CHRISTIAN DÖRGE (Hrsg.)
DAS MITTERNACHTSMUSEUM
- 13 SHADOWS, Band 15 -
Erzählungen
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DAS MITTERNACHTSMUSEUM (The Midnight Museum) von Leo Brett
DIE EISGRUFT (The Frozen Tomb) von Leo Brett
DAS GEHEIMNIS (The Secret Of Dr. Stark) von Pel Torro
DIE VERGELTUNG (The Relucant Corpse) von Lionel Fanthorpe
INSEL DES GRAUENS (And Midnight Fall) von Michael Hamilton
DIE RUINENSTADT (Call Of The Wild) von Lionel Fanthorpe
Das Buch
Selbst noch im Sterben war Gaston Duval ein hartnäckiger Mann. Er sackte nicht in sich zusammen, er schrie nicht, er stöhnte nicht, er griff nicht nach dem Messer. Er sah auf seine Brust herunter, in der der Tod steckte. Und dann sah er zu Cordeau auf. Seine Stimme klang sehr schwach und schien von weit her zu kommen.
»Das Land, wegen dem du zum Mörder geworden bist, Cordeau, wird dir keine Freude bringen«, sagte Gaston Duval. »Ich werde zurückkommen und im Tod das fordern, was ich im Leben nicht gefordert habe... Nur ein paar Quadratmeter Land, Jacques Cordeau. Sie werden mir gehören...«
»Stirb!«, zischte Cordeau. »Verdammt, stirb endlich!«
Der alte Mann schüttelte langsam den Kopf. »Ich werde zurückkehren... das Land... das Stückchen Land wird mir gehören...«
Die Anthologie DAS MITTERNACHTSMUSEUM, herausgegeben von Christian Dörge, enthält sechs ausgewählte Erzählungen von Leo Brett, Pel Torro, Lionel Fanthorpe und Michael Hamilton und erscheint als fünfzehnter Band der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht.
DAS MITTERNACHTSMUSEUM (The Midnight Museum)
von Leo Brett
Sally hatte es eilig, nach Hause zu kommen.
Zum einen, weil es dunkel war, und zum anderen fror sie ganz erbärmlich. Es war bitterkalt. Aber es gab noch einen Grund: sie hatte Angst. Im East End von London hatten alle Frauen Angst, wenn die Nacht kam und sie noch auf der Straße waren. Erst vor ein paar Wochen hatte der Ripper wieder zugeschlagen. Jeder musste damit rechnen, das nächste Opfer zu sein.
Sally lief weiter. Ihr Schritt hallte auf dem Kopfsteinpflaster, ihr Blick ging ständig von links nach rechts, von rechts nach links. Kein Mond und keine Sterne. Nur die dunklen Umrisse von Gebäuden und vor ihr ein Lichtkegel. Viel zu wenige Gaslaternen gab es in den kleinen Nebenstraßen.
Plötzlich sah sie einen dunklen Fleck am Himmel.
Sally schauderte zusammen, denn sie war abergläubisch. Außerdem las sie pausenlos Gruselgeschichten. Geschichten von Vampiren und Werwölfen und langbeinigen Ungeheuern, welche die Finsternis schwängerten.
Dazu kam, dass Sally spiritistische Sitzungen liebte. Sie hatte schon bei weit mehr teilgenommen, als für die geistige Gesundheit einer jungen, einfachen und ziemlich nervösen Frau zuträglich war. Sie sah um sich und dann wieder in den Himmel hinauf. Der dunkle Fleck war keine Einbildung gewesen. Etwas glitt an den Wolken vorbei, schwebte über die Dächer hinweg. Was es war, wusste sie nicht. Sie ging schneller und versuchte sich einzureden, dass Monster und böse Phantome nur in Büchern vorkamen. Die Wirklichkeit war etwas ganz Alltägliches.
