch ich war nicht sonderlich beeindruckt. Würde ich so leicht zu beeindrucken sein, wäre ich von Hollywood selbst hingerissen gewesen. Da ich jedoch wusste, wie Hollywood meinen Berufsstand auf der Leinwand darstellte, beeindruckte mich auch Hollywood nicht sonderlich.

Andererseits war Dolores Dodd die schönste Frau, die je meine Dienste in Anspruch nehmen wollte, und das beeindruckte mich nun doch. Genug zumindest, dass ich mich - als sie mich in jenem Oktober anrief und bat, zu ihrem Sidewalk Café hinaus zu fahren, das sich unterhalb der Klippen von Montemar Vista ans Steilufer schmiegte - sogleich auf die Socken machte und mich fragte, ob sie in Fleisch und Blut genau so schön sein würde wie auf Zelluloid.

Noch am selben Morgen war ich auf dem Pacific Coast Highway nach Norden gefahren. Es war ein klarer, kühler Morgen mit einem blauen Himmel, der sich hoch über dem weiten, glitzernden Meer wölbte. Pelikane spielten Fangen mit der hereinrollenden Brandung und segelten dicht unter der Gischt der weißlippigen Wellen. Jachten dümpelten dort draußen zwischen dem Horizont und mir, klein wie Spielzeugboote. Es schien mir, als könnte ich danach greifen, mir eine davon aus dem Wasser zu pflücken und sie begutachten, daran schnuppern vielleicht, wie King Kong an Fay Wrays Unterwäsche.

Dolores Dodds Sidewalk Café, schon von weitem durch eine riesige Reklamewand in der Steilwand oberhalb des Anwesens angekündigt, war ein mächtiger, einstöckiger Kasten im Hazienda-Stil, so groß wie ein gestrandeter Luxusdampfer. Über dem mittleren und größten der zahlreichen Bogengänge ragte wie ein gedrungener Leuchtturm ein zweites Stockwerk empor. Auf dem Parkplatz standen nur wenige Wagen - es war erst kurz vor zehn und noch zu früh für die Mittagsgäste, und nicht einmal Marlowe trank so früh am Tage Cocktails. Und wenn, dann würde er es nicht an die große Glocke hängen.

Sie erwartete mich in der sonst leeren Cocktaillounge, wo massive, dunkelgebeizte Deckenbalken in spanischen Stil im Kampf mit dem Leder und Chrom des Mobiliars und der chrom- und glasblitzenden Bar aus Ziegelsteinen lagen. Es sah nach einem Remis aus. Sie war eine großgewachsene Blondine mit mehr Kurven als der Küstenhighway draußen vor der Tür und genau der richtigen Zahl von Hügeln und Tälern. Sie trug ein hautenges weißes Sommerkleid und saß, die nackten Beine übereinander geschlagen, auf einem der Barhocker. Es waren nicht unbedingt die schönsten Beine auf diesem Planeten; das Gegenteil zu beweisen, wäre mir allerdings schwergefallen. Ein so guter Detektiv bin ich auch wieder nicht.

»Philip Marlowe?«, fragte sie, und ihr Lächeln zauberte zwei süße Grübchen auf ihre Wangen, die ihr herzförmiges Gesicht und die ganze Welt zum Strahlen brachten - und mich dazu. Sie blieb auf dem Hocker sitzen und streckte mir mit einer Geste die Hand entgegen, die leger und hoheitsvoll zugleich wirkte.

Ich nahm die Hand, unschlüssig, ob ich sie küssen, schütteln oder sie zwischen die Seiten eines Buchs pressen sollte wie eine Blüte fürs Poesiealbum. Ich betrachtete sie ein wenig verlegen. Sie war so schön, dass man nicht wusste, wo man zuerst hinsehen sollte, und man sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass vielleicht irgendetwas falsch daran war.

Sie hatte bleiche, cremefarbene Haut, und ihr Haar war fast weißblond. Sie nannten sie die Eiscreme-Blonde in den Zeitungen. Ich verstand, weshalb.

Dann wanderte mein Blick zu ihren Augen. Sie waren blau, natürlich, kornblumenblau und sehr groß, mit unglaublich langen Wimpern. Eine echte Klassefrau, die nichts von dieser geborgten, billigen Schönheit aus dem Kosmetikstudio an sich hatte. Aber sie hatte die traurigsten Augen, in die ich je gesehen hatte. Das Lächeln gefror auf meinem Gesicht, als hätte ich in das Antlitz einer Medusa gesehen und nicht in das einer neunundzwanzigjährigen ehemaligen Volksschullehrerin aus Massachusetts, die einen Talentwettbewerb gewonnen hatte.

»Ist was nicht in Ordnung?«, fragte sie. Dann klopfte sie mit der flachen Hand auf den Barhocker neben ihr.

Ich setzte mich und sagte: »Alles in Ordnung. Ich hatte nur bisher noch nie einen Filmstar als Klienten.«

»Verstehe. Sie sind mir wärmstens empfohlen worden.«

»Oh?«

Ihre Stimme war tief und kehlig, ohne affektiert oder unecht zu klingen. Sie war das, was Mae West gewesen wäre, hätte man sie nicht zu einer Parodie ihrer selbst gemacht.

»Von einem Freund im Büro des Bezirksstaatsanwalts. Er sagte, man hat Sie gefeuert, weil Sie zu ehrlich waren.«

»Eigentlich sehe ich die Sache lieber so, dass ich gekündigt habe. Und der Gedanke, dass ich zu ehrlich bin, gefällt mir auch nicht.«

»Oh?«

»Nur gerade ehrlich genug.«

Sie quittierte dies mit einem breiten Lächeln und prahlte dabei mit Zähnen, die weißer waren, als irgendeine Kamera dies zeigen kann. »Darf ich Ihnen einen Drink machen, Mr. Marlowe?«

»Es ist noch ein bisschen früh.«

»Das weiß ich. Darf ich Ihnen einen Drink machen?«

»Sicher.«

»Irgendwas Bestimmtes?«

»Alles, in dem keiner dieser kleinen Papierschirme steckt, ist mir recht.«

Sie verpasste mir einen Whiskey und goss sich dann selbst einen ein. So etwas gefällt mir bei einer Frau.

»Haben Sie schon mal was von Laird Brunette gehört?«, fragte sie, während sie zu ihrem Barhocker zurückkehrte.

»Gehört schon«, sagte ich. »Aber begegnet bin ich ihm noch nicht.«

»Was wissen Sie über ihn?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Großer Macker im Glücksspiel. Hat überall in Südkalifornien Casinos laufen. Jeden Tag mehr.«

Sie durchschnitt die Luft mit einem langen, roten Fingernagel, als verscheuche sie eine Fliege. »Vielleicht ist Ihnen der Turm über meinem Restaurant aufgefallen?«

»Sicher.«

»Ich wohne im ersten Stock, aber der Turm darüber ist ziemlich groß.«

»Groß genug für ein Casino, meinen Sie.«

»So ist es«, sagte sie und nickte. »Brünette ist deshalb schon mehr als einmal an mich herangetreten. Ich hab' ihn abblitzen lassen - mehr als einmal. Bei der Lage meines Restaurants und den Gästen, die zu mir kommen, könnte ein Casino zur Goldgrube werden.«

»Sie kommen auch auf legale Weise ganz gut zurecht. Weshalb sollten Sie sich auf illegale Geschichten einlassen?«

»Richtig. Und wenn ich mit dem Gesetz in Konflikt käme, wäre das ein furchtbarer Skandal, und Hollywood kann im Augenblick nicht noch einen Skandal brauchen. Busby Berkeleys Prozess steht unmittelbar bevor, wie Sie wissen.«

Der bekannte Regisseur und Choreograph, Schöpfer zahlloser Trivialfantasien, hatte sich vor Gericht wegen fahrlässiger Tötung zu verantworten, weil er in betrunkenem Zustand, gar nicht so weit vom Sidewalk Café, drei Fußgänger über den Haufen gefahren hatte.

»Aber seit einiger Zeit«, sagte sie, und ihre vollen Lippen, die so üppig waren, als habe sie eine Biene gestochen, zuckten nervös, »flattern mir ständig Drohbriefe ins Haus.«

»Von Brünette?«

»Nein. Eigentlich sind es Erpresserbriefe. Ich soll das Geld Artie Lewis geben, dem Bandleader. Sie kennen ihn vielleicht?«

»Warum ihm?«

»Brünette hat ihn in der Hand. Spielschulden. Und ich war mal mit Artie zusammen. Er lebt jetzt in San Francisco.«

»Verstehe. Haben Sie mit den Cops gesprochen?«

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Ich will nicht, dass Artie Schwierigkeiten bekommt.«

»Haben Sie mit Artie gesprochen?«

»Ja. Er behauptet, er weiß nichts davon. Er will mein Geld nicht. Und an mir ist er auch nicht mehr interessiert. Er hat eine neue Freundin.«

Die Frau hätte ich gerne gesehen, die einen Dolores Dodd vergessen ließ.

»Sie wollen also, dass ich der Sache nachgehe«, sagte ich. »Kann ich diese Erpresserbriefe einmal sehen?«

»Nein«, sagte sie und schüttelte ihre weißblonden Locken wie den Mopp der Götter, »darum geht es mir gar nicht. Ich habe die Briefe verbrannt. Artie zuliebe.«

»Tja... Und was soll ich dann bei der ganzen Geschichte?«

»Ich habe den Eindruck, ich werde verfolgt. Ich hätte gerne einen Leibwächter.«

Ich widerstand der Versuchung, sie mit einem wölfischen Blick zu verschlingen und unterdrückte eine anzügliche Bemerkung. Sie war ein netter Kerl, und die Tatsache, dass sie einen Körper hatte, für dessen Bewachung jedes Spürauge der Welt liebend gern auf sein Honorar verzichtet und sogar noch einiges draufgelegt hätte, schien mir nicht der Rede wert. Mein Honorar allerdings schon.

»Fünfundzwanzig pro Tag und Spesen extra«, sagte ich.

»Schön«, sagte sie. »Und Sie können natürlich jederzeit hier im Restaurant essen, wenn Sie wollen. Drinks sind selbstverständlich ebenfalls frei. Sie brauchen nur zu quittieren, ich kümmere mich dann darum.«

»Großartig.« Ich grinste. »Ich hab' mich so und so schon gefragt, wie ich in dieser Branche jemals zu einer Sozialfürsorge kommen soll.«

»Sie können sich als mein Chauffeur nützlich machen.«

»Oh...«

»Sehen Sie da irgendwelche Probleme, Mr. Marlowe?«

»Ich habe zwar eine Lizenz als Privatdetektiv und einen Waffenschein, aber keine Lizenz als Chauffeur.«

»Ich denke, ein normaler Führerschein wird es auch tun. Was ist das wirkliche Problem, Marlowe?«

»Ich trage keine Uniform. Ich bin überzeugter Zivilist.«

Sie verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln. »Na schön«, sagte sie. »Halten Sie an Ihrer Würde fest... Aber Sie müssen mir erlauben, die Unkosten für ein paar neue Anzüge zu übernehmen. Die steuere ich noch zu unserem Übereinkommen bei.«

»Schön«, sagte ich.

In den folgenden zwei Monaten war sie mein einziger Klient. Ich arbeitete sechs Tage in der Woche für sie - Montag bis Samstag. An den Sonntagen ruhten Gott, Marlowe und Dodd. Ich fuhr sie in ihrem apfelroten Packard-Kabriolett durch die Gegend - ein Wagen, gemacht für Blondinen mit wehendem Haar und Perlenketten. Sie saß hinten, natürlich. An den meisten Tagen fuhr ich sie ins Hal Roach Studio, zu den Dreharbeiten für ein Musical mit Laurel und Hardy. Dort wartete ich dann in einer dunklen Ecke des Tonstudios und beobachtete jede ihrer Bewegungen draußen im hellen Licht. In ihrem Spitzenmieder, dem um ihre Beine fließenden Zigeunerrock und der schwarzen Perücke war Dolores genau die Sorte von Mädchen, die man mit nach Hause nahm, um sie Mutter vorzustellen, und sollte sie Mutter nicht gefallen, dann zur Hölle mit Mutter.

An den Abenden machte sie ihre Runde durch die Clubs, meist ins Trocadero und ins El Mocambo. Ich setzte mich in die Cocktaillounge und genoß in Ruhe meinen Drink und wartete, bis sie sich mit ihren diversen Begleitern auf den Heimweg machte. Einige dieser Burschen waren tuntige Typen, mit denen sie sich in der Öffentlichkeit zeigte, um dem Studio einen Gefallen zu tun. Ein paar andere blieben über Nacht.

Ich plaudere nicht gern aus der Schule, aber es hat gar keinen Sinn, diese Geschichte erzählen zu wollen, wenn ich in einem nicht absolut offen bin: Dolores bumste ganz schon durch die Gegend. Später, als in den Klatschspalten Gerüchte über Alkohol und Drogen kursierten, zerrissen sie sich natürlich auch darüber die Mäuler. Aber Dolores war ein freundliches und liebenswertes Mädchen. Die Natur hatte sie großzügig mit Schönheit und allen anderen weiblichen Reizen ausgestattet, und genauso großzügig ging sie damit um.

