Cover

Leseprobe

 

 

 

 

MICHEL PARRY

 

 

GRÄFIN DRACULA

- 13 SHADOWS, Band 8 -

 

 

 

Horror-Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

GRÄFIN DRACULA 

1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

7. 

8. 

9. 

10. 

11. 

12. 

13. 

 

Das Buch

Gräfin Elisabeth Nadasdy hat eine unheimliche Entdeckung gemacht; durch Zufall ist sie dem Geheimnis ewiger Jugend auf die Spur gekommen. Jetzt weiß sie, wie sie sich von einer dahinwelkenden alten Frau in eine strahlenden Schönheit zu verwandeln vermag. Dazu benötigt sie nur eines: das Blut von Jungfrauen. Um es zu beschaffen, schreckt die Gräfin vor keiner Teufelei zurück.

Und so ziehen Angst und Schrecken ein in das friedliche Dorf am Fuß der Burg Veres...

 

GRÄFIN DRACULA, die Roman-Adaption des Hammer-Horror-Films Comtesse des Grauens (Countess Dracula, GB 1970), erscheint als achter Band der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

GRÄFIN DRACULA

 

 

  1.

 

  Leutnant Imre Toth galoppierte den gewundenen Waldweg entlang und trieb sein Pferd zu allergrößter Eile an. Er hatte sich verspätet und war versucht, dem Tier die Sporen zu geben. Doch er unterließ es, denn ihm war bewusst, dass er dies nie übers Herz bringen würde. Mit freundlicher Stimme rief er stattdessen dem Pferd etwas zu, und es wurde noch schneller.

  Es war ein herrlicher Sommertag, und selbst im dichten spürte Imre Wald die Kraft der Sonne. Die Strahlen, die durch das Blätterwerk drangen, ließen den goldenen Schmuck auf seinem grünen Lederwams aufblitzen. Die Offizierskleidung stand ihm gut, und so manche Frau hatte ihn schon mit Wohlgefallen angesehen. Doch was unter der Kleidung lag, konnten sie nicht wissen und waren leider nur auf Vermutungen angewiesen. Imre hatte es vorgezogen, auf eine besondere Gelegenheit zu warten und sich nicht den frechen Küssen der Landsknecht-Dirnen überlassen. Dieser besondere Mensch war bis jetzt noch nicht in seinem Leben aufgetaucht, und doch wurde Imre mit seinen zwanzig Jahren langsam begierig, die Freuden der Liebe kennenzulernen.

  Die dichten Bäume lichteten sich plötzlich, und Pferd und Reiter befanden sich im Freien. Die Landschaft vor ihnen war derart prächtig, dass Imre trotz seiner Verspätung das Tempo verlangsamte, um in leichtem Trab den Ausblick in sich aufnehmen zu können. Unter ihm erstreckte sich ein dunkler Wald, schwarz wie das Haar eines Zigeunermädchens. Vor ihm erhoben sich die wilden, schneebedeckten Gipfel der Karpaten. Er holte tief Luft. In dieser herrlichen Landschaft würde er vielleicht Frieden finden können.

  Unten im Tal sah er weiße Nebelschwaden dahinziehen. Die Mündungen der Schluchten waren bereits verhüllt. Es schien, als wollte sich die Natur seinen spähenden Augen entziehen. Der Anblick ließ ihn an die zahlreichen Sagen denken, die man sich über diese Gegend erzählte, über jeden Felsen eine Sage, wie die Alten sagten. Wenn der Mond voll und hoch am Himmel stand, lauerten vielerlei Wesen in den Wäldern - Vampire, leichenfressende Unholde, Werwölfe und andere, die zu grässlich waren, als dass man sie mit Namen benennen könnte. Imre dachte, wie sehr dieses Land mit Blut getränkt sein musste, mit dem Blut seiner Landsleute und dem vieler grausamer Angreifer - Hunnen, Bulgaren und den schlimmsten von allen, den Türken.

