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Leseprobe

 

 

 

 

MARC AGAPIT

 

 

SCHWARZER FLUSS

- 13 SHADOWS, Band 14 -

 

 

 

Horror-Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

SCHWARZER FLUSS 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

 

Das Buch

Niemand wird behaupten, dass man sich an unerträgliche Schmerzen gewöhnen kann - und doch schien es so zu sein. Quintorze durchraste alle Höllen, er fühlte sich in kochendes Öl getaucht, gevierteilt und in Riemen geschnitten. Der Schmerz wütete in seinem Körper, als fräße er ihn von innen her auf - und doch gab es eine Grenze, eine Schwelle, über die kein Schmerz zu dringen vermochte, eine Art Selbstbetäubung auf dem Grunde des Ichs. Und wie man im ersten Moment die Berührung mit Eiswasser und kochendem Wasser kaum voneinander unterscheiden kann, so scheint es auch keinen Unterschied zu geben zwischen einem starken Stromstoß und einem sehr starken Stromstoß. Das heißt, ein starker Stromstoß in den menschlichen Körper ist so ungeheuer schmerzhaft, dass man das mehr an Schmerz bei einem noch viel stärkeren Stromstoß überhaupt nicht mehr wahrnimmt. Das Soll oder die Möglichkeit, Schmerz zu empfinden, ist aufgebraucht. Eine Steigerung gibt es nicht.

»Hundert!«, sagte die Stimme.

Quintorze fühlte absolut nichts mehr. Er war still. Nirgendwo in seinem Körper zuckte noch ein Nerv.

 

SCHWARZER FLUSS von MARCEL AGAPIT erschien erstmals unter dem Titel GAS im Jahr 1972 als Band 15 der - für damalige Verhältnisse mitunter recht gewagten (und stets um originelle Stoffe bemühten) - Reihe HORROR EXPERT und ist eine packende Mixtur aus Horror-Thriller und sinistrer Dystopie.

Eine durchgesehene Neu-Ausgabe von SCHWARZER FLUSS erscheint als vierzehnter Band der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  SCHWARZER FLUSS

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Sein Name war Louis Quintorze, aber er wusste es nicht. Genaugenommen wusste er gar nichts, nur eben, dass er in der Metro saß, in einer Ecke am Ende des Waggons; und selbst diese Wahrnehmung war konfus, unklar, schien noch aus einem Traum zu stammen, den er eben gehabt haben musste. Traumbild oder Wirklichkeit - in diesem Moment des Erwachens war es nicht auseinanderzuhalten, war nicht zu erkennen, in welcher der beiden Welten er sich befand, oder ob er auf dem Weg war zwischen Traum und Realität.

Plötzlich wachte er auf und sah sich erstaunt um. Er saß in der Metro - klarer Fall! Aber wieso und wo war er in die Metro eingestiegen? Wohin wollte er? Er erinnerte sich an nichts. In seinem Kopf war eine große Leere, und die Vergangenheit ein schwarzes Loch - wieso schwarz? weiß, wie die Flecken der unerforschten Gebiete auf alten Landkarten, weiß, wie ein unbeschriebenes Blatt...

Entsetzt sprang er hoch. In der Mitte des Waggons standen ein paar höchst seltsame Zeitgenossen, hielten sich schwankend an den Haltegriffen oder lehnten nachlässig an den Bänken. Sie alle starrten zu ihm herüber, denn er war aus seiner Ecke hochgeschossen, wie das Spiralenteufelchen aus der Spielzeugkiste.

Es war eine unangenehme Begegnung. Die Männer sahen schlimm aus, zerlumpt und heruntergekommen, irgendwelche Landstreicher, Tagediebe der übelsten Sorte, und die Blicke, die sie ihm zuwarfen, waren voll Mordlust und Gier, finster, grausam und mitleidlos.

Es waren drei oder vier... ja, vier, mit ihm zusammen also fünf. Ansonsten war der Waggon leer. Eine blöde Situation.