»Marlowe«, sagte sie eines Nachts Anfang Dezember, als ich sie nach Hause gebracht hatte und sie wie immer zur Eingangstür des Restaurants begleitete, »ich glaube beinahe, ich habe mich in Sie verknallt.«

Sie war allein in dieser Nacht und hatte im Interesse von Louella Parsons und Konsorten wieder einmal die Freundin eines dieser Hollywood-Hanswursten gespielt. Allein, abgesehen von mir.

Sie legte einen Arm um meine Taille. Ihr Atem roch nach Alkohol, aber meiner sicherlich auch. Keiner von uns beiden war betrunken. Sie war in sanftes Mondlicht gehüllt und in Chanel Nummer Fünf.

Sie küsste mich mit ihren Bienenstichlippen, und ich fühlte den Stachel - sanft und tief.

Ich entzog mich ihrer Umarmung. »Nein. Tut mir leid, Lady.«

Sie zuckte zusammen. »Was haben Sie?«

»Ich bin bloß der bezahlte Lakai. Sie fühlen sich nur einsam heute Nacht.«

Ihre Augen, in die ich wegen der tiefen Traurigkeit, die dort schwelte, nur selten sah, wurden hart. »Fühlen Sie sich nie einsam, Sie Bastard?«

Ich schluckte. »Nein«, sagte ich.

Sie holte aus, um mir ins Gesicht zu schlagen, doch dann berührte sie nur meine Wange. Sanft wie die Brise, die vom Meer her wehte, und sie war sanft in dieser Nacht, die Brise - so sanft.

»Gute Nacht, Marlowe«, sagte sie.

Und sie schlüpfte ins Haus.

»Gute Nacht«, sagte ich zu niemandem. Und dann zu mir selbst: »Gute Nacht, Marlowe, du verdammter Idiot.«

Ich fuhr ihren Packard in die Garage, die an den Bungalow oberhalb des Restaurant-Komplexes angebaut war. Dazu musste ich einen Umweg über die Montemar Vista Road machen und dann nach rechts in den Seretto Way einbiegen. Der Bungalow im mediterranen Stil, der in der Cabrillo Street lag, erklomm, wie so viele Häuser in Montemar Vista, die Bergflanke wie eine Kletterpflanze. Er gehörte Dolores Dodds Partner im Sidewalk Café, dem Filmregisseur und Produzenten Warren Eastman. Eastman hatte auch eine Wohnung über dem Restaurant, gleich neben der von Dolores, und wie es schien, wohnte er abwechselnd mal dort, mal im Bungalow.

Es beschäftigte mich natürlich, welche Art von Verhältnis die beiden hatten, Eastman und meine Klientin, doch ich fragte nie danach - nicht direkt zumindest. Eastman war ein hagerer, eleganter Mann Ende Vierzig mit einem spitzen Kinn, einem dünnen Oberlippenbärtchen und ausufernden Geheimratsecken, an deren Front die Stirnlocke seines glatten, schwarzen Haars vergebliche Rückzugsgefechte gegen die sich ausbreitende Glatze focht, wodurch sein Gesicht karoförmig wirkte. Er saß oft in der Cocktaillounge, einen Bloody Mary in der einen und eine qualmende Zigarettenspitze in der anderen Hand. Ständig handelte er irgendwelche Verträge mit Leuten vom Film aus.

»Marlowe«, sagte er eines Abends und winkte mich zu sich an die Bar. Er saß auf demselben Hocker, auf dem Dolores an jenem Morgen gesessen hatte. »Das ist Nick DeCiro, der Agent für Nachwuchstalente. Nick, das ist der Plattfuß, den Dolores angeheuert hat, um sie vor dem großen, bösen Glücksspiel-Syndikat zu beschützen.«

DeCiro war einer dieser dunkelhaarigen, gutaussehenden Burschen, wie es sie in Hollywood zu Tausenden gibt. Etwas älter als Eastman, doch ohne dessen Schnurrbärtchen und Ansatz zur hohen Stirn. DeCiro trug einen weißen Anzug und ein schwarzes, am Hals offenstehendes Sporthemd, das einen dichten Pelz schwarzer Brusthaare freigab.

Ich schüttelte DeCiros Hand. Sein Griff war fest und feucht wie eine Handvoll Humus.

»Nicky hier ist der Exmann Ihrer Klientin«, sagte Eastman mit einem affektierten Wedeln seiner Zigarettenspitze, das jene mühelose Dekadenz zum Ausdruck bringen sollte, an der Hollywood so hart arbeitet.

»Dolores und ich sind nach wie vor gute Freunde«, sagte DeCiro, während er sich mit einem matt glänzenden silbernen Feuerzeug eine ausländische Zigarette ansteckte. »Wir haben uns in aller Freundschaft getrennt.«

»Soviel ich gehört habe, wurde die Ehe wegen seelischer und körperlicher Grausamkeit geschieden«, sagte ich.

DeCiro bedachte mich mit einem finsteren Blick, und eilfertig kam ihm Eastman zu Hilfe: »Glauben Sie nicht alles, was Sie in den Zeitungen lesen, Marlowe. Irgendeinen Grund braucht man schließlich, wenn man sich scheiden lassen will.«

»Aber das dürfte Ihnen in Ihrem Job nicht neu sein«, sagte DeCiro, und seine dünne Stimme klang gereizt.

»Ich übernehme keine Scheidungsfälle«, sagte ich.

»Sicher«, sagte DeCiro.

»Ganz sicher. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen...«

»Marlowe, Marlowe«, sagte Eastman und legte seine Hand auf meinen Arm. »Seien Sie doch nicht so empfindlich.«

Ich wartete, bis er die Hand von meinem Arm nahm, und sagte dann: »Wollten Sie etwas Bestimmtes, Mr. Eastman? Ich habe für dieses Hollywood-Geschwätz nicht viel übrig.«

»Mit gefällt Ihre Art nicht«, sagte DeCiro.

»Da sind Sie nicht der Einzige«, erwiderte ich. »Aber ich werde auch nicht so gut bezahlt, dass das von Belang wäre.«

»Marlowe«, sagte Eastman. »Ich versuche die ganze Zeit, Nicky hier zu überzeugen, dass mein neuer Film einer seiner Klientinnen praktisch auf den Leib geschrieben ist. Ich drehe einen Kriminalfilm. Über das perfekte Verbrechen. Den perfekten Mord.«

»So was gibt es nicht«, sagte ich.

»Oh, wirklich?«, sagte DeCiro, und seine Augenbrauen wölbten sich interessiert.

»Mord und Verbrechen sind sehr ungenaue Wissenschaften. Auch nicht der beste Plan der Welt kann dem menschlichen Faktor voll und ganz Rechnung tragen.«

»Und wie erklären Sie sich dann, dass in diesem Land Hunderte von Morden nicht aufgeklärt werden?«, fragte Eastman spöttisch.

»Die Polizeiarbeit ist zwar eine exaktere Wissenschaft als Verbrechen oder Mord«, entgegnete ich, »aber es gibt 'ne Menge korrupter Cops auf dieser Welt - und 'ne ganze Menge beschränkter dazu.«

»Dann gibt es also doch perfekte Verbrechen.«

»Nein. Allenfalls ungelöste Verbrechen. Und unzulängliche Polizisten. Schönen Abend noch, die Herren.«

Dies war das längste Gespräch, das ich während der Zeit, in der ich für Miss Dodd arbeitete, mit Eastman oder DeCiro hatte, obwohl ich hin und wieder hallo sagte, und sie ebenfalls.

Eastman war mit einer Schauspielerin verheiratet, die sich Marinda Daimond nannte, eine feurige Mexikanerin, deren Eltern aus Mexico City stammten, die jedoch in der Bronx aufgewachsen war. Sie hielt sich selbst für die kommende Lupe Velez, und sie stand dieser an üppiger Sinnlichkeit um nichts nach, obgleich die Linien ihres hübschen Gesichts hart wie ein Grabstein waren.

Eines Abends nagelte sie mich in einer Ecke der Cocktaillounge fest, wo ich mir in Ruhe meinen Drink schmecken ließ.

»Sie sind der Privatbulle, den sich dieses Flittchen angelacht hat«, sagte sie.

Wir hatten bis dahin noch kein Wort miteinander gesprochen.

»Ich hoffe, Sie meinen es nicht so, wie es geklungen hat«, erwiderte ich.

»Sie sind der Leibwächter von diesem Flittchen«, sagte sie und ließ sich neben mir auf die Ledercouch sinken. Ihre Nasenflügel bebten. Hätte ich ein rotes Tuch in der Hand gehabt, ich hätte es fallen lassen und wäre in Deckung gestürzt.

»Ja, Miss Daimond, Miss Dodd ist meine Klientin.«

Sie lächelte. »Sie kennen mich?«

»Oh, ja. Und ich bin auch soweit im Bilde, Sie in Gegenwart bestimmter Leute Mrs. Eastman zu nennen.«

»Mein Mann und ich haben uns getrennt.«

»Ah.«

»Aber ich könnte vor dem Scheidungsrichter ein bisschen Hilfe gebrauchen.«

»Welcher Art?«

»Fotos von ihm und diesem Flittchen im Bett.«

»Das würde Ihnen helfen?«

»Ja. Sie müssen wissen, mein Mann hat ähnliche Fotos von mir und einem Gentleman in einer sehr kompromittierenden Situation.«

»Das Leben steckt nun mal voller Risiken«, sagte ich und bot ihr eine Zigarette an. Sie nahm sie, und ich gab ihr und dann mir selbst Feuer. »Und wenn Sie ähnliche Fotos in Händen hätten, könnten Sie für sich günstigere Scheidungsbedingungen aushandeln.«

»Genau. Interessiert?«

»Ich übernehme keine Scheidungsfälle. Und ich falle meinen Klienten nicht in den Rücken. Außerdem käme ich in einen unlösbaren Interessenkonflikt.«

Sie lächelte und legte ihre Hand auf meinen Oberschenkel. »Ich könnte dafür sorgen, dass es sich für Sie lohnt. Finanziell und auch - in anderer Weise.«

Es war noch nicht Weihnachten, und bereits zwei Göttinnen der Leinwand wollten mich in ihr Bett locken. Ich musste wirklich eine große Nummer sein.

»Nein, danke, Señorita. Ich schlafe allein - nur ich und mein Gewissen.«

Daraufhin schlug sie mir vor, ich solle das, was sie mir soeben angeboten hatte, mit mir selbst machen. Sie steckte voller reizender Ideen.

Ich machte mir ebenfalls so meine Gedanken. Ich war mir ziemlich sicher, dass Dolores und Eastman ein Verhältnis hatten, doch offensichtlich war es eine diese Mal-ja-Mal-nein-Affären: An einem Abend turtelten sie ganz offen in dieser widerlichen Hollywood-Manier, Sweetie-Baby hier, Sweetie-Baby da; am nächsten Abend war er kühl und reserviert zu ihr; und am darauffolgenden Abend war sie kühl und reserviert zu ihm. Es war Liebe - das konnte ich sehen -, aber es war die Art von Liebe, die früher oder später mit einer Explosion endet wie ein heiß gelaufener Motor.

Zehn Tage vor Weihnachten gab ein bekannter englischer Schauspieler, der so bekannt war, dass ich noch nie was von ihm gehört hatte, im Troc eine Dinnerparty zu Ehren von Dolores. An einer Tafel für zwölf, oben im todschicken, gold- und cremefarbenen Speisesaal wurde Dolores von ihren Showbusiness-Freunden gefeiert, während ich unten an der Bar aus poliertem Kupfer in der eichenholz-getäfelten Cocktaillounge saß und einen Whiskey zur Brust nahm. Mir war absolut nicht nach poliertem Kupfer zumute - das war mal sicher. Ich fühlte mich eher wie ein Chauffeur mit Kanone, der von seiner schönen Brötchengeberin nicht gebraucht wurde.

Soviel war mir klar: Während der zwei Monate, die ich bereits für Dolores arbeitete, hatte ich niemanden ausmachen können, der ihr gefolgt wäre - von ein paar Fans einmal abgesehen. Und ich konnte es ihnen nicht einmal verübeln. Ich glaube fast, ich hatte mich selbst ein wenig in die Eiscreme-Blonde vergafft. Aber sie war meine Klientin, und sie bumste durch die Gegend, und weder das eine noch das andere war dazu angetan, dass mir eine Frau wirklich gefiel.

Der Abend war etwa eine halbe Stunde alt, als ich von oben einen Schrei hörte. Den Schrei einer Frau. Ein Schrei, der möglicherweise von Dolores stammen konnte.

Ich nahm vier Stufen auf einmal und hatte meine Kanone in der Faust, als ich die Tür zu dem prunkvollen Speisesaal auf stieß. Wenn ich mit der Kanone in der Hand in einen prunkvollen Speisesaal stürme, sind normalerweise sämtliche Augen auf mich gerichtet. Nicht dieses Mal.

Dolores war soeben im Begriff, ihrem Ex-Ehemann an die Kehle zu fahren, der ihr ins Gesicht lachte. Sie wurde von Patsy Peters, der dunkelhaarigen Schauspielerin mit dem Gummigesicht, die in zahlreichen Zweiaktern Dolores Partnerin gewesen war, zurückgehalten. DeCiro, in weißem Smoking, hatte eines seiner Starlets am Arm hängen, eine etwa 20jährige Blondine mit einem Dekolleté, das bis zu ihren Schuhen reichte. Das Filmsternchen sah ziemlich verängstigt drein, doch DeCiro wollte sich ausschütten vor Lachen.