  Imres Gesicht zeigte den Ausdruck tiefer Niedergeschlagenheit, die ihn älter als seine zwanzig Jahre aussehen ließ. Seine Kehle schnürte sich zu, als er an das Schlachtfeld dachte, auf dem er noch vor kurzem gestanden hatte. Bilder jagten durch seinen Kopf. Geschwärzte Gesichter, im Blutrausch entstellt, vor Angst verzerrt. Die Funken, die von den Schwertern sprühten. Das ohrenbetäubende Krachen der Kanonen. Das Heulen der Verwundeten, das keuchende Wiehern der Rösser, der Pulvergestank und dann das Schlimmste, der Geruch frisch vergossenen Menschenbluts...

  Das Pferd unter ihm zitterte, als spüre es seinen Abscheu. Imre klopfte ihm sanft den Hals. Das Tier beruhigte sich unter seiner Berührung wieder.

  Imre blickte in den finsteren Wald. Es war nicht gut, hier zu verweilen, da Türken oder Strauchdiebe in der Nähe sein konnten. Er trieb sein Pferd mit freundlichem Zungenschnalzen wieder zur Eile an und ritt den Bergpfad hinauf.

  Als das Pferd dann um eine Ecke bog, sah Imre zum ersten Mal sein Ziel. Burg Veres saß mit kahlen dunklen Mauern auf noch dunkleren Felsen. Sie sah so urtümlich aus, dass man kaum glauben konnte, Menschenhände hätten sie erbaut. Unterhalb der Burg erstreckte sich ein ärmliches Dorf. An das Dorf grenzte ein wohltuend grüner Wald. Wahrscheinlich wimmelt es dort von Rehen und anderem Wild, dachte er. Und er konnte einen Wasserfall erkennen, der silbern über die Felsen herabsprühte. Imre musste lächeln. In einer so schönen Umgebung würde er

sich bestimmt wohlfühlen. Anscheinend genau das Richtige, um die Gräuel des Krieges zu vergessen und sich zu entspannen.

  Seltsamerweise hatte ihn jedoch der Tod hierher gebracht.

  

  Graf Ferdinand Nadasdy trug seine Lieblingsuniform, die blaue mit den weißen Pluderhosen. Er bevorzugte sie deshalb, weil er sie vor vielen Jahren in der Schlacht von Mohàcs getragen hatte. Er hatte dem König von Ungarn ein taktisches Manöver erklärt, als dem König ein türkischer Pfeil in den Hals fuhr. Er war in den Armen des Grafen gestorben und hatte dessen Jacke mit seinem Blut getränkt. Der Graf hatte sie seither nie waschen lassen, was er den Leuten gern erzählte. Im Augenblick erzählte er die Geschichte niemandem, da er verstorben war.

  Im Tod sah der weißhaarige Graf besser aus als in den zurückliegenden zwanzig Jahren. Vielleicht war er auch glücklicher, wie sein alter Freund Fabio bemerkt hatte. Die Bemerkung hatte er im Stillen für sich gemacht, denn es war gefährlich, gewisse Bemerkungen laut von sich zu geben. Kritische Bemerkungen erreichten immer irgendwie das Ohr von Ferdinands Frau, der Gräfin Elisabeth. Und da sein Wohltäter und Freund tot war, musste Meister Fabio darauf achten, in gutem Einvernehmen mit der Witwe zu bleiben.

  Inzwischen war der Sarg geschlossen worden. Die Gräfin Elisabeth war dennoch gelangweilt. Unter dem langen schwarzen Gewand klopfte ihr kleiner Fuß ungeduldig auf den Boden. Wie lange sollte der Gottesdienst denn noch dauern? Ihre harten grauen Augen starrten durch den Schleier auf die Trauergäste. Diese armseligen Narren! Sie sahen in ihren schwarzen Kleidern wie lächerliche alte Krähen aus. Endlich eine Bewegung. Der Sarg wurde von vier Amtsleuten des Hauptmanns Balogh zur frisch geschaufelten Grube gebracht.