Einer der Männer, größer als die andern, trug eine Art blauen Anton, unheimlich dreckig und zerrissen und eine unförmige Mütze. Er musste schon sehr alt sein, denn er war nicht nur unglaublich mager, er schien völlig ausgetrocknet zu sein. Er grinste M. Quintorze an, ein schmieriges, unverschämtes Grinsen, dann wandte er sich zu den andern, wies mit dem Daumen über die Schulter auf ihn und sagte mit leiser, kaputter Stimme, die trotz des Rumpelns der Räder ganz klar zu verstehen war:

»Ein Neuer, ich sag's euch!«

Er spuckte in hohem Bogen aus und fügte hinzu:

»Ein Bürger!«

Er betonte dieses Wort auf ganz seltsame Weise, so wie man Kindermörder sagt, oder Sexualverbrecher! Und genauso schienen es die andern auch zu verstehen. Ihr böses, kurzes Gelächter verhieß nichts Gutes.

Verwirrt und wütend über diese Bemerkung, die er nicht verstand, und über die bösen Blicke, mit denen ihn die Fremden fixierten, schob sich M. Quintorze aus der Bank heraus und über den Mittelgang auf die kleine Gruppe zu. Nicht weit von den Männern entfernt blieb er stehen. Zitternd vor Wut - oder vor Angst - ballte er die Hände zu Fäusten, bereit, sich zu hauen, wenn es sein musste.

Der Lange, der eben gesprochen hatte, machte seinerseits einen Schritt auf M. Quintorze zu, blieb dann breitbeinig stehen, streckte das Kinn vor und fragte spöttisch:

»Kommst du zum ersten Mal hierher?«

»Zum ersten Mal? Ich glaube ja.«

Verdutzt biss er sich auf die Lippen. Warum hatte er diese Antwort gegeben? Das war doch völlig absurd! Er fuhr doch wirklich nicht zum ersten Mal mit der Metro! Und doch musste er zugeben, dass mit dieser Metro etwas Besonderes los war und darum war wohl seine Antwort doch nicht gelogen. Erstens fuhr sie viel zu schnell und hielt an keiner Station - bisher jedenfalls. Die Perrons der Stationen sausten vorüber wie Leuchtraketen und wurden sofort wieder von den schwarzen Tunnels geschluckt - man konnte nicht einmal die Namen lesen.

Außerdem herrschte in diesem Abteil eine allzu seltsame Atmosphäre, und das lag wohl am Licht. Es war ein indirektes Licht, das von nirgendwoher zu kommen schien und den ganzen Raum erfüllte, ein fahles, grünes Licht, das den Gesichtern der Reisenden einen leblosen oder abwesenden Ausdruck verlieh, wie man ihn manchmal bei Teilnehmern einer spiritistischen Sitzung findet, in der man die Geister der Toten beschwört.

Und dann dieser undefinierbare Geruch... ein sehr unangenehmer Geruch... es roch wie... nach Gas, ja, das war es; irgendwo musste ein Rohr kaputt sein und Gas ausströmen! Aber nie zuvor hatte M. Quintorze diesen Geruch in der Metro wahrgenommen und nach allem, was er wusste, hatte man die Metro so angelegt, dass ihre Tunnels weder durch Gas- noch durch Wassereinbrüche gefährdet werden konnten.

Nein wirklich, diese Metro wahr seltsam, war anders als sonst.

»Wenn man es nimmt, wie es ist, ist es nicht einmal so schlecht«, fuhr der lange Alte fort. »Schließlich kann man sich an alles gewöhnen. Es gibt allerdings welche...«

Er brach ab und bedachte einen seiner Genossen mit bedeutsamem Blick. Es war ein schmaler Junge, fast noch ein Kind. Sein Gesicht war qualvoll verzerrt und in seinen jungen Augen standen Hoffnungslosigkeit und namenloses Entsetzen.

Jetzt starrten alle zu dem Jungen hinüber. Unter ihren halb mitleidigen, halb spöttischen Blicken senkte der Junge die Augen und drehte sich verlegen um, so dass er ihnen den Rücken zukehrte. Das Interesse der anderen erlosch, und teilnahmslos starrten sie vor sich hin auf den Boden.

