AL CONROY
Der Mann in Schwarz
Apex Western, Band 3
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER MANN IN SCHWARZ
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Sein Name war Clayburn - Vier Western von Al Conroy (Marvin H. Albert)
Das Buch
Cole Wheelock beherrscht die Stadt Glory Hole mit eiserner Faust – und mit der Unterstützung einer Bande von Revolvermännern. Er hat den Marshal ermordet und Deputy Harcourt vor aller Augen erniedrigt und als Feigling bloßgestellt. Jeder fürchtet die Brutalität und die Rache Wheelocks – nur einer nicht: Clayburn, der Mann in Schwarz.
Clayburn ist auf der Suche nach dem Revolvermann, der seinen Freund Greco schwer verwundet hat. Wheelock begeht den Fehler, den Mann in Schwarz zu unterschätzen, und Clayburn fügt sich nur scheinbar dessen Befehlen.
Und sobald der richtige Zeitpunkt gekommen ist... wird der Mann in Schwarz schnell und gnadenlos zuschlagen...
Der Apex-Verlag präsentiert diesen Klassiker der Western-Literatur in seiner Reihe APEX WESTERN als durchgesehene Neu-Ausgabe, ergänzt um ein Essay von Dr. Karl Jürgen Roth.
DER MANN IN SCHWARZ
1.
Der Mann mit dem hageren Gesicht und den dunklen, im Schatten liegenden Augen saß versteckt zwischen den düster wirkenden Felsen über den Trümmern der Ostwand des Canyons. Sein Name war Alex Flood. Er lehnte an einer ausgezackten Steinsäule und rauchte geduldig eine Zigarette, während er wartete.
Er hatte kein Gramm überflüssiges Fleisch an seinem mit lederartiger Haut überspannten Körper. Sein Alter mochte zwischen dreißig und fünfundvierzig liegen. Er sah aus, als ob er niemals jung gewesen wäre - und nie altern würde. Er wurde mit den Jahren nur härter und zäher.
Seine Kleidung war die eines Büffeljägers, und das war er früher auch gewesen. Er hatte gegen Indianer gekämpft, aber das war schon lange her. Jetzt war Flood nicht mehr und nicht weniger als ein berufsmäßiger Mörder; einer von der ganz besonderen Sorte. Er trug keinen Revolver an seiner Seite. Das war in einem Land, wo fast jedermann diese Waffe mit sich führte - und sei es nur, um damit anzugeben -, zumindest ungewöhnlich. Seine Bewaffnung bestand aus dem fünfzehnschüssigen Repetiergewehr, das neben ihm an einem Stein lehnte, und dem Bowiemesser in der Lederscheide am Gürtel.
Er nahm den letzten Zug aus seiner Zigarette, als er die Staubwolke in der Ferne sah.
Floods für gewöhnlich aufmerksame Miene änderte sich nicht. Aber er hielt den Atem an, bis er sicher war, dass die Staubwolke nicht von einem Windstoß herrührte.
Als er seiner Sache sicher war, blies Flood langsam den Rauch aus und drückte die Glut des Stummels im Erdreich neben sich aus. Er nahm sein Gewehr und lud mit einer geübten, beinahe nachlässigen Bewegung durch. Dann wartete er.
Die Staubwolke näherte sich. Eine von vier Pferden gezogene Postkutsche tauchte in der Staubwolke auf. Flood erhob sich und ging bis zur Felskante vor. Er legte sich zurecht und schob den Lauf des Gewehrs zwischen zwei Steine, die eine natürliche Schießscharte bildeten. Den Gewehrkolben an Wange und Schulter legend, visierte er die sich nähernde Postkutsche an.
Sie war, wie ihm richtig vorausgesagt worden war, ganz neu. Die hellgelben Speichen und Felgen der Räder und der schwarz-rot lackierte Wagenkasten leuchteten im Sonnenschein. Aus der Entfernung sah sie wie ein Spielzeug aus. Zwei Männer saßen auf dem Kutschbock. Über die große Distanz konnte Flood nur erkennen, dass der Mann neben dem Kutscher schwarz gekleidet war und einen Karabiner trug.
Es befanden sich, das wusste Flood, keine Passagiere in der Kutsche. Es war keine planmäßige Fahrt. Die Kutsche kam direkt vom Stellmacher und sollte an ihren Käufer in Glory Hole abgeliefert werden.