Ich steckte meine Kanone weg und übernahm für Patsy Peters.

»Miss Dodd«, flüsterte ich ihr sanft ins Ohr, während ich von hinten ihre Arme umklammert hielt. »Tun Sie das nicht.«

Sie wurde einen Augenblick lang schlaff in meinen Armen, dann richtete sie sich auf und mit steifer Würde in der Stimme sagte sie: »Ich bin in Ordnung, Philip.«

Es war das einzige Mal, dass sie mich so nannte.

Ich ließ sie los.

»Was ist passiert?«, fragte ich. Meine Frage war zugleich an Dolores Dodd und an ihren Exgatten gerichtet.

»Er hat mich in eine peinliche Situation gebracht«, sagte sie ohne eine weitere Erklärung.

Und ohne weitere Umstände sagte ich zu DeCiro: »Gehen Sie.«

Um DeCiros Lippen zuckte ein Lächeln. »Ich wurde eingeladen.«

»Ich lade Sie aus. Gehen Sie.«

Sein Gesicht verfinsterte sich, und er spielte mit dem Gedanken, etwas zu sagen oder zu tun. Aber meine Augen klebten an ihm wie Magnete an Metall, und er besann sich eines Besseren, raffte seine Begleiterin mitsamt ihrem Dekolleté zusammen und machte sich aus dem Staub.

»Möchten Sie nach Hause gehen?«, fragte ich Dolores.

»Nein«, sagte sie mit einem scheuen Lächeln und drückte meinen Arm und ging dann an die Tafel der zwölf zurück, wo ihre Clique von Hollywood-Typen sie erwartete. Sie war schließlich der Ehrengast.

Zwei Stunden und zwei Drinks später brachte ich sie nach Hause. Sie saß im Fond ihres apfelroten Packards, in ihrem Nerzmantel und dem hauchdünnen malven- und silberfarbenen Abendkleid und dem Brillantkollier, und erzählte mir, was geschehen war, während der Wind an ihrem eisblonden Haar zerrte.

»Nicky hat sich einladen lassen, ohne dass ich davon wusste«, sagte sie und musste beinahe schreien, um gegen den Wind anzukommen. »Er hat den Gastgeber gebeten, ihm am Tisch einen Platz neben mir zu reservieren. Dann, als die Party schon längst begonnen hatte, kam er mit diesem Möchtegern-Starlet am Arm hereinstolziert und setzte sich an einen anderen Tisch, um mich während des Abends, der zu meinen Ehren gegeben wurde, in Gesellschaft eines leeren Stuhls sitzen zu lassen. Er schmuste ganz ungeniert mit diesem kleinen Flittchen herum, und ich stand auf und ging zu ihm hinüber und sagte ihm, was ich von ihm hielt. Ich - ich verlor ein bisschen die Selbstbeherrschung. Danke, dass Sie dazwischengetreten sind, Marlowe.«

»Dafür werde ich bezahlt.«

Eine Weile sagte sie nichts. Nur die Stimme des Winds war zu hören. Es war eine kalte Dezembernacht, kalt wie ein eisgekühlter Martini. Ich hatte sie gefragt, ob ich das Verdeck des Kabrioletts hochmachen solle, doch sie hatte nein gesagt. Während wir den Sunset hinabrollten, sah sie sich mehrere Male um.

»Marlowe«, sagte sie. »Jemand verfolgt uns.«

»Ich glaube nicht.«

»Ich sage Ihnen, jemand verfolgt uns.«

»Ich halte den Rückspiegel im Auge. Es ist alles in Ordnung.«

Sie beugte sich vor und umklammerte meine Schulter. »Drücken Sie drauf! Oder wollen Sie, dass ich gekidnappt oder umgebracht werde? Es sind vielleicht Brunettes Killer!«

Sie war der Boss. Ich trat aufs Gaspedal. Mit siebzig Meilen brausten wir den Boulevard in Richtung Westen hinab. An der Kreuzung Sunset und Coast Highway war eine Tankstelle, und ich fuhr hinein.

»Was tun Sie?«, rief sie.

Ich drehte mich zu ihr um und sah in ihre angstvollen blauen Augen. »Ich lasse auftanken und halte die Straße im Auge. So kann ich am besten feststellen, ob jemand hinter uns anhält oder ein verdächtiger Wagen vorbeifährt. Keine Angst. Ich bin bewaffnet.«

Ich sah mir jeden Wagen, der vorüberfuhr, genau an. Ich sah niemanden und nichts Verdächtiges. Dann bezahlte ich den Tankwart und lenkte den Wagen auf der Coast Highway nach Norden. Ich ließ es langsam und gemächlich angehen.

»Ich sollte Sie feuern«, sagte sie und zog einen Flunsch im Rückspiegel.

»Das ist ohnehin mein letzter Abend, Miss Dodd«, sagte ich. »Ich arbeite gerne für mein Honorar, aber in Ihrem Fall habe ich den Eindruck, dass ich nichts tue für Ihr Geld.«

Sie beugte sich vor und umklammerte wieder meine Schulter. »Nein, nein. Ich sage Ihnen doch, ich fühle mich bedroht.«

»Weshalb?«

»Ich - ich habe das Gefühl, dass ich Sie in meiner Nähe brauche. Sie geben mir ein Gefühl der Sicherheit.«

»Haben Sie wieder irgendwelche Drohbriefe erhalten?«

»Nein.« Ihre Stimme klang jetzt ganz schwach.

»Falls doch, rufen Sie mich an, oder die Cops. Oder beides.«

Es war zwei Uhr, als ich den großen Wagen auf den Parkplatz vor dem Sidewalk Café gleiten ließ. Ich zitterte vor Kälte. Eine steife Brise wehte vom Meer her. Der alte Zittergreis Winter führte seinen Rachefeldzug gegen Kalifornien. Ich drehte mich zu ihr um und lächelte sie an.

»Ich bringe Sie noch zur Tür, Miss Dodd.«

Sie lächelte zurück, doch diesmal konnte ihr Lächeln weder ihr Gesicht noch die Welt oder mich zum Strahlen bringen. Diesmal war ihr Lächeln so traurig wie ihre Augen. Trauriger.

»Das ist nicht nötig, Marlowe.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja. Tun Sie mir einen Gefallen. Arbeiten Sie noch die nächste Woche für mich. Seien Sie noch für eine Woche mein Chauffeur, bis ich mich in Ruhe entschieden habe, ob ich mir einen anderen Leibwächter suchen soll oder - oder sonstwas.«

»Okay.«

»Gehen Sie jetzt nach Hause, Marlowe. Bis Montag also.«

»Bis Montag«, sagte ich und sah ihr nach, wie sie zum Eingang des Restaurants ging. Dann fuhr ich den Packard zur Garage hinauf und stieg in meinen verstaubten, uneleganten 1925er Marmon und fuhr nach Hollywood, zu meiner Wohnung im Berglund zurück. Mein Gefühl sagte mir, dass Dolores Dodd in ihrer Wohnung heute Nacht bestimmt kein Wandbett ausklappen würde.

Mein Gefühl trog mich nicht - doch aus einem ganz anderen Grund.

 

Am Morgen des folgenden Montags, einem sonnigen, doch kühlen, wenngleich nicht mehr ganz so kalten Tag, ließ ich meinen Marmon auf einem der Parkplätze vor dem Sidewalk Café ausrollen. Es war so gegen halb elf, und von meinem abgesehen, war weit und breit kein Wagen zu sehen. Die breite Eingangstür war noch verschlossen. Ich klopfte, bis mir die mexikanische Putzfrau aufmachte. Sie sagte, sie habe Miss Dodd heute Morgen noch nicht gesehen. Ich stieg die Treppe hinauf, die von der Küche des Restaurants zu den beiden Wohnungen im ersten Stock führte. Die Tür am Ende der Treppe war nicht verschlossen, und ich stand in dem Korridor, von dem die beiden Wohnungstüren abgingen. Ich klopfte an ihre Tür.

»Miss Dodd?«

Keine Antwort.

Ich versuchte es eine Weile, dann ging ich wieder nach unten und sprach noch einmal mit der Putzfrau. »Maria, haben Sie eine Ahnung, wo Miss Dodd sein könnte? In ihrer Wohnung ist sie anscheinend nicht.«

»Vielleicht sie ist oben bei Mister Eastman.«

Ich nickte und wandte mich zum Gehen. Dann fiel mir noch etwas ein, und ich fragte über die Schulter zurück: »Haben Sie sie gestern gesehen?«

»Sonntag ich nicht arbeiten.«

Vermutlich hatte auch Maria - wie Gott, Marlowe und Dolores Dodd - am Sonntag ihren freien Tag. Ich konnte es ihr nicht verübeln.

Ich spielte mit dem Gedanken, mit dem Wagen nach oben zu fahren, dann überlegte ich es mir jedoch anders und machte mich daran, die Betonstufen jenseits der Fußgängerbrücke, die sich direkt neben dem Restaurant über die Highway spannte, zu erklimmen. Diese Stufen, zweihundertachtzig an der Zahl und geradewegs die steilen Klippen emporsteigend, waren der einzige direkte Zugang, der von der Küstenstraße zu dem Bungalow in der Cabrillo Street führte. Der Wind hatte Sand über sie hinweggeweht, und das galvanisierte Geländer war kalt und feucht wie der Händedruck eines Lügners.

Ich keuchte den steilen Anstieg empor. Als junger Mann war ich losmarschiert, hatte bei Stufe einhundert die Midlifecrisis erreicht und war nun reif für das Altersheim. Ich ließ mich auf die kalte, feuchte letzte Stufe sinken und ließ aus meinen zerschrammten Florsheim-Tretern den Sand rinnen - froh, dass ich mir in den letzten Wochen nicht die Mühe gemacht hatte, sie zu wienern. Dann stemmte ich mich auf die Beine und sah über die schwindelerregende Stufenflucht zu meinen Füßen hinweg auf die Sichel der Bucht hinab, die im gleißenden Licht der Sonne lag. Der helle Sand des Strands blendete das Auge, und der Ozean glitzerte und funkelte. Es war wunderschön, doch es schmerzte hinzusehen. Mit heftigem Flügelschlag kämpfte eine Möwe in taumelnder Eleganz gegen den böigen Wind, wie ein Boxer, der die letzte Runde verliert.

Ich klopfte an Eastmans Haustür. Niemand machte auf. Ich ging zur Garage, um zu sehen, ob der Wagen meiner Klientin da war, und zog das mit schwarzen Nieten beschlagene Garagentor hoch. Der Wagen war da, das rote Packard-Cabrio stand neben Eastmans Lincoln.

Und meine Klientin war ebenfalls da.

Sie saß auf dem Fahrersitz, den Oberkörper gegen das

Steuer gelehnt. Sie trug noch immer den Nerz, das Brillantkollier und das malven- und silberfarbene Abendkleid, das sie Samstagabend bei der Dinnerparty im Troc angehabt hatte. Doch ihr Kleid war in Unordnung und verknittert wie ein ungemachtes Bett, und auf der Brust des Kleides war etwas Blut - geronnene Rubine unterhalb der matt glitzernden Brillanten. Und es war etwas Blut in ihrem Gesicht, ihrem weißen, weißen Gesicht.

Sie hatte immer eine blasse, cremefarbene Haut gehabt, doch nun war sie so weiß wie ein Hochzeitskleid. An ihrem Hals war kein Pulsschlag festzustellen. Sie war kalt. Sie war bereits eine ganze Weile tot.

Ich stand da und sah auf sie hinab und möglicherweise weinte ich auch. Aber das ist ganz allein meine Angelegenheit - oder? Dann ging ich nach draußen, stieg die Stufen zu der Wohnung über der Garage empor und klopfte den älteren Herren heraus, der dort lebte - einen gewissen Jones, der der Buchhalter des Sidewalk Cafés war. Ich fragte ihn, ob er ein Telefon habe. Er hatte, und ich machte einen Anruf.

Ich hatte meine Geschichte den Streifenpolizisten viermal erzählt, ehe die Beamten des Morddezernats auftauchten. Der diensthabende Detective hieß Lieutenant Randall, ein hagerer, düster dreinblickender und distanzierter Mitvierziger mit glattem, grauem Haar und eisigen Augen. Sein brauner Gabardineanzug war nicht das Teuerste, doch sorgfältig gebügelt. Seinen grünen, flachen Filzhut hielt er in der Hand - aus Respekt vor der Toten.

Er hörte sich meine Geschichte, die ich zum fünften Mal erzählte, geduldig an, schien jedoch nicht viel davon zu halten.

»Sie wollen mir also erzählen, dass diese Frau umgebracht wurde«, sagte er.

»Ich mache Sie nur darauf aufmerksam, dass die Burschen des Glücksspielsyndikats sie unter Druck gesetzt haben, und sie nicht bereit war, klein beizugeben.«

»Und Sie waren ihr Leibwächter«, sagte Randall.

»Prima Leibwächter«, sagte der andere Mann vom Morddezernat, Randalls ungeschlachter Schatten, und ließ seine

Knöchel knacken und lachte. Wir waren in der Garage, und das Lachen hallte hohl von den Betonwänden zurück wie ein Basketball in einer leeren Turnhalle.