»Ich verstehe nicht...«, sagte M. Quintorze.

»Ich kann dir einen guten Rat geben, alter Knabe«, meinte der Alte und spuckte wieder auf die Erde...

»Endstation!«, brüllte jemand.

Der Zug bremste derart, dass alle übereinander stürzten. Mit knapper Not hielt sich M. Quintorze an einer Banklehne fest, um nicht der Länge nach hinzuschlagen. Und so erfuhr er nie den Rat, den ihm der Alte mit auf den Weg geben wollte. Aber er hörte den Schrei, jenen gellenden Schrei der Angst und der Qual, den der Junge in demselben Moment ausstieß, als der Zug hielt. Es war ein Schrei, der M. Quintorze das Blut in den Adern erstarren ließ, so grauenvoll war er. Aber außer ihm schien sich niemand daran zu stören. Nicht einmal der junge Mann selbst.

Sie sprangen auf den Perron hinaus, gingen mit langen, eiligen Schritten dem Ausgang zu, drängelten sich zwischen den übrigen Reisenden über die Treppe; der Perron leerte sich in Sekundenschnelle, Türen krachten zu, der Zug ruckte an und brauste davon. Es war eine Metrostation wie jede andere, und das Gebaren der Menschen war immer das gleiche, seit Generationen, seit es die Metro gab, zu jeder Jahreszeit, zu jeder Tageszeit... Zurück blieb nur M. Quintorze. Halb benommen, halb erstaunt starrte er den Davonhastenden nach und dem davonsausenden Zug; dann ging er langsam dem Ausgang zu.

Und während er die Treppe hochstieg, überlegte er: Er fragte sich, warum der Zug nicht an den anderen Stationen gehalten, warum die ganzen Leute gerade hier, an der Endstation ausstiegen und sich niemand, außer ihm selbst, darüber zu wundern schien. Wie hieß überhaupt diese Station? Er ärgerte sich, dass er nicht auf das Schild geguckt hatte - aber war denn ein Schild dagewesen? Das hätte er doch unmöglich übersehen können! Schließlich waren diese Stationsschilder so groß, dass sie jedem Blinden ins Auge springen! Nein, er war sich fast sicher: Diese Station hatte keinen Namen.

Von seinem Abenteuer völlig verunsichert, trat er auf die Straße hinaus. Es war Nacht. Es musste sogar sehr spät sein, denn es war nicht einmal mehr eine Katze zu sehen. Über der breiten Avenue lag eine so große, so vollkommene Stille, dass M. Quintorze sie zu fühlen glaubte. Auch der nie verstummende Schleier ferner, undefinierbarer Großstadtgeräusche war verschwunden.

»Wieviel Uhr mag es sein?«, fragte er sich.

Er hob den linken Arm und schob den Hemdsärmel zurück, aber sein Handgelenk war kahl.

Seltsam, ich habe meine Uhr vergessen, dachte er und runzelte die Stirn. Er konnte sich nicht erinnern, je eine Uhr vergessen zu haben - aber was heißt erinnern...?

»Überhaupt... was will ich denn hier?«

Mühsam und gründlich durchforschte M. Quintorze sein Gedächtnis - vergebens. Es gab kein Gedächtnis in seinem Kopf und keine Erinnerung. Es war leer und ohne Echo, wie eine Stimme, die nicht spricht, wie ein ausradiertes Blatt in einem Heft. Er fühlte, wie ihm die Angst über den Rücken kroch und ihm die Kehle zuschnürte.

»So muss es einem Menschen gehen, der plötzlich merkt, dass er blind wird und nicht weiß, warum«, fuhr es ihm durch den Kopf. Und plötzlich schoss ihm eine Frage hoch:

»Wer bin ich?«

Der Name musste ihm auf den Lippen liegen. Es war unmöglich, sich nicht daran zu erinnern - unmöglich! Aber noch während er jede Ecke seines Hirns durchforschte, nach einem Laut, einem Echo, das sein Name hinterlassen haben musste, wusste er genau, dass es vergeblich war, dass er nichts finden würde.