  Als die Träger zurücktraten, begann der Priester wieder mit seinem Latein, das kein Mensch verstehen konnte.

  Die Gräfin stöhnte leise auf.

  In einiger Entfernung stand eine Gruppe Bauern, von denen die meisten in schmutzige Lumpen gehüllt waren. Aufmerksam blickten sie zu den Trauergästen hinüber; in den meisten Gesichtern lag ein Zug von Verachtung. Maryska, eine dunkelhaarige Frau, die wie fünfundvierzig aussah, aber erst fünfundzwanzig war und durch harte Arbeit und zwei Geburten vorzeitig gealtert war, nickte zu der Gruppe hinüber und spuckte aus.

  »Den wären wir los!«, sagte sie beifällig. »Ein Bauernschinder weniger!«

  Ihr Mann Grigory zog die beiden kleinen Söhne an sich und wandte sich ihr zu. Er war ein untersetzter, kräftiger Mann, hatte aber eine sanfte Stimme. »Still, Weib«, sagte er. »Von den Toten soll man nicht schlecht sprechen. So schlimm war er gar nicht. Nicht so schlimm wie seine Frau... und er hat mir Arbeit versprochen. Gott sei seiner Seele gnädig!«

  Maryska runzelte die Stirn. »Ja, Arbeit wird's geben! Für die Würmer!«

  Grigory schüttelte den Kopf und wandte sich zum Gehen. »Komm, Weib«, sagte er, ohne sich umzudrehen.

  Der Priester neben dem Grab war noch immer mit seinem Singsang beschäftigt. Die Gräfin betrachtete ärgerlich die Runde der Trauernden. Ihr gegenüber stand Hauptmann Balogh, die oberste Amtsperson im Ort, und hatte eine gewichtige Miene aufgesetzt. Die Gräfin schnaubte leise durch die Nase. Der meinte es vielleicht sogar noch ernst, der auf geblasene Esel.

  Auf ihrer Seite des Grabes stand Fabio. Der alte Narr nickte zu den Worten des Priesters und hatte feuchte Augen hinter den kleinen runden Brillengläsern. Natürlich verstand er das fremdländische Kauderwelsch. Die Gräfin fasste jetzt Hauptmann Dobi neben ihr ins Auge. Er stand wie üblich militärisch aufrecht da, ganz ohne jede Mühe. Er war ganz geduldig und konnte anscheinend die Welt um sich herum vergessen. Vergebens wünschte sich die Gräfin, diese Kunst ähnlich virtuos zu beherrschen.

  Während der Priester weiternäselte, ließ die Gräfin ihre Augen rastlos in die Umgebung schweifen. Etwas erregte plötzlich ihre Aufmerksamkeit. Sie war wie gebannt, und ihr Ärger war verflogen.

  Durch den Friedhof kam ein junger Soldat in einer prächtig sitzenden Uniform auf sie zugeritten. Die Augen der alten Gräfin strahlten. Er war hinreißend. Seit Jahren hatte sie keinen so gutaussehenden Mann mehr gesehen. Als er mit der Sonne im Rücken näher kam, musste die Gräfin an den Märchenprinzen denken, von dem die Kinderfrau Julie immer ihrer Tochter Ilona erzählt hatte: Er trug einen stolzen Soldatenschnurrbart zur Schau, obwohl sein Gesicht noch mehr an einen Jungen als an einen Mann denken ließ.

  Sie sah zu, wie er geschmeidig abstieg und die Zügel einem Diener übergab. Er ging auf die Trauergemeinde zu, und sein Krummsäbel schwang hin und her. Die Gräfin riss ihre Augen von dem herrlichen Fremden los und blickte Dobi fragend an. Der wurde aufmerksam und folgte ihren Blicken.

  »Der Sohn von General Toth«, flüsterte er mit tiefer Stimme. »Der Graf bestand darauf, dass er bei der Testamentseröffnung anwesend ist.«

  Imre Toth nahm seine Pelzkappe ab und trat zu den Trauergästen. Es war ihm peinlich, sich so verspätet zu haben. Er stellte sich neben den einzigen Menschen, den er kannte, neben Hauptmann Balogh, und senkte den Kopf. Doch bald spürte er, dass er von irgendjemandem angestarrt wurde. Das Gefühl wurde stärker und beklemmender. Er hob die Augen und sah sich um.

