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Leseprobe

 

 

 

 

 

GARY BRANDNER

 

Katzenmenschen

 

 

 

 

Roman

 

 

Apex Horror, Band 11

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

KATZENMENSCHEN 

Prolog 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

Sechsundzwanzigstes Kapitel 

Siebenundzwanzigstes Kapitel 

Achtundzwanzigstes Kapitel 

Epilog 

 

Das Buch

 

Plötzlich war die Furcht da, kalt wie die Klinge eines Stiletts. Oliver durchquerte den Raum und betrachtete. das zerschmetterte Fenster. Der Regen schlug ihm ins Gesicht.

Die Tür hinter ihm schlug zu. Oliver hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde.

Er fuhr herum. Im spärlichen Licht, das von der Rückseite des Hauses hereinfiel, war der Schatten einer menschlichen Gestalt zu erkennen, die auf ihn zu kroch. Das Knurren einer Raubkatze war zu hören, es schien aus der gleichen Ecke zu kommen.

Ein Blitz erhellte den Raum. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Oliver das Wesen, mit dem er eingesperrt war.

 

Katzenmenschen ist das Buch zum gleichnamigen Film (1982, Regie: Paul Schrader) mit Nastasja Kinski als Irena Gallier, Malcolm McDowell als Paul Gallier, John Heard als Oliver Yates und Annette O'Toole als Alice Perrin – ein erotischer Horror-Thriller der Extraklasse!

KATZENMENSCHEN

 

 

 

 

 

 

 

»Am Rande unseres Lebens existieren schwarze Schattenzonen,

aus denen von Zeit zu Zeit eine besessene Seele hervorbricht.«

 

  • H. P. Lovecraft

 

 

 

 

 

  Prolog

 

Der Name der Frau war Luna. Sie war vor ihre Hütte getreten und verharrte nun im Licht der Mittagssonne. Von Zeit zu Zeit sah sie besorgt zu den Männern hinüber, die im tiefergelegenen Teil des Dorfes ihre Beratung abhielten. Sie hatten sich an den Rand des verdorrten Feldes gehockt und bildeten dort einen Kreis. Unweit der Versammlung befand sich die Wasserstelle. Nach Monaten der Trockenheit war sie zu einem Tümpel geworden, in dessen Mitte verkrusteter Lehm an die Zeiten erinnerte, als hier noch ein Quell aus der Erde sprudelte. Mensch und Tier hatten ihren Durst löschen können. Inzwischen war der Traum von Fruchtbarkeit zu einem Alptraum an Dürre geworden.

Luna drehte sich um und betrachtete den Dschungel, der bis an den Rand des Dorfes heranreichte. Wie lange schon war der Regen ausgeblieben? Sie wusste es nicht. Die Skelette der entlaubten Baumriesen schienen seit Urzeiten dort zu stehen. Erst jenseits der Ebene war Grün zu erkennen. Dahinter ragten die verschneiten Gipfel einer Gebirgskette in den wolkenlosen Sommerhimmel. Wer die Schneemengen herüberleuchten sah, musste sie als Hohn auf die Trockenheit empfinden, die dem kleinen Gemeinwesen den Lebensfaden abzuschnüren begann.

Der Blick der Frau fiel auf den Jungen, der vor der Hütte im Dreck kniete und spielte. Er hielt einen Kiesel in der winzigen braunen Faust, holte aus und ließ den Kiesel über den trockenen Boden hüpfen. Als er den Blick seiner Mutter auf sich spürte, sah er auf und lächelte. Er hatte weiße, regelmäßig gewachsene Zähne. Luna erwiderte das Lächeln. Tränen standen in ihren Augen, aber das konnte der Junge nicht sehen.

»Hund«, sagte der Junge in der Sprache der Eingeborenen. Er hatte den Kiesel wieder aufgenommen und zeigte ihn seiner Mutter.

Sie nickte. »Ich verstehe. Das ist dein Hund. Ein schönes Tier.«

Der Junge setzte sein kleines Spiel fort. »Spiele, mein Sohn, solange du noch spielen kannst«, sagte sie, so leise, dass er es nicht vernehmen konnte. »Genieße den Tag.« Um ihre Mundwinkel hatte sich ein verbitterter Zug gelegt.

Die Versammlung der männlichen Dorfbewohner schien zu Ende zu sein. Luna beobachtete, wie sie mit finsteren Gesichtern zu ihren Hütten zurückkehrten.

Dann sah sie Darak. Ein eisiger Schreck durchzuckte sie. Der Mann hielt den Blick gesenkt. Sein Weg führte zu Lunas Hütte.

Abrupt wandte die Frau sich ab, schob das gegerbte Fell zur Seite, welches als Türvorhang diente, und verschwand im Inneren der primitiven Behausung. Als Darak eintrat, fand er sie über einen irdenen Topf gebeugt. Auf dem Boden des Topfes war eine Handvoll zerstoßener Mais zu erkennen, das Abendessen für Luna und ihren Jungen.

»Die Entscheidung ist gefallen«, sagte er.

»Die Opferung der Kinder?«, fragte sie.

»Ja.«

»Gibt es keinen anderen Ausweg?«

»Du weißt selbst sehr genau, dass es keine andere Lösung gibt.«

»Und wenn wir noch ein paar Tage warten?«

Darak trat zum Türloch und riss das Fell zur Seite. Ein Schwall heißer Luft floss herein. Luna nahm es den Atem.

»Warten?«, wiederholte Darak. »Auf was? Auf das Ende? Du hast doch Augen im Kopf. Du hast gesehen, wie das Vieh starb und wie das Korn am Halm vertrocknet ist. Wir haben nichts mehr zu trinken.« Er kniff die Augen zusammen und deutete hinaus. »Der Dschungel weicht vom Dorf zurück. Das Dorf ist verhext.«

»Es wird wieder regnen.«

»Es wird nicht regnen, solange die Götter der Dunkelheit zornig sind. Wir haben einen Frevel begangen. Jetzt... müssen wir den Preis zahlen.« Er zögerte. »Oder sterben.«

»Aber die Kinder haben damit doch nichts zu tun.«

»Das Gesetz will es so. Die Kinder müssen geopfert werden.«

Sie suchte nach einer Spur Mitleid in seinen Zügen. Schließlich wandte sie sich ab. »Auch unser Sohn, Darak?«

»Auch unser Sohn.« Der Mann ließ das Fell zurückgleiten, das Innere der Hütte versank im Dunkel. »Er gehört zu den Auserwählten, Luna.«

»Unser einziges Kind.«

»Ich weiß.«

»Er gehört nicht zu jenen, die sich des Frevels schuldig gemacht haben.«

»Darauf kommt es nicht an. Der Spruch ist gefällt. Niemand kann mehr etwas daran ändern.«

 

Das gleißende Rad der Sonne rollte auf den Horizont zu, als die auserwählten Kinder auf die Lichtung in der Mitte der Ansiedlung geführt wurden. Es waren vier, zwei Mädchen und zwei Jungen. Einer der Jungen war Lunas und Daraks Sohn. Alle Einwohner des Dorfes waren versammelt. Die Gesichter waren ernst und gespannt, mit Ausnahme der vier Kinder, die dem Geschehen voller Neugier und Unternehmungslust folgten.