»Das ist zu viel für mich«, sagte er halblaut und schwieg erschrocken, als er hörte, wie laut seine Stimme auf dieser nächtlichen Straße hallte.

Mit zitternden Fingern durchsuchte er sämtliche Taschen. Es war wie in einem Alptraum: Er hatte nichts, absolut nichts bei sich, keine Brieftasche, kein Portemonnaie, keine Visitenkarte, keinen Schlüssel, kein Feuerzeug - nichts, einfach nichts! Seine Taschen waren leer.

Verwirrt, verstört stand er still, verfolgte konzentriert seine Gedanken, die sich langsam und unendlich mühsam immer um den einen Punkt bewegten, um sich selbst, um seine Person, in der Hoffnung, irgendeinen Faden zu finden, irgendeinen Anhaltspunkt, ein Bild oder ein Wort, mit Hilfe dessen er herausfinden würde aus dieser feindseligen Nacht, die über der Stadt und über seiner Seele lag.

Plötzlich hörte er hinter sich das leise Brummen eines Motors aus der Richtung, aus der er gekommen war. Und als er sich umsah, erblickte er ein Auto, eine schwarze Limousine. Es fuhr ganz langsam, dicht am Bürgersteig entlang die Avenue herauf. Ein Polizist ging neben dem Auto her. Er trug seltsamerweise eine rote Uniform, und - ja natürlich, das war ein Revolver, und es sah einen Augenblick so aus, als habe er die Waffe auf M. Quintorze angelegt.

M. Quintorze runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern. Warum sollte ein Polizist mit seiner Waffe ausgerechnet auf ihn zielen?

»Unsinn, die machen ihre Runde«, sagte er sich, aber er merkte, wie seine Unruhe trotzdem wuchs.

»Zum Teufel, was mache ich bloß hier? Was habe ich gestern gemacht, was vorgestern? Und wieso ist nun die Polizei hinter mir her?«

Aber er fragte sich vergebens. Es gab keine Antwort in seinem Kopf. Es gab keine Erinnerung. Nur Leere. Und neue Fragen. Längst war aus seiner Unruhe Angst geworden, eine Angst, die ihm den Magen zusammenzog und in den Därmen wühlte, eine animalische, unwissende Angst.

Eine kleine Weile stand er so da und wartete darauf, dass der Polizeiwagen und der daneben hergehende Polizist näher kämen, um sich bei ihm zu erkundigen, wo er war, in welchem Viertel von Paris - und war er überhaupt in Paris? Aber natürlich! Schließlich war er ja mit der Metro gekommen. Er würde dem Polizisten erklären, dass er plötzlich sein Gedächtnis verloren hatte und ihn um Hilfe bitten. Das war das einzig Vernünftige, was er tun konnte: nämlich sich an die Polizei wenden. Die würden schon herauskriegen, wer er war und würden ihm helfen, ins normale Leben zurückzufinden.

Denn eines war ihm klar: Dieser Alptraum musste ein Ende haben, und zwar bald, denn sonst würde er den Verstand verlieren.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Und während er so dastand, überlegte und wartete, bemerkte er etwas Seltsames: Der Polizeiwagen fuhr gar nicht mehr auf ihn zu. Er hatte angehalten, und auch der Polizist daneben schien zu warten. Spontan machte er eine Bewegung auf das Auto zu. Er wollte hinlaufen, dem Polizisten seine Geschichte erzählen, ihn fragen, ihn bitten - weiß Gott, was er alles wollte -, aber er machte keinen Schritt. Denn irgendetwas an der Haltung des Polizisten störte ihn, hielt ihn zurück. Und nun erkannte er deutlich, wie feindselig der Polizist ihm gegenüberstand: Der Lauf der Pistole war deutlich auf seine Brust gerichtet, und der Mann in der roten Uniform beobachtete ihn aufmerksam und lauernd, wie ein zum Sprung bereites Raubtier. Sein Gesicht war böse und gefährlich gespannt und ließ nicht den leisesten Zweifel daran, dass er bereit war, sofort zu schießen, wenn sich M. Quintorze auch nur einen Schritt auf das Auto zu bewegen würden!