  Auf der anderen Seite des Grabs stand eine Frau, die vom Alter recht gezeichnet schien. Ihr Gesicht war hinter einem Schleier verborgen, aber Imre spürte.

dass sie stechende Augen haben musste. Es konnte sich nur um die Witwe handeln, Gräfin Elisabeth. Die Gräfin nahm ihren Blick nicht von ihm. Vielleicht hatte sie sein Zuspätkommen beleidigt. Er würde Entschuldigungen vorbringen müssen. Mit einem Kopfnicken deutete er eine Verbeugung in ihre Richtung an. Imre konnte die Reaktion hinter dem Schleier kaum erkennen, glaubte jedoch ein Lächeln zu sehen. Nicht das schüchterne tränenbenetzte Lächeln einer Witwe, sondern ein vollblütiges, forderndes Lächeln. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut und wandte die Augen ab.

  Imre stellte fest, dass neben ihr nur drei weitere Menschen standen. Vielleicht adlige Freunde des Verstorbenen, oder vielleicht Dienstleute und Verwalter, die sich um die Burg Veres zu kümmern hatten. Rechts neben der Gräfin stand ein großer, befehlsgewohnter Mann, der etwa Anfang fünfzig war. Er war in auffällige

schwarze Pelze gehüllt, die gut zu einem Krieger gepasst hätten. Er war kräftig gebaut und hatte gewaltige Hände, die einen Menschen wohl leicht erdrücken konnten.

  Diesen Mann, überlegte Imre, macht man sich lieber nicht zum Feind.

  Zur Linken der Gräfin stand ein gebeugter alter Mann mit einem langen grauen Bart. Er hatte eine merkwürdige kleine Brille auf der Nase, hinter der Tränen schimmerten. Neben dem Alten stand eine Frau, die fast ebenso alt aussah. Sie hatte eine lange Nase und ein grobes Gesicht, das an ein Pferd erinnerte. Ihre Hässlichkeit ließ sie fast ein wenig männlich wirken, nahm ihr aber nicht eine deutlich spürbare Mütterlichkeit.

  Imre bemerkte plötzlich, dass der Priester jetzt schwieg. Die vier Helfer des Hauptmanns Balogh trafen Anstalten, den Sarg langsam ins Grab hinabzulassen. Die Trauergäste beugten sich vor, um einen letzten Blick auf den Sarg zu werfen. Nur ein Augenpaar hatte ein anderes Ziel. Das der Gräfin. Es ließ den gut aussehenden jungen Soldaten nicht los.

  

  Der Bauer Grigory und seine Familie hatten schon fast das Dorf erreicht. Es war kein Wort gesprochen worden. Grigory verließ den lehmigen Kutschweg und ging über die Wiese auf eine abgemagerte Kuh zu. Hinter ihm Maryska und die beiden Kinder.

  »Grigory!«

  Er blickte erschrocken auf, weil die Stimme der Frau so angsterfüllt geklungen hatte.

  Mit zaghaften Schritten kam der Geldverleiher Krantz durch den Lehm auf sie zugestapft. »Guten Morgen«, rief Krantz und lächelte den Bauern feist an. »Ich bin sicher, du hast nicht vergessen, welcher Tag heute ist.«

  Grigory schüttelte den Kopf. Er hatte die dreihundert Kronen, die Krantz ihm geliehen hatte, keineswegs vergessen.

  »Und hast du das Geld?«, fragte der Geldverleiher gierig.

  Grigory hatte sich von dem Geld vier Kühe gekauft. Sie hatten reichlich Milch gegeben, und er hätte gut verdient, wenn nicht die Seuche gekommen wäre und drei

getötet hätte. Und mit der vierten... War auch kein Staat zu machen. »Nein. Ich habe das Geld nicht«, erwiderte Grigory traurig.