»Ich war ihr Leibwächter«, sagte ich mit schmalen Lippen zu Randall gewandt. »Aber ich habe sonntags nicht gearbeitet.«

Randall nickte. Er ging hinüber und sah auf die Tote im Kabriolett hinab. Ein Fotograf des Dezernats machte Aufnahmen. Lichtblitze begleiteten Randalls Gang um den Wagen, als sei er der Star einer Hollywood-Uraufführung.

Ich ging nach draußen. Der Geruch des Todes ist schon schlimm genug, wenn es einen nicht persönlich berührt, ist jemand gestorben, den man kennt, fühlt man sich wie ein Asthmatiker in einer Sauna.

Randall fand mich gegen die weiß getünchte Außenwand der Garage gelehnt, als ich mir gerade meine zweite Camel ansteckte.

»Sieht wie ein Selbstmord aus«, sagte er.

»Klar. Soll es ja auch.«

Er hob eine Augenbraue und eine Schulter. »Die Zündung ist an. Kohlenmonoxid.«

»Der Motor lief nicht, als ich herkam.«

»Der Tank ist längst leer, höchstwahrscheinlich. Wenn es stimmt, was Sie sagen, dann liegt sie seit Samstagnacht hier - das heißt, seit dem frühen Sonntagmorgen.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Zumindest trägt sie dieselben Kleider.«

»Wenn wir den Zeitpunkt des Todes festgestellt haben, wird alles klarer werden.«

»Ach ja? Warten Sie ab, was der Arzt dazu zu sagen hat.«

Randalls Augen wurden noch eisiger. »Weshalb?«

»Die Kälte in den letzten, zwei, drei Tagen. Heute Morgen ist es wärmer, aber Sonntagnacht - Jesus. Dieser Wind vom Meer her war mörderisch, wenn Sie den Ausdruck entschuldigen.«

Randall nickte. »Vielleicht kalt genug, den Zerfall des Körpers zu verlangsamen, meinen Sie.«

»Vielleicht.«

Er schob sich den Filzhut wieder auf den Kopf. »Wir müssen diesen Eastman-Burschen sprechen.«

»Würde ich auch sagen. Er ist wahrscheinlich in seinem Studio. Paramount. Wenn er einen Film dreht, lässt er sich jeden Morgen vor Sonnenaufgang von einer Limousine abholen.«

Randall ging in die Wohnung des alten Jones hinauf, um zu telefonieren. Ich rauchte meine Zigarette.

Randalls vierschrötiger Kollege kam aus der Garage und legte einen Arm um die Schultern eines jungen Polizisten in Uniform, den so viel Aufmerksamkeit offensichtlich mit Unbehagen erfüllte.

»Die Eiscreme-Blonde, he?«, grinste der massige Bulle. »Davon hätte ich auch gern ein bisschen genascht.«

Ich tippte dem Schwein auf die Schulter, und er drehte sich zu mir um und sagte stupide »Hey?«, und ich verpasste ihm eine. Er sackte zusammen wie ein Hochhaus.

Doch er ging nicht k.o. . »Dafür wirst du bezahlen, du Bastard«, zischte er, und er klang wie der Schulhof-Rowdy, der er war. Er tastete nach dem Blut in seinem Mundwinkel und rappelte sich von der Betonauffahrt hoch. »Dafür gehst du in den verdammten Knast. Angriff auf einen Polizisten im Dienst.«

»Dafür brauchen Sie zunächst mal einen Zeugen«, sagte ich.

»Den habe ich«, sagte er, doch als er sich umdrehte, war der junge Cop in Uniform verschwunden.

Ich ging zu ihm und baute mich Schuhspitze an Schuhspitze vor ihm auf und lächelte ein Lächeln, das nichts mit einem Lächeln zu tun hatte. »Wann immer Sie Lust verspüren, es mir von Mann zu Mann zurückzuzahlen - ich bin nicht schwer zu finden.«

Er schmeckte das Blut und klapperte mit den Wimpern wie ein Schulmädchen, brummelte etwas Unverständliches und verzog sich dann in die Garage.

Randall kam die Holztreppe zu Jones' Wohnung herabgepoltert und blieb mit einem beharrlichen Grinsen auf dem Gesicht vor mir stehen. »Ich habe soeben mit Eastman gesprochen. Wir werden ihn natürlich noch offiziell vernehmen, aber die vorläufige Befragung bringt schon einiges Licht in die Sache.«

»Oh?«

Er nickte. »Ja. Er sagt, er hat sie Samstagnacht nach der Party nicht mehr gesehen. Anscheinend hat er die Treppentür ungefähr um Mitternacht verriegelt. Das ist die Tür, die zu den beiden Wohnungen über dem Sidewalk Café führt. Sagt, er dachte, Miss Dodd habe erwähnt, dass sie diese Nacht drüben bei ihrer Mutter schlafen wolle.«

»Sie meinen, sie konnte gar nicht in ihre Wohnung?«

»Richtig.«

»Und wenn schon... Sie hätte geklopft.«

»Eastman sagt, wenn sie geklopft hat, hat er es nicht gehört. Er sagt, es ging die ganze Nacht ein stürmischer Wind und die Brandung war so laut, dass sie wahrscheinlich alle anderen Geräusche schluckte.«

Ich grinste freudlos. »So? Sagt er das? Wie sieht also Ihr Szenario aus?«

»Na ja... Als Miss Dodd feststellte, dass sie nicht in ihre Wohnung konnte, muss sie sich entschlossen haben, über die Steintreppe zur Garage hinaufzusteigen. Sie setzte sich in den Wagen, um dort die Nacht zu verbringen. Wahrscheinlich wurde ihr kalt, und sie machte den Motor an, um nicht zu frieren. Sie schlief ein, und die Auspuffgase gaben ihr den Rest.«

Ich seufzte. »Vor einer Minute haben Sie noch von Selbstmord geredet.«

»Das ist nach wie vor eine Möglichkeit.«

»Und was ist mit den Blutspuren auf ihrem Gesicht und ihrem Kleid?«

Er zuckte die Achseln. »Sie ist möglicherweise auf das Steuer gefallen, als sie ohnmächtig wurde, und hat sich dabei verletzt.«

»Wenn ihr kalt war, weshalb hat sie sich dann in das offene

Kabriolett gesetzt? Der Lincoln direkt daneben ist verschlossen, und die Schlüssel stecken.«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen - noch nicht.«

Ich schüttelte den Kopf. Dann zielte ich mit dem Zeigefinger auf seine Brust. »Fragen Sie den alten Herrn über der Garage, ob er irgendwann zwischen zwei und dem Morgen die Garagentür oder den Motor des Packard gehört hat.«

»Das hab' ich schon. Er hat nichts gehört. Aber es war eine stürmische Nacht, und...«

»Ja, und die Brandung war ziemlich laut. Richtig. Werfen wir einen Blick auf ihre Schuhe.«

»Was?«

Ich deutete auf meine verstaubten Florsheimer-Treter hinab. »Ich habe mich vorhin die zweihundertachtzig Stufen heraufgeschleppt. Dieser Alptraum eines Schuhputzers ist das Resultat. Sehen wir nach, ob sie die Stufen ebenfalls hochgestiegen ist.«

Randall nickte und ging voran. Die Jungs von der Spurensicherung hatten sich den Wagen noch nicht vorgenommen, und der Lieutenant ließ daher die Wagentür zu und beugte sich nur vorsichtig darüber.

Dann richtete er sich wieder auf und dachte über das, was er gesehen hatte, angestrengt nach. Einen Augenblick lang schien es, als habe er mich völlig vergessen. Schließlich sagte er: »Sehen Sie selbst.«

Ich warf einen letzten Blick auf die wunderschöne Frau, die in dem geparkten Wagen eine Fahrt ins Nirgendwo gemacht hatte. Ihre Füße steckten in silbernen hochhackigen Abendschuhen. Sie waren so blank wie Aschenputtels gläserne Ballschuhe.

 

Der Polizeiarzt stimmte mir in einem Punkt seines Befunds zu: »Der heftige Wind und die sehr niedrigen Temperaturen während des Wochenendes dürften den körperlichen Zerfall über den normalen Zeitraum hinaus verzögert haben.«

Davon abgesehen war sein Befund ein Bündel von Widersprüchen und ungefähr so einleuchtend wie die jungfräuliche Empfängnis. Es ergaben sich jedoch einige neue, äußerst verwirrende Fakten. Sie hatte Verletzungen im Mund und im Rachen. Hatte ihr jemand mit Gewalt eine Flasche in den Hals gerammt? Ihr Blutalkohol -1,3 Promille - war höher und zwar wesentlich höher, als dies von den drei oder vier Drinks, die sie nach Aussagen der Zeugen im Troc getrunken hatte, möglich sein konnte. Und es war noch Benzin im Tank - mehrere Gallonen, wie sich herausstellte. Die Zündung war jedoch an gewesen...

Doch der abschließende Befund des Coroners kam zu dem Schluss, dass Dolores an Kohlenmonoxid-Vergiftung gestorben war, und sprach von unbeabsichtigtem Einatmen der Auspuffgase. Die Zeitungen nannten es jedoch Selbstmord, und die Losung in Hollywood lautete Vertuschen - und nur kein Aufhebens. Niemand wollte einen neuerlichen Skandal. Nicht nach Mary Astors Tagebüchern und Busby Berkeleys Sauftour mit tödlichem Ausgang.

Ich schluckte den Befund des Coroners ebenfalls nicht.

Ich wusste, dass sich an dem Montag, an dem ich Dolores gefunden hatte, drei Leute bei der Polizei gemeldet und ausgesagt hatten, sie hätten sie am Sonntag noch gesehen - also lange nachdem sie offiziell gestorben war.

Miranda Diamond, mittlerweile Eastmans Exgattin (ihre Scheidung war endlich über die Bühne gegangen, offenbar mit gütlicher Einigung), behauptete, Dolores am Sonntagvormittag hinter dem Steuer ihres unverwechselbaren Kabrioletts und in demselben Abendkleid und Nerzmantel, die sie bei der Dinnerparty getragen hatte, an der Ecke Sunset und Vine gesehen zu haben. Sie war, so versicherte Miranda der Polizei, in Begleitung eines großgewachsenen, dunkelhaarigen und elegant gekleideten jungen Mannes gewesen.

Mrs. Wallace Fort, Frau des bekannten Filmregisseurs, hatte am Sonntagnachmittag gegen vier von Dolores einen kurzen Anruf erhalten. Dolores hatte angerufen, um zu sagen, dass sie zu der Cocktailparty der Fords kommen würde, und ob es in Ordnung sei, wenn sie einen neuen, sehr attraktiven Freund mitbrächte.

Und schließlich war da, als Krönung des Ganzen, auch noch die Aussage von Warren Eastman selbst. Nachbarn hatten der Polizei berichtet, sie hätten so um die Frühstückszeit einen heftigen und handgreiflichen Streit zwischen Eastman und Dolores im Bungalow in der Cabrillo Street gehört. Als er dazu befragt wurde, erklärte Eastman, dass er sie aus der Wohnung geworfen habe, und dass sie zehn Minuten lang gegen die Tür getreten und ihm Obszönitäten an den Kopf geworfen habe (und die Polizei fand an der Tür des Bungalows tatsächlich Spuren von Fußtritten).

»Es war ein Streit zwischen Liebesleuten«, vertraute Eastman einem Zeitungsreporter an. »Ich hatte gehört, dass sie einen neuen Freund hatte - irgendeinen südländischen Knilch aus San Francisco -, und sie stritt es glattweg ab. Aber ich wusste genau, dass sie lügt.«

Eastman enthüllte in der Presse außerdem, dass Dolores am Sidewalk Café gar nicht wirklich beteiligt gewesen sei, sondern lediglich ihren Namen zur Verfügung gestellt und dafür fünfzig Prozent eingestrichen habe.

Nach der Bekanntgabe des gerichtsmedizinischen Befunds rief ich Randall an, und er teilte mir mit, dass der Fall abgeschlossen sei.

»Wir wissen beide, dass etwas daran faul ist«, sagte ich. »Wollen Sie denn gar nichts unternehmen?«

»Doch«, sagte er.

»Was?«

»Ich werde auflegen.«

Und das tat er auch.

Randall war ein guter Bulle in einer verkommenen Stadt, ein ehrlicher Mensch in einem korrupten System, das selbst die Borgias zu moralischer Entrüstung veranlasst hätte. Aber er konnte nicht viel gegen den Druck seitens der Film-Mogule tun. Los Angeles hat nur einen großen Wirtschaftszweig, und das ist die Filmindustrie. Und ich war nur ein Privatdetektiv mit einer toten Mandantin.

Andererseits jedoch hatte sie mich bezahlt, damit ich sie beschützte, und im Endeffekt hatte ich das nicht getan. Ich hatte ihr Geld genommen, für das sie eine Gegenleistung erwarten durfte, und ich hatte das Gefühl, ihr noch etwas zu schulden.

An einem Montagmorgen fuhr ich noch einmal hinaus - vier Wochen nach dem Tag, an dem ich die Eiscreme-Blonde so kalt wie nie zuvor auf dem Sitz ihres Kabrioletts gefunden hatte -, und in der Cocktaillounge des Restaurants, das sich noch immer mit ihrem Namen schmückte, saß Warren Eastman allein an der Bar und las im Variety, eine Bloody Mary vor sich auf der Theke. Er hatte seinen letzten Film beendet und den nächsten noch nicht begonnen und saß nur zwei Stühle von dem Hocker entfernt, auf dem sie gesessen hatte, als ich sie zum ersten Mal sah. Er trug einen blauen Blazer, eine cremefarbene Seidenkrawatte und eine weiße Hose.