Sie mochte den Stadtteil nicht, in dem sie sich gerade befand. Sie ging wie blind an einer der breiten Toreinfahrten und den mit Brettern vernagelten Fenstern vorbei. Hätte sie aufmerksamer hingesehen, wäre sie noch schreckhafter geworden. Auf einem verblassten Schild war eine verblasste Aufschrift zu lesen:
Mitternachtsmuseum
Treten Sie ein, Ladies und Gentlemen. Betrachten Sie den Stahlkäfig, in dem das namenlose Grauen gefangen gehalten wurde. Betrachten Sie die Ketten, mit denen das wilde Ungetüm gefesselt war. Betrachten Sie die unbekannten Schreckenskreaturen in ihren Glasbehältern, die Wachsfiguren, die Ihnen das Blut in den Adern erstarren und Ihre Haare zu Berg stehen lassen. Betrachten Sie die berühmten Geister der Geschichte und Literatur. Für nur zwei Shilling können Sie den Geist Hamlets sehen!
Treten Sie ein, Ladies und Gentlemen.
Aber Sally sah das Schild nicht einmal. Sie sah nur den Schatten über sich und musste an den letzten Ripper-Mord und die schrecklichen Dinge denken, die mit denen geschahen, die spät in der Nacht allein in diesem Viertel durch die Straßen gingen.
Sie versuchte, an etwas Erfreulicheres zu denken, aber es gelang ihr nicht. Sie spürte die Nähe des Bösen. Ihr Herz und ihre Seele fröstelten, ihr Mund war trocken, in ihrem Rücken kribbelte es. Die Angst kroch wie eine Nebelschwade an ihr hoch, die eisigen Klauen des schwebenden Todes schienen in der Nähe zu sein.
Plötzlich war ein Rauschen zu vernehmen - und kurz darauf ein Geräusch, als sei jemand auf das Pflaster gesprungen.
Sally stieß einen erstickten Schrei aus.
Und jetzt sah sie ihn. Wie zufällig war er in den Lichtkegel getreten. Er trug einen bodenlangen schwarzen Umhang. Was er darunter anhatte, konnte Sally nicht sehen, aber sie hatte den Eindruck, dass der Mann zu den »Besseren« gehörte. Sein Haar, das im Schein der Gaslaterne blauschwarz glänzte, war streng zurückgekämmt und so an den Kopf geklatscht, dass es nicht echt, sondern wie aufgesetzt aussah. Sally fühlte sich irgendwie angezogen und gleichzeitig abgestoßen. Sie kam sich vor wie eine Motte im Licht. Wie eine Mücke im Netz einer tödlichen Spinne. Die Lippen des Mannes teilten sich in einem abscheulichen Grinsen.
»Guten Abend.«
Sally erschrak beim Klang seiner Stimme. Es ging ihr mit der Stimme wie mit dem Mann selbst: sie zog sie an und stieß sie gleichzeitig ab.
»Guten Abend«, wiederholte er. »Sie scheinen es eilig zu haben. Was ist denn los? Haben Sie Angst so allein mitten in der Nacht? Vielleicht kann ich Sie nach Hause begleiten, meine Liebe?«
Ein Schaudern lief Sally über den Rücken.
»Nein, vielen Dank«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich habe es nicht mehr weit. Machen Sie sich nicht die Mühe.«
»Von Mühe kann nicht die Rede sein«, sagte der Fremde und ging neben Sally her.
Sie hörte seinen Umhang rauschen und stellte nach einem Moment mit Entsetzen fest, dass sie nur die eigenen Schritte hörte - seine waren lautlos. Der Mann schien über das Pflaster zu gleiten, und ganz gleich, ob sie schneller oder langsamer ging, er war immer auf gleicher Höhe mit ihr. Wie ein Schatten, wie ein Spiegelbild klebte er an ihr. Er war über einsachtzig groß und hatte breite Schultern.
»Ich glaube, wir sind weit genug gegangen«, sagte er plötzlich.
Jetzt erst merkte Sally, dass sie nur auf den Fremden und überhaupt nicht auf die Richtung geachtet hatte. Er hatte sie in eine Sackgasse gelockt. Die Flucht war ihr an drei Seiten durch hohe, drohende Mauern abgeschnitten.
»Hier ist es ideal«, sagte der Fremde. Seine Sprache war kultiviert.
»Lassen Sie mich in Ruhe!«, flehte Sally. »Gehen Sie weg!«
»Ich lasse Sie in Ruhe - aber erst muss ich noch etwas tun.«
Er streckte hässliche, klauenähnliche Hände aus. Die Fingernägel waren wie Krallen. Sie kamen näher und näher.