  »Was?«

  Maryska sagte flehend: »Verstehst du nicht? Wir können nicht zahlen.« Sie zeigte auf die dürre Kuh. »Das ist alles, was uns geblieben ist.«

  Krantz warf einen gleichgültigen Blick auf das Tier. Die Schwierigkeiten dieser Leute kümmerten ihn nicht. Er wandte sich wieder an Grigory und sah dem größeren Mann kalt ins Gesicht. »Du erinnerst dich sicher an unsere Abmachung. Wenn du nicht zahlen kannst, fällt all dein Besitz an mich.« Er drehte sich grinsend um und ging zum Weg zurück.

  »Warte!«, rief Grigory angsterfüllt.

  Der Geldverleiher blieb stehen und rief: »Bis heute Abend hast du Zeit!« Dann ging er so rasch weiter, dass man die Münzen in seiner Geldkatze klimpern hörte.

  Grigory blickte seine Familie niedergeschlagen an. Die Jungen blickten erwartungsvoll zu ihm auf. Ihre Beine waren kaum dicker als verdorrte Äste. Sollte man sie aus der Hütte vertreiben, würden sie die kalten Nächte niemals überstehen.

  Er blickte verzweifelt zum Dorf hinüber.

  Er musste etwas tun.

 

  Der Zug der Trauergäste schlängelte sich langsam zur Burg zurück. Die Gräfin saß in einer offenen schwarzen Kutsche, die von vier Rappen gezogen wurde. Hinter der Kutsche ritten Hauptmann Balogh und Imre. Er konnte sehen, dass sich die Gräfin sehr aufrecht hielt und weder nach links noch nach rechts blickte. Ihr gegenüber saß der Krieger in seinem Pelzgewand.

  Neben der Straße standen stumm die Dörfler, die die Gräfin in ihrer gespielten Trauer sehen wollten. Als sie vorüberkamen, zogen sie die Mützen oder legten eine Hand an die Stirn. Dies geschah nicht aus Respekt, sondern eher aus Furcht. Man wusste, wie rasch mangelnde Ehrerbietung bestraft wurde.

  Hauptmann Balogh fiel ein Mann in der Menge auf. Er war kräftig, allerdings ein wenig unterernährt, und machte keine Anstalten, seine Dienstfertigkeit auszudrücken. Er starrte der näherkommenden Kutsche herausfordernd entgegen. Imre sah, wie sich der Mann an eine dunkelhaarige Frau neben sich wandte, an die sich zwei magere Kinder klammerten. Dann trat der Mann auf die Straße und neben die Kutsche.

  »Euer Gnaden... Euer Mann hat mir Arbeit versprochen!«

  Die Gräfin hörte den Mann, würdigte ihn jedoch keines Blickes. Grigory lief neben der Kutsche her, mit der er leicht Schritt halten konnte. Vielleicht ist sie Gräfin schwerhörig, dachte er. Irgendwie musste er ihr seine Lage verständlich machen. Verzweifelt fasste er mit seinen schwieligen Händen nach der Tür, um die Aufmerksamkeit der Gräfin auf sich zu lenken. Die Kutsche wurde jetzt anscheinend schneller, und er musste ein wenig rennen, um auf gleicher Höhe zu bleiben.

  Dobi blickte ihn kalt an. Er bewunderte den Schneid des Mannes, aber dieses Vorgehen konnte auf keinen Fall hingenommen werden. »Fort! Weg da!«, sagte Dobi mit befehlsgewohnter Stimme. Er hob die Reitpeitsche und schlug dem Mann

fest auf die Finger. Der Mann zuckte zusammen, ließ jedoch nicht los. Mit zitternder Stimme flehte er die Gräfin an.

  »Euer Gnaden, bitte... meine Frau und meine Kinder sind am Verhungern!«

  Dobi schlug wieder zu, und der Mann spürte, wie ihm das Blut die Arme hinunterlief. Doch loslassen wollte er nicht.

