RALPH COMER
DER SPIEGEL DES DIONYSOS
- 13 SHADOWS, Band 17 -
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Das Buch
Er sprang. Der Aufprall nahm ihm den Atem, aber dann war er wieder auf den Beinen und rannte blindlings vorwärts. Tosendes Gelächter begleitete ihn.
Instinktiv rannte er auf den nächsten Mast zu. An dessen unterem Ende war die Leiche eines Mannes mit Pfeilen aufgespießt. Vergeblich versuchte er, an dem nassen, glitschigen Holz Halt zu finden, schließlich gab er es auf und rannte mit rotverschmierten Armen weiter. Von dem Sand schlug ihm die Hitze entgegen, und Fliegen surrten in Schwärmen um ihn herum.
Das Gelächter der Menge schwoll an, als er sich in die Mitte der Arena schleppte. Er wischte sich den Schweiß von den Augen und sah, dass die Tore aufsprangen. Dunkle Schatten schossen heraus und umringten ihn. Eagar begann zu schluchzen. Er fiel auf die Knie, völlig außer sich durch das Gesumm der Fliegen und der enttäuschten Schreie der Zuschauer, die seinen Mangel an Mut verachteten. Der Leithund war bis auf wenige Meter an ihn herangekommen, ein tiefes Grollen kam aus seiner Kehle, die Fangzähne waren drohend entblößt,
und der Schwanz schlug wie im Fieber hin und her. Er kroch vorwärts, dann, mit einem wilden Schrei, sprang er Eagar an und schlug seine Zähne in sein Bein.
Eagar rollte auf den Rücken, sein markerschütternder Schrei zeugte von letzter Todesangst.
Der Roman DER SPIEGEL DES DIONYSOS von Ralph Comer wurde in Deutschland erstmals im Jahr 1972 in der Reihe HORROR-EXPERT veröffentlicht und erscheint als siebzehnter Band der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag (als durchgesehene Neuausgabe), die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht.
Erstes Kapitel
Die Erde unter ihm war nichts als wirbelndes Grün. Als er tiefer ging und sich fester in seinen Sitz drückte, jaulte der Wind schrill an ihm vorbei. Er flog längst viel zu tief. Er wusste, dass er jetzt aufpassen musste, er kannte sich hier aus, weil er häufig in Dunstable herumgondelte.
Der Waldrand glitt an ihm vorbei, als er in einer weichen Kurve wieder hochzog. Seine Olympiade war zwar nicht die neueste Errungenschaft, machte ihm aber viel zu viel Spaß, um leichtfertig ihre Sicherheit aufs Spiel zu setzen. Nicht dass es wirklich gefährlich gewesen wäre, außerhalb der Landebahn aufzusetzen, aber die Luft, sein unsichtbarer Träger, war ein kapriziöses Ding und wollte mit viel Gefühl gehandhabt und für seine Dienste eingespannt werden. Weißer Rauch aus einer Zementfabrik zeigte ihm die Windrichtung, aber Robert Lawson war ein viel zu erfahrener Pilot, um nicht auch ohne solche Hilfsmittel den leisen Drift zu spüren, der von Lee kam. Dazu brauchte er auch kein Instrumentenbrett. In dieser Höhe war der Höhenmesser ohnehin nicht mehr ganz zuverlässig, und als die Farm in Sicht kam, die er sich als Landepunkt gemerkt hatte, drückte er die Nase in den Wind und ließ sich mit zwanzig Knoten Windgeschwindigkeit hinunter.
Er hielt die Augen auf das Gelände unter ihn gerichtet. Wenn er während der nächsten Meile nicht ausgesprochenes Pech mit dem Wind hatte, war alles in Butter. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Der Flug hatte länger gedauert als vorgesehen, und er konnte sich lebhaft vorstellen, wie Cullender ihn empfangen würde, nachdem er so lange auf sein Mittagessen hatte warten müssen.