Die Kutsche hielt sich genau in der Mitte des Canyons - eine wohlüberlegte Vorsichtsmaßnahme. Der Canyon war sehr alt, und die Wände bröckelten seit Jahrhunderten ab. Zu beiden Seiten konnten zwischen dem zerrissenen Felsgestein bewaffnete Reiter verborgen sein und warten. Indem er die Kutsche genau in der Mitte hielt, tat der Kutscher sein Möglichstes, um sich mit dem Mann neben ihm etwas Zeit zur Vorbereitung der Abwehr eines unerwarteten Angriffs zu geben.
Darüber war Flood nicht besorgt. Er folgte der sich nähernden Kutsche mit dem Gewehrlauf und legte den Finger an den Abzug. Er nahm die Pferde aufs Korn. Ohne Hast schätzte er die Entfernung, die Schnelligkeit der Pferde und den Druck des schwachen Windes.
Jetzt befand sich die Kutsche beinahe auf gleicher Höhe mit ihm. Das Donnern der Pferdehufe, das Rasseln der Ketten, das Knarren der Räder und der ledernen Haltegurte füllte den Canyon aus. Flood atmete ein, hielt den Atem an, nahm Druckpunkt und zog den Abzug durch.
Das Echo des Schusses wurde von der Canyon-Wand gegenüber zurückgeworfen.
Das ihm nächste vordere Pferd brach zusammen, wurde von den drei anderen ein Stück mitgeschleift und brachte die Kutsche zum Halten. Als die Kutsche stand, hatte Flood bereits wieder durchgeladen und zielte auf das nächste Pferd. Kühl und präzise feuerte er den zweiten Schuss ab. Er traf das Tier in den Kopf. Das Pferd fiel gegen das neben ihm angeschirrte Tier, das in Panik ausbrach.
Während er wieder durchlud, achtete Flood nun auf die beiden Männer, die auf dem Kutschbock gesessen hatten. Beide waren herabgesprungen, als die Kutsche anhielt. Und jetzt sprinteten beide quer über die Sohle des Canyons direkt auf ihn zu. Jeder der beiden trug einen Karabiner. Die Tatsache, dass keiner schoss und damit nur Munition vergeudete, zeigte ihm, dass er es mit keinen Anfängern zu tun hatte. Sie versuchten den Fuß der Felswand zu erreichen, um sich zu ihm hinaufarbeiten zu können.
Floods Anweisungen lauteten, den Kutscher zu schonen, damit dieser mit den beiden noch lebenden Pferden die Kutsche nach Glory Hole bringen könne. Aber nachdem hier zwei Männer waren, bedeutete dies, dass er einen von ihnen unschädlich machen konnte. Es blieb dann noch immer einer, der die Kutsche fahren konnte.
Beide hatten den Fuß der Wand beinahe erreicht, als Flood sich entschloss, einen von ihn zu erschießen. Der Kutscher war ein untersetzter Mann mit kurzen, dicken Beinen. Aber er war etwa fünf Meter hinter dem anderen zurückgeblieben. Der andere - es war der Mann in Schwarz - bewegte sich mit der Gewandtheit eines Berglöwen. Er lief geduckt und im Zickzack, scheinbar ziellos, aber er näherte sich schnell der Felswand.
Flood wählte das langsamere Ziel. Er visierte den Kutscher an, hielt etwas vor, rechnete den ungünstigen Schusswinkel ein und feuerte. Die Kugel schleuderte knapp hinter dem Mann eine kleine Erdfontäne in die Höhe. Flood verbesserte den Vorhalt - und feuerte wieder.
Die Kugel traf den Kutscher in die Seite und warf ihn zu Boden. Er überschlug sich einmal und begann sofort, auf den nächsten Felsen zuzukriechen. Sein Gewehr ließ er liegen.
Flood hielt nach dem anderen Mann Ausschau.
Er war nicht mehr zu sehen. Das bedeutete, dass er die Felswand erreicht hatte und jetzt dabei war, sich einen Weg hinauf zu suchen.