Wie die anderen drei Mütter, hatte auch Luna die Erlaubnis erhalten, in den inneren Kreis zu treten. Ihr Junge entdeckte sie im Halbdunkel der steigenden Schatten. Er lächelte.

»Ein neues Spiel?«, fragte er.

Es gelang ihr, eine gleichgültige Miene zu bewahren. »Ja«, sagte sie. »Ein neues Spiel.«

»Kommst du mit, Mutter?«

»Dieses Mal nicht.«

»Und Vater?«

»Er wird ein Stück mitgehen, ja.«

»Du auch. Bitte!«

»Das geht leider nicht.«

Der Blick des Kleinen verdüsterte sich. Aber wenig später war die Missstimmung vergessen. Die Kinder steckten die Köpfe zusammen und kicherten. Sie waren Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit.

Die Sonne versank. Dunkelheit kroch über die Ebene, durchdrang den Dschungel und fraß sich die Wege der Ansiedlung hoch.

»Die Zeit ist gekommen«, sagte der Dorfälteste.

Die Frauen traten zur Seite. Eine. Abordnung der Männer nahm die Opfer in die Mitte. Darak war einer von ihnen. Als er seinen Arm um den Jungen legte, begegnete er dem Blick seiner Frau. Er schloss die Augen.

Einer der Männer hatte ein altes Kinderlied angestimmt, ein Wiegenlied. Die Kinder kannten die Melodie, sie sangen mit. Wenig später hatte die kleine Gruppe das Dorf verlassen. Sie schritten auf die verdorrten Baumriesen des nahen Dschungels zu.

Luna war mit den anderen Frauen zurückgeblieben. Sie sah ihrem Sohn nach, bis er im mannshohen Dornengestrüpp verschwand. Immer noch waren die Stimmen der Kinder zu hören, silberhell wie eine Glocke. Als die Gruppe von den sinkenden Schatten verschluckt worden war, wandten sich die Frauen ab. Schweigend gingen sie in ihre Hütten zurück.

Der Zug mit den vier Opfern war am Rande des Dschungels angekommen. Erst nachdem sie einen breiten Trockengürtel passiert hatten, stießen sie auf saftiges Grün. Hier begann der Urwald, der von den Göttern der Dunkelheit verschont worden war. Die Kinder wurden zu einem knorrigen alten Baum geführt. Man wies sie an, sich mit dem Rücken an den Stamm zu stellen und einen Kreis zu bilden, mit dem Baum als Mittelpunkt.

»Reicht einander die Hände!«, sagte einer der Männer. Die Kinder gehorchten. Sie wehrten sich nicht, als man ihnen die Handgelenke mit einer Liane zusammenband. Jeder der vier Väter, so bestimmte es das Gesetz, hatte zu prüfen, ob die Handgelenke seines Kindes so fest umschnürt waren, dass es sich nicht von der Fessel befreien konnte.

Darak schloss den Knoten mit einem Ruck. Dann prüfte er die Festigkeit und stellte zufrieden fest, dass sich die Fessel nicht mehr lösen ließ. Er sah sich um. Der Dorfälteste war noch mit dem Festbinden seines Kindes beschäftigt. Er kehrte Darak den Rücken zu. Rasch brachte Darak seine Lippen an die Schläfen des Kleinen.

»Ein Spiel, Vater?«, fragte der Sohn.

»Die Zeit des Spielens ist vorüber, mein Kind. Du musst jetzt sehr tapfer sein. Sing das Lied!«

Auf ein Zeichen des Dorfältesten traten die Männer ein paar Schritte zurück. Die gefesselten Kinder waren sich selbst überlassen. Darak sah, wie sein Sohn den Kopf hob.

»Sing das Lied!«, wiederholte er.

Der Kleine begann zu singen, mit piepsiger Stimme erst, dann kräftiger. Eines nach dem anderen fielen die Kinder ein. Der Klang des Liedes folgte den Männern, die sich eilig von dem Baum entfernten.

 

Luna war allein. Sie lag auf der Pritsche, die sie mit Darak zu teilen pflegte, und hörte dem Gesang der Kinder zu, der vom schwülen Abendwind herübergetragen wurde. Die Stimme ihres Sohnes, so schien es ihr, war klar zu erkennen. Luna ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie rollten die Wangen hinunter auf den festgestampften Lehmboden der Hütte, wo sie zu kleinen, dunklen Punkten wurden.

Luna hätte gewünscht, dass ihr Mann in dieser Stunde an ihrer Seite wäre. Aber sie wusste, dass das nicht möglich war. Die Männer des Dorfes hatten die Nacht des Opfers um das Feuer geschart zu verbringen. Keinem von ihnen war es erlaubt, Mitgefühl mit dem Los der Kinder zu bekunden. Die Frauen durften unter der Bedingung weinen, dass niemand Zeuge dieser Schwäche wurde. Und Luna weinte, verwandelte ihren Schmerz in Tränen.

Mit einem Schlag verstummte der Gesang, so plötzlich, als sei den Kindern der Hals durchgeschnitten worden. Luna fuhr auf ihrem Strohlager hoch und starrte in die Nacht.

Samtschwarze Leere, Stille, nichts.

Dann begannen die Schreie. Angstschreie. Die Stimme eines Mädchens war zu erkennen, dann das zweite Mädchen, dann ein Junge. Schließlich hörte Luna, wie ihr Sohn um Hilfe schrie.

Sie biss sich auf die Lippen. Blut rann ihr das Kinn hinab und suchte sich seinen Weg zu den vollen Brüsten.

Was dann kam, war für Luna kaum zu ertragen. Das hungrige Grunzen einer Bestie war zu vernehmen. Ein Tier des Dschungels, das sich seiner Beute näherte.

Schmerzensschreie ertönten und verebbten. Das Opfer war angenommen worden.

Luna hielt die Fäuste auf die Ohren gepresst, um das grauenhafte Schmatzen der Bestien nicht zu hören. Vergebens. Das gierige Schlingen, das Krachen der Knochen war deutlich zu vernehmen.

Erst nach Stunden gewannen die gewohnten Geräusche des Dschungels die Oberhand. Die Schlangen raschelten, und die Zikaden zirpten.

Es war wie jede Nacht.

 

Am nächsten Tag kam der Regen.