»Ich habe schon lange keine Nahrung mehr zu mir genommen«, sagte das Ungeheuer. »Zu lange. Viel zu lange.«
Wieder teilten sich die Lippen zu diesem gräßlichen Grinsen, und jetzt sah Sally auch die Zähne. Der Mann hatte ein Gebiss wie ein Raubtier. Die Eckzähne waren lang und spitz und reichten bis weit über die Unterlippe.
»Ich tue Ihnen ja bloß einen großen Gefallen«, sagte der Mann. »Ich erlaube Ihnen, eine von uns zu werden.«
»Sie sind - Sie sind nicht echt«, stammelte das Mädchen. »Bitte, sagen Sie, dass Sie sich bloß lustig machen über mich! Bitte - ich flehe Sie an! Hier - viel Geld habe ich nicht, aber ich gebe Ihnen alles, was ich habe. Bitte, töten Sie mich nicht!«
»Ich werde Sie nicht töten«, sagte das Ungeheuer. »Ich mache Sie lediglich zu einer von uns, und wir sterben nicht.«
»Sie sind ein Vampir! Ein Vampir!« Die Worte quälten sich aus ihrer Kehle. »Lassen Sie mich in Ruhe! Bitte - lassen Sie mich in Ruhe! Ich habe doch nichts getan. Bitte...«
»Ruhe«, sagte das Ungeheuer. »Ich hasse Lärm.«
Es hatte sie mit den beharrten Klauen gepackt und drängte sie gegen die Mauer. Sie sah den offenen Mund mit den schrecklichen Zähnen.
Der Vampir stieß einen langgedehnten, zufriedenen Seufzer aus. Dann bohrten sich die Eckzähne in den jungen Hals.
Mit einem kleinen erstickten Schrei sank das Mädchen leblos zu Boden.
Der alte Charlie Carnbluff war Nachtwächter, einer von den typischen Nachtwächtern. Kleine, stechende Augen gingen unter buschigen Brauen ständig hin und her. Den kahlen Kopf hatte er gegen die kalte Nachtluft mit einem wollenen Käppi geschützt, das er leicht schräg aufsetzte, um seine lässige Art zu demonstrieren. Ein wollener Schal sollte verhindern, dass ein Luftzug an seinen Nacken kam. Und dann ein dicker Wollmantel, der etwas merkwürdig an seinem dürren Gestell hing. Der alte Charlie Carnbluff hatte die drei Gebäude eines Warenhauses zu beaufsichtigen. Der ganze Komplex war von einer hohen Mauer mit Stacheldraht umgeben, und nachts waren die beiden schmiedeeisernen Tore natürlich verriegelt und verschlossen.
Charlie war seit vielen Jahren Nachtwächter. Er machte seine nächtlichen Runden schon viel länger, als ihm lieb war. Trotzdem hatte er sich nie an die Einsamkeit und an die Dunkelheit gewöhnt. Und an das ewige Ungewisse. Wenn nun doch ein Dieb im Haus war und irgendwo auf ihn lauerte?
Jedesmal, wenn er um eine Ecke bog, rechnete er damit, dass sich jemand mit einer Pistole oder einem Messer oder einer Rasierklinge auf ihn stürzte. Und jedes Mal wurde sein Griff um den Gummiknüppel fester. Charlie Carnbluff war nämlich kein Mensch, der ein Risiko eingehen wollte. Er wollte sich in der kalten Nachtluft kein Rheuma holen, und den weitaus schlimmeren Gefahren seines Berufes wollte er möglichst auch aus dem Weg gehen.
Doch plötzlich hörte er ein Tapsen.
Zuerst dachte er, es sei das Echo seiner eigenen Schritte. Er blieb stehen und horchte. Kein Tapsen mehr. Charlie Carnbluff ging weiter, war jedoch mit seiner akustischen Beweisführung nicht ganz zufrieden.
Wieder das Tapsen!
Jetzt versuchte es Charlie Carnbluff mit einem Trick. Drei Schritte - halt! Sechs Schritte - halt! Vier Schritte - halt! Das Tapsen hörte auf, wenn er stehen blieb, und kam, wenn er weiterging.