Flood machte sich deshalb keine Sorge. Er hatte das Gelände sorgfältig erkundet, ehe er den Hinterhalt legte. Er wusste genau, welchen Weg der Mann einschlagen würde, um ihn zu erreichen - und auch, wie lange es dauern würde. Er hatte mehr als genug Zeit, um seinen Auftrag zu vollenden und zu verschwinden.
Der Kutscher war hinter dem Felsblock verschwunden, auf den er zu gekrochen war. In der Mitte des Canyons versuchten die zwei noch lebenden Pferde vergeblich, sich aus dem Geschirr zu befreien. Flood visierte die Kutsche an. Er hatte noch elf Patronen im Magazin. Mit beachtlicher Genauigkeit feuerte er sie in den Wagenkasten.
Die elf Kugeln würden die Kutsche nicht zerstören, aber sie sollten den Lack absplittern, Löcher in den Wagenkasten bohren und die Ledersitze aufreißen. Diese Beschädigungen konnten leicht ausgebessert werden; aber die funkelnagelneue Kutsche war danach eben nicht mehr so ganz funkelnagelneu.
Als er fertig war, lehnte Flood sich zurück und schob fünfzehn frische Patronen ins Magazin. Dabei zählte er im Unterbewusstsein die Sekunden. Es war Zeit zu verschwinden. Jetzt musste der Mann in Schwarz die lange, trockene Rinne erreicht haben, die als einziger Weg herauf führte.
Flood glitt von der Felskante zurück. Die Rückseite des Felswalles war genauso zerklüftet wie die vordere, und dort hatte er sein Pferd versteckt. Sobald er im Sattel saß, konnte ihn niemand mehr hindern, den Ort zu verlassen, ohne dass eine Spur zurückblieb.
Aber die angelernte Vorsicht veranlasste Flood nachzusehen, wie weit der Mann in Schwarz vorangekommen war. Er huschte zu dem nächsten Felsblock, presste sich dagegen und neigte den Kopf vorsichtig so weit, bis er um die Ecke spähen konnte, die Rinne hinunter, die der andere heraufkommen musste. Die Rinne war leer.
Flood spannte seine Muskeln, sah sich rasch um und legte den Finger an den Abzug des Gewehrs. Der Mann in Schwarz war nirgends zu sehen. Flood verfluchte sich im Stillen, dass er seinen Gegner unterschätzt hatte. Das wäre ihm nicht passiert, wenn der Gegner ein Indianer gewesen wäre. Aber es war lange her, dass er jemand gegenübergestanden hatte, der ebenso mit allen Wassern gewaschen war wie er selbst.
Die Rinne führte als einziger Weg zu der Stelle, von der aus er geschossen hatte. Das bedeutete, dass der andere diesen Punkt gar nicht erreichen wollte. Im Gegenteil, er tat genau das, was Flood an seiner Stelle auch getan hätte: er wusste, dass Flood irgendwo in der Nähe sein Pferd versteckt haben musste. Und dieses Pferd wollte er haben. In diesem Augenblick versuchte der Mann in Schwarz, Flood von dessen Pferd abzuschneiden.
Flood erkannte, dass er seine Anweisungen, einen Mann am Leben zu lassen, missachten musste. Es war wichtiger, dass er selbst überlebte. Wenn er nicht unentdeckt an dem anderen Mann vorbeikam, musste er ihn töten.
Nun nahm Flood die Lage wirklich ernst. Er unterschätzte den Gegner, mit dem er es zu tun hatte, nicht mehr. Und er überlegte sich, was er selbst tun würde, wenn er sich anstelle des Mannes in Schwarz befände.
Gedeckt durch den Schlagschatten zweier eng nebeneinanderstehender Felsen auf halber Höhe des hinteren Hanges, kauerte der Mann in Schwarz und beobachtete seine Umgebung. Sein Name war Clayburn. Er überlegte, wo der Heckenschütze sein Pferd versteckt haben könnte.
Er war ein großer, schlanker Mann mit breiten, abfallenden Schultern. Sein schmales Gesicht hatte einen zynischen Zug um die Lippen; seine weit auseinanderliegenden Augen waren grün und unerforschlich. Die Hände, die den Winchester-Karabiner hielten, waren sonnenverbrannt, die Finger lang und kräftig.