Seine Stirn legte sich in Falten, wenn er an den Mann dachte, den er gleich treffen sollte. Er respektierte und bewunderte Cullender - mochte ihn auch bis zu einem gewissen Grad -, aber er war auch ganz zweifellos schwierig und exzentrisch in manchen Dingen. In mancher Hinsicht waren freie Schriftsteller schwieriger als irgendjemand sonst, mit dem er zu tun hatte, besonders wenn sie sich ihren Namen mit einem bestimmten Genre aufgebaut hatten, wie es bei Cullender der Fall war. Die zwanzig Knoten hatten sich inzwischen auf zehn verringert, und Lawson fand, es wäre Zeit, sich ein wenig zu konzentrieren. Er drückte die Nase noch ein wenig hinunter und genoß das Zischen und Pfeifen um sich herum. Die Sonne blitzte auf eine lange Reihe geparkter Autos, mit denen er nun auf gleicher Höhe war.
Da kam schon die abgrenzende Hecke, und Lawson beschloss, so nahe wie möglich beim Clubhaus zu landen, um Zeit zu sparen. Er bumste kräftig mit dem einzigen Rad auf dem holprigen Feld auf, und tatsächlich gelang es ihm, doch recht nah an der beabsichtigten Stelle zum Stillstand zu kommen. Es war nicht gerade eine Glanzleistung gewesen, aber alle Schwierigkeiten eingerechnet, die er gehabt hatte, konnte er sehr zufrieden sein.
Insgeheim war er sich darüber klar, dass eine solche Nachsicht mit sich selbst sich kein Segelflieger oft leisten durfte. Ein Luftloch ein paar Minuten früher und er wäre wohl kaum so lässig aus seinem Cockpit gestiegen.
Ein Landrover kam neben ihm zum Stehen, und der Despatcher kam herüber.
»Wollen Sie noch mal rauf?«
Lawson schüttelte den Kopf. »Da wartet noch ein anderes Mitglied, bis es an der Reihe ist. Sie werden ihn wahrscheinlich in der Bar finden.«
»Dann können Sie den Vogel ruhig hier stehenlassen. Im Weg ist er nicht, und wenn der andere in einer halben Stunde noch nicht da war, wird er in den Hangar gerollt.«
»Vielen Dank. Wenn ich nicht gleich in die Stadt zurückfahren müßte, würde ich ja noch selber nach ihm sehen.«
»Macht nichts. Wir können das schon arrangieren. Bis nächste Woche dann sicher, hoffe ich.«
Der Landrover setzte sich wieder in Bewegung, und Lawson stapfte über den unebenen Boden am Hauptgebäude vorbei, wo er seinen Wagen abgestellt hatte. Auf halbem Wege hörte er über sich das vertraute Brüllen einer gelben Tiger Moth, die gerade abgehoben hatte, über dem Piloten auf der oberen Tragfläche stand ein Mädchen, das sich festgeschnallt hatte. Dabei fiel ihm ein, dass die jährliche Air Show vor der Tür stand mit Ballons und Fallschirmspringern, Segelfliegerakrobatik und ähnlichen Sensationen. Hier fand offensichtlich eine Probe statt, aber ob er in der Lage war, die Hauptvorstellung zu besuchen, hing von vielen Dingen ab - unter anderem Cullender.
Er blieb noch stehen und beobachtete, wie die Moth weiter hochzog und an Höhe gewann. Das Mädchen trug einen roten Schal um den Hals, der wie irrsinnig hinter ihr her flatterte. Sie selbst stand wie die Ruhe selbst auf dem Flügel, und er versuchte, sich ihre Gefühle da oben vorzustellen. Es sah zwar gefährlicher aus als es in Wirklichkeit war, konnte aber immer noch grausig genug sein. Lawsons Gedanken hingen der Eigenart des menschlichen Mutes nach. Merkwürdig genug, sich vorzustellen, dass gerade dieses couragierte Mädchen beim Anblick einer Maus vielleicht schreiend auf einen Tisch springen würde.
Er malte sich weiter aus, wie sie eines Nachts erwachte und sich mutterseelenallein in einem großen finsteren Haus finden würde. Ein Geräusch, dem sie nachgeht, bringt sie vor die Flinte eines Einbrechers, der sie wahrscheinlich zu Tode erschrecken würde, allerdings im physischen Sinne, aber was wäre, wenn...