Er ließ die Zeitung sinken und sah mich an. Er war überrascht, mich zu sehen, doch es war keine angenehme Überraschung, obgleich es ihm gelang, ein zahnreiches Lächeln unter sein zuckendes Oberlippenbärtchen zu zaubern.

»Was führt Sie hierher, Marlowe? Ich brauche keinen Leibwächter.«

»Seien Sie sich dessen nicht so sicher«, sagte ich jovial und setzte mich neben ihn.

Er starrte mich aus schmalen Augen verdrießlich an. Sein karoförmiges Gesicht wirkte auf manche vielleicht attraktiv, aber für mich war es ein kaltes, eckiges Ding, ein Jagdmesser mit Haaren drum herum.

»Was genau wollen Sie damit sagen?«, fragte er.

»Ich will damit sagen, dass Sie Dolores umgebracht haben«, sagte ich.

Er lachte und wandte sich wieder seiner Zeitschrift zu. »Hauen Sie ab, Marlowe. Und suchen Sie sich ein Schulmädchen, das sich gleich in die Hose macht - wenn Sie partout jemandem Angst machen wollen.«

Er ließ die Zeitschrift wieder sinken. Er nippte an seiner Bloody Mary. Sein Gesicht war hölzern, doch seine Augen flackerten unstet.

Ich stieß ein kehliges Lachen aus. »Sie und Ihre wirren Mordszenarien. Sie waren so clever, dass Sie sich um ein Haar selbst in die Gaskammer getrickst hätten, nicht wahr? Mit Ihren Maskeraden und Verkleidungen.«

»Worüber zum Teufel reden Sie überhaupt?«

»Sie waren clever genug, sich auszurechnen, dass wegen des kalten Wetters die Todeszeit nicht mehr genau feststellbar sein würde. Aber Sie spekulierten darauf, dass der Coroner annehmen würde, Dolores sei am nächsten Tag gestorben - am Sonntagabend vielleicht. Sie hatten kein Alibi für Samstagnacht, und vor allem nicht für die frühen Morgenstunden des Sonntags. Denn zu der Zeit haben Sie sie umgebracht.«

»Hab' ich das? Und wie erklären Sie sich, dass ich am Sonntag mit ihr gefrühstückt habe, Marlowe? Ich hatte einen Streit mit ihr, und die Nachbarn haben gehört...«

»Genau. Sie haben den Streit gehört, aber gesehen hat keiner was. Sie haben das Ganze inszeniert, entweder mit der Hilfe Ihrer Exfrau oder irgendeines Starlets, das für Sie beziehungsweise für eine Rolle in einem Ihrer Filme alles zu tun bereit ist. Irgendeine Schauspielerin - dieselbe Schauspielerin, die später Mrs. Ford anrief und die Einladung zur Cocktailparty annahm und bei der Gelegenheit auch gleich das Gerücht über einen neuen Liebhaber in die Welt setzte. Ein geschickter Schachzug. Bringt die Gerüchte um irgendwelche Gangster aus San Francisco, die Dolores angeblich bedrohten, unauffällig ins Spiel. War der dunkelhaarige, elegant gekleidete Mann, den Miranda gesehen haben will, ein Killer, der sich als Liebhaber tarnte? Ein Gigolo mit Kanone? Ein Mitglied von Artie Lewis Tanzcombo vielleicht? Sollten sich die Cops und die Zeitungen darüber ruhig die Köpfe zerbrechen. Schön und gut - aber das zieht bei mir nicht, Eastman. Ich war während der letzten zwei Monate ständig mit ihr zusammen. Sie hatte keinen neuen Liebhaber - weder aus San Francisco noch von sonst irgendwo her. Ihr geheimnisvoller, dunkelhaariger Mann ist der ominöse Liebhaber, der überhaupt nicht existiert.«

»Miranda hat ihn zusammen mit ihr gesehen, Marlowe...«

»Nein. Miranda hat gar nichts gesehen. Sie hat nur die Geschichte erzählt, die Sie ihr vorgebetet haben. Sie tat, was Sie von ihr verlangten, und dafür zeigten Sie sich bei der Scheidung großzügig. Sie können es sich leisten. Sie sind jetzt der alleinige Besitzer von Dolores Dodds Sidewalk Café. Mit allem Drum und Dran, bis zum letzten Eiswürfel - und ohne sich mehr um die lästigen Einwände Ihres Stars kümmern zu müssen. Jetzt haben Sie endlich freie Hand, das Angebot Laird Brunettes anzunehmen. Ist es nicht so?«

Das saß - besser als eine gestochene Rechte.

»Wie bitte?«

»Deshalb haben Sie Dolores doch umgebracht. Sie war Ihnen im Weg. Sie wollten hier oben im Haus ein Casino aufziehen. Das würde Geld bringen, sehr viel Geld.«

»Ich habe Geld.«

»Ja - und Sie geben es auch aus. Sie führen ein sehr verschwenderisches Leben. Ich habe mich informiert. Ich kenne Sie inzwischen sehr gut, und ich werde Sie sogar noch viel besser kennenlernen.«

Seine Augen flatterten in der starren Maske seines Gesichts. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«

»Zuerst haben Sie versucht, ihr Angst zu machen. Sie schickten ihr Drohbriefe und ließen sie verfolgen. Vielleicht mit Brunettes Hilfe, vielleicht auf eigene Faust - ich weiß es nicht. Doch dann hat sie mich engagiert, und Sie verzogen sich wieder ins Dunkel, um sich was Neues einfallen zu lassen.«

Er grinste höhnisch und beschrieb mit seiner Zigarettenspitze einen affektierten Bogen durch die Luft, ehe er sich die Zigarette, die in ihr steckte, anzündete. »Ich kann es kaum erwarten zu hören, was für eine Schandtat ich mir als nächstes ausgedacht habe.«

»Sie beschlossen, das perfekte Verbrechen zu begehen. Genau wie in Ihren Filmen. Sie kamen auf die Idee, Dolores in einer kalten Nacht zu töten. Ihr Plan war, sie bewusstlos zu schlagen, ihr dann Alkohol einzuflößen und sie in der Garage bei laufendem Motor ihr Leben aushauchen zu lassen. Dann brauchten Sie nur noch dafür zu sorgen, dass es so aussah, als sei sie noch am Leben - am darauffolgenden Tag, für den Sie ein hübsches, unanfechtbares Alibi haben würden.«

»Was Sie da sagen, ergibt absolut keinen Sinn. Der Befund des Coroners stellt fest, dass es ein Unfall war...«

»Ja. Aber als mutmaßlichen Zeitpunkt des Todes nimmt er die Nacht vor dem Morgen an, an dem Sie angeblich noch zusammen gefrühstückt haben. Ihr Melodrama war zu kompliziert für die begriffsstutzigen Behörden, die ohnehin nichts anderes wollten, als die Angelegenheit herabzuspielen. Sie hielten sich lieber an die einfache, saubere und auf der Hand liegende Lösung, dass Dolores' Tod in den frühen Morgenstunden des Samstag ein Unfall war.« Ich stieß ein kurzes Lachen hervor. »Sie gingen bei der Inszenierung des perfekten Verbrechens so raffiniert zu Werke, dass Sie sich selbst ein Bein gestellt haben, Eastman.«

»Hab' ich das wirklich«, sagte er trocken. Es klang nicht wie eine Frage.

»Sie mussten Ihr Szenario erneut umschreiben. Zuerst erzählten Sie den Cops, Sie hätten Samstagnacht in Ihrer Wohnung über dem Restaurant geschlafen und etwa um Mitternacht die Tür verriegelt und dabei aus Versehen Dolores ausgesperrt. Doch später gaben Sie zu, Dolores am nächsten Morgen während des Frühstücks gesehen zu haben - im Bungalow.«

Sein Lächeln gefror. »Vielleicht habe ich in meiner Wohnung geschlafen und bin zum Frühstücken in den Bungalow gegangen.«

»Das glaube ich Ihnen nicht. Ich glaube, Sie haben sie umgebracht.«

»Bisher ist keine Anklage gegen mich erhoben worden. Und es wird auch keine geben.«

Ich fixierte ihn unverwandt wie ein Richter, der das Todesurteil verkündet. »Ich klage Sie jetzt an. Ich klage Sie an, kaltblütig einen Mord geplant und durchgeführt zu haben.«

Sein Grinsen wurde brüchig. Er starrte in die rote Neige seines Drinks. Der Rauch seiner Zigarette stieg in einem dünnen Faden auf und kräuselte sich dann zu einer grauen Blüte. »Ha. Soll das eine Festnahme durch 'nen Privatmann sein?«

»Nein. Das ist Marlowes Gesetz. Ich werde Sie eigenhändig töten.«

Er starrte mich ungläubig an. »Was? Sind Sie von Sinnen...«

»Ja, ich bin von Sinnen. Irgendwann nächstes Jahr oder vielleicht erst im Jahr darauf werde ich Sie töten, Eastman. Wie - das weiß ich noch nicht. Und wann - nun, vielleicht morgen. Vielleicht in einem Monat. Vielleicht aber auch erst nächstes Weihnachten. Ich habe mich noch nicht entschieden.«

»Das können Sie nicht ernst meinen.«

»Ich meine es todernst. Bis demnächst also.«

Und ich ließ ihn an der Bar sitzen mit seiner Bloody Mary in der Hand, die sich selbst mixte.

Und so kochte ich Warren Eastman weich: Ich beschattete ihn zwei Wochen lang, wobei ich mir nicht die geringste Mühe gab, diskret aufzutreten. Er sollte mich ruhig sehen. Er sollte wissen, dass ich jeden seiner Schritte beobachtete. Ich brachte ihn soweit, dass er schon beim Anblick meines Schattens zusammenzuckte - und aller anderen Schatten ebenfalls.

Dann hörte ich auf damit. Eine Weile schlief ich mit meiner Kanone unter dem Kopfkissen, für den Fall, dass er auf krumme Gedanken kommen könnte. Aber ich belästigte ihn nicht weiter.

In Hollywood hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass Eastman im Mordfall Dodd irgendwie Schmutz an den Händen hatte. Und niemand in der ganzen Stadt glaubte, dass es etwas anderes als Mord gewesen war. Eastman bekam keinen einzigen Film mehr. Aus dem heißesten Regisseur der Stadt wurde binnen kürzester Zeit der kälteste. So kalt wie das Wochenende, an dem Dolores Dodd starb.

Das Sidewalk Café verlor seine Anziehungskraft für die Reichen und Berühmten, aber es hielt sich mit dem Kleingeld sensationslüsterner Normalbürger einigermaßen über Wasser. Eastman machte damit noch immer ein bisschen Kohle - na schön. Aus dem Casino wurde jedoch nie etwas. Die falsche Art von Publicity einerseits, und das Fernbleiben des hochkarätigen Publikums andererseits hatten Laird Brunette vermutlich zu diesem Sinneswandel veranlasst.

Ein Jahr nach Dolores' Tod wurde Eastman in ein Genesungsheim eingewiesen, was im Grunde genommen nur eine taktvollere Bezeichnung für eine Irrenanstalt oder Klapsmühle ist. Mit kurzen Unterbrechungen war er während der nächsten vier Jahre ständiger Gast in solchen Heimen, bis er in einer kalten, windigen Nacht an einem Herzanfall starb.

Habe ich mein Versprechen gehalten? Habe ich ihn getötet?

Mir gefällt der Gedanke, dass ich es getan habe - indirekt zumindest. Mir gefällt der Gedanke, dass Dolores Dodd schließlich doch noch etwas für ihr Geld bekommen hatte von ihrem Sowohl-als-auch-Chauffeur-Leibwächter, der nicht da gewesen war, als sie ihre letzte, lange Reise antrat, in jener Nacht, in der sich ihre traurigen blauen Augen für immer schlossen.

Mir gefällt der Gedanke, dass ich - in meiner unvollkommenen Art - das perfekte Verbrechen begangen habe.

 

 

 

Diese Geschichte basiert auf einem wirklichen Fall: dem mutmaßlichen Mord an der Schauspielerin Thelma Todd. Ich war so frei, die damaligen Geschehnisse weitgehend nach meinen Vorstellungen umzuschreiben, Namen zu verändern, gelegentlich Figuren aus den Romanen Chandlers einzufügen (so übernimmt zum Beispiel Laird Brunette die Rolle von Lucky Luciano), und Das perfekte Verbrechen sollte daher als eine frei erfundene Geschichte betrachtet werden, auch wenn ihr eine wahre Begebenheit zugrunde liegt. Ich habe eine ganze Reihe von Büchern zu Rate gezogen, die sich mit dem Tod Thelma Todds befassen, von denen ich insbesondere Fallen Angels (1986) von Marvin J. Wolf und Katherine Mader erwähnen möchte.

In Farewell, My Lovely (1940) stattete Marlowe dem Sidewalk Café, das Thelma Todd gehört hatte, einen kurzen Besuch ab und steigt die zweihundertachtzig Stufen empor, die zur Cabrillo Street hinaufführen. (In dem wunderschönen 1987 erschienenen Buch Raymond Chandlers Los Angeles von Elizabeth Ward und Alain Silver sind mehrere Fotos von der Steintreppe enthalten, die das Steilufer von Montemar Vista erklimmt - in Wirklichkeit sind es nur zweihundertsiebzig Stufen -, sowie ein Foto von dem nach wie vor existierenden Gebäude, in dem das Café war und das heute die Paulist Productions, eine katholische Film- und Fernsehproduktion, beherbergt.)