Die goldfarbene Krawatte und die Horn-Griffschalen seines Colts an der rechten Hüfte waren die einzigen hellen Gegenstände an seiner dunklen Kleidung. Sämtliche Kleidungsstücke waren von ausgesuchter Qualität: die Flanellhosen und die nicht verzierten Reitstiefel, der flache, breitkrempige Hut, das kurze Jackett und das Hemd aus bestem Leinen. Für seine augenblickliche Tätigkeit hätte er eine andere Kleidung gewählt. Aber er war auf diesen Überfall nicht vorbereitet gewesen.
Geduckt wandte sich Clayburn im Schatten der Felsen um und spähte nach oben. Es war mehr als eine Minute vergangen, seit die Schüsse verstummt waren.
Das Gefühl der Gefahr verstärkte sich mit der Stille. Clayburn lauschte aufmerksam, während seine Blicke jeden Quadratmeter des Bodens absuchten.
Aber wie sehr Clayburn auch seine Sinne anstrengte - von dem Schützen war nichts zu sehen und nichts zu hören.
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder auf das Gelände unterhalb seines Versteckes. Das Pferd des Schützen konnte nicht weiter oben versteckt sein, weil der Hang dort zu steil anstieg. Und es würde nicht zu weit unten stehen, denn der Mann würde sein Pferd so nahe als möglich haben wollen. Das bedeutete, dass das Pferd nicht weit entfernt sein konnte.
Es gab nach Clayburns Meinung drei Stellen, wo das Pferd verborgen sein konnte. Beinahe direkt unter ihm lag ein wirrer Haufen von Felsblöcken. Zwischen ihnen konnte man mehr als ein Pferd verstecken.
Rechts davon konnte er den Schatten einer tiefen Mulde erkennen. Sie war breit genug, um ein Pferd aufzunehmen; ob sie auch tief genug war, war nicht abzuschätzen.
In der anderen Richtung, von den Felsblöcken aus gesehen, lag der Eingang zu einer engen Schlucht. Auch dort konnte ein Pferd versteckt gehalten werden. Aber am Eingang der Schlucht wucherten Gras und Mesquite-Gebüsch, und es sah nicht so aus, als ob es niedergetreten worden wäre.
Clayburn entschloss sich, zunächst die Felsblöcke direkt unter sich abzusuchen. Er wandte den Kopf und spähte wieder in die Höhe. Trotz angestrengten Suchens konnte er keine Bewegung entdecken. Und das war merkwürdig genug, um ihn zu besonderer Vorsicht zu veranlassen, als er sein Versteck verließ.
Geduckt schlängelte er sich zwischen den Felsblöcken durch, den Zeigefinger am Abzug des Karabiners. Er folgte einem Weg, der ihm die bestmögliche Deckung bot. Bei jedem Schritt achtete er darauf, keinen Stein ins Rollen zu bringen. Und jedes Mal, wenn er ein paar Schritte zurückgelegt hatte, legte er eine Pause ein, um sich umzusehen.
Schließlich erreichte er eine Stelle, von der aus er zwischen die Felsblöcke blicken konnte. Er war jetzt sicher, dass hier kein Pferd verborgen war. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Eingang der Schlucht zu.
Er war jetzt wesentlich näher herangekommen; das Gras und das Mesquite-Gebüsch sahen auch aus der Nähe unberührt aus. Clayburn wandte seine Aufmerksamkeit der Mulde zur Rechten zu.
Er konnte sie nicht erreichen, ohne mindestens fünf Meter über offenes Gelände zurücklegen zu müssen, und das wollte er lieber nicht riskieren. Aber eine trockene, flache Rinne führte bis zu einer Stelle, von der aus er in die Mulde hineinsehen konnte.
Als er den nächsten Felsblock erreicht hatte, sah er vorsichtig um die Ecke. Im grellen Licht der Sonne verengten sich seine grünen Augen zu schmalen Schlitzen. Von dem Schützen war nichts zu sehen. Clayburn suchte nach dem geringsten Anzeichen, das ihm die Anwesenheit eines Mannes verraten konnte: einer kleinen Staubfahne, einem Schatten, wo keiner sein sollte, einem Sonnenstrahl, der sich auf Metall spiegelte. Nichts.
Das bedeutete, dass es zwei Möglichkeiten gab: Der Schütze befand sich noch oben auf dem Felswall, gut versteckt, und wartete auf eine Gelegenheit, um Clayburn zu erschießen. Oder es war ihm trotz Clayburns Wachsamkeit gelungen, über den Felshang herunterzuklettern, ohne gesehen und gehört zu werden.
Sollte dies zutreffen, dann musste der unbekannte Schütze ein Mann sein, der wie ein Apache mit der Wildnis vertraut war. Clayburn hatte einen Teil seines bunten Lebens damit zugebracht, die Fährten aus der Reservation ausgebrochener räubernder Apachen für die Armee aufzuspüren. Die Tatsache, dass er noch am Leben war, sprach für seine Fähigkeiten. Sollte es also dem Schützen gelungen sein, unbeobachtet den Hang herunterzukommen, dann war er Clayburn mindestens ebenbürtig.
Eine Spur von Furcht regte sich in Clayburn. Furcht konnte sich als sehr wirkungsvoll erweisen. Sie konnte einem Mann das Leben erhalten. Mit angespannten Sinnen kroch Clayburn in die Rinne. Sie war flacher, als er erwartet hatte - kaum knietief. Er robbte die Rinne entlang, den Karabiner vor sich haltend. Die Rinne machte eine scharfe Krümmung, verlief ein Stück gerade, und dann kam die zweite Krümmung.
Er hatte die halbe Entfernung zu der zweiten Krümmung zurückgelegt, als kaum hundert Meter hinter ihm ein Gewehrschuss krachte.
2.
Die Kugel zischte an Clayburns Kopf vorbei und schlug an einen Stein. Sie prallte ab und pfiff knappe zwei Zentimeter über seinem Rückgrat vorbei.
Clayburn krallte sich in das Geröll. Das unsichtbare Gewehr krachte wieder. Die Bleikugel schlug gegen die Wand der Rinne. Clayburn blieb liegen. Er rührte keinen Muskel. Solange er liegenblieb, war er sicher. Der Schütze konnte ihn in der Rinne nicht erreichen.
Jetzt war die Situation klar. Dem Schützen war es gelungen, unbemerkt von der Höhe herunterzukommen. Und da er ihn, Clayburn, nicht sehen konnte, gab es nur eine Möglichkeit, wie er ihn entdeckt hatte: er musste die kaum merkbare Staubfahne gesehen haben, die Clayburn verursacht hatte. Der Mann, mit dem er es zu tun hatte, war Clayburn ebenbürtig.
Die Sekunden dehnten sich. Es wurde nicht mehr geschossen. Clayburn drehte sich blitzschnell auf den Rücken. Er hielt den Karabiner schussbereit. Kein Geräusch war zu hören.
Clayburn lag auf dem Rücken, die Augen gegen das grelle Sonnenlicht fast geschlossen, und überlegte. Ohne Clayburn sehen zu können, durfte der Schütze nicht erwarten, dass er ihn traf, es sei denn durch einen Querschläger. Aber diese Möglichkeit war so gering, dass der Schütze nur deswegen seine Position nicht verraten hätte.
Folglich hatte der Schütze nur deshalb geschossen, um seinen Standort bekanntzugeben. Dafür konnte es zwei Gründe geben.
Sollte das Pferd des Schützen in der Mulde stehen, auf die sich Clayburn zubewegt hatte, dann befand er sich jetzt zwischen dem Mann und seinem Pferd. In diesem Fall konnte der Schütze nur an ihm vorbeikommen, wenn er ihn aus seinem Versteck herauslockte.
Aber es konnte auch anders sein: vielleicht wollte der Schütze, dass Clayburn so dachte und in seinem Versteck blieb, weil er das Pferd in der Mulde vermutete. In diesem Fall würde der Schütze Zeit gewinnen und sein eigenes Pferd erreichen können - das dann in der Schlucht stehen musste.
Die Mulde oder die Schlucht - Clayburn wog die beiden Möglichkeiten gegeneinander ab. Er war gewohnt, mit Hilfe seiner Gedanken sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Und jetzt versuchte er, so zu denken wie dieser Schütze, den er noch nie gesehen hatte und von dem er nichts wusste, als dass er ein guter Gewehrschütze und ein ausgezeichneter Kenner der Wildnis sein musste.