Aus dem Fenster des Wagens schob sich ein weiterer Polizistenkopf - nein, zwei, drei andere noch! Acht Paar Augen unter roten Polizeimützen starrten ihn feindselig an. Das Polizeiauto glich einer bösartigen Meduse. M. Quintorze zitterte.

»Verdammt noch mal! Das sieht tatsächlich so aus, als hätten die es auf mich abgesehen! Aber wenn sie mich verhaften wollen - worauf warten sie denn noch? Und sie können mich doch nicht einfach niederknallen! Was, zum Teufel, hab' ich denn verbrochen? Warum verfolgen sie mich? Warum bleiben sie stehen, wenn ich stehenbleibe? Was soll das ganze absurde Theater!«

Er biss die Lippen zusammen, ballte die Hände zu Fäusten und machte einen Schritt auf den Wagen zu. Nicht mehr! Denn im selben Moment legten auch die vier Polizisten im Wagen auf ihn an.

M. Quintorze machte eine halbe Kehrtwendung und ging davon. Er wäre zu gern gelaufen, aber seine Beine würden das kaum mitmachen. Die Knie zitterten ihm ohnehin so sehr, dass er Angst hatte, zusammenzubrechen. Er sah nicht, wo er hinging, er ging einfach geradeaus, mit eingezogenem Bauch und hohlem Kreuz und lauschte konzentriert nach hinten. Was? Ließen die ihn etwa einfach so davongehen? Wozu dann der ganze Sums mit Verfolgung und so weiter?

Da hörte er bereits wieder das leise Brummen des Motors, das sich langsam näherte. Aha! Das Spiel ging weiter. Er kannte allerdings immer noch nicht die Spielregeln, und es kam ihm ein bisschen so vor, als sei er auf einem anderen Planeten gelandet, auf dem sich die Dinge eben anders zutragen, als auf der Erde.

Und dann hörte er plötzlich noch etwas anderes: Musik! Musik mitten in der Nacht! Und Lärm. Das Lärmen vieler Menschen. Am Ende der Avenue war helles Licht, und von dort kam auch die Musik her.

Er ging schneller und schneller und dann rannte er. Er hörte den Wagen nicht mehr und sah sich nicht um. Er lief voran, auf den großen Platz zu, auf dem sich eine riesige Kirmes mit Karussells und Buden breitmachte und auf dem es von Menschen wimmelte. Und ganz plötzlich wusste M. Quintorze wieder, wo er war.

»Das ist der Platz der Nationen«, sagte er laut, »und dort ist Kirmes, das wusste ich!«

Die Worte »Das wusste ich« gingen durch seinen Kopf wie eine Erleuchtung. Das war der Anhaltspunkt, nach dem er gesucht hatte, das war's! Er erinnerte sich:

»Natürlich!«, brüllte er fröhlich vor sich hin. »Ich wollte zum Jahrmarkt! Darum hab' ich die Metro genommen. Ich war...«

Und weiter kam er nicht. Wo war er gewesen? Wo hatte er die Metro genommen? Nein, an mehr konnte er sich nicht erinnern. Alles andere war Nebel. Aber immerhin, es war ein Anfang! M. Quintorze fühlte sich erleichtert, unendlich erleichtert. Die große Angst war verschwunden.

Im dichten Strom der Menschen schob er sich durch eine Gasse zwischen den Buden auf ein Karussell zu, das sich im grellen Licht unzähliger kleiner Lampen drehte, während sich die hydraulischen Arme mit den Kabinen hoben und senkten. Sie waren voll besetzt mit jungem Volk, und das war ein Schreien und Juchzen, dass M. Quintorze lächelnd stehenblieb und zusah. Dann schob er sich wieder weiter und wurde geschoben. Er hatte sich schon einige Male umgesehen, aber die Polizisten waren verschwunden.

»Ich habe sie abgehängt«, feixte er, »denn hier können sie unmöglich mit ihrem Wagen durch.«

Er fühlte sich vollkommen sicher in der Menge, die ihn besser schützte als jedes andere Versteck. Und dann hörte er den Schuss, fühlte den Schlag in den Rücken und machte einen kleinen Satz nach vorn.

»Sie haben mich getroffen!«

Einen Moment stand er steif und gerade, wie angewurzelt. Er war erstaunt, keinen Schmerz zu fühlen! Er war erstaunt, wie lange er noch stand! Und sein Blick fiel auf die Bude, vor der er stehengeblieben war.

Es war eine Schießbude und der junge Mann, der gerade den Haufen leerer Büchsen vom Brett geschossen hatte, legte das Gewehr nieder. Langsam und ganz vorsichtig hob M. Quintorze den Arm, tastete über seine Brust und seinen Rücken. Nichts. Niemand hatte auf ihn geschossen!

Erleichtert schnaufte er durch die Nase und lachte. Weiß Gott, er war nervös! Was sollte ihm hier schon passieren! Trotzdem drehte er sich noch einmal um, um festzustellen, ob man ihn noch verfolgte.

Und da sah er ihn kommen!

Es war derselbe Polizist, der vorhin neben dem Wagen hergegangen war. Den Revolver in der Hand, bahnte er sich mühelos einen Weg durch die Menge, die ängstlich und beflissen vor ihm zurückwich. Schon lag zwischen ihm und dem

Polizisten eine breite, menschenleere Straße. Und die Menschen, rechts und links davon, sahen zu und schwiegen.

Und seltsam: Während M. Quintorze mit schreckgeweiteten Augen dastand und auf seinen Verfolger wartete, unfähig zu fliehen, von Angst festgenagelt, blieb auch der Polizist wieder stehen, bewegungslos wie eine Statue, alarmbereit und lauernd, Augen und Waffe auf ihn gerichtet.

Wieder quälte M. Quintorze die Versuchung, zu fliehen, fortzurennen, aber sein Instinkt sagte ihm, dass er sich nicht bewegen durfte.

»Nur die Ruhe«, sagte er sich, »wenn ich fliehe, bekenne ich mich schuldig! Wieso eigentlich? Was habe ich denn getan?«

Wieder fühlte er, wie seine Hände zu zittern begannen. Mit mühsam erzwungener Gelassenheit wandte er sich langsam um und schlenderte wie ein unbeteiligter Spaziergänger davon. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ohne es zu wollen nahm er wahr, wie viele der Menschen, die um ihn herumgestanden und das Herankommen des Polizisten beobachtet hatten, ihm misstrauische, ja, böse Blicke zuwarfen. Natürlich! Genauso wie er selbst mussten sie sich fragen, was er ausgefressen haben mochte, dass ihn die Polizei mit gezogener Waffe durch diese Menschenmenge hindurch verfolgte! Wenn er sich nur erinnern könnte!

Und wieso trugen die Polizeibeamten plötzlich rote Uniformen?

Und wieso ging er fort? Wieso ging er nicht ganz ruhig auf den Beamten zu und fragte ihn, warum er verfolgt wurde? Jeder andere, zu Unrecht verdächtigte Bürger würde das doch tun? Warum er nicht? Was hielt ihn davon ab?

Was war es, woran er sich nicht erinnern konnte?

Unsicher blieb er stehen und drehte sich um. Egal was er getan hatte, er wollte es von dem Polizisten erfahren.

Aber der Polizist war nicht mehr da. Hinter ihm, neben ihm und vor ihm her schob sich die unbeteiligte Menge, dichter und aufdringlicher als vorher.

Und kaum hatte er noch erleichtert aufgeatmet, da teilte sie sich wieder, bahnte wie auf einen unhörbaren Befehl wieder eine freie, breite Gasse, durch die der Polizist, die Waffe im Anschlag, mit finsterem Gesicht auf ihn zukam.

Bei diesem Anblick verließ M. Quintorze der Mut. Langsam drehte er sich wieder um, langsam ging er weiter, denn das war es wohl, was der Polizist von ihm wollte. Mühsam schob er sich durch die Menge, gebeugt, wie ein Mensch, der sich schuldig fühlt, den Blick auf den Boden geheftet, um die misstrauischen, neugierigen Gesichter der andern nicht sehen zu müssen. Er war resigniert und verwirrt, wusste nicht, was mit ihm war und was mit ihm geschehen sollte und plötzlich...

