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Leseprobe

 

 

 

JACK WOMACK

 

 

TERRAPLANE

DRYCO-ZYKLUS 2

 

 

Ein Cyberpunk-Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

TERRAPLANE 

1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

7. 

8. 

9. 

10. 

11. 

12. 

Das Buch

Die amerikanischen Agenten Robert Luther Biggenstaff und sein Leibwächter und Nahkampfspezialist Jake sind in Moskau, um an die Erfindung eines genialen russischen Wissenschaftlers zu kommen: eine Zeitmaschine. Durch einen Doppelagenten verraten, werden sie in die Enge getrieben, aber es gelingt ihnen, mit dem Gerät in die Vergangenheit zu fliehen.

Doch im New York des Jahres 1939, in dem sie landen, ist einiges anders, als sie es aus den Geschichtsbüchern kennen: Die Sklaverei wurde in den USA erst 1907 abgeschafft, der Rassismus der Polizei trägt abstoßende Züge; Roosevelt und Churchill sind längst tot, eine verheerende Virusseuche grassiert und hat u. a.  Charlie Chaplin, Claude Debussy und Amadeo Modigliani hingerafft, bevor sie den Höhepunkt ihres künstlerischen Schaffens erreichen konnten.

Als die Polizei ihre Zeitmaschine findet, werden die Agenten für Spione gehalten und von den Bundesbehörden mit aller Brutalität verfolgt. Bei einem farbigen Arzt finden sie Unterschlupf, aber ihre Lage ist hoffnungslos, wenn sie nicht rasch Mittel und Wege finden, in ihre Welt des 21. Jahrhunderts zurückzukehren...

 

»Womack spielt genial mit Geschichte und Wissenschaft, um eine Katzenwiege von einer Erzählung zu schaffen, die uns rasch in einen phantastischen Hyperraum entführt.«

- PUBLISHERS’ WEEKLY

 

Mit der Dystopie TERRAPLANE veröffentlichte der US-amerikanische Autor Jack Womack im Jahr 1988 einen Roman, der wie sein Vorgänger AMBIENT zum Klassiker der Cyberpunk-Literatur avancierte.

Der Apex-Verlag veröffentlicht sämtliche Romane des DRYCO-Zyklus als z.T. neu übersetzte Neu-Ausgaben sowie den abschließenden Band GOING GOING GONE als deutsche Erstausgabe.

 

Der Autor

 

Jack Womack, Jahrgang 1956. 

Jack Womack ist ein  US-amerikanischer Schriftsteller, dessen literarisches Hauptwerk - die aus sechs Romanen bestehende Ambient- resp. Dryco-Serie - dem Cyberpunk zugeordnet wird. 

Zu den populärsten Romanen dieser Reihe zählen Ambient (1987; dt. Ambient, 1990), Terraplane (1988; dt. Terraplane, 1991) und Heathern (1990; dt. Heidern, 1993). 

Darüber hinaus veröffentlichte er den Roman Let's Put The Future Behind Us (1996) sowie in erster Linie Kurzgeschichten und Erzählung wie z.B. Out Of Sight, Out Of Mind (1990), Lifeblood (1991), Audience (1997) und The Man Who Saved The 20th Century (2012). 

Jack Womack lebt und arbeitet in New York City.

TERRAPLANE

 

 

 

  1.

 

 

»Einen Toast«, sagte unser Gastgeber und Verbindungsmann Skuratow. Wie die meisten seiner Landsleute protzte er mit Stahlzähnen und erinnerte an einen Kühlergrill, wenn er lächelte. Er hatte uns ins Restaurant Bruderschaft des Geldes in der Gorki-Straße eingeladen. Die erste Ausschmückung in Moskauer Restaurants, welche den Sinnen auffällt, sobald die Augen unter dem grellen Flutlicht von oben entblendet werden, waren die enormen, als Tapeten angebrachten Plakate. Von jedem starrte der längst verweste Diktator seine nachgeborenen Untertanen an, derweil sie speisten. In zwölffarbigen Holographien trug der große Mann Pelze zur Schau, schluckte Kwass, lächelte sein Spiegelbild im frisch gewachsten Lenin-Mausoleum an, streichelte jungen Hunden die Köpfe, trat in die Pedale ungarischer Sporträder und bot Röhrchen mit ganzheitlichen Geheimmitteln an. Und wenn seine Ikone darauf abgebildet war, kauften es die Russen. Stalin verkaufte alles, von Laserdruckern bis zu Strumpfhosen. »Auf den großen General...«

»Spassivo. General im Ruhestand«, erinnerte ich ihn. Aus gutem Grund im Ruhestand. Siebenundzwanzig Jahre Armee erwiesen sich als mehr als genug. Im Geschäftsleben lag nicht weniger Gefahr, aber die Bezahlung war doppelt und dreifach so hoch.

»Selbstverständlich.«

Marx' und Lenins ausdruckslos blickende Gesichter waren auch anzutreffen: in den Büros, auf den Schreibtischen der Apparatschiks, in den Brieftaschen der Mitarbeiter des Ministeriums für Geschichte. Aber diese beiden konnten dem großen Mann nicht das Wasser reichen, wenn es darum ging, Profite herauszuholen. BBDS & S, Drycos Werbeagentur, entdeckte dies durch eine landesweite Motivationsanalyse, die für Krasnaja durchgeführt worden war, während russisch unterstützte Sahraoui-Streitkräfte eine zehnte und endgültige Offensive gegen amerikanisch ausgerüstete Regierungstruppen führten. In dieser Verwicklung verzeichneten wir eine Angleichung der Personalstärke um 275.000 - zufällig identisch mit der Zahl der Leute, die eingesetzt worden waren. Das machte nichts; die Toten und Verwundeten hätten niemals wie die Überlebenden Geld ausgegeben.

»Auf Robert Luther Biggenstaff, den großen General im Ruhestand«, fuhr Skuratow fort und prostete mit seinem Glas Mineralwasser. Ich erhob das meine, betrachtete es gegen das Licht, sah es klar und unverschmutzt wie in einem Bergbach.

»Sa sdorowje«, sagte ich.

»Doswidanja«, sagte Jake, dem eine Sprache genügte. Ich fragte mich, wie Skuratow meinen Partner sah. Auf den ersten Blick machte Jake einen gletscherhaften Eindruck, zeigte sich als etwas unermesslich Kaltes, das alles vor ihm zermalmte. Skuratow lächelte, hörte die falsche Aussprache. Jake wusste, warum er lächelte. Ich schaltete die in mein Jackett genähte MiniCam ein und ließ das Band zurücklaufen. Unser Gastgeber und Fremdenführer trommelte mit den Fingerspitzen Morsezeichen auf das karmesinrote Tischtuch.

AUFNAHMEWINKEL DECKENKAMERA DESTABILISIERT. SCHIESSEN SIE LOS.

»Ein noch junger Mann«, sagte er. »Mit dreißig zum General befördert, nicht wahr?«

»Fünfunddreißig«, sagte ich. »Generalsrang wurde ungewollt verliehen, lebte später damit. Glücksfall.«

»Umschlagrate in Ihrer Armee damals herrlich hoch, sofern Erinnerung zutreffend ist. Wir wissen, dass große Männer ihren Platz in der Geschichte einnehmen und wenig Glück dazu brauchen, sogar in Amerika, wo ihr Negritanskij solche Schwierigkeiten zu ertragen habt...«

Wenig zu ertragen; vor dem Zusammenbruch hatte meine Familie das Geld scheffelweise. Später war der Militärdienst die einzige Methode, zu gedeihen und voranzukommen, und ich trat als Leutnant ein. »Wie Puschkin«, sagte ich. Er leerte sein Glas und hob es.

»Auf alle farbigen Dichter.«

KEINE SPUR ALJECHIN, morste er. Ich drückte Knie gegen Tischunterseite, dämpfte Vibrationen, um überwachsame Zeitgenossen von der Fährte zu bringen. DREI WOCHEN FORT. Solange die Kassette lief, konnten alle falsch gelesenen Äußerungen später im Hotel entschlüsselt werden. Wenn man russische Ohren stopfen wollte, war dies Standardverfahren. In Russland hörte man die Bäume, auch wenn sie nicht fielen.

WO? fragte ich. Solide Tarnung gehörte zu meinem Treffen mit Vertretern unseres russischen Zweigunternehmens Wladimir. Maljuta Skuratow, wie er sich nannte, war unser führender Unterlieferant. Jake war als mein Leibwächter und starker Arm mitgekommen, unverlangt von mir, ein zusätzliches Ingrediens, die Soße zu verderben. Wir trafen nur mit Skuratow zusammen, um Aljechins Versetzung in unsere Abteilung zu bewerkstelligen.

ER WURDE VOM WIND VERWEHT.

»Warum sind wir nicht bemessert?«, fragte Jake und schüttelte sein ansteckungsfrei-gestempeltes und klarsichtverpacktes Gedeck. In seinem, wie in den unsrigen, war nur eine Serviette, Löffel und Gabel mit abgerundeten Zinken. Das Besteck sah wie Metall aus, fühlte sich wie Plastik an, und war eine ungerechtfertigte Allianz von beiden, wie dieser in der Herstellung von Raketenteilen verwendete Feststoff, der immer versagte, wo er am wichtigsten war.

WIR NEHMEN SEINE KOLLEGIN.

»Allzu handlich im Falle von essensfremden Manövern«, sagte Skuratow. Sein dunkler wollener Anzug genügte für den täglichen Gebrauch, aber seine Schuhe verrieten die Lüge, die immer unter der Wahrheit lag: kalbslederne italienische Halbschuhe in Braun und Weiß, handgearbeitet von neapolitanischen Leibeigenen, schmiegten sich um seine Zehen. Seine Familie war von der alten Nomenklatura, die sich nach der Wiedereinsetzung so vollkommen den Krasnaja-Bedingungen angepasst hatte (die Zarin und das Politbüro waren von Krasnaja so abhängig wie der Präsident und das Repräsentantenhaus von uns, Dryco). In jüngeren Jahren - er war in meinem Alter - hatte er zu der Solotaja holodjosch gehört, der goldenen, privilegierten Jugend. »So wird der Glaube zur Regel. Das Risiko widriger Zufälle, verstehen Sie? Russisches Essen ist zart genug, um nicht nach scharfen Utensilien zu verlangen.«

SIE IST WILD UND UNBÄNDIG, EINE STREITSÜCHTIGE PERSON.

Aus seiner weißen Weste zog Jake das Klappmesser und ließ es aufspringen. Offen war es knapp fünfunddreißig Zentimeter lang und schien geeignet zum Bäume fällen. Er schlitzte das Päckchen anmutig auf, als gelte es, etwas bis dahin Unbeflecktes mit einem Muttermal zu versehen, und ließ den Inhalt auf seine Gedeckmatte fallen. Er legte das Messer links neben seinen Löffel.

»Wir hören so viel Interessantes über Jake«, sagte Skuratow und glotzte auf das Messer. Den Frieden zu bewahren, entspricht meinem Naturell; Jakes war es nicht. Unsere Kellnerin kam gerade in diesem Augenblick an den Tisch, zog ihren Taschenrechner aus den Falten ihrer schmutzigen Schürze und machte sich bereit, die Erhältlichkeit von Menüs zu überprüfen. Sofort erkannte sie meinen Akzent.

»Ischo Amerikanski«, sagte sie mit erhobener Stimme, als hätte sie Würmer im Honig gefunden.

»Boschemoi!« Engstirnige Russen fanden die staatliche Politik des Geschäftemachens mit Amerika unvereinbar mit dem seit dreiunddreißig Jahren bestehenden Kriegszustand zwischen beiden Ländern, hielten aber aus Furcht vor Bestrafung den Mund. Krasnaja überwachte jeden und alles: es führte in dazu auserwählten Ländern den Krieg; entschied über die Produktion, verkaufte die Überschüsse; hielt die Erwachsenen bei Laune und machte die Kinder bereit. Die alten Methoden kamen nie an Krasnajas Erfolg heran. Zwei Dutzend Arten von Polizei sicherten die Schicklichkeit; von all diesen Einheiten war die Schnitmilit am problematischsten - wir nannten sie unter uns die Traummannschaft.

VERLIESS DUBNA VOR ZWEI NÄCHTEN. JETZT IN MOSKAU.

»Kein Kaffee?«, fragte ich.

»Sie waschen die Tassen«, sagte sie mit steinerner Miene. Die Russen hassten uns, wie wir sie hassten, zu ähnlichem Zweck und mit gleichem Ergebnis. So dauerte der Krieg an, und Verhandlungen wurden nur nötig, wenn es an der Zeit war, die Beute zu teilen.

HEUTE FRÜH LOKALISIERT. SEITHER KEINE BEWEGUNG.

»In jüngster Zeit hat es viele beschwerliche Versuche gegeben, Waren aus Indonesien einzuführen«, sagte Skuratow. Er zuckte die Achseln. »Nitschewo; da ist nichts zu machen.«

»Was haben Sie, unter den gegenwärtigen Bedingungen?«, fragte ich.

»Armenischen Cognac.« Sie bebrillte sich und befragte ihren Rechner. »Tsinandali-Wein aus Georgien. Milch. Pepsi in hygienischen Mehrwegflaschen. Wodka mit Pfeffer und Zitrone, Wodka mit Büffelgras. Scotch...«

VERSTECKT SICH IM NORDEN DER STADT. SCHLECHTE GEGEND.

»Aus schottischen Qualitätsweintrauben«, sagte Skuratow augenzwinkernd.

SIE HAT ES. UNZWEIFELHAFT.

Er nahm die Hände vom Tisch, zog sie zum Bauch, ließ sie in den Schoß sinken. Sein Gesicht zeigte nur Lachen, aber die Starrheit der Grimasse bezeugte Vorsicht. Ob jemand uns wirklich zu etwas verhelfen wollte, oder ob Skuratow bloß nervös war, blieb offen. Transaktionen innerhalb Russlands waren problematisch; mit Leuten zu schmausen, die einen mit gleicher Leichtigkeit bezahlen oder umbringen konnten, machte jedes Essen unverdaulich, und der Verstand konnte das Ungenießbare nicht mit seinem Sirup übergießen und schmackhafter machen. Mein Chef gedieh unter solchen Verhältnissen. Ich war immer für die Illusion der Ehrenhaftigkeit, wenn nicht für mehr, wenn ich die Wahl hatte.

»Pepsi«, sagte Jake.

»Flasche Tsinandali«, sagte ich.

»Nur im Krug«, sagte sie. Russische Erzeugnisse waren nicht immer in wirtschaftlich abgepackten Mengen erhältlich. Kartoffeln musste man in Zentnersäcken aus den Läden schleppen. In Scheiben geschnittenes Brot wurde meterweise verkauft. Wurden Schuhe benötigt, so sah man sich selbst am besten als Spinne und deckte sich entsprechend ein. Dadurch wurden veraltete Lagerbestände, Überschussproduktionen und Restposten aus dem militärischen Proviantwesen immer wieder abgesetzt, und der Rubel rollte.

»Wann beginnt die Vorstellung?«, rief Skuratow ihr nach, als sie davonstampfte.

»Bald.« Skuratows Backenmuskeln straften sein friedliches Grinsen Lügen, als sie wie unter unerwarteter Schwerkraft zuckten und bebten. Ich überflog die Gesichter im Raum, hoffte zu sehen, wen er ausgemacht hatte. Unter karzinogener Fluoreszenz brachten Schieber die enormen Gewinne in Umlauf, die sie durch die Second New Econ Policy zusammengerafft hatten. NEP II hieß sie offiziell. Fassbäuchige Ukrainer, eingeschweißt in Smokings, stießen mit magersüchtigen litauischen Frauen an. Drahtige Burjäten soffen nach langen Monaten an der Rohrleitung durch die Gobi zur Erholung Cognac. Dunkelhäutige Kasachen und Afghanen, die aussahen, als wären sie jahrelang in Sonnenstudios gefangen gehalten worden, gaben religiöse Grundsätze auf, um mit Hilfe des Alkohols finnische Marktforscherinnen in Miniröcken aufzureißen. Kubaner und Sibiriaken beugten sich über Wirtschaftsblätter, handelten für den nächsten Montag Gewinnspannen aus, handelten in Gerüchten, klopften in Abständen mit den Knöcheln auf den Tisch und spornten die Kellnerinnen mit dem harten Klang goldener Ringe an. Jake und ich, Nichtraucher, saugten ein, was in dem Rauch an Sauerstoff blieb.

Herausgeputzte Krasnaja-Lakaien zierten die Menge, so leicht zu übersehen und so geschätzt wie Steine im Salat. Bis auf einen beäugten sie uns nicht übermäßig. Skuratows Achtung vor ihm war auf dem Tiefpunkt. »Der wachsame Bursche dort drüben ist Kidin«, sagte er. »Grjazni braschnij. So hässlich, dass, wenn er irgendwo zum Fenster hineinschaut, die armen Leute drinnen denken, jemand steige mit dem Arsch voran bei ihnen ein.«

»Ist dieses Thema tatsächlich angemessen?«, fragte ich. Skuratow stellte sich meiner Meinung nach bei seinen Untergebenen übermäßig heraus, so gewohnt war er die höheren Stellen zukommende Handlungsfreiheit. In der Theorie war solches Benehmen unstatthaft.

»Ich will Ihnen Geheimnisse erzählen, die jeder kennt. Vor nicht langer Zeit beaufsichtigte er eine Arzneimittelfabrik in Smolensk. Das Ministerium forderte alle pharmazeutischen Hersteller auf, mehr Penicillin-10-Kapseln herzustellen, um sie in irakischen Flüchtlingslagern zu verteilen. Das Unternehmen in Smolensk erzeugte zum großen Lob der Vorgesetzten Behörden über Nacht das Vierfache der bisherigen Produktion. Es schaffte diese Menge, indem es kein Penicillin-zehn in die Kapseln tat. Russischer Erfindungsgeist kommt dem amerikanischen jederzeit gleich.« In Erwartung eines Gelächters erhielten wir ein glänzendes Lächeln, nicht wärmer als das dabei gezeigte Metall. »Jetzt ist er in der Kontrollabteilung und steigt wieder auf, wie von den Toten auferstanden. Drückt die Scheiße tiefer durch die Gedärme, bis eines Tages alles herauskommt. Ich kenne noch Schlimmeres, was er angestellt hat, also keine Sorge.«

Kidin beobachtete die Kasachen beim Betätscheln warmer finnischer Hüften. Er sah wie ein Typ aus, den ich immer der Desinformation zuteilte; der Blick seiner Augen verriet, dass er niemals würde Freude kennen, solange ihm Wahrheit über die Lippen ging. Zwanzig polierte Medaillen sicherten seine Brust gegen den Segen einer Kugel. Das Plakat über seinem Kopf zeigte Stalin beim Wasserski, gezogen von einem Tragflügelboot. Der Werbetext lautete Jung sein in Jalta.

»Augen und Ohren überall«, sagte Skuratow, streckte die flachen Hände in Richtung Tisch, bereit, wieder anzufangen, wo er innegehalten hatte. »Informanten, die verrückt danach sind, ihren Aufstieg zu fördern, während sie Russland reinhalten. Du beobachtest mich, wie ich dich beobachte, sagen wir. Früher einmal wurde versucht, einen Plan umzusetzen, wonach allen Neugeborenen das nötige sensorische Gerät implantiert werden sollte, um die Arbeit zukünftiger Tage zu erleichtern. Funktionierte nicht. Die meisten starben an...« Er unterbrach sich. Skuratows Englisch reichte aus, doch musste er oft sein Gedächtnis durchsuchen, um eine angemessen unschuldige Wortwahl zu finden - »...Unvorhersehbarkeiten, ja. Die Technologie trägt uns durch den Sumpf, bis wir sinken oder schwimmen, je nachdem. Übrigens entwickelte die Traummannschaft später sowieso produktivere Techniken.« .

Seine Finger traten wieder in Aktion. SICHER JETZT. In Wahrheit war nie etwas sicher. Die Propaganda behauptete, die Traummannschaft wisse, was nicht bekannt sei; sehe, was nicht zu sehen sei. Man nannte sie die Traummannschaft, weil sie Gedanken auffingen, selbst wenn Gedanken nur im Schlaf hervorkamen. Man kannte sie nie; jeder konnte einer von ihnen sein, obwohl sie nicht in Erscheinung traten. Führte man Selbstgespräche, so hörte es die Traummannschaft. Die Spiegelung der Traummannschaft zeigte sich in den Augen der Geliebten; ihre Fingerabdrücke befleckten jede Seele. So, wie gesagt, behauptete die Propaganda.

»Hier erzählen die Bürger unaufgefordert alles, was sie wissen«, fuhr er fort. »Krasnaja hat der Ablehnung der ewig Unzufriedenen vorgebeugt. Das ist mit einem Rückschlag verbunden. Die Leute tun das Rechte, wie ihnen gesagt wird, ohne zu sehen, dass es für sie falsch sein könnte. Im letzten Juni zeigte ein sechsjähriges Mädchen seine Eltern wegen politischer Verantwortungslosigkeit an, und so kamen sie in die Lubjanka.« Er zog sich den Zeigefinger über die Kehle. »Das war fraglos richtig gehandelt. Es folgte natürlich, dass diese kleine Dewotschka ihren Preis für fehlenden Respekt vor lebenswichtigen Familienstrukturen bezahlte. Sie nahm die Strafe mit freudigem Herzen an.«

SIE ERWARTET NOCH KEINE AUFMERKSAMKEIT.

»Welche Bestrafung?«, fragte Jake und beschirmte seine Augen mit der Hand. »Gulag? Neurochirurgie? Dreißig Jahre Zwangsarbeit in der Baikal-Chemie?«

»Für wie grausam Sie uns halten, Jake«, sagte Skuratow und schüttelte den Kopf, als höre er ein Plädoyer. »So etwas wird gewiss nicht getan.« Nach einer Pause: »Sie wurde erschossen.«

ÜBERRASCHUNG WICHTIG.

Gedämpfter Lärm hinter der Bühne verriet, dass die Schau bald beginnen würde. Unsere Kellnerin stieß ihren Servierwagen zwischen den eng gestellten Tischen durch. Als Teller von gerammten Tischen fielen, fuhr ich herum, angespannt, kampfbereit; mit den Jahren stellt sich eine bewusste Kontrolle stets einsatzbereiter Muskeln ein, aber das große Rotlicht löst immer Reaktionen aus. Jake, regungslos, hob die Brauen. Als die Kellnerin uns berechnete, zückte Skuratow die Amexkarte; darauf überließ sie uns das Essen. Er schrieb ein Trinkgeld von fünf Prozent mit auf die Rechnung; sie strich es durch und erhöhte auf zwanzig. Nach kurzer Erhitzung einigten sie sich auf zwölf. Sie quittierte ihm und ging schwerfällig davon.

EINMAL IN SICHERHEIT GEBRACHT, WIRD SIE ANSCHMIEGSAM SEIN.

»Ihr erster Besuch in Russland, Jake?«, fragte er in verändertem Ton. Sein Zigarrenrauch scheute ihn und suchte uns. »Wie finden Sie uns bisher?«

Die Russen waren Meister der Paranoia, ob sie sie erzeugten oder darunter litten. Stets misstrauisch, wie Ausländer sie wahrnahmen, verlangten sie ständige Versicherungen der Wertschätzung, ganz gleich, welche Prahlerei ihre Zungen bewegte. Ich hatte Jake vor unserer Abreise passende Antworten auf solche Fragen nahegelegt, er aber ging ohne Rücksicht darauf vor, mit seiner gewohnten Objektivität; Jake war einer der wenigen, die sich niemals übergaben, weder vor noch nach einer Tötung.

MORGEN UM ACHT UHR DREISSIG. DETSKY MIR, ZWEITER STOCK. Das Spielwarengeschäft; wie passend! Schließlich waren wir hinter einem Spielzeug her.

»Schizo«, sagte Jake. »Ein Gesicht bewegt die Lippen, ein anderes macht die Stimme.«

»Amerikaner sind in ähnlicher Technik genauso bewandert.«

DAVON GEHEN WIR AUS.

Jake lächelte, zeigte faulende amerikanische Zähne. »Offizielle Kanäle und die Parteilinie zeichnen ein altes Bild. Freigesetzte Hirngespinste. Wirtschaft macht gleich. Wirtschaft macht frei. Zuerst der Friede, dann der Profit. Der Triumph der Arbeit, wie die Tradition es verlangt. Luxus, Mode und Vergnügungen, nichts weiter.«

ICH WERDE FAHREN.

»Mythen und Legenden, vom Vater weitergegeben an den Sohn«, bemerkte Skuratow und steckte ein Radieschen von seinem Sakuski-Gericht in den Mund. »Wie in Amerika wird jedes Kind Präsident.« Meine Pirogen, gekocht bestellt, kamen gebraten. Ich wollte sie nicht anrühren. Ein Schauspieler hinter dem Vorhang schrie. Jake drückte die Lider zusammen, als wollte er das Geräusch zerquetschen; er verabscheute Schreie. »Unser Land bleibt der Staat der Arbeiter, heißt es.«

»Eher der Staat der Käufer«, sagte Jake. »Kauf oder stirb. Sieh dich um, Blinder. Jeder Laden, an dem wir vorbeikamen, wimmelte von Kauflustigen. Fliegende Händler an jeder Ecke. Ein einziges Einkaufsparadies.«

»Wohnung ist frei. Ärztliche Versorgung ist frei. Grundbedürfnisse für alle ohne Steuern. Verdientes Geld muss ausgegeben werden, Jake. Die nützlichste Methode zur Beruhigung häuslicher Spannung ist die Anwendung der besten Lösungen zweier Welten.« Skuratow steckte sich ein Stück Saccharin zwischen die Zähne und schlürfte den Tee durch diesen Filter. »Der bourgeoise Liberalismus hat solange einen Sinn, wie spontane Bewegungen minimalisiert bleiben, sagte Lenin, wie wir hören. Ergo, Sozialist-Kapitalismus. Produzenten gehören der Nation. Produzenten verkaufen Ware. Käufer verkaufen Waren an andere Käufer. Ein höchst produktiver Zustand.«

ICH REGLE AUCH DIE FRAGE PERSÖNLICHER EMPFINDLICHKEITEN.

»Und alles Geld kehrt zurück zu Krasnaja«, sagte ich.

»Krasnaja investiert im Großen. Andere investieren im Kleinen. Mit der Zeit wird kleines Geld groß. Gründlicher Erfolg.«

»Schafft glücklichere Bürger.« Ich schraubte die Kappe von meinem Krug und füllte ein Glas mit Wein. Das glatte Gift von Firnis schellackte meinen Mund. Die schuldigen Trauben mochten georgischen Ursprungs gewesen sein; der Abfüller dieser großen alten Marke war Stolitschnaja, eine Tochter von Wladimir, einer Tochter von Dryco. Dryco - unser Unternehmen - überzeugte mich, dass es an der Zeit sei, in den Ruhestand zu treten, um dem Unternehmen im Geiste zu dienen, nachdem ich ihnen im Fleische gedient hatte, seit ich in Stiefeln herumlief.

»Dass einige eher glücklich und reich werden als andere, ist unvermeidliche Fehlfunktion eines nahezu vollkommenen Systems«, sagte Skuratow. »Schließlich erreichen die Segnungen alle Mitglieder der Gesellschaft.«

»Wunderbare Theorie.«

»Vor vielen Jahren auch in Amerika populär, nicht?«, sagte er und legte das Saccharin wie einen gezogenen Zahn auf seinen Teller. »Hier funktioniert sie. Neue Techniken befriedigen lange zurückgestellte Bedürfnisse. Die russische Bevölkerung hat jetzt Geld, um hochwertige Erzeugnisse zu kaufen, die endlich in Fülle erhältlich sind.«

»Sie müssen kaufen«, sagte Jake und drehte sein Klappmesser zwischen den Fingern, als könne er nicht erwarten, es einzupflanzen. Bürger, die ihre monatlichen Einkaufsquoten nicht erreichten, erhielten Besuch von der Verbraucherpatrouille. Wurde diese mit dem Problem nicht fertig, regelte es die Traummannschaft.

»Amerikaner, die unser Land zum ersten Mal besuchen, finden es immer schwierig, sich von ihrer Beeinflussung durch jahrelang gehörte Propaganda zu befreien, selbst wenn ihnen die Fakten mit der Schaufel um die Ohren geschlagen werden«, sagte Skuratow. »In Amerika ist die Propaganda besser, ja?«

»Sie sind seit zehn Jahren nicht dort gewesen«, sagte ich.

»Russland und Amerika sind beide blutige Länder«, sagte er stirnrunzelnd. »Wir übertragen unser Blut. Ihr vergießt das eure. Eines Tages werdet ihr lernen, wie wir es taten.«

ABHÖRDIENST LIEFERTE HEUTE MORGEN NEUE INFO.

Der Vorhang hob sich. Die Beleuchtung wurde heller. Anstelle des Orchesters hing eine schlaffe Gestalt über einen Synthesizer, kratzte sich, knackte mit den Knöcheln.

»Einen Toast. Sa sdorowje!«, rief Skuratow, hob sein Glas, stieß mit mir an und rieb es an Jakes Pepsi. »Morgen machen Sie Geschäfte im besten Geschäftszentrum der Welt. Auf Wladimir.«

VORRICHTUNG IST WAHRSCHEINLICH NICHT WAFFE ALS SOLCHE.

WAS?, klopfte ich.

MÖGLICHERWEISE ÜBERTRAGUNGSGERÄT.

Es gab kein eigentliches Bühnenbild. Zwei vergilbte Plakate von New Yorks Stadtsilhouette hingen an der Rückwand; in der Mitte der Bühne erhob sich eine grüne Freiheitsstatue aus Kunststoff. Die Dramaturgen waren offenbar entschlossen, das Publikum sofort mitzureißen; ihre Produktion - West Side Story - wurde mit America eröffnet.

»Lieder in Originalsprache, um Textreinheit zu erhalten«, bemerkte Skuratow.

ÜBERTRAGUNG WOHIN? klopfte ich.

WOHIN ALJECHIN GING.

Die puertoricanischen Mädchen trugen Nonnenkleidung und schwenkten Fähnchen, und kamen möglicherweise aus einem Kloster, um die Konversion der männlichen Tänzer zu versuchen, Burschen aus Sachalin, die mit Schuhwichse eingerieben waren, um tropischer zu erscheinen. Die im Hintergrund prallten wiederholt zusammen, als folgten sie der Anweisung des Choreographen. Der Mann am Synthesizer, Ikonoklast des Orchesters, entlockte seinem Gerät den Klang von sechzig Instrumentaleinheiten.

»Sie haben den Text durchlöchert«, flüsterte ich Skuratow zu, als ich merkte, dass ein abgewandeltes Libretto verwendet wurde.

»Urheberrechtsschutz abgelaufen«, erläuterte er. Die Frauen rissen sich die schwarzen Kutten herunter und paradierten von da an in glitzernden Pailletten, ohne die Kopfbedeckungen der Nonnentracht abzulegen. Sie verbeugten sich vor dem Publikum und wackelten mit den Hinterteilen. Russen liebten es, Quadratmeter Fleisch in Quadratzentimeter Stoff zu stecken und das Ergebnis zu studieren.

»Was für Agitprop ist dies?«, fragte Jake, außerstande, seinen Blick von der Vorführung abzuwenden. Eine der Nonnen schwang sich an einem Seil über die Bühne und fällte die Freiheitsstatue, als sie ihr Ziel traf.

»Muschiki!«, ertönte ein Ruf von rückwärts. Auf dieses Alarmzeichen hin kam Jake in Bewegung; wir waren auf den Beinen, bevor es splitterte. Ein Mongole schmiss leere Flaschen auf den Boden. Bevor seine Flaschenscherben Eindruck machten, begruben die Rausschmeißer ihn unter ihrer Tonnage. Die Nonnen auf der Bühne wickelten junge Männer um sich, als wollten sie sich warmhalten. Das Lied endete mit einem atonalen Schlag. Das Publikum - auch Skuratow - stand auf und applaudierte.

»Alles war beabsichtigt?«, fragte ich.

»Was denn sonst?«, sagte Skuratow und setzte sich mit wachsamem Ausdruck. Kidin wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Kasachen zu. Die Akteure der nächsten Nummer kamen auf die Bühne. Tony schien in dieser Inszenierung nicht von störender polnischer Abstammung zu sein. Marias mahagonibraunes Make-up stach von ihren blonden Locken ab. Keiner von beiden tanzte; von guter Stimme, sangen sie Eine Hand und ein Herz. Das Murmeln des Publikums verdrängte den Beifall. Jakes Gesicht strahlte wie von innen beleuchtet. Eine Träne tropfte aus seinen kohlschwarzen Augen. Sein pockennarbiger Ausdruck war starr fixiert; er hätte im Zoo gewesen sein können und Entenküken beim Spiel zugesehen haben, oder diesem kleinen Mädchen, von dem Skuratow erzählt hatte, beim Hinstürzen, als das Echo verhallte. Hypnotisiert verfolgte ich diese Träne auf ihrem Weg über seine Wange in Dunkelheit. Es war, als sähe man einen Panzer weinen.

»Ochen krasiva!« Jake, aus seiner Trauer gerissen, wandte sich um; der Kommentator wurde bereits von den Rausschmeißern bedrängt, die ihn wie einen Baum erwürgenden Ranken umschlangen. Kidin merkte auf; zusammen mit den anderen Krasnajawiki nutzte er die Ablenkung, um aufzuspringen und die Kasachen mit ihren schweren Knuten zu verprügeln. Die Spannung im Raum gipfelte. Die letzten Takte des Liedes gingen unter in gebrüllten Flüchen und zerschellendem Steingutgeschirr.

»Khulighani...« Gewehre tauchten auf, wurden entsichert, aber nicht abgefeuert. Die Darsteller traten zum Bühnenrand vor, das Nachtclub-Programm zu sehen.

»Ein köstliches Abendessen«, sagte Skuratow und erhob sich. »Wollen wir?«

Wir drängten durch die Menge, traten auf die Gefallenen, wenn nötig, bis wir hinauskamen. Zwischen innen und außen verschwanden fünfzig Grad. Meine Lungen raschelten wie Papier, als ich einatmete. Schnee puderte die lange Schlange der auf Einlass Wartenden.

»Sie wohnen wo?«, fragte Skuratow und steckte die Hände in pelzige Taschen. Schlank wie er war, wirkte er in seinem pelzgefütterten Mantel dreihundert Kilo schwerer. Wenigstens zwei Bären hatten ihr Leben lassen müssen, um seine letzten Jahre zu wärmen.

»Sheraton Kreml«, sagte ich. »Am Kitajski Prospekt.«

»Nicht im Moskwa?«

»Meine Entscheidung.« Eine Feuerfalle; außerdem zu auffällig.

»Ich biete Ihnen angenehme, warme Fahrt.« Der Wind narbte uns. Skuratows Dienstwagen, ein Tschaika, war am Tschudosjestwanogo-Theater-Prospekt abgestellt. Russische Wagen ähnelten den amerikanischen; Fabriken der Gorki-Detroit bauten und lieferten in beiden Ländern, Beispiel eines seltenen Gemeinschaftsunternehmens. Tschaikas, Krasnajas bevorzugtes Fahrzeug, bewahrten die Formgebung der Zeit vor vierzig Jahren. Die Zarin, das Politbüro, führende Krasnajawiki und alte Helden des Volkes, in schwachen Augenblicken alle anfällig für nostalgische Regungen, fuhren Tschaikas.

»Schauen Sie. Vielleicht sollten wir solch ein Vergnügen nicht unterbrechen.« Der Chauffeur lag zurückgelehnt auf den Rücksitzen und sah im Bordfernsehen einen Film. Eine Wodkaflasche, nur mit Luft gefüllt, lag neben ihm. »Raus!«, rief Skuratow und riss den Schlag auf. »Tun Sie Ihre Pflicht!« Der Chauffeur purzelte heraus, stahl sich frontwärts davon. »In zehn Minuten sind wir am Ziel.« Aber mit seinem Fernsehzeitvertreib hatte der Chauffeur die Batterie entladen. Als er von Leerlauf auf Fahrt schaltete, würgte er den Motor ab. Erneuerte Anlassversuche machten die Maschine winseln, als ob sie geschlagen würde. Selbst in meiner Militärzeit hatte ich mich nur zweimal fahren lassen, bei Staatsbegräbnissen. Ich fühlte mich am Lenkrad sicherer.

»Machen wir einen erfrischenden Spaziergang, dann«, murmelte Skuratow, aussteigend. »Wir setzen uns in die bequeme Hotelhalle und lassen einen neuen Wagen kommen. Dieser Zek mag dableiben. Bis morgen früh wird er sich die Eier abfrieren. Kommen Sie!«

Vom nächsten Hotel ließen wir einen Wagen bestellen und stiegen ein. Eisblumen sprossen über die Windschutzscheibe, als wir die Gorkistraße hinunterfuhren. Nach Sonnenuntergang kam es zu einer Spaltung unter den Moskauer Straßen. Krasnaja sperrte und patrouillierte alle Avenuen, wo Regierungsbehörden, die Wohnhäuser hochgestellter Persönlichkeiten, Banken und größere Geschäfte waren. Die Gorkistraße, breit genug, dass fünf Panzer Kette an Kette durchfahren konnten, gehörte der diesseitigen Welt an und lieferte die ganze Nacht Unterhaltung. Es hätte Mittag sein können, so bevölkert und verkehrsreich war der Boulevard. Die meisten Läden in den Hauptstraßen folgten dem 7/24-Plan und waren immer geöffnet, um der unaufhörlichen Nachfrage gerecht zu werden. Bürger strömten wie in einer Zwangsparade vorüber, viele schoben Einkaufswagen, die von Kühlschränken, Waschmaschinen, Videorecordern, Kopiergeräten und allen anderen Arten von technologischem Treibgut überquollen. Der Blick in ihre verschwollenen, blutunterlaufenen Augen verwirrte. In allen Ländern, die ich mit meiner Anwesenheit belästigt hatte, war in den Gesichtern von Flüchtlingen der nämliche Ausdruck gewesen, wie ich ihn bei diesen Menschen fand, die nur zum Schnaufen und Rennen fähig schienen, von uns gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und durch die Straßen zu laufen, bevor die andere Mannschaft, zielstrebig und zeitknapp, sich daran machte, ihnen die Tage zu stehlen.

»Was erfordert das Anstehen?«, fragte Jake, als er vor einem Laden eine Warteschlange sah, die sich sechzig Meter lang die Gorkistraße bis in die Belinskogostraße hinzog. »Brot?«

Skuratow überflog die Plakate an den Schaufenstern. »Elektronische Lebensmittelneubildner.«

Mit solch einem Gerät konnte man Sägemehl in Brot verwandeln; Staub gänzlich umgestalten zu Gewürz. Solange die Maschinen funktionierten, konnten sie aus allen möglichen organischen Abfallstoffen Brauchbares herstellen. Wie alle anderen Länder, verkaufte Russland Waren eigener Erzeugung im Tauschhandel auf dem Weltmarkt, beglich mit dem Erlös Schuldzinsen und kaufte benötigte Waren. Unter der Aufsicht Krasnajas hatte sich die Effizienz des Systems zweimal verdoppelt. Peru brauchte keinen Kaviar im Austausch für Guano, aber das war es gleichwohl, was die Anden als Gegenlieferung erreichte; den Binnenmarkt lenkte Krasnaja mit der gleichen gerechten Vernunft. Für jeden fertiggestellten Odomowana-Geschirrspülautomaten fanden vierzehn DL 50-Mörser Aufnahme in die Inventarlisten der Zeughäuser; für jeden Tschaika, der vom Band rollte, wurden dreißig Turgenjew-Raketenwerfer ausgeliefert. Krasnaja beherrschte und kontrollierte alles und sorgte so dafür, dass alle Bürger, wenn nicht glücklich, so doch still waren.

»Eine wunderschöne Nacht«, sagte Skuratow, als er auf dem sandbestreuten Eis des Bürgersteigs ausglitt. »Die Sterne sind in unserer Hemisphäre so klar zu sehen.«

Spatzen saßen zu Hunderten auf den Gittern der U-Bahn-Entlüftungsschächte und wärmten ihr durchgekühltes Gefieder. Rote Sterne krönten die Kremltürme voraus, wie sie es seit hundert Jahren taten, unverdrossen neben den neun angestrahlten Kuppeln der Blagowjestschenskij-Kathedrale, dem Fernsehturm und der dreizackigen Dachbekrönung des Hotels Moskwa. Die Natur gab Moskau insgesamt wenig Licht; Krasnaja kompensierte das. Rote Neonröhren umrissen zu beiden Seiten der Gorkistraße die Form jedes Gebäudes. In Straßenmitte zwischen den Fahrbahnen standen langbeinige Metallkäfer auf Zehenspitzen und balancierten auf ihren Rücken riesige Bogenlampen ähnlich denen, die wir in unseren Lagern verwendet hatten; die Lampen waren so heiß, dass Vögel, die versehentlich hineinflogen, verdampften. An jeder zweiten Ecke durchschnitt ein Scheinwerfer den Himmel. Fluoreszenz und Plasmalicht und Argon-Gas leuchteten von jeder Fassade; Hologramme und Bildschirme stellten gewaltige Mengen käuflicher Waren zur Schau. In Leuchtschrift gebildete Werbeaussagen begnügten sich nicht mit der Wiederholung pedantischer Botschaften oder antiamerikanischer Formeln, sondern sendeten statt ihrer die Standard-Litanei der Welt in die Nacht hinaus: Trinkt Pepsi. Nimm Bulat. Sie haben es verdient, hier ist es. Einige Wendungen sah man nur Russland. Eine lautete: Wir wissen, aber sagen Sie es uns. Ein gigantischer Bildschirm verdeckte acht Stockwerke und zeigte nichts als ein starres Porträt des großen Mannes, im alten Stil so geschickt gezeichnet, dass er Gottvater glich. Die Augen folgten uns nicht, als wir vorbeifuhren, aber wenn man schuldig war - und das war man immer -, dachte man unweigerlich, dass sie es täten. Darunter lief in Leuchtschrift ein sich ständig wiederholender Text: JUBILÄUMSWAHNSINN IM MÖBELMARKT GRIGORENKO. Das Jubiläum hatte schon vor drei Monaten stattgefunden.

»Stalin wsegda s'nami«, sagte Skuratow aufblickend, gefeit gegen die Verlockung.

»Wie bitte?«, fragte Jake.

»Er ist immer mit uns«, dolmetschte er. »Das ist furchtbar schwierig mit unserem neuen beiderseitigen Freund.« Seinem Blinzeln und Zwinkern entnahm ich, dass wir einstweilen unbesorgt sprechen konnten.

»Inwiefern schwierig?«, fragte ich. Meine Lippen waren von der Kälte so steif, dass ihre unbestimmte Bewegung nichts verraten konnte.

»Krasnaja kennt den Wert der Symbiose. Der große Mann dient unseren Zwecken, solange seinesgleichen nie wieder auftritt. Aber unsere Freundin ist - wie sagt man? Retrovertiert. Unnatürliche Liebe zur Vergangenheit. Kommerzielle Verkaufsförderung gesehen als Darstellung hoher Wesen, statt als Opium für nützliche Idioten.«

»Das problematickte?«

»Gewiss. Sie glaubt, er sei...« Skuratow tanzte über mögliche Erklärungen. »Auf ihn steht sie am meisten, sagten wir als Halbwüchsige. Ich selbst war großer Fan von Abba und Ihrem Dean Reed. Unsere Politik wirkt bisweilen allzu gut.«

Die Zarin diente als Galionsfigur eingebildeter öffentlicher Zuneigung, doch niemand wusste, niemanden kümmerte es, wie sie sich manifestierte; aber jeder Trottel kannte jede Pore im Gesicht des großen Mannes.

»Aufgepasst!«, sagte Jake und zog uns näher, als ein Mann weiter vorn in vollem Lauf über die Straße rannte, zwei andere auf den Fersen. »Politische?«

»Tschuschmiki«, sagte Skuratow. »Asiatisches Gesindel.«

Moskau war nicht gefährlicher als irgendeine amerikanische Großstadt. Zwischen dem Hotel und Marx-Prospekt fuhren wir sechs Blocks und sahen sieben Fälle von Straßenraub, drei gewalttätige Auseinandersetzungen und etwas aus der Grauzone, halb gewaltsame Entführung, halb Überredung. Solange keine politischen Verstöße zu verzeichnen waren, wurde auf unkontrollierten Straßen alles beobachtet und nichts verhindert. Obwohl ihre Fahrzeugsirenen unaufhörlich ihr synthetisches Schweine-Quietschen durch die Nacht sandten, störte keine Polizei - noch die Allgemeine Miliz, die Krasnaja-Wache, die Verbraucherpatrouille, die städtischen Druschinjas, die Ochrana, und ganz gewiss nicht die Traummannschaft - das freie Unternehmertum der Strolche. Wie in Amerika, war es einer von Russlands ungezählten Reizen, dass man ohne Grund ermordet werden konnte, und nicht einmal Gott würde es bemerken, geschweige denn sich etwas daraus machen.

»Wir nehmen hier die Unterführung«, sagte Skuratow und hielt vor einer Treppe, die zu einem Fußgängertunnel unter der Straße führte. Ich erwog situationsbedingte Inhärenten. »Wir werden dem schrecklichen Verkehr auf dem Marx-Prospekt entgehen. Folgen Sie.«

Die knochenweißen Wände des Tunnels schienen niemals die menschliche Berührung erlitten zu haben. Verborgene Entlüftungsöffnungen an beiden Enden lenkten den von oben durchbrausenden, schneidenden Wind ab; die Beleuchtung kauerte im Winkel zwischen Decke und Wand. Als wir etwa in der Mitte waren, marschierte jemand die rissigen, fleckigen Stufen herunter, die wir zu erreichen suchten.

»Mögliches Problem«, sagte Skuratow. Der neu Erschienene trug karierte Hosen, eine Schiebermütze und einen knielangen lederartigen Mantel und sah wie ein Bewohner der südlichen Gebirgsländer aus, vielleicht ein Armenier. Auf fünf Meter Entfernung zog er eine langläufige, metallisch-blaue Omsk .44 hervor, ein Fabrikat, das nur durch offizielle Kanäle zu haben war. Die meisten russischen Schusswaffen, die in die Hände der Bürger gelangten, waren Spielzeug, wertlos selbst wenn brauchbar, und in jedem Fall illegal. Eine Omsk konnte mit etwas Glück ein kleines Flugzeug abschießen.

»Ein Verteidiger der Öffentlichkeit«, sagte Skuratow. Das war der Jargon der Einheimischen für derartige Strolche. »Dies könnte der letzte Augenblick sein, Freunde. Bitten Sie um Gnade, wenn Sie wollen.«

»Zdrastje«, sagte der Mann mit fröstelnder Stimme. »So schöne Kleider. Ausziehen, bitte.« Sein Russisch war unzulänglich, seine Handgelenke, wo sichtbar, waren nicht dicker als die Rohre der Rohrpost. »Runter damit!« Skuratow ließ seinen Schuba von den Schultern gleiten, warf seine Persianermütze darauf.

»Tun Sie, was verlangt wird«, sagte Skuratow und sah mich ruhig an. »Wenn wir nicht leben, wird es nichts ausmachen, ob wir erfrieren.«

»Es wird«, sagte Jake. Er zog seinen leichteren Mantel aus und zeigte den weißleinenen dreiteiligen Anzug, den er das ganze Jahr trug. Er stand in ängstlicher Ehrerbietung, als ob ihm die Nationalhymne durch den Kopf brauste. Jake war nicht groß, obwohl er den Eindruck erweckte; war nicht langsam, obwohl er sich so bedachtsam bewegte, dass er ständig in Gelatine zu gleiten schien; war nicht dumm, obwohl man leicht zu dem Schluss gelangen konnte, bis man ihn zu kennen glaubte. Er wirkte überhaupt nicht gefährlich.

»Ausziehen! Bitte gehorchen Sie, bitte.«

Unser Terrorist schien entnervt und amateurhaft; eine Verzögerung mochte unserer Sache dienlich sein.

»Was gibt es, Freund?«, fragte ich auf Türkisch, einer Sprache, die Skuratow und Jake unvertraut war, aber nicht ihm, wie ich vermutete.

»Bruder aus Asien«, erwiderte er in derselben Sprache. »Ich bedaure.« Interessant, aber noch bevor mehr geschehen konnte, hob Jake den Fuß und stieß dem anderen die Pistole aus der Hand, dass sie durch den Tunnel klapperte. Der Mann schrie auf und ergriff die Flucht.

»Schrei nicht so!«, schrie Jake, dass seine Stimme durch den Fußgängertunnel hallte. Wie ein Racheengel jagte er dem Fliehenden nach, sprang und stieß ihm den Absatz zwischen die Schulterblätter, dass er wie ein gefällter Baum hinschlug. Jake wälzte ihn mit dem Stiefel auf den Rücken, dann holte er aus und schlug hart mit der Faust gegen den Adamsapfel. Der Bursche schlug mit Armen und Beinen, Krämpfe verzerrten seine Züge. Aus der Nähe gesehen, konnte er nicht älter als zwanzig Jahre sein; erinnerte mich an einen meiner vielen gefallenen Sergeanten. Jake kniete neben ihm, wie um zu beten, strich dem Jungen das lange Haar aus der Stirn.

»Gehen wir«, sagte Skuratow, der sich wieder seines Mantels und der Pelzmütze bemächtigt hatte. »Sie sind, was wir gehört haben, Jake. Kommen Sie jetzt. Babuschki werden am Morgen ausfegen, bevor die Pendler kommen. Verlieren wir keine Zeit.« Seine Stimme verriet keine unvernünftige Gefühlsregung.

»Warten Sie.« Jake wirbelte die erbeutete Pistole zweimal um den gestreckten Zeigefinger, um die Balance zu prüfen.

»Lassen Sie ihn«, sagte Skuratow. »Er kann über die Irrtümer seines Lebens nachdenken.«

»Nicht nötig, überlang zu leiden«, sagte Jake und entsicherte die Waffe. Er drückte Daumen und Finger von beiden Seiten gegen den Unterkiefer des Jungen, öffnete ihm so den Mund und steckte den Lauf hinein. »Tut's weh?«, fragte er mit leiser Stimme, als beichte er einer achtlosen Mutter. »Hier. Frieden.«

Ich schloss die Augen; im Ruhestand ist es nicht mehr erforderlich, dass Gewalt überwacht werden muss. Der Luftstoß war so laut wie der Schuss, als der Atem des Jungen den Körper verließ. Vielleicht hatten mich zu viele Kampftage unwillig gemacht; vielleicht hatten zu viele Beseitigungen in Jake einen Hunger nach mehr erzeugt. Als ich die Augen wieder aufmachte, sah ich ihn das spitzenartige Muster von Blut unter dem Kopf des Jungen betrachten, die fransigen Blütenblätter des Gehirns, als gelte es Form und Beschaffenheit zu begutachten.