Flood kauerte hinter einigen Felsen und beobachtete die Rinne, in die er gefeuert hatte. Er wartete geduldig und hielt seine Unruhe mit eiserner Disziplin nieder. Bei einem Versteckspiel wie diesem kam es nur darauf an, wer die besseren Nerven hatte. Man musste warten und beobachten. Meist verlor der, der sich zuerst bewegte.
Die Sekunden wurden zu Minuten. Flood wartete.
Dann... sah er es. Eine hauchzarte Staubfahne erhob sich über der Rinne. Sie war kaum sichtbar. Der Mann in der Rinne kroch von ihm weg.
Die kaum sichtbare Staubfahne erreichte das andere Ende der Rinne.
Flood fuhr fort zu warten und zu beobachten. Zwei volle Minuten vergingen. Kein Staub war mehr zu sehen. Schließlich entspannte sich Floods hageres Gesicht ein wenig. Die Stelle, an der sich der Mann in Schwarz verborgen hielt, war vorzüglich gewählt. Wenn sein Pferd in der Mulde gewesen wäre. Aber dort war es nicht. Es befand sich in der Schlucht auf der anderen Seite.
Flood richtete sich ein wenig auf. Mit unendlicher Vorsicht bewegte er sich weiter, jede noch so kleine Deckung ausnützend. Als er noch dreißig Meter vom Eingang der Schlucht entfernt war, hielt er an und blickte zurück.
Stück für Stück suchte er die Felsen und die Rinne ab. Nichts rührte sich dort. Dann blickte er wieder zum Eingang der Schlucht.
Die Rinne lag jetzt weit hinter ihm, aber sie befand sich immer noch in Gewehrschussweite.
Er war mit seinem Pferd durch den anderen Eingang, der von dieser Seite aus nicht zu sehen war, in die Schlucht geritten. Auf diesem Weg würde er die Schlucht auch wieder verlassen. Um aber in die Schlucht zu gelangen, musste er ein Stück über offenes Gelände zurücklegen. Wie schnell er sich auch bewegen mochte, sechs oder sieben Sekunden lang würde er eine Zielscheibe abgeben.
Die Möglichkeit bestand, dass der Mann in Schwarz ausgerechnet während dieser Sekunden in seine Richtung sah. Flood konnte zwar nicht wissen, wie gut der Mann in Schwarz auf größere Entfernung schoss, aber er hatte nicht die Absicht, unvorsichtig zu werden.
Flood suchte nach einem Ausweg. Er brauchte nicht lange, um einen zu finden. Auf einem Umweg könnte er im Schutz der Felsen an sein Ziel gelangen. Zwar nicht durch den Eingang, sondern von oben über den Rand.
Auch wenn der Mann in Schwarz gerade in dem Augenblick die Schlucht beobachtete, würde er keine Zeit haben, zu zielen.
Zufrieden machte sich Flood auf den Weg. Er brauchte ziemlich lange, immer darauf bedacht, sich nicht zu zeigen, nicht zu stürzen und keinen Stein loszutreten. Als er endlich anlangte, zeigte es sich, dass er die Entfernung ziemlich genau geschätzt hatte.
Die letzte Deckung bot eine Erosionssäule aus Sandstein, von dort waren es etwas mehr als zwei Meter bis zum Rand des schmalen Einschnitts. Das Gewehr mit einer Hand festhaltend, ging Flood in die Hocke, spannte die Muskeln, beugte sich nach vorn - und sprang. Wie er es erwartet hatte, brachte ihn dieser Sprung über die gefährliche offene Stelle. Er setzte den Fuß fünf Zentimeter vor dem Rand der kleinen Schlucht auf.
Er hob das Bein, um über den Rand zu treten und den Hang in die Schlucht hinunterzurutschen, als der Schuss aus dem Karabiner krachte. Ehe Entfernung betrug kaum fünfzig Meter.
Flood hörte den Schuss im gleichen Augenblick, als die Kugel sich in den Kolben seines Gewehrs bohrte und den Lauf mit Gewalt gegen seinen Brustkorb rammte. Das Gewehr fiel aus seiner geprellten Hand, als er über die Kante sprang und in die mit dichtem Mesquite-Gebüsch bestandene Schlucht hinabrutschte.