Lawson riss sich zusammen, machte auf dem Absatz kehrt und setzte seinen Weg zu seinem Auto fort. Der rote Triumph Spitfire war sein ganzer Stolz, und obwohl aus dritter Hand, sah er aus wie frisch aus einem Ausstellungsraum. Obwohl der ärgste Besitzerstolz sich ein wenig gelegt und normalisiert hatte, schaute er doch noch dann und wann mit geschwellter Brust die schimmernde, schlanke Kontur an. Jetzt schloss er gleich die Tür auf und zwängte sich hinter das Steuer. Es hatte noch ein Mädchen gegeben, das um die Geschöpfe der Nacht wusste. Auch Cullender hatte davon angefangen, als Lawson ihn kennenlernte. Er erschauerte leicht, als er den Wagen startete. Vielleicht hätte aus der Affäre etwas Dauerhaftes werden können, aber als Photojournalist war er dauernd unterwegs. Und einmal war er zu lange fortgeblieben, dafür war sie jetzt mit einem Farmer verheiratet. So war das Leben. Lawson war sich nicht einmal sicher, ob er sich den Verlauf der Dinge anders gewünscht hätte. Seine anderen Erinnerungen an sie waren weit weniger amüsant, obwohl Cullender nicht direkt dafür verantwortlich war. Trotzdem war bei Lawson ein unangenehmer Beigeschmack haften geblieben, der ihn nicht zu Cullender trieb, wenn er nicht einen echten Grund gehabt hätte. Dieser Grund kam ihm wieder in den Sinn, als der Spitfire mit Gebrüll aus der Auffahrt ausscherte und davonstob.
Harry Eagar. Eine Gelegenheitsbekanntschaft, bei der er sich viel zu sehr engagiert hatte. Und das alles wegen einer höchst seltsamen Geschichte, die er nach ein paar Drinks heruntergehaspelt hatte. Kein halbwegs vernünftiger Redakteur hätte sie geglaubt, geschweige denn herausgegeben. Immerhin war ich seitdem in Eagars Augen so etwas wie ein Experte, ein seelischer Mülleimer, in den man seine schlechten Träume kippen konnte.
Das war immer der Ärger mit Leuten, dachte Lawson verdrießlich, als er auf die Hauptstraße nach Dunstable einbog. Man wird viel zu sehr von ihnen in Beschlag gelegt. Schließlich war die Welt voller Probleme, und gerade die Probleme anderer, in die man mit hineingezogen wird, erweisen sich als die zähesten. Allerdings war das in diesem Fall nicht so gewesen. Er hatte sich bloß dämlich benommen, als er solange mitgespielt hatte, anstatt Eagar zu sagen, er solle ihn in Ruhe lassen.
Vorsichtig fuhr er durch die Stadt. Polizisten schienen Sportwagen stets für eine Art Freiwild zu halten, besonders rote, und da er erst kürzlich eine Verwarnung bekommen hatte, würde die nächste Begegnung weniger glimpflich verlaufen. Während der Wartezeit an einer Ampel holte er eine Straßenkarte hervor und stellte fest, dass Dunstable recht schnell gewachsen war. Entstanden war die Stadt aus einer Kreuzung von zwei römischen Straßen. Einmal die Watling Street, jetzt die A5, lief auf der Karte direkt auf Stony Stratford zu, und eine Verlängerung des alten Icknield-Weges, der an seiner Einmündung in die Ml endete. Weiter südlich passierte die Straße St. Albans, eine größere Stadt, die noch kleingedruckt ihren römischen Namen Verulamium führte.
Lawson warf die Karte schleunigst auf den Beifahrersitz, als ein wüstes Hupkonzert hinter ihm anzeigte, dass die Ampel nunmehr auf Grün war. Er überholte nach gelungenem Kavaliersstart einen Lastwagen und schimpfte über seine Zerstreutheit, die ihm Elefanten und Rom und allerlei Unsinn in den Kopf setzte. Eagar hatte ihn anscheinend soweit, als ob die Situation noch nicht lächerlich genug wäre.
Was hatte er noch so aalglatt gesagt? Tut mir leid, dass ich selbst Ihnen nicht helfen kann, aber ich kenne da einen Mann, der Ihr kleines Problem spielend lösen wird. Lawson konnte sich sein Grinsen gut vorstellen, während er all das vorbrachte und dabei noch dem Barmädchen im Blauen Anker zuzwinkerte. Und Eagar war sofort angesprungen. Davor allerdings hatten eine Reihe Telefongespräche stattgefunden, Bitten und Flehen, bis Lawson schließlich schon gezwungen war, wenigstens andeutungsweise sein Versprechen zu halten.