Es regnete wochenlang, mit altbekannter Regelmäßigkeit. Die Quelle am Rande des Dorfes hatte zu sprudeln begonnen. Das Vieh kam zur Tränke, labte sich und wälzte sich im Schlamm. Zwischen den verdorrten Halmen auf den Feldern spross frisches Grün, eine zweite Ernte nach der ersten, die zu Spreu verflogen war, ehe man sie hatte einbringen können. Die Stämme am Rande des Dschungels trieben neue Äste. Wenige Monate später war das Dorf wieder eine Insel im grünen Ozean.

Die Jahre vergingen. Für die Bewohner des Dorfes waren es Jahre des Friedens. Es gab Wasser, es gab Ernten. Die Menschen waren glücklich.

Doch Luna war nicht glücklich. Immer noch war sie eine Schönheit, trotz der Strähnen, die ihr blauschwarzes Haar grau zu färben begannen. Wer sie Jahre nach dem Menschenopfer wiedersah, dem wären die Falten um den Mund aufgefallen und die feinen Linien um die Jochbögen. Inzwischen lebte sie allein. Darak hatte eine andere Frau genommen, nachdem klar war, dass Luna keine weiteren Kinder haben würde. Sein gutes Recht, wie Luna wusste. Sie verspürte keine Bitterkeit, als er ihr seinen Entschluss mitteilte. Er befolgte das Gesetz, nicht mehr und nicht weniger.

Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, nach getaner Arbeit an den Rand des Dschungels zu gehen. Lunas Gedanken wanderten dann in die Vergangenheit, kreisten um jene Jahre, als ihre Welt aus Darak und ihrem kleinen Sohn bestanden hatte. Auch in den Jahren vor dem Menschenopfer hatten sie oft Hunger gelitten. Rätselhafte Krankheiten hatten die Eingeborenen heimgesucht, hatten ihre Opfer unter Jung und Alt gefordert. Aber es hatte auch Zeitspannen des Glücks, der Sorglosigkeit gegeben. Sie hatte mit ihrem Sohn gespielt, wenn Darak, mit Beute beladen, aus dem Dschungel heimkehrte. Luna dachte vor allem an jene guten Jahre, wenn sie in der Kühle der aufsteigenden Nacht an der grünen Wand entlangging.

Es war an einem solchen Abend, als sie einen seltsamen Laut vernahm. Das Geräusch kam aus dem Dschungel.

Sie hielt den Atem an und lauschte.

Das Geräusch kam näher. Es ist eine Stimme, dachte sie. Eine menschliche Stimme. Aber dann wandelte sich der Ton zu einem Knurren, zum Jaulen eines wilden Tieres. Das Beängstigende: die Stimme rief nach ihr, nach Luna.

Es gehörte nicht zu den Gewohnheiten der Dorfbewohner, den Dschungel ohne zwingenden Grund zu betreten. Im Schatten der mächtigen Bäume, unter dem grünen Dach der Stauden, lauerten Gefahren. Eine falsche Bewegung konnte den Tod bedeuten. Luna dachte nicht an solche Gefahren, als sie die ersten Äste auseinanderbog. Unbeirrt vom Kreischen der Affen, die sich hoch über ihr von Wipfel zu Wipfel schwangen, schritt sie vorwärts, zertrat prallgrüne Schösslinge, befreite ihren Fuß vom Geflecht der Lianen, die sie zurückhalten wollten. Immer näher kam die Stimme, von der sich Luna auf geheimnisvolle Weise angezogen fühlte.

Am Fuße des Baumes, wo die Kinder geopfert worden waren, sah sie es. Das Tier war ein schwarzer Schatten in blaugrüner Nacht. Es schien zu kauern. Die gelben Augen leuchteten, der ruhige Blick war auf Luna gerichtet.

Sie empfand keine Angst, als sie sich der Bestie näherte. Welch eine Anmut, dachte sie. Das Fell glänzte im Mondlicht. Die Vordertatzen, jede von ihnen größer als zwei Männerfäuste, waren in den weichen Boden gestemmt, die todbringenden Krallen verborgen. Das Tier war von atemberaubender Schönheit. Es war ein schwarzer Leopard.

Sie sah, wie sich die Kiefer öffneten. Wieder war jenes tiefe Knurren zu hören, das Luna in den Dschungel gelockt hatte. Und dann formte der Leopard seine Lippen mit sichtlicher Anstrengung zu einem Wort menschlicher Sprache.

»Mutter!«

Der Frau schossen die Tränen in die Augen. Dieses Mal jedoch war es nicht Schmerz, sondern Freude. Sie machte einen Schritt auf die Wildkatze zu und öffnete die Arme.

»Mein Sohn!«

Der Jubellaut eines Kindes entrang sich der Kehle des Tieres. Dann spürte sie, wie sich die Krallen in ihren Hals gruben.

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

 

Mit langsamen, geschmeidigen Bewegungen folgten die großen Wildkatzen dem Kreis, dessen äußerer Rand von den Gitterstäben des Käfigs gebildet wurde. Sie gingen hintereinander, lässig, fast schläfrig. Hin und wieder warf eines der Raubtiere einen scheinbar beiläufigen Blick auf Philipp Gallier, den Mann in der weißen Kord-Uniform, der in der Mitte des Käfigs stand. Gallier, ein großgewachsener, schlanker Mann, beobachtete seine sechs Schützlinge mit gespannter Aufmerksamkeit. Die Prozession vollzog sich in der üblichen, vom Raubtierdresseur bestimmten Reihenfolge: Löwe, Tiger - Löwe, Tiger - Löwe, Tiger. Die Schritte der Tiere waren nicht zu hören. Wenn sich die mächtigen Pranken vom Boden lösten, wirbelten sie kleine Staubwolken auf. Die Löwen hielten den Kopf erhoben, eine ruhige Würde ging von ihnen aus. Im Vergleich zu ihnen wirkten die Tiger wilder, eigensinniger. Es schien, dass sie den Löwen nicht näher kommen wollten als unbedingt nötig.

Während die Wildkatzen ihren Rundgang fortsetzten, fixierte Philipp Gallier ein Tier nach dem anderen, zugleich rief er die Namen auf.