  »In Gottes Namen! Er hat mir sein Wort gegeben... er hat mir Arbeit versprochen...«

  Die Gräfin sah, wie sich der Kutscher fragend nach ihr umdrehte. Sie nickte kurz, und er ließ seine Peitsche auf das Gespann niedersausen. Die Pferde wieherten laut,

und der Wagen wurde immer schneller.

  Der Bauer schrie auf, als er den Boden unter den Füßen verlor. Imre musste hilflos zusehen, wie der Mann von der dahinrasenden Kutsche mitgeschleift wurde.

  Dann machte die Kutsche einen Satz, als eines der Räder gegen einen Stein stieß. Der Mann wurde in die Luft geschleudert, schwang zurück, ließ los und geriet under die Räder. Er stieß einen grässlichen Schrei aus, und man hörte ein Geräusch, als breche ein trockener Holzstab,

  Dann lag er mit verdrehten Gliedern auf der Straße. Imre brachte sein Pferd mit einem scharfen Ruck der Zügel zum Halt und wollte schon absteigen, als er bemerkte, dass die Kutsche mit unglaublicher Geschwindigkeit die Straße hinabschoss. Dem Kutscher mussten die Pferde durchgegangen sein. Hauptmann Balogh und er blickten sich erschrocken an und machten sich an die Verfolgung.

  Maryska rannte wehklagend zum Körper ihres Mannes. Ein Blick genügte, um ihr zu zeigen, dass keine Hoffnung mehr bestand. Maryska wischte sich die Tränen aus

dem Gesicht, raffte sich auf und stürzte hinter der Kutsche her, die jetzt rumpelnd durch das Dorf flog. Imre holte langsam auf, und Balogh war nicht weit hinter  ihm.

  Imre sah, dass die Gräfin sehr aufrecht in dem schaukelnden Wagen saß. Sie schien keine Angst zu haben, und ihr Begleiter warf den Kopf zurück und lachte mit blitzenden Zähnen. Das Gespann war jetzt schon auf der Straße, die zur Burg hinaufführte. Das Fallgitter war herabgelassen, und es schien unabwendbar, dass die Kutsche dagegenprallen würde. Doch genau im rechten Augenblick griff der Kutscher in die Zügel und brachte das Gespann zum Stehen.

  Imre und Balogh kamen sich vorgeführt vor, als Dobi ihnen spöttisch zulächelte.

  Das Tor öffnete sich, und Imre drehte sich um, weil er jemanden rennen hörte. In einiger Entfernung sah er die Frau des toten Bauern mit von Hass verzerrtem Gesicht die Straße herauftaumeln. Sie blieb plötzlich stehen, schwankte, richtete sich auf und schüttelte die Fäuste. Ihre Flüche waren deutlich zu hören. »Satansweib...! Teufelsbrut...!«

  Imre warf einen Blick auf die Kutsche. Die Gräfin schien unter ihrem Schleier ganz ruhig zu sein. Sie nickte wieder, und die Kutsche rollte durch das Tor. Imre zögerte und hätte am liebsten der bemitleidenswerten Frau geholfen, die jetzt wehklagend in die Knie gesunken war.

  Hauptmann Balogh sah ihn ungeduldig an. »Worauf wartet Ihr denn?« Dann bemerkte er, dass der junge Soldat noch immer nicht seinen Blick von der Witwe des Bauern wenden konnte. Balogh lachte, dass ihm die feisten Wangen nur so zitterten.

  »Vergeudet Euer Mitleid nicht an das Bauernvolk. Es gibt ohnedies zu viel von dem Gesindel!« Er lachte vor sich hin und folgte der Kutsche in die Burg. Imre sah sich noch einmal nach der weinenden Frau um und ritt dann hinter dem Hauptmann her.

  Laut schlug das schwere Tor der Burg Veres zu, und das Wehklagen Maryskas war nicht mehr zu hören.

 

 

 

  

  2.