Clayburn hatte unter einem Überhang, etwa fünfzig Meter von der Schlucht entfernt gekauert, als es geschah. Er hatte sein Versteck gerade erst erreicht, und er war nicht sicher, ob sich der Schütze auch tatsächlich in dieser Richtung bewegte.
Er hatte sich gerade unter dem Überhang niedergelassen, um die Schlucht zu beobachten und überlegt, ob er sich nicht doch geirrt hatte, als er die Bewegung sah.
Sofort warf er sich herum und riss den Karabiner hoch, ohne sich Zeit zu nehmen, genau zu zielen. Er feuerte, sobald der Lauf in die Richtung des anderen zeigte. Im nächsten Augenblick war der Mann in der Schlucht verschwunden.
Clayburn lud den Karabiner durch, als er aufstand. Er ging nicht direkt auf den Schluchteingang zu - aus demselben Grund, aus dem es Flood auch nicht getan hatte. Die offene Strecke vor dem Eingang war zu gefährlich, der Gegner hatte vermutlich einen Revolver und wusste damit umzugehen.
Aus diesem Grund kletterte Clayburn zu der Stelle hinauf, von der aus der Schütze hinabgesprungen war. Als erstes entdeckte er dort das Gewehr. Es lag nahe am Rand der Schlucht, und die Kugel hatte sich tief in das Holz des Schaftes eingewühlt.
Clayburn ließ sich neben dem Gewehr auf die Knie nieder, beugte sich vorsichtig nach vom, bis er in die Schlucht hinuntersehen konnte.
Der Schütze war verschwunden.
Noch während Clayburn nach ihm suchte, drang Hufschlag an sein Ohr.
Clayburns Gesicht verzog sich. Dann zuckte er mit einer Schulter. Das Gewehr aufhebend, stand Clayburn auf und machte sich auf den Weg zurück zur Postkutsche.
Er fand Ben Greco, den Kutscher, an den Felsen gelehnt, zu dem er gekrochen war. Greco war ein untersetzter Mann mit schütterem grauem Haar und dem harten Gesicht eines Faustkämpfers, das durch die gebrochene Nase charakterisiert wurde. Ein paar Kämpfe hatte er verloren, aber es waren nur wenige gewesen. Er war der beste Mann, den Clayburn je mit einem Revolver gesehen hatte. Er war nicht der Schnellste im Ziehen, aber wenn er den Revolver einmal in der Hand hielt, war es wert, ihm zuzusehen.
Grecos Gesicht war aschfahl, und er hielt die Augen geschlossen. Mit beiden Händen presste er sein zusammengerolltes Halstuch gegen die rechte Seite. Das Tuch und das Hemd waren blutgetränkt. Der Atem kam kurz und stoßweise durch die zusammengepressten Zähne.
Clayburn kauerte sich neben ihn, legte das Gewehr und die Winchester beiseite und sagte scharf: »Greco!«
Grecos blutunterlaufene Augen öffneten sich. »Hast lange gebraucht, um den Bastard zu erwischen«, zischte er, ohne die Zähne zu öffnen.
»Ich habe ihn nicht erwischt. Lass mich mal sehen.« Er zog Grecos Hände von der Wunde weg. Das Halstuch blieb an dem geronnenen Blut kleben.
Grecos Augen öffneten sich ein wenig weiter. »Er ist dir entkommen, bevor du ihn erreichen konntest?«
»Nachdem ich ihn schon erreicht hatte.«
Greco starrte ihn an. »Du lässt nach. Als ich in deinem Alter war...«
»Halt den Mund und leg dich hin.« Clayburn drehte ihn zur Seite und untersuchte die Wunde. Die Kugel war an einer Rippe entlanggeglitten und hatte eine Furche in das Fleisch von der Achselhöhle bis unter die Brustwarze gerissen. »Hätte schlimmer sein können«, sagte er unbewegt. »Die Kugel hat dich bloß um ein Pfund Fett erleichtert. Wenigstens brauche ich sie nicht herauszuoperieren.«
»Ich glaube, die Rippe ist angeknackt.«
Clayburn nickte kurz. »Möglich. Los, weg von hier.« Er legte sich Grecos linken Arm um die Schulter und zerrte ihn auf die Beine.
Greco schien eine Tonne zu wiegen, aber er blieb auf den Beinen, und sie erreichten die Kutsche.
Die Kutsche sah furchtbar aus. Im Wagenkasten klafften ausgesplitterte Löcher, eine der Lampen war zertrümmert, das Leder des Gepäckbehälters war aufgeschlitzt. Innen sah es ebenso schlimm aus. Die Wandverkleidung war zerrissen. Im Faltsitz gähnte ein Loch. Eine Kugel hatte die Polsterung der hinteren Sitzbank zerfetzt.
Clayburn bettete Greco auf die hintere Sitzbank, klappte den Faltsitz auseinander und legte Grecos Füße darauf. Er holte eine volle Wasserflasche und ein sauberes Hemd aus seinen Satteltaschen, reinigte die Wunde und zerriss sein Hemd in Streifen, um einen Verband anzulegen und die Blutung zu stillen. Als er fertig war, hielt Greco die Augen geschlossen. Sein Atem ging etwas leichter.
Clayburn setzte sich ihm gegenüber auf die vordere Sitzbank. »So, Greco. Und nun rede. In was für eine üble Sache hast du mich jetzt wieder hineingezogen?«
Greco legte eine Hand auf seinen Verband und stöhnte.
Clayburn blieb unbeeindruckt. Er hatte einmal eine Kugel aus Grecos Schulter herausoperiert. Die Kugel hatte tief gesessen, er hatte eine halbe Stunde gebraucht, um sie ans Tageslicht zu befördern, und er hatte keinen Whisky gehabt, um Grecos Schmerzen zu lindern. Greco war die ganze Zeit bei Bewusstsein geblieben und hatte keinen Laut von sich gegeben.
»Das war kein Raubüberfall«, sagte Clayburn. »Außerdem hat der Schütze zwei Pferde am Leben gelassen. Er wollte diese Kutsche nicht einmal völlig zerstören. Also war es eine Warnung - oder eine Drohung. An wen? An die Frau, der die Postkutschenlinie gehört und deren Partner du geworden bist?«
»Vielleicht...«, flüsterte Greco, ohne die Augen zu öffnen.
»Wer macht ihr Schwierigkeiten? Und warum?«
»Weiß ich nicht... nicht genau.«
»Aber du hast gewusst, dass etwas los ist. Deshalb hast du mich gebeten, mitzufahren. Stimmt's?«
Greco öffnete seine blutunterlaufenen Augen und sah ihn wütend an. »Zum Teufel, Clay... wirst du endlich die Schnauze halten und mich zum Arzt bringen? Ich bin schließlich verwundet. Ich werde dir alles erklären, wenn wir da sind.«
»Dort liegt also der Hund begraben... in Glory Hole?«
Greco nickte, stöhnte und schloss die Augen.
Clayburn sah ihn ein paar Sekunden lang ausdruckslos an. Dann seufzte er, kletterte aus dem Wagen und schwang sich auf den Kutschbock. Er zog die Bremse fest, kletterte wieder hinunter und ging zu den Pferden.
Er schirrte die beiden toten Tiere aus. Das am Leben gebliebene vordere Pferd spannte er neben das hintere Pferd. Dann ging er, um die Waffen zu holen und trug sie zur Kutsche.
Er warf Grecos Karabiner und das Gewehr des unbekannten Schützen in den Wagen. Greco stellte sich schlafend. »Sag mir noch eins, Greco: hat dir diese Frau gesagt, dass es Schwierigkeiten gibt, noch ehe du ihr Partner wurdest?«
Greco nickte, ohne die Augen zu öffnen.
»Aber du hast dir nicht die Mühe gemacht, es mir zu sagen... ehe ich dir das Geld lieh, das ich beim Pokern
gewonnen hatte, damit du deinen Geschäftsanteil kaufen konntest?«
Trotz seiner Schmerzen brachte Greco es beinahe fertig, zu lächeln. »Sonst hättest du mir nichts gegeben.«
»Worauf du dich verlassen kannst«, antwortete Clayburn ruhig. »Du bist ein hinterhältiger Gauner.«
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Marvin H. Albert/Apex-Verlag/Successor of Marvin H. Albert.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Richard Heinersdorff und Christian Dörge (OT: The Man In Black).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2018
ISBN: 978-3-7438-5912-8
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