»He, Gunner, hoch mit dem Kinn! So ist es besser. Gut so. Und du, Pretty Boy, zeig mir deine Zähne. Ein breites Lachen, jawohl, du weißt schon, was ich meine. Etwas mehr Tempo, Captain, wenn ich bitten darf. Du bringst ja die Beine überhaupt nicht mehr vom Boden. Na siehst du, es geht schon, wenn man will. Stolz sollst du gehen, Captain, stolz. Gut so. Murphy, du bist zu schnell. Du trittst Captain auf die Pfoten, wenn du so dicht aufkommst. Cowboy, du musst besser in der Reihe bleiben. Und Cisco, du hörst auf, mit Cowboys Schwanz zu spielen, oder es gibt ein Unglück!«

Wer Philipp Gallier zusah, musste den Eindruck gewinnen, dass er die Arbeit genoß. Seine Haltung war locker und seine Miene strahlte gute Laune aus. Nicht zu diesem Bild von Lässigkeit passten die Augen. Wenn er eine der Katzen fixierte, beobachtete er die anderen aus den Augenwinkeln. Er wusste zu jedem Zeitpunkt, an welcher Stelle des Kreises sich welche Katze befand. Seine Gesten unterstrich er mit einem Stock, der fast einen Meter maß. Seine Bewegungen waren sanft, überlegt, abgezirkelt. An seiner Hüfte baumelte ein .38er Revolver. Gallier trug die Waffe, weil das Publikum von einem Raubtierdresseur erwartete, dass er eine Waffe trug. Geschäft war Geschäft, und im Zirkus wurde gemacht, was die Zuschauer verlangten. Der Revolver war geladen. Benutzt hatte Gallier ihn noch nie.

Er hob den Knüppel. »Alle jetzt den Kopf hoch! Hoch, sage ich. Vergesst nicht, wer ihr seid. Ihr seid die Könige des Dschungels. Die größten Fleischfresser, die im Regenwald herumlaufen. Habt ihr das kapiert? Gut so, ja, so gefallt ihr mir. Gut, wirklich gut! Und weiter.«

Philipp Gallier ließ sie eine weitere Runde gehen, dann machte er eine wohlberechnete Geste mit dem Knüppel. Die sechs Raubtiere kamen zum Stehen, jedes vor seinem Hocker. Aufmerksam äugten sie zu Gallier hinüber. Die Piedestale waren verschieden hoch. Das niedrigste maß 60 Zentimeter, das höchste über 1,80 Meter. Jede Katze kannte ihren Hocker und fauchte ärgerlich, wenn ihr eine andere den Platz streitig zu machen suchte. Jetzt aber herrschte Einvernehmen und Stille.

»Fertig?«

Er sah, wie sich die Muskeln der Tiere spannten.

»Hoch!«

Der Befehl kam scharf und deutlich. Mit einem machtvollen Satz schwebten die Raubtiere zu den Piedestalen hinauf, wo sie sich hinhockten.

»Gut. Sehr gut sogar.«

Eine der Katzen war ins Schwanken geraten.

»Ruhig, Captain. Ganz ruhig. Setz dich hin.«

Das Tier fand seine Balance wieder. Indessen hatte Gallier sich überzeugt, dass. die anderen sicheren Halt gefunden hatten. Er hob den Kopf, die Katzen folgten seinem Blick. Gespannte Ruhe erfüllte das stählerne Rund. Gallier deutete mit dem Stock zur Kuppel des Zirkuszeltes.

»Fertig? Jetzt zeigt ihr mir, wie groß ihr seid. Auf!«

Gehorsam erhoben sich die großen Raubkatzen auf die Hinterpfoten.

»Gut. Sehr gut. Und jetzt will ich eure Stimme hören. Ich will euch hören!«

Die mächtigen Kiefer öffneten sich, und ein Brüllen stieg zur Decke. Ein Brüllen voller Wildheit, voller Zorn auf Gitterstäbe, Unfreiheit, auf den Dresseur und die Menschheit im Allgemeinen. Gallier wusste, es war ein Klang, den kein Zirkusbesucher so bald vergaß.

»Wunderbar«, lobte er die Katzen. »Wirklich wunderbar. Gut gemacht. Gut! Und jetzt... runter mit euch!«

Geschickt sanken die Tiere auf die Piedestale zurück. Eine Sekunde später berührten ihre Pranken wieder das Sägemehl auf dem Boden. Philipp Gallier machte eine Geste mit dem Stock, worauf die sechs wieder ihren Rundgang durch den Käfig antraten. Noch ehe der Kreis geschlossen war, hatte der Helfer das Stahlgatter zum Tunnel geöffnet, der zu den Aufenthaltskäfigen führte. Eine Katze nach der anderen verschwand in der Öffnung. Nur Gunner, der größte der drei Löwen, schien nicht mit den Weisungen seines Herrn und Meisters übereinzustimmen. Er blieb stehen, fletschte die Zähne und ließ ein dunkles, langsam anschwellendes Knurren vernehmen. Gallier reagierte auf die Unbotmäßigkeit, indem er den Stock nach Gunner ausstreckte. Mit einem Prankenhieb versuchte das Raubtier den Stock fortzuschlagen, ein Manöver, das erfolglos blieb, weil Philipp das Symbol seiner Macht rechtzeitig zurückgezogen hatte. Hätte das Tier den Stock erreicht, er wäre an den Gitterstäben zerbrochen.

Richie Laymon, der Helfer, war an den Käfig getreten. Er war 20 Jahre alt. Die Nervosität, mit der er seinen 2,40 m langen Stock hielt, war nicht gespielt. Zwar wusste er, dass sich die Katzen vor dem Stahldorn an der Spitze des Stockes fürchteten, aber ein sanftes Ruhekissen war dieses Wissen nicht. Es ge-

hörte zur Raubtiernummer, dass sich Gunner vor dem Verlassen des Käfigs gegen den Dresseur aufbäumte. Aber die Grenze zwischen Spiel und Ernst, fand Richie Laymon, war fließend. Die Reißzähne des Löwen waren furchterregend, und beim Betrachten der messerscharfen Krallen überkam den Helfer jedes Mal eine Gänsehaut.

Richie war froh, dass dieser Part der Nummer bei der eigentlichen Vorstellung von Nora Gallier, der attraktiven Frau des Raubtierdresseurs, übernommen wurde. Nora, dachte er. Eine geheimnisvolle Kühle, eine erregende Fremdartigkeit ging von dieser Frau aus. Während sie im Käfig stand, um ihrem Mann zu assistieren, hatte Richie Laymon seine Clownsnummer in der Arena abzuspulen. Als Clown war er in seinem Element. Mit ein paar Grimassen, mit ein paar tapsigen Sprüngen, die das Geschehen im Käfig nachvollzogen, konnte man die Zuschauer zum Lachen bringen. Es war gut, die lachenden Gesichter zu sehen. Seltsam, dachte Richie. Wenn die Leute lachten, verschwanden die Unterschiede. Jung und Alt, Arm und Reich waren gleich, wenn sie sich amüsieren wollten. Jedenfalls, so fand Richie Laymon, war die Arbeit eines Clowns viel befriedigender als die eines Raubtierbändigers, der sich mit einem halben Dutzend Killer auf vier Pfoten in einen Käfig einschließen lassen musste, aus dem es im Ernstfall kein Entrinnen gab.

Im Käfig, Richie sah es mit Entsetzen, lief derweil nicht alles so, wie es sollte. Nach dem Timing der Nummer musste Gunner bereits im Tunnel verschwunden sein. Stattdessen stand er in der Mitte des mit Sägemehl ausgestreuten Runds und wiederholte die einstudierten Drohgebärden. Der zottige Schädel war gesenkt, der Schweif peitschte hin und her. Gefährliche Vorboten, wie Richie wusste.

Unsicher tastete Richie sich außen an den Gitterstäben entlang. Was im Ernstfall zu tun war, darüber hatten Gallier und er merkwürdigerweise nie gesprochen. Erst jetzt, angesichts der Gefahr, wurde ihm das Versäumnis bewusst. Wieder und wieder wischte er sich die schweißnassen Hände an der Hose ab, um den Raubtierstab mit sicherem Griff packen zu können. Gallier gab ihm ein Zeichen. Keine Bewegung, bedeutete die Geste. Richie bewunderte den Mann, der dem Löwen auf zwei Armlängen Entfernung gegenüberstand. Sein Blick war wie gebannt auf das Halfter an Galliers Gürtel gerichtet. Aber der schien gar nicht daran zu denken, zur Waffe zu greifen. Stattdessen ließ er den Knüppel fallen und ging mit kleinen Schritten auf Gunner zu. Richie Laymon spürte, wie ihm der Angstschweiß ausbrach. Wieder hieb Gunner mit der Pranke durch die Luft. Das Grollen war verhaltener geworden. Richie schien es wie die Ruhe vor dem Sturm. Die dolchartigen Krallen des Löwen, beim Rundgang im Käfig in der Behaarung der Pfoten verborgen, waren jetzt deutlich zu sehen. Gefährliche Waffen, mit denen das Tier einen Menschen im Bruchteil einer Sekunde vom Brustkorb bis zum Schambein aufschlitzen konnte.

Philipp Gallier war vor dem Löwen angekommen. Er griff mit der Rechten hinter das Ohr des Tieres und kraulte es. »Was ist heute los mit dir, Gunner? Du weißt doch, in unserm Job können wir uns keine Launen leisten.« Er suchte den Blick der Katze. »Ich brauche dich, Gunner. Du bist schließlich mein Star.« Seine Hand liebkoste den Hals des Tieres. »Du musst den anderen ein Vorbild sein.«

Verlegen - so musste man die Gestik des Tieres wohl nennen - ließ der Löwe die Pranke sinken. Er stieß mit dem Kopf an Galliers Knie, in der Hoffnung, dieser werde mit dem Streicheln fortfahren.

»So mag ich dich schon lieber«, sagte der Raubtierbändiger. »Wenn du so knurrst wie vorher, dann kommen die Leute womöglich auf den Gedanken, wir beide hätten etwas gegeneinander.«

Ein wohliges Schnurren aus tiefer Kehle. Gunner hielt die Augen zusammengekniffen. Am liebsten wäre er an Ort und Stelle eingeschlafen.

»Braver Junge. Und jetzt geh in deinen Käfig. Du musst wieder fit sein, wenn heute Nachmittag die Vorstellung beginnt. Wir werden den Leuten eine Show liefern, wie es sich gehört.« Der Löwe wandte sich ab. Sanft wie ein Lamm trottete er zur Laufröhre und verschwand in der Öffnung. Eine Sekunde später rasselte das Gitter ins Schloss. Philipp Gallier ging zur Käfigtür, schob den Riegel zur Seite und trat hinaus. Richie Laymon, der immer noch seinen Raubtierstab umklammert hielt, starrte ihn an wie einen Geist.

»Die Burschen sind ein bisschen gereizt heute«, sagte Gallier leichthin. »Aber für die Show ist das ganz gut. Sieht gefährlich aus.«

Richie schluckte. »Zum Schluss, mit Gunner, habe ich ein bisschen Angst gehabt.«

»Gunner? Der wollte sich doch nur aufspielen.«

»Von draußen sah es nicht wie ein Spiel aus.« Er zögerte. »Ich habe mich immer gefragt, wieso Sie den Tieren nicht die Krallen wegoperieren lassen.«

Galliers Miene verdüsterte sich. »Einem Raubtier die Krallen ausziehen? Das wäre das gleiche, als ob man es kastriert.«

Richie zuckte die Schultern. »Sie sind der Boss. Aber ich will Ihnen was sagen, Mr. Gallier. Sie könnten mir Geld geben, mehr als ich mit beiden Armen wegtragen kann, und ich würde nicht mit diesen Katzen in einen Käfig gehen.«

Gallier stützte die Arme in die Hüften und grinste. Er hatte starke, gesunde Zähne, deren Weiß von seiner dunklen Haut hervorgehoben wurde. »Mit Raubtieren zu arbeiten, Richie, das muss man im Blut haben. Du hast den Mumm, oder du hast ihn nicht, es gibt keinen Kompromiss. Wie ich die Dinge sehe, fühlst du dich außerhalb des Käfigs wohler.«

»Sie sagen es, Mr. Gallier.« Er lehnte seinen Stock an das Gitter und fuhr mit der Hand in seine Hosentasche. »Hier sind die Wagenschlüssel, falls Sie jetzt in die Stadt fahren wollen.«

»Ich glaube, ich fahre erst morgen«, quittierte Gallier die Erinnerung. »Die Stände haben noch genügend Ware für die Vorstellungen heute. Die Genehmigungen sind okay. Ich habe übrigens mit ein paar Farmern aus der näheren Nachbarschaft gesprochen. Sie werden zwischen den Vorstellungen kommen, um den Dung abzufahren.« Er reckte und streckte sich. »Ich bin ein bisschen müde. Ich werde noch ein Nickerchen im Wohnanhänger einlegen, damit ich nachher wieder frisch bin.«

Eine Falte erschien auf Richies Stirn. »Haben die Tiere denn schon ihr Futter?«

Gallier nickte. »Daran denke ich immer zuerst.« Er kniff die Augen zusammen und musterte sein Gegenüber. »Ist irgendwas, Richie? Bedrückt dich etwas?«

»Nein«, sagte Laymon hastig. »Keineswegs. Es ist nur - ich dachte, es ist noch früh genug, um zusammen in die Stadt zu fahren und Einkäufe zu machen.«

»Wenn du reinfahren willst, dann fahr. Ich brauch den Wagen nicht. Ich werde mich etwas aufs Ohr legen.«

Richie rührte sich nicht von der Stelle.

»Dich bedrückt doch etwas.« Gallier sprach in dem gleichen beruhigenden Tonfall, den er bei der Dressur der Raubkatzen benutzte.