 

 

  Imre wartete in der Bibliothek der Burg, wozu er von Balogh aufgefordert worden war. Die Bibliothek war groß, eine der größten, die Imre je gesehen hatte.

  Flüchtig betrachtete er die Bücher, die nach Sachgebieten geordnet waren. Mathematik, Die Heilige Schrift, nichts Interessantes, dachte er. Astrologie, Geheimwissenschaften, Zauberei... er lächelte. Vielleicht waren die schrecklichen Geschichten sogar wahr, die man sich von den Vorfahren der Familie erzählte.

  Dann stieß er auf eine Abteilung, die der Kriegskunst gewidmet war, Dingen, die ein junger Soldat verstehen konnte. Er fand sogar ein Buch, das sein Vater verfasst hatte. Er zog es heraus und schlug es auf. Vorn fand er eine handgeschriebene, verblasste Widmung, die er nur mühsam entziffern konnte. Meinem lieben Freund Ferdinand, der mich viel von dem, was ich weiß, gelehrt hat. Die Handschrift seines Vaters.

  Er hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Er fuhr zusammen. Hinter einem riesigen alten Tisch saß die Gräfin. Er wunderte sich, dass er sie nicht hatte eintreten hören. Sie trug noch den Schleier, schien ihn aber eingehend zu betrachten. Er lächelte sie an und fragte sich, ob sie wohl über seine Verspätung verärgert sei. Er

hatte vorhin eine Kostprobe ihres Zorns erlebt, obwohl ihr eigentlich nichts vorzuwerfen war. Der Mann hatte sich seinen Tod selbst zuzuschreiben.

  Imre war erleichtert, als Balogh übertrieben diensteifrig den Raum betrat. Ihm folgten die drei Begleiter der Gräfin, die er schon auf dem Gottesacker gesehen hatte. Sie setzten sich neben die Gräfin, während Balogh in Papieren wühlte, die auf dem Tisch lagen. Er zog eine Pergamentrolle mit einem schweren Siegel hervor: das Testament des Grafen. Man blickte ihn erwartungsvoll an.

  Balogh räusperte sich und sagte: »Bevor wir uns der Sache annehmen, möchte ich die Gelegenheit benutzen und Imre Toth vorstellen...« Er zeigte auf Imre, der das Buch aus der Hand legte und höflich vortrat. Balogh beugte sich zur Gräfin hinüber und flüsterte: »Der Sohn des verstorbenen Freundes Eures Gatten, General Toth.« Dann richtete er sich zu voller Größe auf, dass die Feder auf seinem Hut schwankte und sprach zu Imre: »Gräfin Elisabeth Nadasdy.«

  Mit einer raschen Handbewegung streifte die Gräfin ihren Schleier zurück. Imre hoffte, dass auf seinem Gesicht nicht zu lesen war, was er fühlte. Man hatte ihm gesagt, dass die Gräfin Mitte Fünfzig sei. Die Frau vor ihm sah aber nach sechzig, ja nach siebzig aus. Ihr ganzes Gesicht war von Falten und Furchen überzogen. Immerhin blickten ihn ihre grauen Augen freundlich an.

  Sie lächelte.

  »Euer Diener«, verbeugte sich Imre und drückte einen Kuss auf die Hand, die ihm die Gräfin bot. Als er sich aufrichtete, sah sie ihn wieder mit diesem herausfordernden Lächeln auf den welken Zügen an. In dieser sterbenden Hülle muss sich noch ein ebenso glutvoller wie sinnlicher Geist verbergen, dachte er sich.

  Balogh sagte: »Hauptmann Dobi, der Haushofmeister der Burg.«

  Imre löste sich von den hypnotisierenden Augen der Gräfin und blickte auf den stolzen Krieger. Der würdigte ihn nur eines kurzen, überheblichen Blickes. Der Alte mit dem langen grauen Bart war Offensichtlich eher bereit, seine Bekanntschaft zu machen.

  »Meister Fabio, der Gelehrte und Archivar.«

  Blieb noch die Frau mit dem Pferdegesicht.