Überraschenderweise war Cullender ganz begeistert gewesen, als Lawson ihn endlich an der Strippe gehabt hatte. Ein Zusammentreffen arrangieren? Ja doch, glänzend. Ja, natürlich hatte er heute Mittag nichts vor. Gute Idee, in Verbindung zu bleiben. Gibt es irgendetwas Besonderes? Nein? Na, wir werden uns ohnehin sehr viel zu erzählen haben, jawohl, und das Wetter wäre ja wieder ganz herrlich. Dabei war Matthew Cullender unberechenbar. Es konnte durchaus passieren, dass er überhaupt nicht erschien und das, nachdem er einen freien Nachmittag geopfert hatte, der so vielversprechend angefangen hatte. Lawson wusste nicht, ob er im Vorhinein froh oder ärgerlich sein sollte.
Er unterdrückte seine Unsicherheit, indem er sich auf die Straße konzentrierte. Er raste jetzt die Schnellstraße in südlicher Richtung entlang, dabei behielt er vorsichtshalber den Rückspiegel im Auge, um sich rechtzeitig gegen plötzlich auftauchendes Blaulicht wappnen zu können. Dabei war Eagar gar nicht so übel. Schließlich musste sich jemand, der so etwas Zweideutiges wie Public Relations betrieb, durchbeißen, sonst konnte er sich gleich aufhängen. Außerdem hatte Eagar zweifellos technische Qualitäten, mit denen er sich durchaus beim ehrlichen, guten Journalismus seine Brötchen verdienen könnte, selbstverständlich für die Hälfte seines jetzigen Einkommens. Wenn Lawson an die unlängst fällig gewesene Versicherungssumme für den Spitfire dachte, wäre er am liebsten gleich von der journalistischen Fotografie in die Werbung umgestiegen. Die finanzielle Entschädigung für das Foto eines Körpersprays war gewiss lohnender als vielleicht ein Bild von den letzten Studentenunruhen. Besonders, wenn man dabei in Betracht zog, dass der Bildredakteur ein oder zwei Schnappschüsse aus etwa zweihundert oder dreihundert herauspickte. Obwohl es natürlich Aufwandsentschädigungen und Spesen gab.
Lawson wuchtete auf die Bremse, als er sich plötzlich vor der Situation befand, in eine mit einer Riesenfamilie besetzte Limousine zu krachen, die ohne Zeichen aus einer Nebenstraße gekommen war. Reifen quietschten zum Steinerweichen, er überholte links, noch immer schleudernd, während er voller Verachtung zwei Finger an die Stirn legte. Komplett verrückt, dachte er. Es war ja wohl weiß Gott nicht nötig, wegen Eagar ins Gras beißen zu müssen.
Aber ganz unpassend war der Gedanke nicht einmal, wenn man in Erwägung zog, dass dieser Mann eine Autorität auf dem Gebiet der Gespenster war.
Zweites Kapitel
»Was, um alles in der Welt, haben Sie sich da bloß bestellt?«
Halb gereizt, halb ungläubig sah Lawson auf Cullenders Teller. Der Alabama-Pfannkuchen-Palast war in einem Stil ausgestattet, neben dem jede Jahrmarktsbude dezent gewirkt hätte. Und was Cullender da gerade begeistert in Angriff nahm - ein Gebilde aus Schlagsahne und Kirschen -, konnte einem schon den Magen herumdrehen.
»Köstlich«, stöhnte Cullender, dabei schielte er auf einen Baum aus Flittergold, der über und über mit Lutschern behängt war. Ein Schild gab bekannt: »Für Kinder, die brav ihren Teller leeressen.«
Lawson schob seinen halbverzehrten Hamburger angewidert zur Seite. »Ich lade Sie zürn Essen bei Scott ein, und Sie wollen lieber hierher.«
Sie saßen inmitten einer schnatternden Herde von miniberockten Mädchen als einzige männliche Wesen weit und breit. Popmusik gellte ihnen aus mehreren Lautsprechern in die Ohren, und Kellner brüllten sich durch das Chaos auf Italienisch die Bestellungen zu.
»Ich mache mir nichts aus Bratkartoffeln«, erklärte Cullender, »und hier ist doch wenigstens Leben in der Bude. Ich muss mich oft genug mit den Geistern von Verschiedenen herumschlagen, da will ich nicht auch noch mit ihnen essen.«
»Gut, dass Sie das sagen«, fiel Lawson erleichtert ein, aber Cullender hob protestierend beide Hände.
»Lassen Sie mich wenigstens erst fertig essen. Natürlich habe ich nicht erwartet, dass ich das alles hier umsonst bekomme, aber ich will doch wenigstens in Ruhe genießen, was ich mir nachher verdienen muss.«
»Sie sind ein widerwärtiger, alter Mann«, knurrte Lawson, »ich habe schon von der zweiten Kindheit gehört, und ich wette, Sie kommen bloß hierher, um kleine Mädchen anzustarren. Soll ich Ihnen einen Lutscher kaufen, wenn wir gehen?«
»Oh, ja, bitte«, freute sich Cullender. »Den grünen da neben der Kasse, wenn es geht.«
»Hoffentlich bleibt er Ihnen im Halse stecken.«
»Aber das wollen Sie doch sicher nicht, bevor Sie wissen, was Sie wissen wollen, was?«
Cullender schnippte mit den Fingern, als ein Kellner vorbeiging, und bestellte einen Himbeer-Milchshake.
»Ich möchte Kaffee«, knurrte Lawson. »Schwarz.«
Cullender nahm eine Papierserviette und wischte sich umständlich über den Mund. »Also los. Nachdem Sie sich ein halbes Jahr ausgeschwiegen haben, rufen Sie mich auf einmal an und bitten um die Ehre, mir ein Mittagessen bezahlen zu dürfen. Ich dachte, die Winchmere-Sache hätte Ihnen den Rest gegeben.«
»Sie haben gut reden«, beschwerte sich Lawson. »Sie sind Experte für nächtliches Poltern. Ein Spezialist darin, den Lesern seiner sensationslüsternen Artikel zu einer ordentlichen Gänsehaut zu verhelfen oder ihnen wenigstens Grund zum Lachen zu geben. Und das noch in Sonntagsblättern. Matthew Cullender, unser rasender Sonderkorrespondent für psychische Fälle!«
»Übersinnlich«, verbesserte Cullender gekränkt. »Mit Verrückten will ich nichts zu tun haben.«
»Ich bin nur ein Fotograf«, meinte Lawson, »und unsere Zusammenarbeit in der Winchmere-Sache war reiner Zufall, aber Sie werden doch jedes Mal, wenn eine neue Spukgeschichte erscheint, groß herausgestellt, wenn Sie nur Ihren Senf dazugeben. Wahrscheinlich müssen Sie einfach an das übernatürliche glauben, um Ihren Job richtig auszufüllen, aber mir hat eine einzige Begegnung damit vollauf gereicht.«
»Und doch scheinen Sie sich davon mit einer Art schaurigen Faszination angezogen zu fühlen.« Cullender lachte ihm vergnügt ins Gesicht, als er versuchte zu protestieren. »In dem Fall verstehe ich die unerwartete Gastfreundschaft nicht.«
»Es geht um einen Freund von mir«, kam endlich Lawson zu Wort, »und jetzt halten Sie endlich den Mund, und verdienen Sie sich Ihren Milchshake. Ich möchte versuchen, Ihnen die Sache klarzumachen.«
Cullender kramte aus seiner Jackentasche eine stark angeschwärzte Pfeife hervor. »Ich stehe völlig zu Ihrer Verfügung. Genau gesagt, bis halb drei. Dann bin ich mit einem Mann verabredet, der mir etwas über eine fliegende Untertasse erzählen will, die er angeblich über seinem Garten schweben sieht. Wenn Sie aber einer vielversprechenden Sache auf der Spur sind, werde ich Ihnen den Lutscher kaufen.«
»Ich brauche mehr als das. Der Freund, den ich eben erwähnt habe, ist ein Mann, den ich vor längerer Zeit kennengelernt habe, er heißt Harry Eagar. Er hat in letzter Zeit eine Menge schrecklicher Träume gehabt und glaubt nun, dass jemand ihn zurückbefördern will ins alte Rom.«
Das Interesse auf Cullenders Gesicht erstarb. »Ist das alles? Sagen Sie ihm, er soll sich mal mit chinesischer Philosophie beschäftigen. Ein Weiser träumte einmal, er wäre ein Schmetterling. Als er aufwachte, hatte er ein ähnliches Problem. War er, so musste er sich fragen, ein Mann, der träumte, ein Schmetterling zu sein, oder war er ein Schmetterling, der träumte, ein Mann zu sein?«
»Das ist ein großer Trost«, sagte Lawson.
»Konfuzius lehrt, dass der Mensch gleichgestellt ist mit Himmel und Erde«, dozierte Cullender, »und wird als Offenbarung des Geistes betrachtet. Ist dieser in einem menschlichen Körper, nennt man ihn p'oh. Ist er körperlos, nennt man ihn hwen. Nach dem Tode wird der hwen ein wandernder Geist, und wenn der Tod durch Ertrinken eingetreten ist oder die Leiche in einem fremden Land unbegraben zurückbleibt, muss ein Opfer dargebracht werden, um ihn zur Ruhe zu bringen. Ihr Freund lebt doch noch, hoffe ich.«
»Zur Zeit noch«, antwortete Lawson mürrisch.
Cullender legte die Fingerspitzen aneinander. »Aber genug jetzt über Ihren langweiligen Freund. Was haben Sie alles fotografiert, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben? Hoffentlich nicht wieder betrügerische Medien oder anderen okkulten Schwindel!«
»Ich habe auf Ihren Anruf gewartet. Aber Scherz beiseite, mein letzter Auftrag war geradezu phantastisch. Das Telegraph-Magazin hat mich auf diese neue Spionagegeschichte angesetzt, über die Sie sicher schon gelesen haben.«
»Ehrlich gesagt, kein Wort.«
»Wird in Spanien gedreht. Die Handlung ist nicht umwerfend, aber man hat sich verschiedene Dinge einfallen lassen, die wirklich interessant sind, Klein-U- Boote, Taschenhubschrauber, sogar eine Minirakete.«
Cullender schielte über seine Brille, und Lawson stellte amüsiert fest, dass das gebrochene Gestell immer noch mit durchsichtigem Klebstreifen notdürftig repariert war.
»Und was soll das sein?«
»Die Bell Aerosystems Company hat das Ding entwickelt als Teilprodukt des Weltraumprogramms. Der Antrieb erfolgt durch Wasserstoffsuperoxyd und erreicht immerhin eine Schubkraft von einigen hundert Pfund. Die Flugdauer ist zwar noch auf wenige Minuten beschränkt, aber ich nehme an, dass es noch vervollkommnet und auf dem Mond eingesetzt wird. Das Ganze wird auf den Rücken geschnallt und sieht so ähnlich aus wie die ersten Anfänge des Senkrechtstarters.«
»Was denken die sich denn noch alles aus«, warf Cullender ein. »Haben Sie es wenigstens ausprobiert?«
»Leider nein. Aber der Stuntman meinte, es wäre nicht allzu schwierig für jemanden, der Flugerfahrung hat. Ich habe ein paar herrliche Aufnahmen von ihm gemacht.«
»Dieser Freund von Ihnen«, sagte Cullender abwesend, »hat er irgendeine Ahnung, wer ihn durch die Jahrhunderte nach Rom zurückschicken will?«
Lawson hatte nicht zu hoffen gewagt, dass er so schnell wieder zum Thema kommen würde. Er machte ein möglichst unbeteiligtes Gesicht. »Die Deutschen«, antwortete er.
Cullender nickte. »Aha. Bestimmte Deutsche?«
»Ein Mann und seine Frau. Der Mann ist anscheinend geschäftlich mit Eagar zusammengekommen, als sie beide die Messe in Köln besuchten. Er sammelt römische Antiquitäten. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass Eagar mit der Frau etwas angefangen hat.«
»Er verbindet eben das Angenehme mit dem Nützlichen«, Cullenders Interesse schien nachzulassen. »Ich begreife einfach nicht, warum ich meine Zeit und Sie Ihr Geld mit einem albernen Ehebruch vergeuden sollen. Unbewusst will sich sein Gewissen wohl mit Alpträumen reinwaschen. Warum geht er nicht einfach in eine Apotheke und holt sich ein paar Pillen, wenn er nicht richtig schlafen kann? Mein fachmännischer Rat wäre jedenfalls an ihn verschwendet, um mich höflich auszudrücken.«
»Es war nicht seine Idee, Sie darum zu bitten«, stellte Lawson richtig. »Es gibt in diesem Fall noch interessantere Aspekte.« Er machte dem Kellner ein Zeichen, ihm noch Kaffee zu bringen. »Eagar ist gar kein übler Bursche. Er ist vielleicht ein Esel, aber dafür hat er auch keine weinende Frau und falsch erzogene Kinder zu Hause, die schon wieder neue Schuhe brauchen. Er ist nämlich Junggeselle und Mitte Dreißig und recht verträglich.«
»Womit verdient er seine Brötchen?«
»Hauptsächlich als Vertreter für eine Firma, die optische Geräte vertreibt, aber er schreibt auch Testberichte für ein oder zwei Fotojournale. Ich kenne ihn schon seit Jahren. Wir sind zwar nicht dick befreundet, treffen uns aber ziemlich häufig in einer Kneipe in der Fetter Lane und heben ein paar zusammen.«
»Die Freimaurerei der Presse!«
»So würde ich es nicht ausdrücken. Er hat mir erhebliche Prozente bei Kameras verschafft, und ich habe ihn dafür mit meinen Beziehungen bekanntgemacht, was ihm ab und zu ein paar Artikel einbringt. Eine Hand wäscht die andere, würde ich sagen.«
»Und wie passen Sie in sein Schlafwandeln?«
»Gar nicht«, entgegnete Lawson kurz angebunden. »Sie sehen es falsch. Vorige Woche habe ich ihn zufällig getroffen und war über sein verändertes Aussehen richtig erschrocken. Ich habe ihn in den Blauen Anker dirigiert, um ihm einen großen Scotch einzuverleiben. Zuerst wollte er nicht mit der Sprache heraus. Aber dann fing er an zu reden. Anscheinend war er mit seinem Latein völlig am Ende, was für ihn an sich schon recht ungewöhnlich ist. Ich habe ihn immer für einen reichlich extrovertierten Burschen gehalten, der alles auf die leichte Schulter nimmt. Kurz nachdem er von Köln wieder nach London gekommen war, hatte er einen sonderbaren Traum.«
»über das alte Rom?«
»Ja. Und zwar außergewöhnlich lebendig, in Stereo sozusagen. Außerdem roch und fühlte er in dem Traum und konnte sich am nächsten Morgen noch an jede Kleinigkeit erinnern.«
»Aber wie jeder andere normale Mensch auch hielt er alles für die Ausgeburt seiner überreizten Nerven nach einer anstrengenden Reise und der Begegnung mit einem Mann, der römische Antiquitäten sammelt. Der außerdem der Ehemann der Frau war, die er verführt hatte.«
»Bis zur Nacht danach trifft das zu. Dann hatte er den gleichen Traum noch einmal, genauer gesagt, in der gleichen Umgebung, und die Handlung ging dort weiter, wo sie in der ersten Nacht aufgehört hatte. Er kam sich vor wie ein Schauspieler in einer Filmserie.«
Cullender schloss die Augen. »Man kann sich mit ein bisschen Mühe durchaus genau an Träume erinnern. Ich kann es selbst auch. Zuerst hatte ich immer Papier und Bleistift auf meinem Nachttisch liegen, um mir sofort nach dem Aufwachen Notizen machen zu können. Dann merkte ich, dass das gar nicht nötig war. Wenn ich nun ein interessantes Traumabenteuer fortsetzen will, brauche ich mich nur auf den Schluss zu konzentrieren, und ich träume von da ab weiter.«
Cullender verfolgte mit den Augen ein blutjunges Mädchen, das in schenkellangen Stiefeln zur Kasse stelzte.