»Wirklich nicht, Mr. Gallier.« Richie machte einen Schritt zurück. »Ich - ich nehme den Lkw, wenn ich in die Stadt muss. Bis später dann.«

Mit federndem Schritt ging er davon. Philipp Gallier starrte eine Weile auf die Spuren, die der andere auf dem Sägemehl zurückließ. Dann zuckte er die Schultern und verließ das Zelt in der entgegengesetzten Richtung.

Um zu den Wohnanhängern zu gelangen, musste man an den drei Sattelschleppern vorbei. Es war kein großes Unternehmen, das Gallier sich hatte aufbauen können. Gallier Family Circus stand in verschnörkelter Goldschrift auf den Seitenwänden der Anhänger. Jedesmal, wenn Philipp die Aufschrift sah, sträubten sich ihm die Härchen auf dem Unterarm. Es war ein Gefühl heimlichen Besitzerstolzes auf den kleinen Wanderzirkus, der von Philipps Vater gegründet worden war. Anfang 1900 war das gewesen. In den über fünfzig Jahren, die seither vergangen waren, hatte sich manches geändert. Vor allem die Zuschauergewohnheiten. Die Leute blieben lieber daheim im bequemen Sessel sitzen und ließen das Fernsehprogramm vor sich ablaufen, anstatt sich in einen Zirkus zu begeben, wo Menschen aus Fleisch und Blut, wo wilde Tiere auftraten. Es schien, als sei die Zirkusbranche zum Tode verurteilt. Gewiss, in den großen Städten konnten die Mammutunternehmen der Branche noch Zuschauer anziehen. Die kleineren Orte wurden von Familienunternehmen abgeklappert, die sich von den Eintrittsgeldern mehr schlecht als recht über Wasser hielten.

Schon bald hatte Philipp Gallier eingesehen, dass er mit seinem Wanderzirkus kein reicher Mann werden würde. Aber er wäre nicht bereit gewesen, einen anderen Beruf zu ergreifen. Die Manege bot ihm das Leben, das er sich wünschte. Er liebte den Geruch nach Sägemehl, Türkischem Honig, Hot Dogs und den Exkrementen der Raubtiere. Er liebte es zuzusehen, wenn das Zelt aufgestellt wurde, wenn die Masten hochgehievt und festgepflockt wurden. Das Schauspiel wiederholte sich in jeder Stadt, die das kleine Unternehmen bereiste. An Anziehungskraft hatte es deshalb für Philipp Gallier nicht verloren.

Mehr noch als das Flair des wandernden Gewerbes liebte Gallier die Raubtiere, mit denen er arbeitete. Wie schon sein Vater vor ihm, hatte er eine sehr beherzte Art, mit den Großkatzen umzugehen. Andere Dompteure hätten es als Mangel an Vorsicht, ja als Wagemut bezeichnet. Trotzdem - oder eben deshalb - hatte Gallier sich als Dompteur einen Namen gemacht. Er hätte jederzeit beim Riesen der Branche, bei Ringling Bros./ Barnum & Bailey unterkommen können, und das zu vorteilhaften Bedingungen. Aber daran lag ihm nichts. Philipp zog es vor, Herr im eigenen Hause zu bleiben und mit den eigenen Katzen zu arbeiten, nicht mit Tieren, die ein Konsortium heute ihm, morgen einem anderen zur Verfügung stellte. Gewiss hätte er, wenn er unter der Fuchtel eines Großzirkus auf Plätzen wie dem Madison Square Garden aufträte, seinen Verdienst vervielfachen können. Ihm waren die Katzen wichtiger - die Katzen und das Gefühl, seine Zukunft selbst bestimmen zu können.

Er hatte die in Reih und Glied geparkten Sattelschlepper passiert und ging auf die Wohnwagenanhänger zu, in denen die Artisten und Wanderarbeiter untergebracht waren. Auch die Standinhaber, mit denen Gallier Konzessionsverträge unterhielt, hatten hier ihre Unterkünfte. Er kam am Wohnwagen der Clowns vorbei und am Wagen der Trapezkünstler. Sein eigener Wohnwagen war der größte der Gruppe. Er war das Dach über dem Kopf für Nora und die beiden Kinder. Gallier sorgte dafür, dass sein Anhänger immer unmittelbar neben den Käfigwagen aufgestellt wurde.

Vor seinem Wohnwagen angekommen, hielt er inne. Paul und Irena waren da, seine beiden Kinder. Sie standen vor einem der Raubtierwagen, und zwar vor jenem, den Gallier jeweils in einiger Entfernung von den anderen zu platzieren pflegte. Paul war ein tüchtiger Junge, dachte er. Er hatte eine kleine Nummer bei den Akrobaten, die er mit Hingabe und Sorgfalt absolvierte. Für die Arbeit mit den Katzen war er noch zu klein. Es gab noch einen anderen Grund, warum Gallier zauderte, Paul als Nachfolger heranzuziehen. Von dem stillen, dunkeläugigen Jungen ging etwas aus, das ihn beunruhigte, ohne dass er das Gefühl näher erklären konnte. Irena hingegen war ein Frechdachs, stets wohlgelaunt und stets zu Streichen aufgelegt. Sie war der Liebling der ganzen Truppe.

Er nahm den Fuß von dem Treppchen, das zum Wohnwagen hinaufführte, und ging zu den beiden hinüber. Immer noch standen sie wortlos vor dem Käfigwagen. Irena knabberte hingebungsvoll an einem Zuckerapfel. Paul hielt die Hände verschränkt, er wirkte nervös. Gallier trat hinter die beiden, ohne etwas zu sagen.

Sein Blick fiel auf den schwarzen Leoparden, auf das gepflegte Fell, dessen Schimmer ihn immer an den Widerschein des Mondes im Meer erinnerte. Der Leopard hatte keinerlei Nummer im Programm. Die Besucher durften ihn bewundern, wenn das Schild »Raubtierbesichtigung« ausgehängt wurde, das war alles. Weder Philipp Gallier noch sein Vater hatten je mit Leoparden gearbeitet.

Das Tier hatte sich bequem, im hinteren Teil des Käfigs, gelagert. Vor ihm lag ein abgenagter Knochen. Eine der

schwarzen Pranken ruhte auf der anderen. Der Blick der Katze war auf die drei Menschen gerichtet, die Lider über den gelben Augen halb geschlossen.

»Ihr sorgt dafür, dass es unserem Freund nicht zu langweilig wird, stimmt's?«

Die Kinder fuhren zu ihm herum. Ein Lächeln der Überraschung stahl sich auf Irenas Züge. Sie breitete beide Arme aus und umklammerte den Stiefel ihres Vaters.

»Oh, Daddy, er ist so wunderschön«, sagte sie. »Am liebsten würde ich ihn mit in den Wohnwagen nehmen.«

Philipp Gallier beugte sich hinunter, um seine kleine Tochter in die Arme zu nehmen. Schließlich hob er sie hoch und setzte sie auf seine Armbeuge.