...empfand er deutlich wieder jenen aufdringlichen, unangenehmen Geruch, den er bereits in der Metro wahrgenommen hatte: Es roch nach Gas!

Hier auch? Konnte das aus einer der Buden kommen? Ein leckes Gasrohr auf der Kirmes? War das nicht gefährlich?

Er wollte stehenbleiben. Dann aber zuckte er gleichmütig die Schultern und ging weiter. Obwohl der Gedanke an Gas sich irgendwie in ihm festhakte. Es war etwas gewesen, das mit Gas zusammenhing! Aber was? Es blieb nichts als der Geruch und das Wort, an die sich er erinnerte, die einen Nerv in ihm berührten, so, wie man sich an vergangene Zahnschmerzen erinnert, die man nicht mehr fühlt. Es nutzte nichts, sich den Kopf zu zermartern. Der Schleier über der Vergangenheit war undurchdringlich. Aber er ahnte, dass diese Erinnerung, die ihm verborgen blieb, und die mit Gas zusammenhing, unangenehm, wahrscheinlich sogar schmerzhaft sein musste.

Er kam an einer Bude mit Süßigkeiten vorbei, und als er die Berge von Trüffeln, Bonbons und Schokolade sah, packte ihn der Hunger. Automatisch fuhr seine Hand zur Gesäßtasche, aber er erinnerte sich sofort wieder daran, dass er nicht einen Pfennig bei sich hatte. Leise fluchte er vor sich hin.

Dann aber sah er sich vorsichtig um. Von dem Polizisten war in diesem Moment wieder nichts zu sehen. Auch von den Passanten achtete niemand sonderlich auf ihn. Hinter den Bergen von Süßigkeiten standen ein Mann und eine Frau. Sie verkaufte und er wog gebrannte Mandeln und füllte sie in kleine, spitze Tüten ab. M. Quintorze legte seine rechte Hand auf den Tisch neben einen Berg rosa abgepackter Nougatstangen; die Hand schob sich über eine Nougatstange; und während er aufmerksam zu der Frau hinübersah und darauf zu warten schien, dass sie ihn bediente, zog sich seine rechte Hand flach über den Tisch zum Rand zurück. Er spürte das metallene Papier in der Handfläche. Ein kleiner Ruck und, die rechte Hand an den Bauch gepresst, wandte er sich um und ging langsam weiter. Dem Herrn schien das Warten zu lang geworden zu sein!

In sicherer Entfernung wickelte er die Nougatstange aus ihrer schillernden, rosa Hülle - das Wasser lief ihm im Mund zusammen - und gerade wollte er hineinbeißen, da traf ihn ein heftiger Stoß in den Rücken und die Nougatstange fiel ihm aus der Hand. Wütend fuhr M. Quintorze herum, um dem rücksichtslosen Rempler seine Meinung zu sagen - da sah er in einiger Entfernung wieder den Polizisten in der roten Uniform. Immer noch hielt er den Revolver auf ihn gerichtet, wieder stand er, weil M. Quintorze auch stehengeblieben war, wieder beobachtete er ihn lauernd und gespannt, wie ein Tier seine Beute.

Inzwischen hatte ein kleiner Bengel die Nougatstange ergattert und war damit auf und davon. Resigniert zog M. Quintorze die Schultern hoch und ging langsam weiter.

»Was bin ich doch für ein Esel: Gehe zur Kirmes und lasse mein Geld zu Hause! Das gibt's doch gar nicht!«, murmelte er wütend.

Und dann blieb er erschrocken stehen.