Merkwürdig, dachte er. Also doch das Echo meiner eigenen Schritte.
Aber er hatte es doch vorher nie bemerkt.
Charlie Carnbluff bog um eine Ecke und spähte an einer langen, dunklen Mauer entlang. Er strengte die Augen an, und dann hörte er plötzlich die Schritte. Er aber stand. Hastige, fliehende Schritte. Dann Stille und nichts als Dunkelheit.
Für einen Mann seines Alters besaß Charlie Carnbluff ein gerüttelt Maß an Vorstellungsvermögen und Spürsinn. Ohne guten Grund tat er nichts so schnell ab, denn er war ein Philosoph der alten Schule und legte Wert darauf, dass die Dinge ihre Richtigkeit hatten. Ein angenommener, ein eventuell möglicher Grund - so etwas gab es nicht für Charlie Carnbluff.
Er brauchte Tatsachen, gute, handfeste Tatsachen. Sie mussten greifbar und verständlich sein. Wie seine alte Tonpfeife und sein Glas Whisky am Samstagabend. Diese Dinge waren für ihn das echte Leben. Wie man sich mit weniger greifbaren Dingen abgeben konnte, lag für ihn jenseits seines Vorstellungsvermögens. Geheimnisvolle Schritte, die stehen bleiben und weitergingen, gefielen ihm nicht. Und wenn diese Schritte hastig und fliehend wurden, dann gefiel ihm das erst recht nicht. Charlie Carnbluff überlegte. Der Hof war abgeschlossen, aber trotzdem sollte er vielleicht die Tore überprüfen.
Eine alte Sturmlaterne in der knochigen Hand, ging er darauf zu. Ihr Licht fiel plötzlich auf einen Batzen Lehm, der vom Reifen eines Lasters gefallen war. Er war plattgedrückt, weil andere Lieferwagen darüber hinweggefahren waren. Komischerweise war Charlie Carnbluff der feuchte Fleck schon am frühen Abend aufgefallen, als er seinen Dienst angetreten hatte. Kein Wunder, dass er jetzt den Abdruck sofort sah. Es war nicht etwa der Abdruck eines normalen Schuhs, sondern einer riesigen Wolfsklaue oder einer Bärentatze.
Noch ehe der entsetzte Charlie Carnbluff einen klaren Gedanken fassen konnte, stürzte sich etwas von unglaublicher Größe und Schwere auf ihn und warf ihn zu Boden.
Er versank in den schwarzen Wassern der Vergessenheit und wusste nichts mehr.
Nach einigen Sekunden jedoch kam er wieder zu sich und sah einen Schatten von sich davonspringen. Eine Menschengestalt, die Mühe zu haben schien, aufrecht zu gehen. Etwas, was auf eines der Tore zulief, die zur Straße führten.
Ohne zu wissen, warum er es tat, rappelte sich der alte Charlie Carnbluff auf und folgte der Spur, den Gummiknüppel fest in der Hand.
Und dann lief ihm plötzlich ein eisiger Schauder über den Rücken.
Sein Herz klopfte und raste, er spürte, wie das Blut durch die Adern seines ausgemergelten Körpers schoß. Woher stammten diese Abdrücke? Welches Ungeheuer hinterließ eine solche Spur? Ein Schatten zwischen dem Warenhaus und einem kleineren Nebengebäude. Ein Schatten, der größer war als ein Mensch. Größer und schwerer, mit haarigen Armen und Klauen aus Stahl... ein Ungeheuer, das zerstören und töten wollte. Ein Ungeheuer, das die Hölle ausgespuckt hatte.
Der alte Charlie Carnbluff hatte nicht einmal mehr die Zeit, mit seinem Gummiknüppel auszuholen, geschweige denn, um Hilfe zu rufen. Klauen und Fänge taten ihr tödliches Werk, und nach wenigen Sekunden hatte Charlie Carnbluff den letzten Atemzug getan.
Im kalten, klaren Gicht des frühen Morgens drehte ein durchfrorener müder Wachtmeister seine letzte Runde um den Friedhof. Er sah durch den schmiedeeisernen Zaun auf die Reihen von gepflegten Gräbern.
Auf der Streife müsste man zu zweit sein, dachte er zum x-ten Mal. Allein ist das eigentlich eine Zumutung. Lieber die doppelte Strecke zurücklegen müssen, als in der Gegend herumstapfen.
Zum Glück hatte er wenigstens die zweite Nachtschicht. Bei der Vorstellung, im Stockfinsteren hier Streife gehen zu müssen, gruselte es ihn. Pflichtschuldigst sah er durch den Zaun. Plötzlich bewegte sich etwas in dem milchig-grauen Licht. Seine Augen wurden groß. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, dann reagierte er. Er blies dreimal in seine Trillerpfeife und rannte auf das Tor zu. Er war zwar abergläubisch und von Haus aus nervös, aber er war kein Feigling.
Das Tor war abgeschlossen. Für einen Mann von der Größe und vor allem vom Gewicht des Wachtmeisters war es kein Kinderspiel, hinüberzuklettern, aber er schaffte es schließlich und landete mit einem Stöhnen auf dem Kies. Das Etwas war inzwischen nur noch ein Schatten, der im Zickzack über den Friedhof floh. Es war eine schaurige Verfolgungsjagd. Immer wieder stolperte der Wachtmeister über einen Erdhügel oder die Wurzel eines alten knorrigen Baums. Der Abstand wurde langsam geringer. Die Gestalt war merkwürdig. Es sah fast so aus, als würde sie auf allen Vieren laufen. Ais sie sich einmal zu ihrem Verfolger umblickte, glühten bernsteinfarbene Augen durch die Dämmerung des hereinbrechenden Tages.
Dem Wachtmeister wurde immer unheimlicher zumute. Und als die Gestalt dann auch noch ein schrilles, gackerndes Lachen ausstieß, erstarrte ihm das Blut in den Adern, aber er lief stur weiter.
Er war schließlich ganz nahe herangekommen und hatte das Gefühl, dass ihn die Gestalt zum Narren hielt. Sie steigerte und zügelte die Geschwindigkeit, wie es ihr gerade in den Sinn kam. Außerdem...
Der Wachtmeister blieb wie angewurzelt stehen. Zu seinen Füßen ein gähnendes Loch. Er sah hinein, und ein erstickter Schrei entrang sich seiner Kehle.
Jetzt wusste er, was er gejagt hatte. Einen Ghoul, den er mitten in seiner Mahlzeit gestört hatte.
Der Wachtmeister stützte sich auf einen Grabstein und übergab sich. Dann wankte er zurück zum Tor und kletterte hinüber.
Das glaubt mir auf dem Revier kein Mensch, dachte er auf dem Weg. Ich würde es auch nicht glauben, wenn mir das einer erzählen würde.
Keuchend erreichte er die Wachstube.
Inspektor Ladell ging in seinem Büro auf und ab.
Der Sergeant saß ruhig da, den Stenoblock auf den Knien. Wenn der Inspektor in der Laune war, hieß es Mund halten und gehorchen, zuhören und pflichtschuldigst nicken. Alles andere war Selbstmord.
»Können Sie sich das erklären?«, fragte der Inspektor schließlich.
»Wer - ich, Sir?«, entgegnete der Sergeant.
»Jawohl, Sie! Sie stecken Ihr Gehalt ein, dann können Sie auch einmal nachdenken.« Der Inspektor stieß ein trockenes Lachen aus. »Es braucht ja nicht zu oft zu sein.«
Ein Späßchen. Der schlimmste Sturm war also vorbei.
»Lachen Sie mich jetzt bitte nicht aus, Sir«, sagte der Sergeant, »aber ich habe das Gefühl, dass wir es dort mit übernatürlichen Dingen zu tun haben. Das sind keine normalen Verbrecher mehr, das ist viel schlimmer. Wenn man sich das überlegt - nicht ein Tropfen Blut in der Leiche des Mädchens aus der Sackgasse. Total ausgepumpt. Ich habe schon so manches gehört, aber dass ein Mörder seinem Opfer den letzten Tropfen Blut rauspumpt, das ist beeindruckend. Was er bloß mit dem Blut gemacht hat? Und in was er es abgefüllt hat, ist mir auch ein Rätsel. Nicht einmal auf dem Pflaster war die geringste Spur von Blut.«
»Eben«, sagte der Inspektor.