»So hübsch«, flüsterte er.

Weniger Blut rötete Skuratows Gesicht; er sah aus wie einer, der die Waldschnepfe gehört hat, wie das russische Sprichwort lautete. Nach Russland reisen hieß eine Welt betreten, die nur ungefähr mit der bekannten übereinstimmte, eine Welt, deren Logik verlangte, dass Samenkörner im Sand gedeihen, und dass daraus gewachsene Pflanzen richtig aussehen, wenn man ihre Farben mit dem Pinsel natürlicher nachmalt. Hatte er es erwartet? Ich entschied mich dagegen. Es gab keinen tieferen Grund für ihn, dass er uns im Laufe der Jahre so gut gedient hatte. Subtilität war alles; uns in diesem Tunnel erledigen zu lassen, wäre nicht subtil gewesen.

»Was hat er gesagt, Luther?«, fragte Jake und steckte die Omsk für zukünftige Lustbarkeiten ein. Einiges Gemurmel befriedigte seine Neugierde, als wir das Hotel erreichten und uns bis zum nächsten Morgen von Skuratow verabschiedeten. Zu selten hatte ich Männer wie Jake mit mir im Kampf gehabt - über Mexiko, auf Neuguinea, entlang der türkischen Küste; Johnson war in den alten Tagen mit mir in den marsähnlich verwüsteten Dünenfeldern Long Islands gewesen und Johnson war der einzige gewesen, der Jakes Ebene nahegekommen war. Dennoch hätte ich nur mit Jake an meiner Seite immer gewonnen.

 

 

 

 

 

  2.

 

 

 

Jake schlief und sah nicht gefährlicher als eine junge Kobra aus. In dieser Nacht wartete ich, bis er im Bett lag, bevor ich Fernsehmonitor und Telefon anschloss. Durch die Anweisung zur Unterdrückung von Fremdsendern leuchtete der Bildschirm fahlweiß, eine Erleichterung, für die ich dankbar war. Die Medienanschlüsse unseres Zimmers waren wie in allen russischen Hotels, in amerikanischem Besitz oder nicht, fest eingestellt und konnten normalerweise weder ausgeschaltet noch in der Lautstärke verändert werden, so dass die Fernsehwerbung zumindest unterschwellig in das müde Unterbewusstsein des schlafenden Reisenden eindringen konnte. Dass das Telefon angezapft war, machte keinen Unterschied. Ich setzte Kopfhörer auf, hakte das Zerhacker-Gerät an meinen Kragen, gab die Codenummern ein, und bekam Verbindung mit Alice, dem Computer meiner Firma in New York. Unverfälschte Info war das Gebot, und wenn Alice sie nicht hatte, hatte sie niemand.

»Alice«, sagte ich. »QL 789851ATM, Sicherheitsklausel. Nur geschlossener Kanal.« Ozeanblau überspülte das Weiß auf dem Bildschirm.

»Alles gesichert«, kam ihre Kunststimme über den Äther. »Ich war im Zweifel, ob Sie senden könnten, Luther. Haben Sie entschieden, wie ich von Nutzen sein könnte?«

»Ich brauche Info über Oktobrjana Ossipowa. Wohnort ist die Stadt Dubna. Gegenwärtiger Aufenthalt unbekannt. Möglicherweise Novy Marina Roschja, Straße unbekannt. Krasnaja-Akte 932.000.5441...«

»Moment bitte.«

Ich hörte ein unerwartetes Knarren, drückte mich gegen die Stuhllehne und hielt den Atem an. Jake lag totenstill, die Ohrknöpfe seines Taschenrecorders eingesteckt, und ließ sich von den alten Klängen, die er schätzte, das schlafende Hirn massieren. Aus den Kopfhörern drangen keine anderen Liedtexte als diejenigen Robert Johnsons, des Bluessängers aus dem vorigen Jahrhundert. Ich bildete mir ein, seine Worte als winziges Gewisper zu vernehmen:

 

»I sent for my baby - and she don't come...«

 

Das Knarren wiederholte sich nicht. Geräusche des alternden Gebäudes, befand ich, obwohl die Wandrisse nicht tiefer aussahen. Das Schnurren von Kameras, die unsere Untätigkeit aufzeichneten, wurde einem so vertraut wie das Schnurren einer Katze, solange man sich aus dem Aufnahmebereich heraushielt.

»Luther«, sagte Alice nach fünfminütiger Abwesenheit. »Krasnajas Datenspeicher sind nur durch örtliche Abrufcodes zugänglich. Das erklärt meine Verzögerung.«

»Hatten sie übermäßige Hindernisse eingebaut?«

»Falsche Überschriften, Standard-Codes, die üblichen Schikanen. Auch hatten sie ihre Akte ziemlich tief vergraben.«

»Was geht daraus hervor?«

»Oktobrjana Dimitrijewna Ossipowa erhielt Unterricht in einer besonderen Studiengruppe an der Fakultät für Physik und Mathematik. Während sie dort an der Moskauer Staatsuniversität studierte, belegte sie außerdem Kurse am Lumumba-Institut und studierte den Einsatz der Wissenschaftstheorie zu politischen Zwecken. Ein fruchtbares Feld, wie wir wissen.«

»Keine Leitartikel, Alice.«

»Ihre Doktorarbeit über Lyssenko wurde nie veröffentlicht, da sie zwar annehmbar, für Krasnajas Zwecke jedoch völlig ungeeignet war. Kopien werden bis heute unter Pseudonym durch das Samisdat-Netzwerk vertrieben. Nach der Graduierung wurde sie dem Leningrader Förderprogramm für ausgewählte Dienste zugeteilt und erwarb dort Doktortitel in theoretischer Physik, technischem Umweltschutz und neurologischer Bioanpassung.«

»Bio«, wiederholte ich. »Ist das, wie man erreicht, dass Schweine im Dunkeln leuchten?«

»Was ihre Doktorarbeit auf diesem Gebiet betrifft, so erzeugte sie das rekombinante Genplasma, das Neurofibromatose eliminiert. Ihre Doktorarbeit in Physik ist eine Studie der militärischen Anwendungsmöglichkeiten von Tesla-Transformatoren, die unveröffentlicht bleibt.«

»Was ist ein Tesla-Transformator?«

»Ein Luftkern-Transformator mit Primär- und Sekundärwicklung, die ein Resonanzsystem bilden«, sagte sie. »Er wandelt Niedrigfrequenz-Wechselströme in hochfrequente Wechselströme um.«

»Bitte verständlicher, Alice.«

»Der Tesla-Transformator erzeugt hochfrequente Wechselströme hoher Spannung. Kleine Transformatoren dieses Typs sind heute weithin gebräuchlich, obwohl das Prinzip seit mehr als hundert Jahren bekannt ist. Der Erfinder, Nikola Tesla, war ein brillanter Wissenschaftler, der jedoch dazu neigte, Theorien zu entwickeln, die der praktischen Anwendung um Jahre voraus waren. Eine seiner Ideen betraf den Einsatz von Wicklungen enormer Ausmaße, die von hohen Türmen getragen werden und durch Resonanz elektrische Energie nicht nur aus der Luft, sondern aus der Erde selbst ziehen sollten, um so eine immerwährende Energiequelle zu schaffen. In der Theorie ließe sich daraus aber auch ein potentielles Instrument von enormer nichtnuklearer Zerstörungskraft machen. Ich folgere aus alledem, dass sie besonders an diesem Konzept arbeitete.«

»Was gibt es noch?«

»Sie ist ausgebildete Flugzeugpilotin mit sechstausend Stunden Flugpraxis, eine begabte Künstlerin mit einem feinen Blick für Perspektive, treibt seit ihrer Jugend Gymnastik. In allen Schulen, die sie besuchte, bekam sie in sämtlichen Fächern Bestnoten. Eine einzigartige Leistung, wie es scheint.«

»Bitte ihr Bild, wenn vorhanden.«

Im Blau des Bildschirms entstand ein Bild. Oktobrjana Ossipowa stand auf dem Roten Platz. Es war Sommer, nach ihrer leichten Bekleidung zu urteilen; sie war als eine sehr junge Frau dargestellt. Ihr dunkles Haar war hinten kurz, vorne lang geschnitten. Das Gymnastiktraining war an ihren überentwickelten Schultern, den muskulösen Schenkeln und den hohen, runden Pobacken abzulesen. Es war schwierig, ihre Größe zu taxieren, doch schätzte ich sie auf nicht mehr als einsfünfzig. »Gibt es keine aktuelleren Aufnahmen?«