»Zu Hause? Wo? Verdammt noch mal! Wie kann ich überhaupt je wieder nach Hause finden, wenn ich nicht einmal weiß, wo ich wohne? Und was mache ich, wenn der Kerl hinter mir mich endlich verhaftet? Ich kann weder Namen noch Adresse geben! Und wer, in Teufels Namen, wird mir glauben, wenn ich behaupte, mein Gedächtnis verloren zu haben? Und wenn sie mich einsperren - es wird mir überhaupt nicht helfen! Ich kann Jahre im Gefängnis zubringen, ohne mich an meinen Namen zu erinnern! Nein, ich muss zu einem Arzt, einem Neurologen oder Psychiater! Soviel ich weiß ist Gedächtnisverlust durchaus heilbar. Ich müsste wahrscheinlich für einige Zeit in eine Spezialklinik oder so...

Ach, was soll’s! Hier auf dem Rummelplatz ist wohl kaum der rechte Ort, Entscheidungen zu treffen. Morgen werde ich mich nach einem Arzt umsehen. Und heute muss ich erst einmal mit dem Polizisten klarkommen.«

Wahrscheinlich würde sein Verfolger nicht auf die Idee kommen, dass er sich hier auf dem Rummelplatz einfach amüsieren könnte. Er ging sicher davon aus, dass M. Quintorze ihm zu entkommen suchte und sich seinen Weg so schnell wie möglich durch die Menge bahnen würde. Wenn er also einfach rasch auf ein Karussell stiege, könnte er unter Umständen den Polizisten loswerden. Aber die Idee nutzte ihm wenig. Er hatte kein Geld für ein Karussell, und die Kirmesleute passten auf wie die Schießhunde. Schwarzfahren war unmöglich.

In riesigen Leuchtbuchstaben wurde an der nächsten Bude das Entsetzen feilgeboten. Der Mann mit dem Mikrofon, der lautstark das Programm verkündete, versprach Monstren und Missgeburten, »...das Grausigste, was Sie je gesehen haben und für jeden Geschmack etwas Besonderes!« Angewidert und entzückt zugleich lauschte ihm die Menge.

M. Quintorze stand ganz vorn, nur ein paar Schritte von der Kasse entfernt, und plötzlich sah er sein Bild in einem der großen Spiegel neben dem Eingang. Erstaunt und fasziniert von seinem eigenen Bild trat er näher.

Seltsam! Er hatte sich sein Äußeres ganz anders vorgestellt. Er sah sich einem Mann im mittleren Alter gegenüber, um die Vierzig herum, ziemlich groß, mit breitem, leicht viereckigem

Gesicht, etwas hervortretenden Augen und rötlichem Kinnbart.

»Donnerwetter, das erinnert mich fast an Blaubart«, dachte er halb belustigt und halb ernsthaft.

Er trug einen Bürstenhaarschnitt - seine Haare wurden schon etwas grau, besonders an den Schläfen. Er war gut genährt, aber nicht dick. Und er hatte unheimliche Hände: große, breite, fleischige Hände mit sehr langen, kräftigen Daumen.

Mörderhände!, dachte er.

Unangenehm berührt hob er die Hände hoch und betrachtete sie, und instinktiv bogen sich seine Finger und krampften sich zusammen, als drückten sie eine Kehle zu. M. Quintorze keuchte leise. Er fühlte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Er hasste diese Bewegung seiner Hände; er hatte sie nicht gewollt; seine Hände reagierten selbständig, als gehörten sie nicht zu ihm, und er musste alle Energie aufbringen, um sie wieder in Gewalt zu bekommen, und die Finger, die sich um den unsichtbaren Hals krampften, zu öffnen.

Er ließ die Hände wieder sinken und sah sich an. Verwundert bemerkte er, dass er Trauer trug. Im Knopfloch seines Revers war ein ziemlich breites, schwarzes Seidenband befestigt. Aber er konnte sich nicht erinnern, wen er wohl verloren haben könnte, nicht einmal an das Gefühl der Trauer und des Schmerzes.

Er betrachtete seinen schwarzen Anzug mit den feinen, grauen Nadelstreifen mit Befriedigung. Jedenfalls war er ein Mensch mit Geschmack. Der Anzug saß tadellos und war von bester Qualität, ebenso die Schuhe. Es

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Marc Agapit/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Ellen Rings und Christian Dörge (OT: Fleuve Noir).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 06.04.2018
ISBN: 978-3-7438-6443-6

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