»Und da ist noch etwas«, sagte der Sergeant.
»Das wäre?«
»Die Überreste von diesem armen Nachtwächter. Der alte Charlie Carnbluff - von einem Menschen ist der nicht umgebracht worden, Sir. Die Spur, das waren Abdrücke von einem Tier. Wir haben in allen Zoos und Tierhandlungen nachgefragt. Nirgends ist ein Tier ausgebrochen. Und dann die Sache mit dem Wachtmeister vom Revier dreizehn. Kein Mensch hätte ihm den flüchtigen Schatten zwischen den Grabsteinen geglaubt, wenn wir nicht alle mit eigenen Augen gesehen hätten, was von der Leiche noch übrig war, die der Ghoul gerade...«
»Ist schon gut«, schnitt der Inspektor dem Sergeant das Wort ab. »Mir kommt das Frühstück hoch. In den ganzen dreißig Jahren bei der Polizei habe ich nie etwas so Abscheuliches gesehen. Aber, wie dem auch sei, Sie scheinen zwischen den drei Fällen einen Zusammenhang zu sehen?«
»Irgendwie schon, Sir«, antwortete der Sergeant. »Vielleicht besteht tatsächlich ein Zusammenhang. Aber wie und wo?«
»Folgendes, Sir: ich lese ganz gern so Geschichten von Geistern und Gespenstern und übernatürlichen Wesen und kenne mich auf dem Gebiet ganz gut aus. Für mich sehen diese Fälle nicht aus wie das Werk einer einzigen Kreatur. Da sind drei oder vier...«
»Drei oder vier?«, rief Ladell. »Sie sind wohl nicht ganz bei Trost.«
»Aber Sir«, entgegnete der Sergeant leicht pikiert, »damit ist doch das Feld unserer Ermittlungen relativ eng abgesteckt. Die drei Vorkommnisse sind alle hier in der Gegend passiert.«
»Schon, aber was beweist das?«, fragte der Inspektor.
»Das beweist gar nichts, Sir, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass mitten in diesem Revier das Mitternachtsmuseum ist. Waren Sie je dort, Sir?«
»Nein.« Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Was ist denn das für ein Museum?«
»Ein ganz seltsames, Sir. Sie haben da einen Haufen alten Kram und Wachsfiguren. Das meiste machen sie mit Lichteffekten. Es ist zum Beispiel ein riesiger Maulkorb ausgestellt, der einmal einem Werwolf die Schnauze versperrt haben soll. Und dann haben sie einen Sarg, in dem angeblich die sterblichen Überreste eines Vampirs liegen. Und dann noch... So genau kann ich mich auch nicht erinnern. Es ist schon lange her, dass ich dort war. Aber es kann doch möglich sein, dass von den Ausstellungsstücken auch etwas echt ist. Stellen Sie sich einmal vor, was wäre, wenn von den bösen Kräften noch etwas in dem Museum lauert. Vielleicht sind sie freigeworden und...«
»Wieso sollen die Kräfte plötzlich frei werden?«, fragte Inspektor Ladell, dem langsam der Geduldsfaden riss. »Aus welchem Grund?«
»Die Frage ist berechtigt«, sagte der Sergeant. »Aber vielleicht haben die Sterne etwas damit zu tun, Sir. Ich kenne mich da zwar nicht so genau aus, aber es heißt doch immer, dass eine gewisse Konstellation einen gewissen Einfluss haben kann. Und das auf einem geographisch ziemlich eng begrenzten Punkt. Bei einem bestimmten Stand der Sterne tauchen also nicht alle Vampire aus ihren Gräbern auf, sondern bloß diejenigen, die vor vielleicht dreihundert Jahren bei derselben Konstellation ins Grab verbannt worden beziehungsweise getötet worden sind. Wenn die Sterne
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Authors/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Elisabeth Simon und Christian Dörge (OT: Supernatural Stories).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 15.04.2018
ISBN: 978-3-7438-6549-5
Alle Rechte vorbehalten