Meine Romane über den Chicagoer Detektiv Nathan Heller handeln von wirklichen Verbrechen und von den Menschen, die in diese Verbrechen verwickelt waren, und spielen in den 30er und 40er Jahren. Deshalb erschien es mir angebracht, meine Marlowe-Geschichte im klassischen Heller-Stil zu erzählen. Dies bedeutet nicht, dass ich eine Heller-Geschichte geschrieben und dafür lediglich Marlowes Name benutzt habe. Anders als Marlowe übernimmt Heller Scheidungsfälle, und ganz sicher würde er mit Dolores Dodd geschlafen haben. Er hätte ohne irgendwelche Bedenken von jedem Geld genommen, der ihm welches anbot, und vermutlich hätte er Warren Eastman ohne viel Federlesens umgebracht. Auch Heller hat Grundsätze, an denen er festhält, doch sie unterscheiden sich drastisch von denen Marlowes.

Ich schulde Chandler großen Dank. (Mallory, die Hauptperson mehrerer meiner Romane, ist nach einem Vorgänger Marlowes benannt.) In meinen Heller-Romanen habe ich stets versucht, die Vorstellung zu verwirklichen, die Person des Ich-Erzählers im Stile Marlowes - ausgerüstet mit dessen beißendem Witz und scharfer Beobachtungsgabe - in einen weiteren Rahmen zu stellen, als es der klassische Kriminalroman erlaubt. Auch Chandler selbst hat in The Long Goodbye (1954) mit einem erweiterten Handlungsrahmen experimentiert und einen Roman geschaffen, der bis zum Erscheinen meines True Detective (1983) als der längste in Ich-Form er zählte Detektivroman galt, der jemals geschrieben wurde. In Nathan Hellers Memoiren findet diese Erweiterung des Handlungsrahmens in einer historischen Dimension statt, die von dem Privatdetektiv - einem Zeitzeugen - in der Chandler/ Marlowe-Tradition vermittelt wird.

Chandler hat stets eine zahlreiche Gefolgschaft gehabt, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Wir, die seinem Vorbild folgen, sind zugleich auch verpflichtet, sein Werk und die Erinnerung an ihn in Ehren zu halten; nicht indem wir ihn nachahmen, sondern indem wir versuchen, das zu tun, was er getan hat - auf einem alten, fruchtbaren Feld Neuland zu erschließen.

 

 

 

 

 

 

  Benjamin M. Schutz: DIE BLONDINE

  MIT DEN SCHWARZEN AUGEN (The Black-Eyed-Blonde)

 

 

 

Ich wachte auf mit der Nase in der Zeitung und einem Telefon in meinem Kopf. Ich schüttelte den Kopf, und das Telefon fiel heraus auf meinen Schreibtisch. Meine Spinnenhand kroch zu ihm hin, packte es an der Gurgel und brachte es zum Schweigen.

»Hallo«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte, als sie die beiden Silben durch die Leitung hauchte.

Als ich nicht antwortete, versuchte sie es erneut. »Hallo, Mr. Marlowe, sind Sie dran?«

Ich sah in der Innenseite meines Jacketts nach, um sicher zu sein, und sagte: »Ja, hier ist Philip Marlowe.

»Oh, Gott sei Dank, Mr. Marlowe. Mein Name ist Francine Ley De Ruse. Mein Mann ist Johnny De Ruse. Kennen Sie ihn?«

Ich kannte Johnny De Ruse. Er war ein Spieler aus Vegas. Er hatte Benny Cyranos Laden übernommen. Ich war mir nicht sicher, ob ich noch mehr über ihn wissen wollte.

»Ja. Ich kenne ihn.«

»Ich möchte, dass Sie ihn beobachten, Mr. Marlowe. Ich glaube, er trifft sich mit einer anderen Frau. Wenn das stimmt, möchte ich, dass Sie davon Fotos machen.«

»Tut mir leid, Mrs. De Ruse, aber ich übernehme keine Scheidungssfälle.«

»Aber Mr. Carmady sagte, Sie seien der Beste. Sie seien der richtige Mann, an den ich mich wenden könne.«

Der gute alte Ted Carmady ließ seine Freunde nicht verkommen und schanzte mir immer mal wieder einen Fall zu. Seit er für Jean Adrian arbeitete, war er für den Rest von uns Arbeitsleichen eine Art Weihnachtsmann geworden. Und es war noch nicht einmal November.

»Tut mir leid, Mrs. De Ruse. Ted hat mich mit einem anderen Philip Marlowe verwechselt. Wie schon gesagt, ich übernehme keine Scheidungsfälle.«

»Na schön... Wissen Sie, wo ich diesen anderen Philip Marlowe finden kann?«

»Nein, Mrs. De Ruse, ich habe keine Ahnung.«

»Dann tut es mir leid, Ihre kostbare Zeit in Anspruch genommen zu haben, Mr. Marlowe, falls das überhaupt Ihr Name ist.« Sie hängte den Hörer ziemlich unsanft ein.

»Kein Problem«, sagte ich zu mir selbst.

Ich rieb mir die Augen und starrte auf meine Schreibtischplatte. So weit war ich also gekommen. Ich hatte nur kurz im Büro vorbeisehen und meine Berichte tippen wollen, ehe ich nach Hause ging. So wie es aussah, hatte ich es nicht mehr geschafft. Ich griff in meine Tasche und zog mein Notizbuch und den Roman hervor, in dem ich gelesen hatte. Fast One, von einem Burschen namens Paul Cain. Es ging das Gerücht, dass Cain ein Drehbuchautor in Hollywood sei, der in Wirklichkeit Ruric hieß. Ein anderes Gerücht behauptete, dass selbst das nicht sein richtiger Name sei. Vielleicht hieß er Marlowe.

Ich schlug mein Notizbuch auf. Ich hatte die ganze Nacht damit verbracht, einen Bullen zu beobachten, weil ich einem Freund im Büro des Bezirksstaatsanwalts einen Gefallen schuldete. Wie es schien, war der Bezirksstaatsanwalt nicht sehr glücklich mit den polizeilichen Ermittlungen in einem Mordfall. Sie hatten mich gebeten, den Cop zu beschatten, weil er mein Gesicht nicht kannte. Er war mit der nicht gerade in Trauer zerfließenden Witwe fast den ganzen Abend bei Musso und Frank über einem lukullischen Dinner gesessen und hatte sie dann nach Hause gebracht. Anschließend war er zwei Stunden lang ziellos durch Los Angeles, der Stadt der Engel gefahren.

Ich ging zu dem Waschbecken in der Ecke, ließ eine Weile das Wasser laufen und spritzte mir einige Handvoll ins Gesicht. Während ich mich abtrocknete, betrachtete ich mein Gesicht im Spiegel. Wir sahen aus wie ein und derselbe Kerl, aber wir waren es nicht. Ich wusste genau, wo dieser andere Philip Marlowe geblieben war. Er war bald nach dem Besuch von Delano Stiles verschwunden.

Ich ging zu meinem Schreibtisch zurück, drehte den Stuhl so, dass er nach Osten sah, und starrte auf den Cahuenga Boulevard hinaus. Ich schloss die Augen, und es war wieder Frühling. Die Nachmittagssonne strömte zähflüssig wie Butter durch das Fenster und floss auf dem Boden zu einer Lache zusammen. Und Delano Stiles erzählte mir über seine Frau.

Er war schnurstracks in mein Büro marschiert, hatte sich unaufgefordert in meinen Besucherstuhl gesetzt, den Oberkörper angespannt nach vorn gebeugt und dann gesagt: »Sie müssen meine Frau für mich finden, Mr. Marlowe.«

Ich hob den Blick von dem Schachproblem, über dem ich mir den Kopf zerbrochen hatte, und fragte: »Und weshalb das?«

»Weil sie verschwunden ist. Sie ist davongelaufen, Mr. Marlowe, und sie hat meinen Sohn mitgenommen.«

Ich nahm mir einen Augenblick Zeit, um mir anzusehen, wovor sie davongelaufen war. Er war groß, schlank und trug einen eleganten Nadelstreifenanzug. Sein Haar war schwarz und nach hinten gekämmt und zeigte an den Schläfen einen Hauch von Grau. Seine markanten, regelmäßigen Gesichtszüge waren von einem lächerlichen, bleistiftdünnen Oberlippenbärtchen entstellt.

»Fangen wir doch von vorne an«, sagte ich. »Mit Ihrem Namen, dem Ihrer Frau und Ihres Sohns.«

»Ich bin Delano Stiles.« Er stand auf und atmete tief durch. Es klang, als sei er die ganzen sechs Stockwerke zu meinem Büro herauf gerannt. »Meine Frau heißt Monica und mein Sohn Brandon. Er ist fünf.«

»Seit wann ist Ihre Frau verschwunden, Mr. Stiles?«

»Seit einigen Stunden vielleicht. Ich bekam einen Anruf von einem Autohändler drüben in der Wilcox. Er sagte, sie sei in seinem Laden auf getaucht und habe versucht, ihren Wagen zu verkaufen. Als er feststellte, dass der Wagen auf meinen Namen zugelassen ist, sagte er ihr, sie könne ihn nicht verkaufen. Als sie daraufhin einige Koffer aus dem Wagen zerrte und mit Brandon an der Hand aus dem Laden rannte, rief mich der Mann an. Ich fuhr sofort zu ihm rüber, um ihm persönlich einige Fragen zu stellen. Dann bin ich losgefahren, um sie selbst zu suchen. Aber anscheinend bin ich nicht der Mann, der von den Leuten die richtige Antwort auf seine Fragen bekommt. Also suchte ich im Telefonbuch nach Privatdetektiven, sah, dass Ihr Büro gleich um die Ecke war, und kam sofort vorbei, um Sie zu bitten, Ihre Dienste in Anspruch nehmen zu dürfen.«

»Tut mir leid, Mr. Stiles, aber ich habe überhaupt keine Erfahrung mit Scheidungsfällen. Mein Spezialgebiet sind Versicherungen und kriminalistische Ermittlungen.«

»Das ist im Grunde genommen auch kein Scheidungsfall, Mr. Marlowe. Ich will Brandon wiederhaben, nicht meine Frau. Er ist erst fünf, ein Kind noch, Mr. Marlowe. Es muss ein schreckliches Erlebnis für ihn sein, von einem fremden Ort zum anderen durch die ganze Stadt geschleppt zu werden - von seiner eigenen Mutter, die offenbar nicht mehr klar denken kann.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil es sonst keinen Grund gibt, weshalb sie so etwas tun sollte.«

»Ist sie früher schon einmal weggelaufen?«

»Nein. So was hat sie noch nie gemacht. Es ist so... so unbesonnen.«

Nichts, was Stiles bisher gesagt hatte, war dazu angetan, meine Aversion gegen Scheidungsfälle zu mindern. Außerdem hatte ich noch sieben Dollar auf der Bank.

»Ich weiß nicht, Mr. Stiles. Familienzwistigkeiten fallen wirklich nicht in meine Sparte.«

Ich halte das so, weil mir das Ganze schon immer wie eine legitimierte Erpressung vorgekommen ist. Zwei Menschen versuchen, so viel Schmutz wie nur irgend möglich ans Tageslicht zu graben, damit sie sich gegenseitig mit der Nase hineinstoßen können, bis einer es nicht mehr aushält und »Aufhören!« schreit. Ich hatte nicht die Absicht, mich als irgendjemandes Spaten missbrauchen zu lassen. Doch andererseits war es vielleicht möglich, dass dieser Fall anders lag. Ich wartete ab, um dies herauszufinden.

»Sind Sie verheiratet, Mr. Marlowe?«

»Nein.«

»Haben Sie Kinder?«

»Nein.«

»Dann können Sie nicht wissen, wie es ist, eines zu verlieren, nicht? Ich liebe meinen Sohn, Mr. Marlowe. Ich brauche ihn. Monica will ich gar nicht zurück. Ich biete ihr eine faire Regelung an. Sie brauchen nicht durch Schlüssellöcher zu linsen, das versichere ich Ihnen.«

Ich ließ es mir noch einmal durch den Kopf gehen. Er wollte nur seinen Kleinen wiederhaben. Niemand verlangte von mir, zu beweisen, dass die Mutter für ein Leben unter anständigen, gottesfürchtigen Menschen nicht geeignet ist, geschweige denn dafür, einen solchen großzuziehen.

»Na schön, Mr. Stiles. Ich übernehme den Fall. Wenn sie vorhat, aus der Stadt zu verschwinden, wird sie Geld brauchen. Hat sie von irgendeinem Konto Geld abgehoben?«

»Nein. Ich habe bei der Bank angerufen, ehe ich zu Ihnen kam. Die Konten lauten ohnehin alle auf meinen Namen.«

»Hat sie irgendwelches eigenes Geld?«

»Sie meinen von ihrer Familie? Nein. Ihre Eltern sind Farmer, glaube ich. Sie leben auch gar nicht hier in der Gegend. Sie sind irgendwo in Arkansas. Little Rock, glaube ich.«

»Wie haben Sie sie kennengelernt? Es klingt nicht so, als hätten Sie sich in den gleichen Kreisen bewegt.«

»Das stimmt. Aber hier in Hollywood sind die sozialen Kreise nicht so stark gegeneinander abgegrenzt wie anderswo, finden Sie nicht? Zumindest erscheint mir das so. Monica war ein Showgirl in Cyranos Club. Dort habe ich sie kennengelernt. Sie wollte Schauspielerin werden. Ich gebe zu, ich war ziemlich vernarrt in sie. Sie ist eine umwerfend schöne Frau. Heute glaube ich, sie war mehr von meinen Beziehungen angetan als von mir.«

In Anbetracht der typischen Hollywood-Ehe, war diese nicht schlechter als die meisten. Sie hielten in der Regel nur so lange, wie sie ihr Aussehen und er sein Bankkonto konservieren konnte. War dieses sensible Gleichgewicht zwischen den Partnern einmal gestört, stellten sie meist sehr schnell fest, dass sie einander fremd waren, ließen sich scheiden und fingen das ganze verdammte Spiel wieder von neuem an.

»Hat sie in irgendwelchen Filmen mitgespielt? Das würde es sehr viel leichter machen, sie aufzuspüren. Die Menschen in dieser Stadt sind ganz aus dem Häuschen, wenn sie auf der Straße einen Schauspieler oder eine Schauspielerin wiedererkennen. Es macht ihren Alltag erträglicher, mit ihnen in einer Stadt zu leben.«

»Nein, sie hat nie eine Rolle bekommen. Monicas Träume übertreffen bei weitem ihr Talent. Selbst wenn ich meinen Einfluss für sie geltend mache, ist daran nun mal nichts zu ändern. Sie gibt anscheinend mir die Schuld an ihrem Scheitern. Ich habe versucht, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen, und so dankt sie es mir.«

Stiles versank in melancholisches Brüten, und ich holte ihn mit einer Frage zurück. »Hat Ihre Frau Freunde, an die sie sich in einer solchen Situation wenden könnte?«

»Nein. Als wir uns bei Cyrano kennenlernten, war Monica gerade erst neu in die Stadt gekommen, wie man so schön sagt. Und bald darauf haben wir geheiratet. Sie hat sich auch nie bemüht, mit meinen Freunden warm zu werden. Sie blieb nur zu Hause und verhätschelte Brandon.«

Ich zog mein Notizbuch hervor, schlug es auf und zückte einen Stift. »Was hatte sie bei sich?«

»Ich habe gleich nach dem Anruf des Autohändlers zu Hause angerufen und das Mädchen gebeten, im ganzen Haus nachzusehen. Angeblich hat Monica nur zwei Koffer mit Kleidern für sich und Brandon, ein paar Toilettensachen, Make-up, ihren Schmuck, Brandons Teddybär und seine Lieblingsdecke mitgenommen.«

»Was hatte sie und Brandon an?«

»Roxana, das ist unser Mädchen, sagt, sie trug einen taubenblauen Rock und eine cremefarbene Seidenbluse und Brandon ein grün-weiß gestreiftes Hemd, khakifarbene Shorts und weiße Kniestrümpfe.«

»Gut. Haben Sie vielleicht ein Foto von den beiden?«

»Ja - sicher.« Er zog seine Brieftasche hervor, holte ein Foto heraus und reichte es mir.

Monica Stiles saß in einem Sessel, die Arme um ihren Sohn geschlungen. Der Kleine schmiegte sich mit dem Rücken an seine Mutter, so dass ihre Wangen sich berührten. Er war ein kleiner, stämmiger Flachskopf mit tiefen Grübchen und dem selbstsicheren Lächeln eines geliebten und wohlbehüteten Kindes.

Eine blonde Lockenmähne umrahmte das Gesicht seiner Mutter. Ich sah mir dieses Gesicht genau an. Monica Stiles hatte eine breite, hohe Stirn, stark ausgeprägte Backenknochen und ein kleines, gerades Kinn. Ihre vollen Lippen waren weitgeschwungen und in den Mundwinkeln nach unten gezogen. Sie konnte sicher wunderschön lachen und einen prächtigen Schmollmund ziehen. Ihre Augen waren hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen.

»Welche Augenfarbe hat Ihre Frau?«

»Schwarz.«

Ich sah ihn überrascht an.

»Ja, schwarz. Monica hat wirklich eine sehr ungewöhnliche Augenfarbe, besonders wenn man bedenkt, dass sie eine echte Blondine ist.«

»Ich werde das behalten müssen«, sagte ich und tippte mit dem Finger auf das Foto.

»Wenn es sein muss. Aber verlieren Sie es bitte nicht, Mr. Marlowe.«

»Ich werde sehr vorsichtig damit umgehen. Wie hieß eigentlich der Autohändler, der Sie angerufen hat?«

»Der Mann heißt Arthur Shuman. Er ist der Geschäftsführer von Peabody Motors. Das ist in der Wilcox zwischen Sunset und Hollywood.«

»Okay. Wo kann ich Sie heute erreichen, falls ich Ihre Frau und Ihren Sohn finden sollte?«

»Ich bin noch den ganzen Tag über im Büro. Es ist in der Rossmore, direkt gegenüber den Paramount Studios.« Er gab mir die Nummer seines Büros.

»Mein Honorar beträgt zwanzig Dollar pro Tag plus Spesen. Wenn ich sie heute nicht finde, würde ich vorschlagen, dass Sie Pinkerton's in Little Rock anrufen, die sie dort abfangen können.«

Stiles klappte seine Brieftasche auf und begann, knisternde Zwanziger auf meinen Schreibtisch zu blättern. »Hier sind zwanzig für den heutigen Tag und vierzig für Spesen. Bitte finden Sie sie, Mr. Marlowe.«

»Genau das habe ich vor, Mr. Stiles.«

Er erhob sich und wandte sich zum Gehen. Ich hatte nur noch eine Frage, die ich ihm stellen musste, aber ich war mir nicht sicher, ob ich die Antwort brauchte. Als er schon die Hand auf dem Türknopf hatte, stellte ich sie trotzdem.

»Weshalb hat es Ihre Frau so eilig, die Stadt zu verlassen, Mr. Stiles?«

Er drehte sich langsam um und von oben auf mich herabblickend sagte er: »Das, Mr. Marlowe, ist eine ganz persönliche und private Angelegenheit zwischen meiner Frau und mir. Ich bin sicher, Sie können das respektieren.«

»Selbstverständlich«, sagte ich.

Ich sah zu, wie Stiles die Bürotür hinter sich ins Schloss zog, und starrte dann die Scheine auf meinem Schreibtisch an. Los Angeles war der falsche Ort, ein armer Schlucker zu sein. Als die Hoboes hereinzukommen versuchten, ließ das Rathaus einen lebenden Zaun aus seinen Jungs in Blau aufstellen, um sie draußen zu halten. Das Leben in dieser Stadt war wirklich eines der härtesten, und ich verstand nicht, warum sich Monica Stiles auf die falsche Seite des Geldes geschlagen hatte. Wenn ich sie fand, konnte ich sie das ja fragen.

Ich stand auf, schnallte meinen Halfter ab und legte die Kanone in meinen Schreibtisch. Heute würde ich niemanden erschießen. Mit dem Geld in der Brieftasche schloss ich das Büro ab und machte mich an die Arbeit.

Peabody Motors lag einen Block nach Süden und einen nach Westen. Shuman war kahl und fett und nach der Art zu urteilen, wie er auf den Füßen hin und her wippte, drückten ihn auch seine Schuhe. Er bestätigte alles, was Stiles mir erzählt hatte.

Ich dankte ihm für seine Hilfe und ließ ihn in dem kühlen Verkaufsraum zurück. Draußen auf dem Gehsteig versuchte ich mir vorzustellen, was ich getan hätte, wenn ich die Stadt verlassen wollte und an Monica Stiles Stelle hier gestanden hätte, mit zwei Koffern und einem kleinen Jungen an der Hand und ohne Geld in den Taschen. Zum Bahnhof oder zum Flughafen war es von hier ein ziemliches Stück. Der Busbahnhof in der Vine Street war nur zwei Blocks entfernt. Busse waren billiger und fuhren auch häufiger. Falls Monica Stiles noch in der Stadt war, dann war sie ganz in der Nähe. Soviel stand für mich fest.

Ich ging die Wilcox hinab, überquerte den Sunset und hielt nach Möglichkeiten Ausschau, wo sie sich Geld beschafft haben konnte. Auf dem Santa Monica Boulevard entdeckte ich den goldenen Dreizack eines Pfandleihers und ging hinein.

Der Mann hinter dem Fadentisch hatte eine Lupe im Auge und drehte einen billigen Klunker zwischen den Fingern.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich.

Er legte den Stein auf ein Samtkissen und sah auf. »Ja?«

Ich fischte das Foto von Monica und Brandon Stiles hervor. »Ist diese Frau heute Nachmittag in Ihrem Laden gewesen?«

Er nahm das Foto und betrachtete es. »Nicht seit ich hier bin. Und an die würde ich mich erinnern. Ein hübsches Ding, wirklich.«

»Okay, danke. Gibt's hier in der Gegend noch mehr Pfandleihen?«

»Nein. Wir sind die einzige so weit hier oben. Die meisten sind drüben in Smoketown. Was versucht das Schätzchen denn loszuschlagen?«

»Schmuck.«

»Gute Ware?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Ja, sehr gute.« Ich klappte meine Brieftasche auf und legte einen Fünfer auf das Samtkissen. Ich legte meine Karte auf den Schein. »Falls sie hier auftaucht, rufen Sie mich an. Es soll Ihr Schaden nicht sein.«

Er ließ den Schein in seiner Hemdtasche verschwinden und warf einen Blick auf die Karte. »Sicher, Mr. Marlowe.«

»Falls ich nicht unter der Nummer zu erreichen bin, bin ich in Al Levy's Tavern. Kennen Sie die?«

»Ja, drüben in der Vine, gleich beim Busbahnhof.«

»Richtig.«

Ich verließ den Laden und ging auf dem Santa Monica Boulevard nach Osten bis zur Vine Street. Soweit ich es absehen konnte, hatte Monica Stiles noch immer kein Geld. Und in ihrer Seidenbluse und den Seidenstrümpfen würde sie wenig Erfolg haben, wenn sie es mit Schnorren probierte. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass sie versuchte, irgendwo auf die Schnelle ein paar Scheine zu machen - nicht mit Brandon am Rocksaum.

Ich marschierte in den Busbahnhof und sah mir auf dem Fahrplan die Abfahrtszeiten an. Der nächste Bus in den Osten ging um 7.30, in gut zwei Stunden. Ich drehte eine langsame Runde durch die Bahnhofshalle, aber sie waren nicht da. Ich spielte mit dem Gedanken, mich die zwei Stunden in die Ecke zu pflanzen und sie zu mir kommen zu lassen, aber ich hatte noch ein paar Züge in petto und die idiotische Vorstellung, dass ich mir mein Honorar auch verdienen sollte.

Al Levy's Tavern war nur ein paar Meter die Straße runter. Ich ging hinein, schob mich ans untere Ende der Bar und nickte Al zu. Er grunzte etwas um die Zigarre herum, die in seinem Mundwinkel steckte, und wienerte weiter an seinen Gläsern herum. Ich fütterte das Telefon mit einem Nickel und rief einen Hausdetektiv an, den ich kannte. Die Geschäfte würden bald schließen, und da Mrs. Stiles nicht am Busbahnhof war, blieben ihr als einzige Möglichkeit unterzutauchen die Apartmenthotels nördlich des Hollywood Boulevards.

»Gramercy Place Apartments«, sagte eine Stimme.

»Ist Kavalich da?«

»Warten Sie einen Moment.« Ich wartete.

»Kavalich«, krächzte er.

»Hallo, Stan. Hier ist Philip Marlowe.«

»Hallo, Marlowe. Lange her...«

»Ich brauche deine Hilfe.«

»Worum geht's?«

»Ich suche eine Frau. Sie schleppt ein paar Koffer und ein Kind mit sich herum. Taubenblauer Rock, cremefarbene Bluse. Eine hübsche Blondine. Könntest du die Augen offen halten und vielleicht ein paar deiner Kumpels in den anderen Häusern anrufen? Wenn du sie aufspürst, ruf mich bei Al Levy's an. Okay?«

»Aber klar, Marlowe.«

»Danke.«

Ich drehte mich mit dem Barhocker herum und heftete den Blick auf Al Levys Gesicht. Al hatte die Knollennase eines Trinkers, die, wenn er wütend war, so rot anlief, dass sie wie eine reife Tomate aussah.

»Was darf's sein, Marlowe?«, knurrte er heiser. Ein Splitter im Hals hatte von seiner Flüsterröhre nur mehr einen Kanal übriggelassen.

»Whiskey.«

Al schenkte mit der schweren Hand eines Freundes das Glas bis zum Rand voll, und ich nippte ein wenig davon ab, ehe ich es mit nach hinten in die Ecknische nahm und wartete, dass das Telefon klingelte.

Ich nippte und wartete fast eine Stunde. Als es klingelte, war Kavalich dran.

»Dein Mädchen ist gesehen worden, Marlowe.«

»Wo?«

»Drüben in der Kenmore, nicht weit vom Hollywood Boulevard.«

»War der Kleine bei ihr?«

»Nein. Nur die Braut. Sie war auf dem Weg zum Morewood Arms Hotel.«

»Danke, Stan.«

»Nichts zu danken.«

Ich trank aus und ging in die nun rasch zunehmende Dämmerung hinaus. Das Morewood lag zwei Blocks entfernt, am anderen Ende der Kenmore. Ich postierte mich gegenüber dem Hoteleingang, konnte sie dort jedoch nirgends entdecken.

Dann kam sie Arm in Arm mit einem älteren Mann, der so gekleidet war und aussah wie ihr Mann, den Bürgersteig herabgeschlendert. Sie trug die Kleidung, die das Hausmädchen beschrieben hatte, und die Sonnenbrille, die ich auf dem Foto gesehen hatte.

Kurz vor dem Hoteleingang drehte sie den Kopf in meine Richtung und fuhr sich mit den Fingern durch ihr hübsches blondes Haar. Ich sah einen Brillantring an ihrer linken Hand, Goldklipse an den Ohren, eine Goldkette an ihrem Schwanenhals und eine große rote Brosche, die ihre Bluse zusammenhielt. Ich schüttelte den Kopf. Sie hatte Little Rock im Kopf, und während der Kleine und der Teddybär auf sie warteten, trug sie auf der Horizontalen ihre Haut zu Markte. Aber das war Stiles' Problem, nicht meines.

Als sie durch die Drehtür des Morewoods verschwunden waren, überquerte ich die Straße und rief vom Telefon in der Halle meinen Mandanten an. Ich teilte ihm mit, dass ich seine Frau aufgespürt hatte und sein Sohn vermutlich nicht weit sei. Er dankte mir und sagte, dass er sich sofort auf den Weg machen werde. Ich erwiderte, er solle sich ruhig Zeit lassen und hängte ein. Ich war nicht hier, um Fotos zu machen oder sie irgendjemandem in flagranti zu präsentieren.

Ich schlenderte zu meinem Beobachtungsplatz zurück, zündete mir eine Zigarette an und wartete, bis sie wieder herauskommen würde. Etwa zwanzig Minuten später kam sie aus dem Hotel gestürzt; ihre hochhackigen Schuhe klapperten hektisch die Steinstufen herab; ihre Arme waren balancierend zur Seite gestreckt, als hebe und senke sich das Pflaster unter ihren Füßen.

Ich schnippte den Zigarettenstummel zur Seite und heftete mich an ihre Fersen. Ein heftiger Anfall von Fußfieber hatte sie erfasst, und ich fürchtete, sie würde mich bemerken, wenn ich versuchte, zu dicht an ihr dranzubleiben. Ich ließ es etwas langsamer angehen und begnügte mich damit, sie nicht aus den Augen zu verlieren.

Sie bog nach rechts in die Franklin und verschwand in einem Hauseingang. Es war der Hinterausgang der Golden West Apartments. Meine Wohnung im Hobart Arms war nur einen Block entfernt.

Als ich den Eingang erreicht hatte und die Hand nach dem Türknauf ausstreckte, schwang die Tür zurück, und ich stand Monica Stiles von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Sie trug einen großen Koffer in der Linken und einen kleineren unter den Arm geklemmt. Mit der anderen Hand umklammerte sie die kleinen Finger ihres Sohnes. Er sah zu mir auf, doch auf seinem Gesicht lag nicht mehr das selbstsichere Lächeln. Seine Augen waren vor Angst geweitet und hatten den verstörten Blick eines Menschen, dessen Welt in Stücke fällt. Er hielt seinen Teddybären an die Brust gepresst.

»Verzeihung«, sagte sie, »ich habe es eilig.

Ich streckte die Hand aus und umfasste ihren Ellbogen. »Tut mir leid, Mrs. Stiles. Ich kann Sie nicht gehen lassen.«

Ihr Kopf ruckte zu mir herum. »Lassen Sie mich los. Was fällt Ihnen ein! Sie haben kein Recht, mich am Gehen zu hindern.«

»Es geht nicht um Sie, Mrs. Stiles. Es geht um den Jungen. Sein Vater möchte nicht, dass er die Stadt verlässt.«

»Nein«, rief sie. »Er bekommt ihn nicht. Nein! Nein! Nein!« Sie schlug mit der Rechten nach meinem Gesicht. Ich wich dem Schlag aus. Sie ließ die Koffer auf meine Füße fallen und ging mit beiden Fäusten auf mich los. Ich packte ihre Handgelenke und schüttelte sie kräftig. Sie warf ihren Kopf zurück und wieder nach vorn und versuchte, mich zu beißen. Ihre Sonnenbrille flog davon, und ich zog sie dicht an mich heran.

Stiles hatte nicht gelogen. Sie war von Kopf bis Fuß eine echte Blondine, und ihre Augen waren schwarz. Aber es war auch eine Menge Violett und Gelb und Rot zu sehen.

»Harte Bandagen in dem Gewerbe drüben im Morewood?«, fragte ich.

»Nein, Sie Scheißkerl. Harte Bandagen beim Frühstück; eine kleine Aufmerksamkeit Ihres Brötchengebers.« Nach der Farbe zu urteilen, konnte das Veilchen unter ihrem Auge durchaus von einem Fausthieb über Schinken und Ei stammen.

»Warum hat er Sie geschlagen?«

»Woher soll ich das wissen? Vielleicht weil die Sonne zu früh aufgegangen ist. Die Frage stelle ich schon lange nicht mehr. Und es ist mir inzwischen auch egal, was er dazu zu sagen hat. Ich will nur weg. Ich ertrage es nicht mehr.«

Der Junge, der sich in eine dunkle Ecke des Korridors gedrückt hatte, als seine Mutter mit den Fäusten auf mich losgegangen war, kam wieder hervor und lehnte den Kopf an ihre Hüften.

Sie strich ihm über das Haar und murmelte: »Ist alles in Ordnung, Brandon. Mami geht es gut.« Ihr Blick verhieß mir nichts Gutes, sollte ich es wagen, sie zur Lügnerin zu stempeln. Ich ließ es dabei bewenden.

»Wo wollen Sie eigentlich hin?«

»Zum Busbahnhof. Zum Bus um 7.30 Uhr zurück nach Osten. Meine Familie lebt in Arkansas. Ich kenne hier niemanden. Delano hielt mich im Haus wie eine Gefangene. Er war auf jeden eifersüchtig, der auch nur ein Wort mit mir gewechselt hat.«

»Weshalb haben Sie nicht Ihren Schmuck versetzt? Sie könnten schon seit Stunden aus der Stadt sein.«

»Da muss ich lachen, Mister. Glauben Sie, ich hätte es nicht versucht? Der Schmuck ist falsch. Damit wäre ich nicht einmal bis Pomona gekommen. Delano hat mir nie getraut. Er hat es nie zugelassen, dass ich auch nur einen Cent eigenes Geld hatte. Und ich habe es nicht einmal bemerkt, dass alles, was er mir je gegeben hat, Fälschungen und Lügen waren. Das einzige Echte, das ich habe, ist Brandon.«

»Woher wussten Sie, dass das Morewood eine Heiße-Laken-Burg ist? Als Sie Mr. Stiles kennenlernten, waren Sie doch angeblich eben erst in die Stadt gezogen.«

»Als ich erfuhr, dass der ganze Schmuck falsch ist, war ich wie vor den Kopf geschlagen. Ich hatte sonst nichts, das ich verkaufen konnte. Der Pfandleiher sah, wie verzweifelt ich war, und er gab mir den Tip mit dem Morewood.«

»Und was verlangte er für diese Freundlichkeit?«

»Er sagte, er bekommt für jeden Kerl, den ich mitbringe, von der Rezeption seinen Anteil.«

Wenn das hier vorbei war, würde ich einen kleinen Plausch mit dem Pfandleiher zu führen haben - einen vermutlich sehr kurzen, aber schmerzhaften Plausch.

»Wieviel Geld haben Sie?«

»Gerade genug für mich und Brando, Kalifornien zu verlassen. Es war kein Problem, die Kerle abzuschleppen, aber ich war nicht imstande, die Sache zu Ende zu bringen. Nur mit dem letzten hab' ich es geschafft, aufs Zimmer zu gehen. Ich brachte ihn dazu, sich auszuziehen. Dann nahm ich seine Brieftasche und rannte davon.«

Ich ließ mir all das, was mir heute erzählt worden war, noch einmal durch den Kopf gehen und war geneigt, alles von A bis Z als Notlügen abzutun. Alles - außer ihren schwarzen Augen. Denen glaubte ich. Es interessierte mich nicht, inwiefern sie Stiles als Ehefrau enttäuscht hatte. Das stand hier auch gar nicht zur Debatte. Ich griff also nach meiner Brieftasche und pflückte sechzig Dollar heraus.

»Hier, nehmen Sie das. Damit kommen Sie nach Hause und Sie können sich auch noch was zu essen kaufen.«

Sie streckte zögernd die Hand aus und nahm das Geld.

»Danke. Ich weiß allerdings nicht, wie ich Ihnen das jemals zurückzahlen soll, Mister...«

»Marlowe, Philip Marlowe. Und Sie brauchen es nicht zurückzuzahlen. Es ist nicht mein Geld. Ich hab' nichts getan, es zu verdienen. Ich hab' Sie nicht gefunden.«

Ich bückte mich nach einem der Koffer, und als ich mich umdrehte, sah ich Delano Stiles über die Straße auf uns zukommen. Er war von zwei Gorillas flankiert.

Ich zog meine Autoschlüssel aus der Tasche, wandte mich wieder ihr zu und drückte sie ihr in die Hand.

»Laufen Sie! Es ist das Kabriolett an der Ecke. Sie können den Bus noch erwischen. Fahren Sie nicht nach Little Rock.

Er wird dort auf Sie warten. Verschwinden Sie von der Bildfläche.«

Sie griff nach dem Koffer, und ich sagte: »Lassen Sie die Koffer oder Sie schaffen es nie.«

Sie riss einen Schlitz in ihren Rock, schleuderte ihre Stöckelschuhe von den Füßen, nahm Brandon auf den Arm und rannte um ihr Leben.

Ich beobachtete Brandons Gesicht über ihrer Schulter, während sie die Straße hinabrannte, und fragte mich, warum er nicht nach seinem Vater schrie.

Stiles deutete die Straße hinab, und einer seiner Gorillas rannte hinter ihr her. Ich stürzte auf die Straße und erwischte ihn in Kniehöhe. Er schlug der Länge nach hin und knallte mit dem Kopf auf die Straße. Für einen Augenblick war er benommen. Ich packte ihn am Kragen, zog ihn hoch und ließ seine Rolläden runter.

Ich hörte Schritte hinter mir und rollte mich zur Seite. Stiles trat nach meinem Kopf, aber ich bekam seinen Knöchel zu fassen, drehte kräftig daran, und er ging zu Boden. Ich rappelte mich auf die Beine und sah den zweiten Schläger mitten in der Kreuzung stehen. Mein Wagen fuhr gerade los. Er griff in sein Jackett und zog eine Pistole hervor. Ohne Hast hob er die Waffe, ging leicht in die Knie und zielte mit gestrecktem Arm.

Ich rannte los und schrie: »Nein!« Doch ich war zu langsam, und er zielte zu gut. Ich sah, wie mein Wagen auf ihn zuschoss. Er drückte ab, einmal, zweimal, dann glitt er zur Seite wie ein Torero, und der Wagen raste auf seinen drei noch heilen Rädern an ihm vorbei, schleuderte nach rechts, sprang über den Bordstein und bohrte sich in die Wand von Monroe's Pharmacy.

Der Gorilla schob die Waffe in seinen Halfter zurück und schlenderte zu den Trümmern meines Wagens hinüber. Ich holte ihn ein, wirbelte ihn am Arm herum und brach mir die Hand und ihm das Kinn. Stiles rannte an mir vorbei und riss die Beifahrertür auf. Das ferne Heulen einer Polizeisirene kam näher.

»Oh, mein Gott«, stöhnte Stiles und sank auf die Knie. Ich warf einen Blick durch das Seitenfenster des Wagens. Monica Stiles lag über ihren Sohn gebeugt. Sie hielt seinen Kopf zwischen ihren Händen und bedeckte ihn mit Küssen.

»Baby, Baby«, flüsterte sie immer wieder. Aber er hörte sie nicht. Die Knochen von Kindern sind zwar weich, sagt man, doch kein Hals kann sich so weit verdrehen.

Ich ging zu der Bank an der Bushaltestelle hinüber, setzte mich und zündete mir eine Zigarette an. Ich nahm sie aus dem Mund, starrte auf ihr rotglühendes Ende und wollte, ich hätte sie in meinem Herzen ausdrücken können. Stattdessen wartete ich, dass die Sirenen das Schluchzen der beiden übertönten.

Aber das konnten sie nicht, und auch ich bin seit diesem Tag nicht mehr derselbe, der ich einmal war. Nur mein Name ist noch der gleiche, und das verwirrt manche Leute. Deshalb muss ich sie immer wieder darauf hinweisen, dass ich keine Scheidungsfälle übernehme.

 

 

 

Meinen ersten Raymond-Chandler-Roman las ich auf einer Zwei-Dollar-die-Nacht-Pritsche in der Belegschaftsunterkunft eines Krankenhauses für Kriegsveteranen in West Virginia. Es war The Long Goodbye. Als ich das Buch sinken ließ, blieben mir zwei Dinge im Gedächtnis

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Authors/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Helmut Gerstberger und Christian Dörge (Original-Zusammenstellung).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 25.06.2018
ISBN: 978-3-7438-7323-0

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