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Lawson. »Aber wie ist es mit Alpträumen?«
»Normale Menschen haben ein Abwehrsystem gegen eine Wiederholung von solchen Träumen. Aber ich habe schon Neurotiker kennengelernt, die von einer ganzen Serie von Alpträumen verfolgt wurden. Dagegen gibt es heutzutage eine ganze Menge wirksamer Mittel.«
»Eagar hat Schlaftabletten genommen«, sagte Lawson, »die haben ihm nicht viel genützt. Er glaubt, dass es mit diesen Träumen anfing, als er in seinem Koffer eine kleine antike Statue gefunden hatte. Nachdem ihm der Zusammenhang aufgefallen war, hat er das Ding genommen und von der Blackfriars Bridge in die Themse geworfen.«
»Schade. Wäre er wirklich davon überzeugt gewesen, dass dem Ding irgendeine magische Kraft innewohnte, wie viele alte Völker geglaubt haben und auch von primitiven Rassen wie den australischen Ureinwohnern praktiziert wird, hätte er wissen müssen, dass es völlig unnütz ist, es wegzuwerfen.«
»Eagar hat zwar ein paar primitive Züge, aber ich traue ihm nicht zu, dass er sich von einem deutschen Hexenmeister durcheinanderbringen und in den Tod treiben lässt.«
»Wenn Sie weiterhin meine gerade entstandenen Theorien über den Haufen werfen wollen, lohnt es nicht, diese Unterhaltung fortzusetzen«, schmollte Cullender. »Hat er Ihnen sonst irgendeinen Hinweis gegeben? In welchem Teil Roms glaubt er denn überhaupt zu sein?«
Lawson dachte mit gerunzelter Stirn nach. »Also, er findet sich jede Nacht in einem großen Gebäude. Er glaubt, ein Gladiator zu sein und hält das Gebäude für ein Amphitheater. Das flavianische Amphitheater.«
»Der Bau wurde von Kaiser Vespasian im Jahre 70 begonnen und zehn Jahre später von Titus vollendet.«
»Sie haben davon gehört?«
»Ich bin schon um das, was davon übriggeblieben ist, herumgelaufen, und das dauert seine Zeit, obwohl man schon im Mittelalter vieles in Rom von seinen Resten erbaut hat. Lord Byron hat es beschrieben, nachdem er es besucht hat.«
Er zitierte leise: »Eine Ruine. Aber welch eine Ruine! Aus seiner Masse sind Wände, Paläste, halbe Städte hervorgegangen.«
»Das Colosseum«, platzte Lawson heraus. »Warum hat er es nicht gleich so genannt?«
»Weil kein Römer jener Zeit dann verstehen würde, wovon er redet«, sagte Cullender. »Der Name Colosseum tauchte erst im Mittelalter auf.« Er räusperte sich. »Ich fürchte, die Probleme Ihres Freundes, so unerfreulich sie auch für ihn sein mögen, sind von meinem Standpunkt aus völlig uninteressant. Sie sagen, der Deutsche ist ein Amateurantiquar. Man kann also mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, dass er dort viel vom flavianischen Amphitheater und einigem anderen gehört hat. Vielleicht hatte der Mann auch schon Verdacht geschöpft und hat die kleine Figur nur deshalb in den Koffer geschmuggelt, um ihm einen gehörigen Schrecken einzujagen. Was ihm ja auch gelungen ist.«
»Sie haben völlig Recht«, gab Lawson zu. »Und doch werde ich das Gefühl nicht los, dass er mich bei unserem zufälligen Zusammentreffen als letzte Hoffnung ansah. Ob es nun stimmt oder nicht, er glaubt jedenfalls, dass er ein Opfer des übernatürlichen geworden ist, und als ich ihm sagte, ich kenne einen Spezialisten auf diesem Gebiet, flehte er mich geradezu an, ihm zu helfen.«
Cullender spielte mit seiner Brille. »Nun ja, es wird mir wohl nichts schaden, wenn ich ein paar Worte mit ihm rede. Wo wohnt er überhaupt?«
»In Marylebone«, sagte Lawson schnell. »Mit dem Taxi nur zehn Minuten von hier.«
»Er darf nicht den Eindruck bekommen, dass ich Arzt bin. Das haut nicht hin. Vor allem müssen Sie ihm klarmachen, dass alles, was er auf meinen Rat hin tut, auf seine eigene Kappe geht.«
»Damit ist er bestimmt einverstanden.«
Cullender faltete die Rechnung zusammen und schob sie unter Lawsons Teller, dann stieß er seinen Stuhl zurück.
»Was wird aus Ihrem Mann mit den fliegenden Untertassen?«
»Er wird sich noch ein Weilchen gedulden müssen. Aber ich werde ihn wenigstens anrufen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Ralph Comer/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Hella Unruh und Christian Dörge (OT: The Mirror Of Dionysos).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 11.05.2018
ISBN: 978-3-7438-6829-8
Alle Rechte vorbehalten