»Ich fürchte, das wäre keine gute Idee.«

Einige Sekunden verstrichen. Es war Paul, der das Schweigen brach.

»Er ist nicht nur schön, er ist auch unheimlich stark. Stärker als die Löwen, wette ich.«

»Ich weiß nicht, ob er stärker ist als die Löwen«, sagte Gallier. »Aber er ist sicher stärker als ihr und ich.«

»Töten Leoparden Menschen, Daddy?«, fragte Irena.

»Das kommt vor«, gab Gallier zur Auskunft. »Allerdings nur unter ganz bestimmten Umständen. Wenn sie halbverhungert sind zum Beispiel. Oder wenn man sie misshandelt. Oder wenn man sie aus ihrer natürlichen Umgebung verjagt.«

»Wenn man sie misshandelt?«, wiederholte Irena. »Warum sollte jemand einen Leoparden misshandeln? Es sind doch wunderschöne Tiere.«

»Ich weiß nicht. Es kommt nicht selten vor, dass Menschen wunderschöne Dinge zerstören, ohne jeden Grund.«

Paul beschloss, das Thema zu wechseln. »Fährst du heute nicht in die Stadt, Vater?«

»Ich möchte mich noch etwas ausruhen vor der Nachmittagsvorstellung. Ist Mutter im Wohnwagen?«

Die Kinder nickten.

»Ich glaube, sie hat sich auch hingelegt«, sagte Paul.

»Sie hat gesagt, wir sollen draußen spielen und sie nicht stören«, fügte Irena hinzu.

Philipp Gallier spürte, wie ihm ein Schauder über den Rücken kroch. »Hat sie Kopfschmerzen?«, fragte er.

»Sieht nicht danach aus«, mutmaßte Paul.

»Nein, sie hat keine Kopfschmerzen«, sagte Irena.

»Na gut, dann werde ich einmal nach ihr schauen.« Gallier wandte sich zum Gehen.

»Können wir mitkommen, Daddy?«, fragte Irena. »Mir ist draußen langweilig.«

»Nein.« Gallier blickte zum Wohnanhänger hinüber. Es war fast Mittag geworden, aber der Himmel war dunkler als vor ein oder zwei Stunden. Vor dem düsteren Hintergrund erhob sich die fahrbare Behausung als bedrohliche Silhouette. »Spielt noch etwas draußen. Unterhaltet euch mit dem Leoparden.«

Er ließ die beiden vor dem Käfigwagen stehen und ging zum Wohnwagen hinüber. Für zehn Monate im Jahr war dieser Wagen ihr Heim. Die übrigen zwei Monate verbrachte die Familie in einem Motel unweit vom Winterquartier des Zirkus', in Florida. In New Orleans hatte Philipp Gallier vor Jahren ein geräumiges Einfamilienhaus erworben. Aber es hatte sich ergeben, dass sie praktisch nie in diesem Hause wohnten. Zum Leidwesen von Nora, der das Leben in einer Stadt wie New Orleans ganz gut gefallen hätte. Philipp indes war nicht zu überreden, mehr Tage als unbedingt nötig in der Stadt zu verbringen. Er wollte bei seinen geliebten Katzen sein. Was die Kinder anging, so fanden sie das Umherziehen mit dem Zirkus phantastisch. Sie hätten sich kein aufregenderes Leben wünschen können.

Als Philipp vor dem Wohnwagen ankam, hörte er, wie eine Bö das Zeltdach an die Masten klatschte. Der Wind hatte aufgefrischt. Hoffentlich gab es keinen Sturm. Abschätzend blickte er zu den grauen Wolkengebirgen hinüber, die sich am Horizont auftürmten. Sturm war der Feind aller Zirkusleute. Er konnte ein Zelt verwüsten und das Unternehmen um Jahre zurückwerfen. Philipp Gallier verdrängte den Gedanken. Er drückte die Tür des Wohnanhängers auf und trat ein.

Im Wohnraum und in der kleinen Küche war niemand zu sehen, auch in den Nischen der Kinder nicht. Alles war sauber. Ordentlich aufgeräumt, wie es Nora immer tat. Nach drei großen Schritten war er an dem Vorhang angelangt, der den Schlafbereich vom übrigen Wohnwagen abtrennte. Er schob den Vorhang zur Seite und trat ein.

Nora lag im Bett. Als sie ihn erblickte, hob sie den Kopf. In langen, weichen Wellen fiel das dunkle Haar über ihre wohlgeformte Stirn bis auf die entblößten Brüste.

Iwan Schaffner, mit Artistennamen The Great Samson, der neben Nora gelegen hatte, sprang hoch und wich in die äußerste Ecke der Schlafnische zurück. Er hatte ein Bettlaken ergriffen, mit dem er seine Blöße zu bedecken suchte. Auf den Muskeln seines herrlich gewachsenen Körpers glänzten die Schweißperlen. Sein Blick war auf die Pistole in Galliers Halfter gerichtet.

»Lass dir erklären, Philipp. Warte, mach keine Dummheiten.« Seine Stimme klang höher, als man es bei dem starken Mann vermutet hätte.

»Mach, dass du rauskommst, Samson!«, herrschte Philipp ihn an. Er hielt Nora fixiert.

Der Muskelmann war dabei, in aller Eile seine Kleider zusammenzuraffen, die am Boden zerstreut lagen. »Ich gehe schon, Philipp. Ganz, wie du meinst.« Er balancierte auf einem Fuß, während er mit dem anderen nach seinem schwarzen Slip angelte.

»Lass deine Kleider wo sie sind«, sagte Gallier. »Raus mit dir! Sofort!« Das letzte Wort kam laut und hart wie ein Peitschenschlag.

Samson hatte sein Hemd erwischt und an sich gedrückt. Den Blick auf Philipp und dessen Waffe gerichtet, schob er sich an ihm vorbei. Nachdem er den Vorhang erreicht hatte, begann er zu laufen. Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Philipp und Nora waren allein.

Sie leckte sich die Lippen. Ihre Augen leuchteten. Es war nicht schwer zu sehen, dass sie in diesem Augenblick eine abgründige Wollust empfand.

»Wie geht's, Philipp«, begrüßte sie ihn.

Er sah sie lange an, bevor er antwortete. Seine Stimme klang rau. »Warum, Nora? Warum hast du das getan?«

»Nur so. Es ist eben passiert, verstehst du? Ich habe mir nichts dabei gedacht.«

»Du lügst. Du hast alles darauf angelegt, dass ich dich erwischen musste. Wie immer, bin ich der letzte, der es erfährt. Sogar der kleine Richie weiß, was gespielt wird, nur ich nicht.« Er hob das Kinn. Sie tastete nach ihren Brüsten. »Wie lange geht das schon mit dir und Samson?«

»Nicht lange. Ein Monat oder sechs Wochen.«

»Hast du mich außer mit Samson mit einem anderen betrogen?«

»Nein.«

»Macht es dir Spaß, mich zu verletzen, Nora?«

Ihre Augen wurden feucht. »Nein, Philipp. Ich wollte dich nicht verletzen. Ich wollte mich einfach einmal so benehmen wie andere Leute. Samson war die bequemste Lösung.«

»Du hast einen Fehler gemacht«, sagte Gallier. »Du kannst nicht sein wie andere Leute. Weder du noch ich, Nora. Du weißt, wer und was wir sind. Wir haben keine andere Wahl, wir müssen bei unseresgleichen bleiben, das ganze Leben lang.«

»Ich werde es nie wieder tun, Philipp.«

»Du darfst es nie wieder tun«, sagte er. »Da! Schau dich an!« Mit einem Ruck zog er ihr das Laken fort. Sie war nackt. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Samson dich einmal so zu sehen bekommt. Er oder irgendein anderer. Ich werde nicht zulassen, dass es soweit kommt.«

Philipp Gallier hatte den Revolver gezogen. Breitbeinig stand er vor dem Bett und zielte. Ein letztes Mal tauchte er seinen Blick in ihre Augen.

»Ich liebe dich, Nora«, sagte er. Dann drückte er ab.

In dem kleinen Raum war das Geräusch des Schusses laut wie ein Donnerschlag. Der nackte Körper auf dem Bett bäumte sich im Todeskampf auf und sank dann auf das Laken zurück. Nur das Ticken von Galliers Armbanduhr war zu hören.

»Vater!«

Philipp fuhr herum. Seine beiden Kinder standen hinter ihm. Paul hielt noch die Hand am Vorhang. Die kleine Irena hielt sich vor Schreck den Mund zu.

Er ging auf die beiden zu.

»Es tut mir leid, was passiert ist. Ich liebe euch beide, wirklich, aber es wäre besser gewesen, ihr wärt nie auf die Welt gekommen. Ich verspreche euch, es wird nicht wehtun. Es wird euch alle Leiden ersparen, die sonst auf euch zukommen.«

Er hob die Waffe und zielte, aber dann verließ ihn der Mut. Bevor er abdrücken konnte, hatte Paul seine kleine Schwester ergriffen und war mit ihr hinausgestürzt. Er kam zu Fall, machte eine Rolle vorwärts, zog seine Schwester, die mit dem Knie aufgeschlagen war, mit sich. Als Gallier an der Tür anlangte, waren die Kinder zwischen den Sattelschleppern verschwunden.

»Gott helfe euch, meine beiden Kleinen«, murmelte er. Dann machte er kehrt, legte sich auf das Bett, steckte sich die Mündung des Revolvers in den Mund und drückte ab.

Als seine Leiche gefunden wurde, lag der tote Leopard neben ihm.

 

 

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

 

Die DC-10 zog eine Schleife über dem Lake Pontchartrain. Dann begann der Landeanflug auf den Flughafen von New Orleans. Irena Gallier hielt ihre Hände im Schoß verschränkt. Sie wagte nicht hinauszusehen. Es war ihr erster Flug. Sie war 21 Jahre alt.

Mit einem kaum merklichen Hüpfen setzte die Maschine auf. Irena lauschte dem Geräusch der Motoren, das zu einem dumpfen Grollen anschwoll, als der Pilot die Bremsen einschaltete. Rasch verlor die Maschine an Fahrt, bis sie schließlich mit ruhigen 30 Stundenkilometern dahinrollte. Irena atmete auf. Sie entfaltete ein Papiertaschentuch und wischte sich die Innenflächen der Hände trocken.

Der gemütliche Dicke im Sitz neben ihr grinste ihr zu. »Ich hab Ihnen doch gesagt, man kommt mit dem Leben davon.«

Sie dankte ihm mit einem Lächeln. Gleich zu Beginn des Fluges hatte er sie mit seinem Redeschwall überfallen. Er hatte ihr erzählt, dass er als Vertreter einer Kosmetikfirma arbeitet. In dieser Funktion hatte er eine Reihe von Firmen und Einzelhändlern in den Oststaaten besucht. Jetzt kehrte er zu seiner Familie nach New Orleans zurück. Sie wusste, dass er ihr das nur erzählte, um ihre Angst vor dem Fliegen zu zerstreuen. Dass es ihr erster Flug war, hatte sie ihm schon im Gang, als er sie an sich vorbeiließ, gestanden. Alles in allem war es gut zu wissen, dass jemand neben einem saß, der keine Angst hatte und sich um einen kümmerte.

»Es war ein wundervoller Flug«, sagte sie. »Ich komme mir richtig dumm vor, dass ich mir überhaupt Sorgen gemacht habe.« Sie zögerte. »Ich fand es sehr nett, dass Sie mich auf andere Gedanken gebracht haben.«

»Hab' ich gern getan«, sagte der Vertreter. »Ich freue mich immer, wenn ich neben jemanden zu sitzen komme, der mir zuhört.« Er lachte.

Immer noch rollte das Flugzeug die Betonschneise entlang, auf das langsam näherkommende Abfertigungsgebäude zu. Irena hatte einen kleinen Taschenspiegel und eine Haarbürste hervorgezogen. Sie trug ihr Haar kurz wie ein Junge. Die großen Augen ließen sie noch jünger aussehen als sie ohnehin war.

Mit einem sanften Ruck kam die Maschine zum Stehen, das Pfeifen der Triebwerke erstarb. Im Gang gab es Bewegung. Die ersten Passagiere hatten ihre Sitzgurte gelöst und drängten hinaus. Irenas Sitznachbar war aufgestanden. Er hatte seine Tasche unter dem Sitz hervorgeholt und seinen Trenchcoat aus dem Gepäckfach genommen. »Alles Gute dann«, grinste er.

»Danke. Dann wünsche ich Ihnen auch.«

Sie vergewisserte sich, dass sie nichts im Gepäcknetz des Vordersitzes hatte liegen lassen. Dann löste sie den Gurt, stand auf und schloss sich den Passagieren an, die im Gang warteten.

In der Ankunftshalle des Flugplatzes angekommen, beobachtete sie, wie die anderen Passagiere von Freunden oder von ihren Familienangehörigen begrüßt wurden. Ob sie ihren Bruder Paul überhaupt wiedererkennen würde, wenn er vor ihr stand? Immerhin waren siebzehn Jahre vergangen, seit sie sich zuletzt gesehen hatten.

Das Lachen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Gary Brandner/Apex-Verlag. Published by arrangement with MCA Publishing/NBC Universal.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Christian Dörge (OT: CAT PEOPLE).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 14.03.2018
ISBN: 978-3-7438-6130-5

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