CLAY FISHER
Keine Überlebenden
Apex Western, Band 2
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
KEINE ÜBERLEBENDEN
ERSTER TEIL
1.
2.
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15.
16.
17.
Zwischenbericht
ZWEITER TEIL
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Schluss
NO SURVIVORS und CUSTERS LAST STAND
Will Henry / Clay Fisher und die Indianerkriege
Das Buch
Colonel John Clayton, ein Scout der US-amerikanischen Grenztruppen, wird schwer verwundet und schließlich von Crazy Horse, dem Kriegshäuptling der Sioux, adoptiert und in den Stamm aufgenommen. Die leidenschaftliche Liebe zu einer jungen Indianerfrau trägt Zwiespalt in seine Seele und führt ihn auf einen Grenzpfad tragischer Einsamkeit zwischen Weißen und Indianern.
Sein aufrichtiger Versuch, General George A. Custer vor der Schlacht am Little Big Horn zu warnen, scheitert. Jeder sieht in ihm einen Verräter, und so findet er als Ausgestoßener aus zwei Welten in den Winterstürmen des Nordens ein düsteres Ende...
Henry Wilson Allens Roman-Erstling Keine Überlebenden (No Survivors, 1950), verfasst unter dem Pseudonym Clay Fisher, beschreibt das Schicksal von John Clayton vor dem farbigen Hintergrund des historischen Geschehens mit einer weitreichenden Einsicht in das geschichtliche Quellenmaterial. Und er lässt John Clayton selbst erzählen – mit einer kargen Sprache von großartiger Unmittelbarkeit und mitreißender Bildkraft.
Der Apex-Verlag präsentiert diesen Klassiker der Western-Literatur in seiner Reihe APEX WESTERN als neue und ungekürzte deutsche Übersetzung, ergänzt um ein Essay von Dr. Karl Jürgen Roth.
KEINE ÜBERLEBENDEN
ERSTER TEIL
1.
Die Geschichte spricht mit vielen Zungen - und nicht alle berichten wahrheitsgemäß.
Es mag zutreffend sein, dass man Captain Keoghs Pferd Comanche als einziges lebendes Wesen achtundvierzig Stunden nach Custers letzter Schlacht an den Ufern des Little Bighorn gefunden hat - wie die Geschichtsbücher berichten. Doch es stimmt nicht, dass das Pferd der letzte Überlebende von General Custers Kommando gewesen ist. Denn es gab noch einen weiteren Überlebenden - aber achtundvierzig Stunden später war dieser bereits weit entfernt von dem Schlachtfeld und den schweigenden Toten. Und er ritt fort - hinaus aus den Blättern der Geschichte.
Ich selbst... war dieser Überlebende.
Diese Aufzeichnungen sollen das Andenken an General George Armstrong Custer nicht trüben, der in unserem Volk als Nationalheld weiterlebt. Aber ich sah ihn sterben, und das Wissen um diese tragischen letzten Stunden will in mir nicht zur Ruhe kommen.
Als ich sechzehn war, entflammte der Krieg zwischen den Staaten. Binnen eines Jahres war ich Captain, und wiederum genau ein Jahr später wurde ich nach den Ereignissen von Chickamauga Stabsoffizier. Die nächsten acht Monate diente ich unter dem Kommando von J. E. B. Stuart, und ich wurde wieder befördert; diesmal in Spottsylvania zum Colonel. Damals war ich neunzehn Jahre und sieben Monate alt.
In jener Nacht, in der Lee - der Oberkommandierende der Südstaaten - seinen letzten Kriegsrat in dem Wäldchen außerhalb von Appomattox einberief, war ich einundzwanzig und Colonel in der Kavallerie der Konföderierten.
Auf dem Papier erscheint dies alles sehr einfach. Aber ich hatte den Krieg als furchtbare Feuerprobe erlebt, da es mein Los war, immer in seiner heißesten Glut zu stehen. Und wenn ich auch nicht der härteste Mann in diesen Feuergluten geworden war, so bin ich bestimmt auch nicht der weichste geblieben.
Vielleicht klingt das unbescheiden. Einem, der noch nie die Zähne auf seinen Pistolenlauf gebissen hat, wenn ihm ein Armeechirurg mit schmutzigen Fingern eine Yankee-Kugel aus den Eingeweiden holte, mag das so erscheinen. Vielleicht auch dem, der sich nicht selbst in den Arm biss, um nicht wie ein Weib zu schreien, als ihm eine Ordonnanz Salzsäure in einen Säbelhieb am großen Rückenmuskel goss.
Einem Jungen aber, der das alles selbst erlebte, während seine Altersgenossen über Rechenaufgaben brüteten oder mit den Mädchen scherzten, muss diese Feststellung nüchtern erscheinen.
Damals glaubte ich noch, ich könnte die Geschehnisse bei Appomattox unberührt hinnehmen. Doch als Lee in jener Nacht die Totenmesse der Konföderation las, hätte einem Stein das Herz brechen können.
Unsere Armee war zerschlagen, aber sie focht noch wütend, als Lee um drei Uhr Ordonnanzen sandte und fragen ließ, ob wir Fortschritte machten. Ich stand als Kavallerie-Verbindungsoffizier bei General Gordon und hörte seine Antwort.
»Melden Sie General Lee«, sagte er ruhig, »dass mein Kommando zerschlagen ist. Wenn Longstreet mich nicht unterstützt, komme ich nicht weiter.«
Später erzählte mir Colonel Venable, Lees Adjutant, der alte Krieger habe bei dieser Meldung eine volle Minute in die Dunkelheit gestarrt, ehe er langsam sagte: »Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als General Grant von der Union aufzusuchen - und doch würde ich lieber tausend Tode sterben.«
Die folgenden Ereignisse an unserem Frontabschnitt führten mich zum ersten Male mit jenem Manne zusammen, der in meinem eigenen Leben eine so schicksalhafte Rolle spielen und mit seinem rätselhaften Tod eines der größten militärischen Geschehnisse seiner Zeit herbeiführen sollte. Ich sah ihn das erste Mal, als er neben unserem Unterhändler, Colonel Green Peyton, von der Unionsseite her zu unseren Linien geritten kam.
Unsere Botschaft an den feindlichen Kommandeur hatte gelautet: General Gordon hat von General Lee eine weiße Flagge erhalten, um die Schlacht abzubrechen. Der Kommandeur der Union war der verhasste Sheridan. Wir Angehörigen von Gordons Stab hatten also die hässliche Aufgabe vor uns, Little Phil geziemend zu empfangen.
Man stelle sich unsere Gefühle vor, als nicht Sheridan mit Peyton zurückkehrte, sondern ein unbekannter Unionsgeneral, dessen Erscheinung so ungewöhnlich war, dass wir ihm schweigend entgegenblickten.
Makellos waren seine Haltung und die Bewegung im Sattel. Obwohl wir als Männer aus dem Süden an Reitkünste gewöhnt waren, hatte noch keiner von uns einen besseren Reiter gesehen. Der Mann war groß - und so schlank wie eine Frau - aber mit einer stählernen Biegsamkeit. Sein Haar fiel in langen Wellen bis auf die Schultern, und in der Morgensonne dieses Begräbnistages schimmerte es goldgelb.
Ein aufgeregter Schütze in der Reihe neben mir murmelte laut: »Schau dir sein Haar an: gelber als ein Kornfeld im August!«
Dieser prächtige Offizier galoppierte an General Gordon heran und brachte sein Tier in einer kunstvollen Parade dicht vor ihm zum Stehen. Er salutierte mit dem Degen und sagte:
»General Gordon - ich bin General Custer und überbringe Ihnen eine Botschaft von General Sheridan. Der General wünscht, dass ich Ihnen seine Komplimente ausspreche. Weiter fordert er die augenblickliche und bedingungslose Übergabe aller Truppen unter Ihrem Befehl.«
Gordon antwortete mit weißen Lippen: »General, erwidern Sie die Komplimente an General Sheridan, und sagen Sie ihm, dass ich mich nicht bedingungslos ergebe.«
Daraufhin sagte der Unionsoffizier unbeeindruckt: »Falls Sie irgendwelche Zweifel wegen Ihrer Übergabe haben sollten, lässt Ihnen General Sheridan sagen, dass er Ihre Truppen umzingelt hat und sie innerhalb einer Stunde vernichten kann.«
General Gordon blieb fest und erklärte, er könnte die eigene Lage besser überschauen als andere, und wenn General Sheridan die Verantwortung für ein weiteres Gemetzel übernehmen wollte, so wäre das seine Sache.
Custer salutierte und wendete sein Pferd, aber anstatt fortzureiten, hielt er gerade vor mir. Er grüßte und schaute mich beharrlich an. Einigermaßen verwirrt, erwiderte ich den Gruß, und dann saßen wir beide da und starrten uns an. Fieberhaft suchte ich nach einer Erklärung für diese Auszeichnung, und ich fand sie auch, ehe er sprach.
Als sich Custer unserem Kommando näherte und noch etwa siebzig Meter entfernt war, hatte ein unritterlicher Schütze der Konföderierten seine Muskete gehoben, als wollte er auf ihn feuern. Ich hatte die Bewegung bemerkt, ihm das Gewehr aus der Hand geschlagen und nach hinten die Anordnung gegeben, ihn zu arretieren, ohne dabei den Blick von dem heranreitenden Offizier zu wenden. Der Soldat war ein Gebirgler aus Tennessee und einer unserer sichersten Schützen. Ich war zufrieden: Custer war nicht mehr als einen Fingerdruck vom Tode entfernt gewesen, und die Ehre der Konföderierten Armee nicht weniger weit davon, für alle Zeiten beschmutzt zu sein.
Doch die ganze Angelegenheit erschien so nichtssagend gegen das sich abspielende große Drama, dass sogar die Leute unserer eigenen Kompanie sie kaum beachteten. Es schien unglaubhaft, dass Custer jenes kleine Zwischenspiel bemerkt hatte.
»Colonel...« - seine Stimme klang verwirrend tief - »...meine Hochachtung! Zweifellos haben Sie mir das Leben gerettet. Ich werde mich daran erinnern, falls sich unsere Wege wieder kreuzen sollten.«
Schon im Fortreiten deutete er auf den Soldaten, der auf ihn schießen wollte, und er fragte mich: »Darf ich einen Befehl erteilen, Colonel?«
Ich nickte mechanisch, und er rief den Corporal, dessen Kommando den Schützen bewachte.
»Corporal! Lassen Sie den Mann frei und geben Sie ihm sein Gewehr zurück.«
Dann riss er sein Pferd scharf herum und salutierte mit dem Degen vor der ganzen Linie. Seine letzten Worte in ihrem heiseren Ton werden mir immer in Erinnerung bleiben.
»Meine Komplimente der unvergleichlichen Konföderierten Armee!«
In einem Augenblick war er verschwunden und jagte den eigenen Linien zu.
2.
Ich werde nicht weiter vom Sterben der Südstaaten bei Appomattox berichten. Die kurze Zusammenfassung mag als Vorwort für die wirkliche Geschichte meines Lebens dienen - für die Saga vom Zug nach dem Westen, die dann begann, als ich nach der Übergabe vergeblich versucht hatte heimzukehren.
Meine einzigen Besitztümer auf dieser Reise nach Westen waren meine Kampferprobtheit, mein Pferd und ein alter Colt-Revolver. Wir drei zusammen boten vermutlich kein sehr vertrauenerweckendes Bild.
Hussein, die Grundlage des verwahrlosten Trios, trug viel zu diesem verheerenden Erscheinungsbild bei. Er war ein prächtiger Hengst, der angeblich reines Araberblut in seinen Adern haben sollte, und nach der Schlacht von Chickamauga hatten ihn mir meine Soldaten geschenkt.
Auf irgendeine Weise hatte er die beiden letzten Kriegsjahre überlebt - doch um welchen Preis! Eine Kugel hatte eine Furche über seine fünf letzten Rippen gepflügt. Aus Gründen der Symmetrie trug er auf der anderen Seite ein halbes Dutzend fußlanger Säbelhiebe. Sein linkes Ohr war von einer feindlichen Kugel zerfetzt worden, die sicherlich mir gegolten hatte, nun hing es trübselig herab. Sein Winterfell war struppig; Mähne und Schweif zeigten gleichermaßen die Spuren von Kugeln und Säbelhieben, und diese ehrenvollen Narben leuchteten in einem gespenstischen Weiß. Allgemein erinnerte er an einen Waschbär-Hund, der nur mit Bachwasser gefüttert wurde. Er war eine so echte Rosinante wie ich ein echter Südstaaten-Don-Quichote war. Kurzum, er war so dünn, dass sein Schatten Löcher hatte.
Allerdings war nicht nur sein Äußeres unerfreulich. Sein gewöhnlicher Geisteszustand schwankte zwischen der Stimmung eines verwundeten Grizzly-Bären und eines brünstigen Elches. Er hasste die Menschheit im Allgemeinen und Frauen im Besonderen und brachte andere Pferde lieber um, als dass er sie anschaute. Zwei Dinge an ihm waren kerngesund: seine Lungen und sein Herz. Die Lungen hatten nie Erschöpfung gekannt, und sein Herz war stark wie ein Nagelfass. Nur ein Gefühl hatte darin Platz: die Liebe zu mir.
Ich war der rechte Gefährte für das Biest. Nicht nur das Uniformgrau gab meiner Kleidung die Farbe, sondern ich war vom Stetson-Hut abwärts bis zu den aufgerissenen Spitzen meiner Kavalleriestiefel von einem Staubschleier bedeckt. Dieser Schmutz verschönte kaum meine ohnehin von der Natur nicht begünstigten Züge. Zufällig hatte ich einmal gehört, wie ein Schütze mich folgendermaßen einem Melder beschrieben hatte.
»Colonel Clayton findest du am linken Flügel vorn. Musst nur dorthin schauen, wo die Kugeln am dichtesten fliegen und der Rebellenruf am lautesten ertönt. Er ist ungefähr drei Axtstiele lang und einen breit an der Schulter. Wenn du ihn daran noch nicht erkennst, dann suche nach einem Cherokee-Gesicht mit einem Schnurrbart so schwarz wie ein Yankee-Herz und starrer als der einer Wildkatze. Wenn du ihn immer noch nicht findest, stoße den Rebellenruf aus. Der erste Offizier, der dann brüllt: »Vorwärts Leute! Das ist er.«
Diese Darstellung meiner persönlichen Reize braucht wohl nicht weiter ergänzt zu werden. Die Mischung aus irischem und kreolischem Blut hatte mir Gesicht und Hautfarbe verliehen, die einem mörderischen Eingeborenen angemessener gewesen wären als einem Gentleman aus Georgia.
Man möchte kaum glauben, dass ein einfacher Revolver so viel Persönlichkeit besitzt, um eine Beschreibung nötig zu machen. Doch der Colt, der seit der ersten Schlacht bei Manassas an meiner Seite hing, hatte sich diese Auszeichnung reichlich verdient. Old Cottonmouth hatte ihn ein längst vergessener Soldat deshalb getauft, weil er so viele Yankees mit echter Südstaaten-Höflichkeit willkommen geheißen hatte.
Dieses zartbesaitete Dreigespann erschien im Frühling 1866 - über ein Jahr nach Appomattox - auf dem Marktplatz von Kansas City. So lange hatte ich gebraucht, um zu lernen, dass die Yankees Wiederaufbau und Vernichtung genau gleich buchstabieren.
Zuerst hatte ich die Erfahrung gemacht, dass Sheridans Wort, der Krieg sei die Hölle, hervorragend auf die Pflanzung der Claytons passte. Meine Mutter war gestorben - die beiden Schwestern nach Norden gegangen.
Ich trieb mich dort in der Gegend herum und hantierte mit Würfeln und Karten - von Macon bis Mobile und von Augusta bis Austin. Als Spieler fuhr ich auf einem Dampfer den Mississippi hinauf. In Memphis wurde ich angeschossen und verlor mein Geld und dreißig Pfund Gewicht. Mit dreiundzwanzig Jahren reiste ich wieder nach Hause: ein Grenz-Rowdy, Kartenhai und Hansdampf in allen Gassen. Ich war in Texas gewesen, und dort hatte es mir nicht gefallen. Aber ich war auch oben am Fluss gewesen und hatte von Kansas City, vom Oregon-Trail und von Kalifornien reden gehört.
In den späten sechziger Jahren war Kansas City der größte von allen Fleischtöpfen an der Grenze, und der Marktplatz war der Mittelpunkt. Hierher kam der Abschaum der Grenze, um sich zu amüsieren. Hier blieben die Rinderleute, Händler, Trapper und Büffeljäger den Sommer über bis zum nächsten harten Winter. Hier holten die Auswanderer, Fuhrleute, Scouts und Wagenzug-Führer noch einmal in Ruhe Atem, bevor sie mit ihren Prärieschonern in die gefährliche indianische See hinaussegelten.
Alle Güter des verweichlichten Ostens gab es hier für die Angehörigen der rauen Hirschlederbrigade zu kaufen. Mein Hauptproblem war, wie ich mir eine Ausrüstung beschaffen konnte. Ein dringendes Problem zweifellos, doch die Ausführung war für mich vorerst schleierhaft.
Am Tage nach Appomattox hatte ich meinen Degen an einen nach Andenken lüsternen Unions-Lieutenant für zwanzig Dollar verkauft. Ich klärte meinen Wohltäter dahingehend auf, dass mir General Gordon die Klinge als Dank für treue Dienste verehrt hätte. Mein Gewissen fühlte sich nicht davon belastet, dass ich die Waffe erst am Tage zuvor einem glücklosen Unteroffizier der Yankees abgewonnen hatte. Alles ist erlaubt - im Frieden wie im Kriege.
Das Geld hielt noch einsame Wache in meiner Brusttasche. Wenn dieses goldene As eine Ergänzungskarte brauchen sollte, dann hing in meinem Pistolenhalfter noch ein guter Trumpf in Gestalt des Colts.
Wir drei also - der alte Colt, das Goldstück des Leutnants und ich - wir gingen vom Marktplatz los, um unser Glück zu versuchen. Husseins Zügel hatte ich mitten auf dem von Leben wimmelnden Marktplatz fallen gelassen. Ich hatte keine Angst, Hussein bei meiner Rückkehr dort nicht mehr vorzufinden. Denn ihn zu berühren oder gar fortzuführen, das hätte jeden gebrochene Knochen gekostet.
Für mich steht es fest, dass ein Gentleman aus dem Süden vom Trinken und vom Kartenspielen etwas verstehen muss. Meine Erziehung mit Karten und Whisky hatte früh begonnen und lange gedauert. Mir schwebte jetzt vor, als freundliches Mittel der Selbsterhaltung ein kleines Pokerspiel zu versuchen.
Es dauerte auch gar nicht lange, bis ich ein Spiel fand, in das sich ein Mann einkaufen konnte. Schon von weitem sah ich, dass es um hohe Einsätze ging. Fünf hartgesottene Männer hatten im Schatten eines Mietstalles eine Decke auf dem Boden ausgebreitet. Das Spiel war im Gang, und die Einsätze waren hoch. Eine Galerie von Gesindel schaute ringsum zu. Mit den Ellbogen schob ich mich nach vorn und beobachtete das Spiel einige Minuten lang.
Die größten Räuber waren seit je die berufsmäßigen Kartenhaie, die auf freigebige Büffeljäger lauerten. Diese Herrschaften mit den flinken Fingern gaben sich das Ansehen von ehrbaren Trappern und Siedlern, und in Wirklichkeit warteten sie nur auf eine günstige Gelegenheit, um den gemästeten Ochsen der Grenze das Fett abzunehmen. Gewöhnlich arbeiteten sie zu zweien, und ein geschicktes Team machte in einer guten Saison große Gewinne - und eine gute Saison war jede, an deren Ende man noch am Leben war.
Nach der Art ihres Gewerbes waren die Kartenhaie meistens erfahrene Revolverleute. Die Spielmethode blieb immer gleich: Sie bauten ein Spiel auf, indem sie zuerst verloren, und dann ruinierten sie mit hohen Einsätzen den Gewinner unbarmherzig, jede Reklamation über Art und Weise des Spiels wurde von diesem Zeitpunkt an mit den Waffen beantwortet. Sobald der ahnungslose Spieler den Mund auftat, um nach einer zweifelhaften Karte zu fragen, wurde er rücksichtslos hinter seinem Blatt erschossen.
Drei Runden genügten mir, um festzustellen, wo der Leopard die Flecken hatte. Das Spiel war so krumm wie das Hinterbein eines streunenden Hundes und doppelt so dreckig.
Ich trat aus dem Kreis der Zuschauer, nahm den alten Colt aus dem Halfter, drehte den Zylinder, prüfte den Hahn und schob die Waffe vorsichtig an ihren Platz zurück. Als ich den Kreis wieder erreichte, hatte eben ein Spieler mit bleichem Gesicht seinen Platz verlassen. Ich trat an seine Stelle, ließ mich auf ein Knie nieder und fragte nach Karten. Man gab sie mir, und ich schob beim Aufnehmen vorsichtig den Pistolenhalfter ein wenig griffbereiter.
»Wenn niemand Einwände erhebt, wollen wir ehrliches Poker spielen«, sagte ich sanft.
Kein Wort unterbrach das leise Fallen der Karten. Die zwei Männer, die das Spiel aufgebaut hatten und denen ich gegenüber kniete, sahen mich von unten über die Decke weg an, als die letzte Karte fiel, und das Spiel ging weiter, ohne dass sie mich eines zweiten Blickes würdigten.
In wenigen Runden hatte ich mit einem für ehrliches Poker unnatürlichem Glück eine beträchtliche Summe gewonnen. Und nun begann das Spiel, auf das ich gewartet hatte. Aus dem Reizen war zu erraten, dass jeder ein großes Blatt zugeteilt erhalten hatte. Rechts von mir wurde eröffnet, und ich steigerte. Der Mann zu meiner Linken - ein affenäugiger Prospektor - steigerte ebenfalls. Auch die beiden Kartenhaie steigerten sich noch gegenseitig. Der letzte passte. Wie das Spiel nun stand, hieß es, die Lage noch einmal zu überblicken.
Links gegenüber saß der kleinere der beiden Hartgesottenen. Er war dürr, mit schnellen, nervösen Bewegungen, dünnlippig und mit einem wirren Ziegenbart. Es wäre leichtsinnig gewesen, diesen übernervösen Typ bei einer Schießerei zu unterschätzen.
Der andere war groß und ruhig und glich nicht ganz der Vorstellung, die man von einem Kartenhai hatte. Wenn man seine gelassenen Hantierungen mit Karten und Geld beobachtete, gewann man den Eindruck einer tierhaften Kraft und Sicherheit. Er sprach während des ganzen Spiels kein Wort, und sein Bieten und Kartenfordern war nur ein einsilbiges Grunzen.
Sein Alter war schwer zu schätzen - wahrscheinlich nicht unter fünfunddreißig. Er war wie ein Büffeljunge gekleidet, und zwei Colts des neuesten Modells hingen tief und weit vorn an seinen massigen Oberschenkeln. Gegen die Mode trug er den Schnurrbart kurz gestutzt, und im Übrigen war er glattrasiert. Dichtes Haar von eigenartiger aschgrauer Farbe quoll unter seinem Schlapphut hervor. Die Präriesonne hatte seine Haut fast mahagonibraun gebrannt. Zu den verwaschen-hellen Augen und dem grauen Haar bildete das einen unvergesslichen Gegensatz.
Wir nahmen Karten. Der Grauhaarige, der Slate genannt wurde, gab.
Ich hatte drei Damen und zog die vierte und einen Buben. Die einzigen Laute kamen von denen, die zusahen: hin und wieder ein Keuchen, ein nervöses Räuspern, das Knirschen von Sohlen auf dem Sand. Ohne mich umzublicken, wusste ich, dass die Zuschauer sich hinter mir zurückzogen.
»Wieviel ist noch auf Ihrem Haufen?«
Meine an Slate gerichtete Frage brach das düsterste Schweigen, das je über mir gelastet hatte.
Ohne den Kopf zu bewegen, hob er den Blick, bis seine hellen Augen meine trafen. Zum ersten Male berührten sich unsere Blicke direkt. Ich muss gestehen, in diesem Moment war ich sehr nervös, und wenn Wünsche hätten Flügel verschaffen können, dann wäre ich eben jetzt weit davongeflogen. Das Gefühl verschwand jedoch so schnell, wie es gekommen war.
Nach der Regel dieser Art des Pokers musste ein Spieler antworten, und Slate sagte: »Dreihundert.«
Sein Ton war kalt und erbarmungslos wie das Klicken eines Abzughahns.
»Gut, mein Freund.« Ich hoffte insgeheim, dass meine Stimme nicht mehr zitterte, als ein nasser Hund im Hagelwetter. »Ich verdoppele.«
Jeder sichtbare Dollar lag gleich darauf in der Mitte der Decke. Der Kleine sah Slate mehr als einmal an, aber dessen Blick löste sich nicht aus jenem Umkreis, der meine Karten, meine Hände und den Revolver umschloss.
Das Spiel hatte nun jenen Punkt erreicht, an dem eine Umkehr nicht mehr möglich war. Für die Zuschauer sah es so aus, als spielte ich den Gaunern genau in die Hände. Zuerst hatte ich einen großen Topf zusammengebracht, indem ich gegen ihre Karten wettete, und jetzt setzte ich noch einmal alles.
»Ich halte!«
Die Worte des Großen wirkten wie ein Kübel eiskalten Wassers auf mich.
»Vier Damen.« Ich legte die Karten hin, während ich die Worte sprach.
»Full Hand mit Zehnern«, erklärte der Kleinere.
Der Große schien zu zögern. Mein Körper war straff gespannt. Dann fielen seine Karten.
»Vier Asse!«
Meine linke Hand lag vor den Knien auf dem Boden - die andere hing frei, dicht über dem rechten Knie.
»Vermutlich haben Sie nicht zugehört, als ich von ehrlichem Poker sprach.« Meine eigene Stimme klang mir fremd.
Slates Hand erstarrte auf dem Wege zum Topf. Schon in friedlicheren Zeiten war der Vorwurf des Betruges der beste Anlass für eine Schießerei. Meine beiden Gegner trugen Doppelpistolen, aber ich selbst griff noch nicht nach meiner Waffe.
Der Kleine tastete nach dem Gürtel, und ich schoss ihm durch die Brust. Jetzt war seine Pistole draußen, aber die Mündung kam nicht mehr hoch. Aus den Augenwinkeln sah ich das. Ich hielt Slate im Schach und merkte, wie der Kleine sehr langsam vornüber auf seine Pistole fiel. Er rollte auf die rechte Seite in den Straßenstaub, wollte etwas sagen, spuckte Blut und starb.
Slates Hand hing noch immer in der Luft.
»Bietet noch jemand?« Meine Stimme rasselte.
Slate zog die Hand zurück. Sein Blick hielt mich immer noch fest, und er sagte sehr sanft: »Ich steige aus.«
Er war schon auf den Beinen mit einer gleitenden Bewegung, bei der man nicht wusste, wie sie begonnen hatte und wann sie endete. Kein weiterer Blick traf mich. Die Menge teilte sich, um ihn durchzulassen, und die Menge schloss sich wieder, als hätte sie ihn verschlungen.
3.
Nie werde ich erfahren, warum Slate aufgab und sich zurückzog. Selbst damals wusste ich, dass es nicht aus Furcht geschah. Später - mit mehr Erfahrung - erkannte ich, wie eiskalt er gerechnet hatte. Ich hatte ihn vor meinem Colt, und sein Partner war außer Gefecht. Das Spiel stand gegen ihn. Damals wie jetzt konnte ich mir nur vorstellen, dass er seine Chancen abgewogen und für sich zu leicht befunden hatte. Es war ihm gleichgültig, dass ich ihn gedemütigt hatte. Er hatte nicht ein Gramm Fett moralischer Skrupel auf dem Gerippe seines Charakters.
Auf der Decke vor mir lagen neunhundert harte Yankee-Dollars. Sie gehörten mir - auf Grund der Voreiligkeit meines Colts.
Als ich mich zum Gehen erhob, fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich spannte mich und blickte zur Seite. Die Hand glich mehr der Pranke eines alten Grizzlybären als einem menschlichen Körperteil. Und der Besitzer erfüllte die Versprechungen, die diese Hand bot.
Er war nicht größer als ein Meter fünfundsechzig und wog etwa zweihundert Pfund. Seine Stimme war merkwürdig sanft, beinahe frauenhaft.
»Junge«, murmelte er, »ich glaubte schon, bei dem großen Sprung eben würden dich deine schweren Stiefel runterziehen.«
»Ich hatte noch nie solche Angst«, bekannte ich.
»Was mich kaum verwundert.« Ein Kichern seiner sanften Stimme erklang. »Du hast kühl wie eine Gurke ausgesehen und doppelt so grün. Weißt du eigentlich, mit wem du es zu tun hattest?«
Die Reaktion setzte bei mir ein. Ich hatte alle Mühe, meinen Magen am alten Platz zu behalten.
»Keine Ahnung. Sein Partner nannte ihn Slate.«
»Stimmt. Slatemeyer - John Slatemeyer. Für seine Freunde heißt er Slate, aber er hat keine. Jedenfalls nicht mehr, nachdem du seinen Partner erledigt hast.«
Mein neuer Freund sprach munter weiter: »Im Weidebuch hat er noch ein anderes Brandzeichen. Da draußen...« - seine Hand machte eine ungewisse Bewegung nach Westen - »...dort nennt man ihn Arapahoe-Jack.«
Ich suchte nach einer Wand, um mich anzulehnen. Meine Knie waren plötzlich weich wie Gelatine geworden. Wenn ich mir da einen Feind gemacht hatte, dann war das keine Lehrlingsarbeit von mir gewesen. Arapahoe-Jack war der Simon Girty späterer Tage. Jetzt wusste ich, warum mich die Zuschauer nach Slates Abzug so respektvoll angesehen hatten. Arapahoe-Jack! Ich hatte tatsächlich die Hölle mobil gemacht und ein Pulversäckchen darunter angezündet.
Mein augenblickliches Erschrecken hätte vielleicht zu einer ungebührlichen Bescheidenheit geführt, aber mein stämmiger Freund legte meiner durchgehenden Phantasie Zügel an.
»Ich möchte sagen, ich habe noch nie eine leichtere Hand beim Schießen gesehen. Das war gezogen wie ein Kettenblitz. Trotzdem - du hast Slate im Schlaf überrascht, sonst wärst du um neunhundert Dollar ärmer und brauchtest dir obendrein keine Sorgen mehr darum zu machen. Viel mit dem Colt gearbeitet?«
Ich sagte ihm, dass das nicht der Fall wäre, und erzählte ihm ein bisschen mehr von mir.
»Wenn du nach dem Westen willst«, bot er mir an, nachdem er meine Geschichte gehört hatte, »und dich selbst so gut in der Hand hast wie den Colt, könnte ich dich anwerben.«
Mir machte das keinen großen Eindruck.
»Wohin? Und was für eine Arbeit?«
»Es geht nach Montana. Wir wollen einen Wagenzug durchbringen. Zwanzig Stück. Die meisten sind nach Goldfeldern unterwegs. Das wäre nicht so wichtig, aber sie müssen dabei durch das Powder-River-Land. Im letzten Jahr erhielten die Sioux eine Regierungsgarantie für dieses Land. Das vergessen sie nicht. Die neue Route nach Montana, der Bozeman-Trail, führt mitten durch das garantierte Land. In der Alder-Schlucht hat man große Goldfunde gemacht. Die Leute gehen trotz aller Gefahr durch das Land, und die Armee hat eine ganze Kette von Forts von Laramie bis nach Virginia-City errichtet. Die Roten haben zwar keinen unterschriebenen Vertrag, aber das Versprechen der Regierung, Siedler und Wagenzüge aus dem Land herauszuhalten. Wenn man einem Indianer noch nichts gegeben hat, so ist es kein Kunststück, ihm das wieder abzunehmen. Aber wenn man ihm ein Geschenk gemacht hat, sollte man lieber die Finger davon lassen. Red Cloud wird sich den Teufel um den neuen Weg scheren. Wenn es nach ihm geht, kommt weder unser Zug noch sonstwer nach Montana. Aber Gold ist Gold, Weiße sind Weiße, Habgier ist Habgier, das Indianerbüro besteht aus Schurken, die Armee ist hirnverbrannt - und ich führe diesen Wagenzug.«
»Und was soll ich dabei tun?«
»Scouts sind knapp; es gibt mehr Wagenzüge als Führer. Nachdem du vier Jahre im Süden herumgestrolcht bist und Yankees durchlöchert hast, wirst du dich schon dazu eignen.«
Sehr plötzlich kam mein Entschluss, einzuwilligen.
»Mein Herr! Sie haben einen neuen Lehrling. Mein Name ist John Clayton, und mein Ziel ist der Westen.«
Er legte den Kopf etwas auf die Seite und quetschte meine Hand in einem schmerzhaften Griff zusammen.
»Ich bin Ed Geary.«
Mein Mund muss in diesem Augenblick aufgesperrt gewesen sein wie eine Hundeschnauze an einem heißen Julitag, denn er schaute mich merkwürdig an und meinte:
»Nimm's nicht tragisch, Bridger ist ein besserer Scout, Carson ist ein besserer Wagenführer und Cody ein besserer Schütze als ich.«
Irgendeine zusammenhanglose Antwort kam über meine Lippen, und inzwischen rasten meine Gedanken, angestachelt durch den Zauberklang dieses Namens. Ed Geary - Scout, Indianerkämpfer, berühmter Prärieläufer! Jim Bridger und Kit Carson beanspruchten die Schlagzeilen der Presse im Osten und in Buffalo, und Buffalo Bill Cody war der unbestrittene Held der Ned-Buntline-Hefte.
Aber auf der Prärie, an den Flüssen und im Gebirge galt bei den Ansiedlern, den Indianern und der Armee keiner mehr als Ed Geary. An diesem Morgen schien ich nicht schlecht eingekauft zu haben. Für neunhundert Dollar hatte ich einen Simon Girty eingehandelt, und ich hatte noch einen Lew Wetzel als Zugabe erhalten.
Jeder Mann nimmt gern am Bankett des Ruhmes teil. Innerhalb einer Stunde hatte ich Arapahoe-Jack und Ed Geary kennengelernt. Das waren ganz hübsche Begegnungen, aber innerhalb einer zweiten Stunde hörte ich so viele erlauchte Namen und sah so viele berühmte Gesichter, dass ich wie eine Eidechse auf einem heißen Stein japste.
Jetzt führte mich Geary über den Market Square.
Der Marshal von Kansas City war ein alter Grenzer namens Tom Speers. Sein Gerichtshof bestand aus Büffeljägern und Scouts, und er tagte vor dem Gefängnis. Dorthin gingen wir.
Bei einer Gruppe von Müßiggängern hielt Geary an. Die Leute lungerten vor einem Gebäude herum, an dessen Front die Inschrift Stadtpolizei prangte. Man begrüßte Geary, und er fand einen Sitzplatz am Rande der Gruppe. Dorthin folgte ich ihm.
»Wir wollen uns ruhig verhalten und zuhören«, flüsterte er. »Du hast dich in eine Revolvergeschichte eingelassen, wo es um Kopf und Kragen gehen konnte. Dies hier sind alles Experten.«
In dieser aufregenden Morgen Versammlung saßen Kirk Jordan, Emanuel Dubbs, Bermuda Carlisle, Billy Dixon, Jack Gallagher und James B. Hickock. Alle waren berühmte Männer, doch sie verloren für mich Gesicht und Gestalt, als ich den schon zur Legende gewordenen Wild Bill anstarrte.
Hickock war ein großer Mann, aber beweglich wie eine Antilope. Reich und tadellos gekleidet und von würdiger Haltung, fiel er selbst in dieser Gruppe von Berühmtheiten auf. Tief am Gürtel hingen ihm zwei Colts mit Elfenbeingriffen. Seine hohen Stiefel waren spiegelblank. Tadellos saß der Gehrock mit den aufgeschlagenen Kragenbesätzen aus grünem Samt. Unter der hirschledernen Weste mit ihren indianischen Stickereien schimmerte ein Hemd von makellosem irischem Leinen hervor. Dazu trug er eine schwarze Tuchhose und den breitesten Sombrero, den ich je gesehen hatte.
Er hatte das allerneueste Winchester-Repetiergewehr bei sich, reich ziseliert und verziert. Später erfuhr ich, dass die Waffe ein Geschenk jenes Ned Buntline war, dessen haarsträubende Geschichten den wirklichen Abenteuern Wild Bills ihre Existenzberechtigung verdankten.
Noch fesselnder als das Aussehen der Männer waren ihre Gespräche. Die Hauptthemen waren Waffen, das Töten von Indianern, von Büffeln und weißen Männern - wobei die Reihenfolge keine Rolle spielte. In einer Stunde des Zuhörens lernte ich mehr, als in einem ganzen tätigen Leben.
Als ich eine Stunde später neben Geary an der Spitze des Wagenzuges ritt, hingen zwei stahlblaue Colts an meinen Hüften, und über den Knien hatte ich ein neues Winchester-Gewehr liegen.
Bis fünfundzwanzig Meilen über Fort Laramie hinaus wollten wir der Oregon-Route folgen. Dann hatte Geary vor, nordwärts abzubiegen und den Bozeman-Trail nach den Goldfeldern von Montana einzuschlagen. Die Reise verlief ruhig. Wir hatten keine Berührung mit Indianern, obwohl wir von weitem einige Spähtrupps erkannten. Aber von dieser ersten Begegnung an war ich fasziniert von den wilden Indianern der Prärie.
4.
Im Jahre vor meiner Ankunft im Powder-River-Gebiet hatten die Indianer das von Geary erwähnte Garantie-Versprechen gefordert und diese auch erhalten. Damit war den Sioux, den Arapahoe und Cheyenne tatsächlich alles Land zugesichert worden, das sich zwischen dem Yellowstone, den Rocky Mountains und den Black Hills von den Vorbergen bis nach Osten zum Kleinen Missouri erstreckte. Es war die beste Büffelweide der ganzen nördlichen Prärie. Immer hatte das Gebiet den Indianern gehört; nun hatten sie ein Garantie-Versprechen, und sie wollten es gehalten sehen.
Mehrmals hatte Geary auf die Gefahren hingewiesen, die uns erwarteten, sobald wir den Platte River verließen und uns nordwärts wandten. Unser Weg führte quer durch das garantierte Land. Vor dem Ende des Bozeman-Trails in Virginia City lagen Hunderte von Meilen mit Tausenden von Indianern vor uns. Die Sioux-Häuptlinge Red Cloud, Man of Horses und ein schnell an Bedeutung gewinnender Medizinmann der Hunkpapa namens Sitting Bull waren alle in diesem Gebiet. Mit ihnen zogen Stumpfes Messer, ein Cheyenne-Häuptling, und Schwarzer Schild von den Minniconjou. Von Legende und Geheimnis umhüllt, stand hinter diesen großen Häuptlingen die einsame Gestalt von Crazy Horse, dem Anführer der Ogalalla-Horde der Bösen Gesichter. Er war nach Gearys Meinung der mächtigste aller dieser Indianer.
Als wir uns Fort Laramie näherten, ereignete sich ein Zwischenfall, der sogar Geary erschütterte:
Es war Dämmerung, und wir hatten unser Camp früher als gewöhnlich aufgeschlagen, um am nächsten Morgen recht bald zum letzten Tagesmarsch nach Laramie aufzubrechen. Die Wagen standen in dichtem Kreis auf erhöhtem Grund - die Wachen waren auf Posten - Wasser und Holz gab es genug - und so fühlten wir uns, auch wegen der Nähe des Forts, ziemlich sicher. In nur fünf Minuten sollte sich das behagliche Bild in einen Alptraum der Furcht verwandeln.
Geary rief mich kurz nach Sonnenuntergang und teilte mir mit, er hätte im Norden den Rauch von vielen Lagerfeuern erspäht. Wir setzten uns außer Hörweite der anderen unter den ersten Wagen.
»Colonel«, sagte er - trotz meines Einspruches redete er mich immer mit meinem früheren Dienstgrad an - »falls die Feuer das sind, wofür ich sie halte, dann wird es für uns heißer als in der Hölle, wenn die Zugluft weht.«
»Indianer?«
»Nein. Schlimmer!« Er sprach leise und schnell. »Erinnerst du dich an den vorüberreitenden Trapper - mittags, als wir anhielten?«
»Ja. Er schien es eilig zu haben.«
»Und zwar - fortzukommen«, fügte Geary hinzu.
»Woher kam er?«
»Aus Laramie. Ein großes Tier aus Washington ist in Laramie. Heißt Taylor. Chef des Indianerbüros. Ich glaube, mit Red Cloud und Crazy Horse zusammen ist fast das ganze Indianervolk zum Fort gekommen, um wegen des Bozeman-Trails zu verhandeln. Die Armee möchte eine ganze Kette von Forts dort entlang aufbauen, und wir möchten unseren Zug über diesen Weg führen: mitten durch das Powder-River-Land, das die Indianer im vorigen Jahr garantiert erhalten haben. Diese Sioux sind keine Agentur-Indianer. Red Cloud ist zornig, und sein ganzes Volk ist bei ihm. Für morgen früh ist der Rat einberufen. Der Trapper vorhin hat Lunte gerochen und ist abgerückt. Er meinte, es lägen mehr als zweitausend Indianer um Fort Laramie herum.«
In den achtundzwanzig Tagen, seit wir von Kansas City aufgebrochen waren, hatte ich von Geary schon viel über die Indianer und ihr Land erfahren. Aber ich wusste noch nicht, was das alles zu bedeuten hatte.
»Und nun?«, fragte ich. »Was bedeuten diese Feuer im Norden, wenn sie alle in Laramie sind?«
»Da gibt es nur eine Antwort.« Seine Stimme war so leise, dass ich kaum seine Worte verstand. »Ich fürchte, ich weiß es. Aber ich möchte jetzt nordwärts reiten, um mich zu vergewissern.«
Wir sattelten zwei Pferde und kamen unbemerkt aus dem Camp heraus, obwohl es schon dunkel war und das ganze Lager inzwischen den Feuerschein im Norden bemerkt hatte.
Eine Stunde später hatten wir den letzten Bergkamm zwischen unserem Lager und dem Feuerschein erreicht. Geary fand seinen Weg wie am hellen Tag. Wir banden die Pferde fest und krochen die letzten Meter auf dem Bauch. Noch wusste ich nicht, was ich sehen würde, als ich das Buschwerk auseinanderteilte und in das Tal hinabschaute.
Unter uns erstreckten sich eine halbe Meile weit auf beiden Seiten eines schönen Baches Reihen unzähliger Zelte, und es brannten Dutzende von Lagerfeuern. Es war ein Anblick, der bei einem ehemaligen Kavallerieoffizier jähes Heimweh erwecken konnte.
»Ein Armeelager, Ed! Infanterie! Müssen tausend Mann sein!«
»Richtig.« Seine Stimme war ruhig wie Wasser in einem Pferdetrog. »Nicht genug, um irgendetwas zu nützen, aber viel zu viel, um nicht Unruhe zu stiften. Wir müssen hinunter, Colonel, und feststellen, was da vor sich geht. Gnade uns Gott, wenn sie nach Laramie wollen!«
Es war eine aufregende halbe Stunde, ehe wir etwa hundert Meter vor den Zeltpflöcken auf dem Bauch lagen. Im Augenblick, als Ed aufstehen und sich zu erkennen geben wollte, hielt er mitten in der Bewegung inne und murmelte:
»Ich will verdammt sein, wenn das nicht Big Throat ist.«
»Was war das?«, flüsterte ich.
»Nichts weiter, Colonel. Jedenfalls brauchen wir nun nicht mehr in das Camp gehen. Siehst du den Mann dort in Hirschleder? Den, der im Feuerschein vor dem Kommandantenzelt sitzt? Nun, sieh ihn dir genau an.«
Ich folgte seiner Weisung, und zur gleichen Zeit führte Geary die Hände an den Mund und stieß ein so echtes Fuchsgebell aus, dass ich kaum glauben konnte, die Töne entstammten einer menschlichen Kehle. Ich schaute mich tatsächlich nach einem Fuchs um. Zuerst bewegte sich der Mann am Feuer nicht. Dann stand er gemächlich auf und verschwand im Dunkeln. Drei Minuten später bellte rechts von uns ein Fuchs.
»Echtes Fuchsgebell«, flüsterte ich. »Und nicht besser als deines.«
»Besser als das echte«, flüsterte Geary. »Das ist Jim Bridger.«
Noch eine Minute, noch ein Fuchsgebell, dann war der Mann in Hirschleder an unserer Seite.
»Hallo, Ed!«
»Hallo, Jim!«
»Was ist los?«
»Das möchten wir gern wissen«, sagte Geary. »Ich habe zwanzig Wagen hinter den Hügeln, und nun hören wir, dass Red Cloud seine Zelte abgebrochen hat.«
»Wen hast du da bei dir?«
»Das ist Colonel Clayton, mein Scout, Jim. Colonel - Jim Bridger.«
Wir begrüßten uns mit Kopfnicken, und ich war zu sehr in die Betrachtung des großen Scouts versunken, um sein freundliches Lächeln zu erwidern. Meine Erinnerung an ihn wird immer etwas verschwommen bleiben, denn in der Dunkelheit konnte ich nur einen allgemeinen Eindruck gewinnen. Immerhin bemerkte ich seinen dicken Hals und dachte dabei an Gearys Bezeichnung: Big
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Henry W. Allen/Apex-Verlag. Copyright des Essays by Dr. Karl Jürgen Roth.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Christian Dörge (OT: No Survivors).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2018
ISBN: 978-3-7438-5568-7
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