»Dieses Bild ist beinahe neu«, sagte Alice. »Es wurde vor zwei Jahren aufgenommen, als sie einundzwanzig war. Abhängig vom jeweiligen Testdatum, lässt sich ihr IQ zwischen 253 und 280 einordnen, ohne daraus automatisch die Folgerung zu ziehen, dass solche Ergebnisse Anzeiger empirischer Intelligenz sind.«

»Warum ist sie mit diesen Fähigkeiten nicht ganz oben, in der Akademie der Wissenschaften und so weiter?«

»Vorurteile«, sagte Alice. »Sie ist eine Frau - und obendrein Georgierin. Aber maßgebend für ihre gegenwärtige Situation ist eher, dass ihre politischen Ansichten auf mehreren Gebieten entschieden von der Linie Krasnajas abweichen, wenn auch nicht so sehr, dass Verbannung oder andere drastische Maßnahmen gerechtfertigt wären. Im Anschluss an einen nicht näher bekannten Zwischenfall wurde sie vor zwei Jahren nach Dubna geschickt und erhielt eine Stelle als Assistentin von Professor Aljechin. Ich vermute, dass man mit diesem gütlichen Vergleich die bestehenden Differenzen zu entschärfen suchte.«

»Was gibt es an Unterlagen über Experimente?«

»Nichts.«

»Es muss welche geben.«

»Es gab welche.«

»Was soll das heißen?«, fragte ich.

»Unterlagen, die auf Experimente während der zwei letzten vergangenen Jahre haben, wurden so eingespeichert, dass nicht einmal Krasnaja die darin enthaltene Information aufdecken konnte.«

»Unmöglich.«

»Offensichtlich nicht. Mittels unbekannter Methoden wurden geheime Eintragungen gespeichert und durch ein bemerkenswert komplexes Verschlüsselungsprogramm gesichert. Der verwendete Code veränderte sich, wenn von außen Entschlüsselungsversuche unternommen wurden. Ich knackte das System in einer Minute und einunddreißig Sekunden, und während dieser Zeit veränderte sich der Code einhundertachtmal, um ein Eindringen zu blockieren. Als ich schließlich durchkam, löschten sich alle gespeicherten Eintragungen selbst in Übereinstimmung mit Programmanweisungen.«

»Alle verloren?«

»Alle«, sagte Alice.

»Noch eine Frage: Ist die Traummannschaft über unsere Anweisungen informiert?«

»Selbstverständlich. Wir machen weiter wie bisher. Die Traummannschaft ist die unfähigste von allen geheimen Überwachungs- und Korrektiveinheiten.«

»Das wär's für heute, Alice.«

»Vorsicht ist geboten. Zwar bleiben Worte ungehört, aber sie wissen, dass gesendet wird. Wiederaufnahme der Verbindung am besten erst vom Flugzeug aus.«

»Gute Nacht.«

Das Blau verlor sich aus dem weißen Bildschirm; sie war fort. In der Erinnerung hörte sich die Stimme meiner Exfrau beinahe wie Alices Kunststimme an und die Entsprechung würde erfordert haben, dass sie wie Alice Geist hätte. Vielleicht irrte ich; möglich, dass das, was höchst unerwartet vertraut schien, mit der Zeit zum Empfänger aller lange gebundenen Schmerzen würde. Es war der am wenigsten anziehende und am häufigsten vorkommende Gedanke dieser Stunde, und wie an jedem Abend bat ich ihn, meinen Geist zu verlassen. Sobald die Verbindung unterbrochen war, verspürte ich die gewohnte Traurigkeit wie nach jedem Abschied von Alice, und ich legte mich nicht sofort schlafen. Ich saß und starrte in die milchige Leere des Bildschirms, bemüht, die Radioklänge von Gayaneh im ständigen Gurgeldiglurb der Toiletten zu hören. Als genug Ruhe eingekehrt war, mir das Einschlafen zu erlauben, legte ich mich nieder und sank bald in unruhigen Schlummer. Augen überwachten meine Träume, wachsame, flinke Kleinmädchenaugen, doch vom Schmerz getrübt. Von der blutig roten Sanddüne, auf der ich keuchend stand, außer Atem, das Donnern der Brecher in den Ohren, erhob sich Johnson und zog mich in seine Tiefen, wohin ich sicherlich gehörte. Ich erwachte mit dem Schrei in der Kehle. Jake, die Ohren sicher verstöpselt, schlief weiter.

 

Am Morgen legten wir Sprechmasken mit eingebautem Zerhacker an. Beim Einzug hatten wir unsere Räume auf Abhörwanzen untersucht und die Zählung bei siebenundvierzig allein im Wohnraum eingestellt. Hätten wir weitergesucht und alle zerstört, so wären wir dennoch durch das Radio, das Telefon und das Fenster abgehört worden, solange wir auf natürliche Weise sprachen. Mit Zerhackern und Kopfhörern kommunizierten wir ohne Sorge.

»Zwanzig vor acht«, sagte Jake nach einem Blick auf seine Uhr und ließ sich vor dem Fernseher in den Sessel fallen. Ohne Entzerrer durch den Zerhacker gehört, klang seine Stimme wie auf einem im Schnellvorlauf abgespielten Tonband. »Um halb neun zum Spielwarengeschäft?« Ich nickte. »Warum diese Frühaufsteherei? Großeinsatz erwartet?«

»Nein«, sagte ich; er runzelte die Stirn. »Lass müßige Spekulationen. Denk an unsere Tarnung. Wir schieben Spielzeug. Bloß zwei Geschäftsleute, die Produkte begutachten wollen. Das gibt uns Stunden, unser Gepäck aufzugeben.«

»Transport zu Fuß oder auf Gummi?«

»Ich habe ein Taxi bestellt. Ankunft acht Uhr.«

»Ein Taxi ohne Medien?«, fragte er. »Der Hintergrundlärm spaltete mir nachtlang den Kopf.« Tagsüber schmetterte das Zimmerradio nichts Klassisches, wie ich es gern gehabt hätte, nur amerikanischen Apokalypso oder europäische Post-Wave, aufgearbeitet con tempo. Unser Fernseher zeigte, was immer seine Drähte aus dem Himmel saugten. Während wir sprachen, lief eine Exer-Show aus Leningrad unter dem Titel: Springt, Leute! Das russische Fernsehen, nicht weniger erfreulich als das amerikanische, zeigte einen deutlichen Unterschied: die hier im Fernsehen auftraten, waren hässlich und darum der Wirklichkeit nahe; im amerikanischen Fernsehen schienen die Darsteller immer alchimistisch aus irgendeinem unnatürlichen Ton geformt.

»Brachte Alices Info Licht ins Dunkel, ob diese Assistentin den Schuss Pulver wert ist?«

»Sie ist der Fang des Tages«, sagte ich. »So gut wie Aljechin.«

»Kann diesen Scheiß keine halbe Minute sehen, bevor hier oben das Pochen losgeht«, sagte Jake, den Blick auf dem Bildschirm, und rieb sich heftig die Schläfe. Ich erkannte sein Problem, nahm eine vom Hotel gestellte Leerkassette, steckte sie in den Aufnahmeschlitz und spulte zurück. Dann drückte ich die Abspiel- und die Zeitlupentaste. Weiße Verschwommenheiten erschienen auf dem Bildschirm. »Was läuft?«, fragte er.

»Jam Session?«

»In etwa. Hier ist deine Schmerzbefreiung.«

Obwohl es eine Leerkassette sein sollte, erschienen sehr bald Worte auf dem Bildschirm. Ich zeigte sie ihm und dolmetschte: »Gehen Sie jetzt und kaufen Sie! Geld ist Leben - geben Sie es aus. Geiz ist Verrat.« Ich lachte. »Diese Sprüche verbreiten sie schon seit Jahren in Radio und Fernsehen. Mit der Zeit muss es wirken.«

Jake schüttelte den Kopf, als suchte er wieder Verbindung mit seinem Gehirn herzustellen. »Wo ist unser Startplatz?«

»Nicht weit von ihrer Wohnung.«

»Welche wo ist?«

»Maljuta kennt die Strecke.«

»Dem vertraust du?«, fragte Jake. »Hält er dicht?«

»Einer der wenigen«, sagte ich. Unter den Umständen hätte die Fragestellung ebenso gut lauten

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jack Womack/Apex-Verlag. Published by arrangement with Ware Literary Agency, New York 10017, USA.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Christian Dörge (OT: Terraplane).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 26.03.2018
ISBN: 978-3-7438-6295-1

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