  »Und Julie, die...« Balogh suchte nach dem passenden Wort. »Die... die Gesellschafterin der Gräfin.« Imre verbeugte sich knapp, und die Frau sah ihn mit einem ausdruckslosen Lächeln an.

  Damit war die Vorstellung beendet, und Imre ließ sich auf dem leeren Sessel neben der Gräfin nieder.

  Wiederum richtete Balogh das Wort an ihn. »Die einzige, die noch nicht anwesend ist, ist Ilona, die Tochter der Gräfin, Ihr Vater ließ nach ihr schicken, als er im Sterben lag, aber...«

  Die Gräfin seufzte und winkte barsch mit der Hand. »Schon gut... jetzt weiter«, sagte sie, als sei die Eröffnung des Testaments nur eine Formsache. Endlich war das Siegel gebrochen und die Pergamentrolle geöffnet.

  Von Imre abgesehen spitzten alle die Ohren. Der junge Mann sah sich seine Fingernägel an. Was konnte er schon erwarten, vielleicht ein rostiges Schwert als Andenken!

  »Letzter Wille und Testament des Grafen Ferdinand Nadasdy«, las Balogh. »Der Text ist recht kurz«, bemerkte er und warf der Gräfin einen schwer zu deutenden Blick zu. Sie starrte zurück, und er senkte den Blick wieder auf das Pergament. »Hauptmann Dobi vermache ich meine Waffen und die Kriegsgewänder.« Balogh sah überrascht auf. Dobi war ebenso überrascht. Er setzte sich auf, und sein sonst so ruhiges Gesicht war ungläubig verzogen. Dann stieß er ein kurzes, verächtliches Lachen aus und ließ sich belustigt in seinen Sessel zurücksinken.

  Die Gräfin indes hatte ihren Spaß an dieser Szene. Als sie sich genug daran ergötzt hatte, gab sie Balogh einen Wink;

  »Julie Szentes vermache ich tausend Kronen und Wohnrecht und Speise auf Lebzeiten in meinem Hause.« Die Frau behielt ihr Lächeln unverwandt bei.

  Meister Fabio neben ihr zupfte unruhig an seinem Bart. Er wusste, dass er jetzt an der Reihe war.

  »Für Meister Fabio meine Bibliothek mit allem, was darin enthalten ist«, verkündete Balogh. Das Gesicht des alten Gelehrten leuchtete auf. Er klatschte in die Hände, schlug sich dann auf die Knie. Dann fasste er sich und entschuldigte sich mit einem Lächeln.

  »Imre Toth...«, fing Balogh an und unterbrach sich.

  Alles sah den jungen Fremden an.

  »Dem Sohn meines besten Freundes, mit dem ich manche Schlacht bestanden habe und der mir mehr als einmal das Leben rettete, vermache ich meinen berühmten Stall mit all seinen Pferden und das Haus daneben.«

  Einen Augenblick lang schien niemand glauben zu wollen, was eben vorgelesen worden war. Dobis Kinn fing vor Wut an zu zittern, Er stand mit einem unterdrückten Ausruf auf und lief ärgerlich durch den Raum. An der Tür blieb er stehen, bemerkte den tadelnden Blick der Gräfin, fasste sich und lehnte sich gegen die Wand.

  Imre war stumm geblieben. Er konnte sein Glück nicht fassen. Gehörte ihm wirklich einer der besten Ställe in Ungarn?

  Baloghs Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Wir kommen jetzt zum wichtigsten Teil des Testaments«, sagte er ehrerbietig.

  Alle Blicke richteten sich auf die Gräfin.

  »Meinem geliebten Weib Elisabeth«, las Balogh, »mein Vermögen und mein Landbesitz...« Balogh machte eine Pause und sah die Gräfin an. Sie lächelte zufrieden. Balogh unterdrückte seine Genugtuung und fuhr nun fort: »...das

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Michel Parry/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Christian Dörge (OT: Countess Dracula).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 20.11.2017
ISBN: 978-3-7438-4222-9

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /