Cover

Leseprobe

 

 

 

 

NELLY HAMILTON

 

 

DER FLUCH DES ÄGYPTERS

- 13 SHADOWS, Band 7 -

 

 

 

Horror-Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER FLUCH DES ÄGYPTERS 

1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

7. 

8. 

9. 

10. 

11. 

 

Das Buch

Zwei Männer verfolgen die hübsche junge Französin Yvonne Raceine mit tödlichem Hass: der kahlköpfige Ägypter Phinos und der Schakal-Priester Anor. Die beiden sind erbitterte Feinde. Nur in einem stimmen sie überein – in den Wunsch, Yvonne in ihr Verderben zu stürzen. Der teuflische Fluch eines vor Jahrtausenden verstorbenen Ägypters fordert sein Opfer. Ohne jede Gnade. Und so wird Yvonne zum Spielball von Geistern, Dämonen und Ungeheuern.

In der Totenstadt der Weißen Mauer entscheidet sich schließlich der dramatische Kampf zwischen Licht und Finsternis...

 

DER FLUCH DES ÄGYPTERS, ein außergewöhnlicher Mumien-Thriller aus der Feder der Ägyptologin NELLY HAMILTON, erscheint als siebter Band der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

DER FLUCH DES ÄGYPTERS

 

 

  1.

 

 

  Die letzten Strahlen der sinkenden Aprilsonne drangen in Dr. Raoul Cardons Arbeitszimmer. Der junge Arzt saß am Schreibtisch und las einen Artikel über neue Methoden in der Behandlung von Krebskranken.

  Plötzlich hörte er das laute Schrillen der Hausglocke. Ärgerlich legte er die Fachzeitschrift aus der Hand und eilte zur Tür.

  Ein junges Mädchen stand vor ihm. Sie sah verweint aus. Ihre blonden Locken waren vom Wind zerzaust. »Bitte, Herr Doktor, kommen Sie schnell! Madame hat einen Anfall gehabt. Sie ist fast erstickt.«

  Raoul musterte das Mädchen. Sie kam ihm bekannt vor, aber er konnte sich nicht daran erinnern, wer sie war. »Es tut mir leid«, sagte er, »aber ich kenne Sie nicht. Zu wem soll ich denn kommen?«

  Das Mädchen errötete verlegen und machte einen Knicks.

  »Ich bin Paulette«, antwortete sie, »das neue Mädchen von Madame Raceine. Sie wohnt gleich um die Ecke.«

  Raoul lächelte. Die Kleine kommt gewiss frisch vom Lande, dachte er. Eine Pariserin ist nicht so leicht aus der Fassung zu bringen,

  »Warten Sie bitte einen Augenblick«, sagte er. »Ich komme sofort mit.«

  Er ging in sein Arbeitszimmer und nahm sein Arztköfferchen zur Hand. Hoffentlich habe ich alles Nötige bei mir, dachte er.

  Raoul Cardon hatte sein Studium an der Sorbonne erst vor kurzem abgeschlossen Er war sechsundzwanzig Jahre alt. Sein Vater hatte ihm ein kleines Vermögen hinterlassen, von dessen Zinsen er ein sorgenfreies Leben führen konnte. Aber Raoul liebte seinen Beruf. Er hatte sich sehr gefreut. als Dr. Leroy. ein alter Freund

der Familie. ihm die Vertretung seiner Praxis übertragen hatte. Der alte Arzt litt seit langem an der Gicht und hatte sich endlich dazu durchgerungen, den längst fälligen Kuraufenthalt anzutreten.

  Paulette führte Dr. Cardon in eine freundliche kleine Villa, die tatsächlich nur wenige Schritte von seinem Haus entfernt lag. Madame Raceine befand sich in ihrem Schlafzimmer. Sie lag angekleidet auf dem Bett.

  Die dunkelblauen Vorhänge waren zugezogen. Eine altmodische Nachttischlampe mit schwerem Messingfuß und rotem Seidenschirm verbreitete einen schwachen Lichtschein.

  Raoul erschrak, als er die Kranke erblickte. Ihr Gesicht war bleich und eingefallen. Die Wangenknochen traten spitz hervor, unter den weitgeöffneten dunklen Augen lagen tiefe Schatten.

  »Sie können mir nicht mehr helfen«, flüsterte Madame Raceine. als der junge Arzt sich über sie beugte. »Rufen Sie Yvonne her. Ich muss sie sprechen!«

  Fragend schaute Dr. Cardon Paulette an. »Wer ist Yvonne?«

  »Madames Tochter«, erklärte das Mädchen. »Sie wohnt in Marseille.«

  »Schicken Sie ihr sofort ein Telegramm«, sagte Raoul. Jetzt erst bemerkte er, dass die Kranke einen seltsam geformten Gegenstand in den Händen hielt, ein anscheinend sehr altes goldenes Schmuckstück, das mit kleinen Perlen und Amethysten besetzt war. Vielleicht ein Anhänger, dachte Raoul, allerdings ein ungewöhnlich großer.

  Er fühlte den Puls der Kranken. Der Herzschlag war äußerst schwach und unregelmäßig. Angina pectoris, dachte der junge Arzt. Ich muss ihr sofort eine Herzspritze geben. Aber er hatte nicht viel Hoffnung, sie retten zu können.

  Madame Raceine warf ihm einen seltsamen Blick zu.

  Sie schien seine Gedanken erraten zu haben. »Es ist zwecklos«, sagte sie leise. »Was Sie auch tun...«

  Mitten im Satz brach sie ab und stöhnte laut. Ihr Körper bäumte sich auf. Verzweifelt rang sie nach Luft.

  Raoul öffnete schnell seinen Koffer und nahm eine Ampulle heraus. Er zog die Spritze auf und versuchte die über der Brust verkrampften Hände der Kranken zu lösen, damit er ihr das Kleid aufknöpfen konnte. Aber Madame Raceine Widersetzte sich mit letzter Kraft. Sie schien entsetzliche Schmerzen zu haben; trotzdem wehrte sie sich energisch gegen die Bemühungen des jungen Arztes.

  Raoul war ratlos. Wie konnte er ihr helfen, wenn sie ihm nicht erlauben wollte, sie zu berühren? Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Sollte sie etwa befürchten, er wolle ihr das seltsame Schmuckstück stehlen, das sie so hartnäckig umklammerte? Die Frau war schwerkrank, soviel stand fest. Vielleicht hatte ihr Verstand bereits gelitten.

  »Madame«, sagte Dr. Cardon mit ruhiger Stimme, so wie man zu einem bockigen Kind spricht, »ich bin Arzt. Ich vertrete Dr. Leroy. Sie kennen ihn sicher?«

  Fast unmerklich nickte die Kranke.

  Raoul atmete auf. Sie verstand ihn also noch, das war wenigstens ein kleiner Hoffnungsschimmer.

  »Ich schwöre Ihnen, dass ich nichts anderes im Sinn habe, als Ihnen zu helfen, Madame«, fuhr er fort. »Bitte öffnen Sie die Hände, damit ich Ihnen eine Spritze geben kann. Sie können das Schmuckstück auch mit einer Hand festhalten. Glauben Sie mir, ich werde es bestimmt nicht anrühren.«

  In diesem Augenblick ließ der Krampf nach. Madame Raceine beruhigte sich etwas. Noch einmal schaute sie Raoul prüfend an, dann löste sie die Rechte von dem Schmuckstück und streckte beide Arme vorsichtig neben dem Körper aus.

  Schon wenige Minuten nach der Spritze ging es der Kranken sichtlich besser. Sie lächelte dem jungen Arzt zu.

  »Verzeihen Sie mir«, flüsterte sie. »Ich habe mich sehr töricht benommen. Aber dieses Amulett ist mein einziger Schutz. Meine Mutter gab es mir - auf ihrem Sterbebett.«

  Jemand klopfte leise an die Tür. Madame Raceine fuhr zusammen. »Wer ist da?«, fragte sie ängstlich.

  »Ich bin's, Paulette. Ich habe das Telegramm an Mademoiselle Yvonne abgeschickt.«

  »Vielen Dank. mein Kind. Ich brauche dich jetzt nicht.«

  Als Paulette sich wieder entfernt hatte, blickte die Kranke Raoul flehend an. »Bitte lassen Sie niemanden ins Haus. Verriegeln sie alle Türen und Fenster«, bat sie.

  Raoul nickte ihr beruhigend zu. »Natürlich. Madame. Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben. Ich bleibe bei Ihnen.«

  Sie lehnte sich erschöpft zurück. »Er wird versuchen, mir das Amulett  wegzunehmen«, sagte sie mit sehr leiser Stimme. »Wenn es ihm gelingt, jetzt, an der Schwelle zum Tode, bin ich verloren.«

  Betroffen schaute Raoul die Kranke an. Glaubte sie wirklich, dass ein altes Amulett jetzt wichtiger für sie war als die Hilfe des Arztes? Ihre Stimme hatte ernst

und feierlich geklungen. Es war unverkennbar. dass sie schreckliche Furcht hatte. Aber wovor - wenn nicht vor dem Tode?

  

  Yvonne kehrte an diesem Abend erst spät in ihre Wohnung zurück. Sie hatte eine Modenschau besucht und anschließend noch mit ein paar Freunden gemütlich in einem Café geplaudert.

  Seit sechs Monaten lebte Yvonne in Marseille. Sie war zwanzig Jahre alt. Die Trennung von ihrer Mutter war ihr schwergefallen. Yvonne hatte ihren Vater, den

Kapitän der Handelsmarine Henri Raceine, kaum gekannt. Vier Jahre nach ihrer Geburt war sein Schiff in der Karibischen See in einen schweren Sturm geraten und gesunken. Sie hatte auch keine Geschwister. Umso enger hatte das Mädchen sich an die Mutter angeschlossen. Aber gerade ihre Mutter hatte ihr dringend zugeraten, als sie vor einem halben Jahr ein sehr günstiges Angebot von der Redaktion einer großen Frauenzeitschrift in Marseille erhalten hatte. Seither hatten die beiden einander nicht mehr gesehen.

  Yvonne war Modezeichnerin. Sie beherrschte perfekt jenen sicheren, eleganten Strich, den die Moderedakteure schätzten. Ihr gutes Aussehen und ihre unerschütterlich gute Laune waren weitere Pluspunkte,  die ihrer Karriere schon oft genutzt hatten. Yvonne wusste das. Sorgfältig pflegte sie ihr bis auf die Taille fallendes kastanienbraunes Haar, das sie am liebsten offen trug. Ihr gutes Einkommen erlaubte es ihr, sich so manche kleine Extravaganz zu leisten.

  Als Yvonne die Wohnungstür aufgeschlossen und das Flurlicht eingeschaltet hatte, fiel ihr Blick sofort auf einen gelben Telegrammumschlag, der auf dem Boden lag. Sie erschrak. Obwohl sie schon oft Telegramme erhalten hatte, in denen sie lediglich aufgefordert wurde, einen neuen Auftrag zu übernehmen, war sie noch immer von der kindlichen Furcht besessen, ein Telegramm müsse unbedingt eine Hiobsbotschaft enthalten.

  Mit zitternden Fingern riss sie den Umschlag auf und überflog rasch die wenigen Zeilen: »Ihre Mutter schwer erkrankt. Bitte sofort kommen, Paulette.«

  Wer zum Teufel ist Paulette, dachte Yvonne und schüttelte im selben Augenblick den Kopf über sich selbst. Auf was für Gedanken man in einer solchen Situation kommen konnte! Das war doch nun wirklich ganz nebensächlich.

  Mechanisch ging sie ins Wohnzimmer, ließ sich in einen Sessel fallen und las den Text zum zweiten Mal. Sie zündete sich eine Zigarette an und drückte sie nach den

ersten Zügen wieder aus. Ihr Herz klopfte bis zum Hals.

  Was mag ihr nur fehlen, dachte sie. Sie war doch immer gesund. so voll Energie und Lebensfreude. Ob sie einen Unfall hatte? Ich muss zu ihr! 

  Yvonne sprang auf. Im Vorübergehen warf sie einen langen, zärtlichen Blick auf das Foto ihrer Mutter, das in einem glatten Silberrahmen auf dem Sideboard stand. Sie lief ins Schlafzimmer, stieg auf einen Hocker, holte einen Koffer vom Schrank und begann eilig, ein paar Sachen hineinzuwerfen. In der Aufregung überlegte sie kaum, was sie für ein paar Tage in Paris brauchen würde. Dann holte sie ihre Kosmetikbox aus dem Badezimmer und stopfte ihre Puderdose hinein, Seife, Nagellack, eine Zahnbürste - alles in kunterbuntem Durcheinander. Endlich war sie fertig. Prüfend blickte sie sich noch einmal um, sie schien nichts vergessen zu haben.

  Da hörte sie aus dem Wohnzimmer einen scharfen Knall. Yvonne erstarrte. Ihr erster Gedanke war: Einbrecher sind in der Wohnung. Angespannt lauschte sie. Aber es blieb alles still. Sie konnte sogar ganz deutlich das Ticken ihres kleinen Reiseweckers auf dem Nachtschränkchen hören.

  Vorsichtig schlich sie zur Tür und spähte durch den offenen Spalt ins Wohnzimmer. Der Raum schien leer zu sein. Yvonne nahm ihren ganzen Mut zusammen und riss mit einem Ruck die Tür auf. Niemand war zu sehen. Hatte sie geträumt?

  Plötzlich stutzte sie.

  Irgendetwas... stimmte hier nicht.

  Sie trat ans Sideboard, das die Wand links neben der Fensterfront fast ganz ausfüllte. Hier standen allerlei Dinge, an denen Yvonne besonders hing. Ein dreiarmiger Leuchter aus schwerem Silber, eine kunstvolle blaue Vase aus Murano, ein zart bemalter Porzellan-Buddha, eine große, summende Muschel - und das Foto

ihrer Mutter. Das Bild war umgefallen.

  Yvonne erschrak so sehr, dass sie sich mit beiden Händen am Sideboard festhalten musste, Sie wusste, was es bedeutete, wenn das Bild eines geliebten Menschen ohne erkennbaren Grund herunterfiel. Sollte ihre Mutter etwa...

  Da fiel ihr ein, dass es draußen sehr windig war. Vielleicht hatte ein Luftzug das Bild umgeworfen. Sie sah sich um. Beide Fenster und die Tür zum Flur waren fest verschlossen. Nicht der leiseste Windhauch bewegte die Falten der leichten Tüllgardinen.

  Zögernd fasste Yvonne den Rahmen an, um das Bild wieder aufzurichten. Plötzlich schrie sie entsetzt auf. Der Rahmen war leer! Lange Glassplitter ragten wie gefährliche kleine Dolche über die schwarze Bildrückwand. Das Foto ihrer Mutter aber war verschwunden.

  

  Madame Raceine war eingeschlummert. Raoul wachte an ihrem Bett. Die Kranke atmete flach und unregelmäßig. Unruhig warf sie den Kopf hin und her. Ihr ausdrucksvolles Gesicht spiegelte deutlich die Furcht, die sie bis in den Schlaf verfolgte.

  Sie muss einmal sehr schön gewesen sein, dachte Raoul. Das volle, dunkelbraune Haar wurde nur von wenigen Silberfäden durchzogen. Sie hatte eine schmale, gerade Nase und einen schöngeschnittenen weichen Mund.

  Madame Raceine hatte das Amulett wieder auf ihre Brust gelegt und hielt es mit beiden Händen krampfhaft fest. Sie flüsterte etwas vor sich hin. Raoul beugte sich vor, um sie besser verstehen zu können. Ihre Stimme war sehr schwach,

  »Der Fluch des Ägypters«, sagte sie. »Yvonne! Sie ist in Gefahr. Hilfe, Hilfe!«

  Raoul schüttelte den Kopf. Sie hat einen Alptraum, dachte er, aber ich will sie nicht wecken. Sie braucht un- bedingt ein wenig Schlaf. Seltsam, dass sie selbst im 

Traum noch von derselben fixen Idee geplagt wird, die sie auch im Wachen Zustand zu verfolgen scheint. Si- cher ist das alte Amulett schuld daran. Vielleicht sollte ich es ihr fortnehmen und verstecken. Aber das wäre ein zu gefährliches Experiment. Sie könnte einen tödlichen Schrecken erleiden. wenn sie es beim Erwachen vermisst.

  Aufmerksam betrachtete er das Amulett. Soweit er es erkennen konnte. mochte es sich durchaus um eine altägyptische Goldschmiedearbeit handeln. Er verstand zwar nicht viel von solchen Dingen, aber er erinnerte sich daran, dass er in der ägyptischen Abteilung im Louvre einmal ähnliche Schmuckstücke gesehen hatte. Aber so etwas war nahezu unbezahlbar. Wie mochte seine Patientin. die er zwar für wohlhabend. aber keineswegs für reich hielt. in den Besitz einer altägyptischen Kostbarkeit gelangt sein?

  Raoul fröstelte. Wie kalt es plötzlich geworden ist, dachte er. Da richtete Madame Raceine sich auf. Sie hielt das goldene Amulett wie eine Reliquie empor. Ihre unnatürlich weit geöffneten Augen schienen einen Punkt auf den dunklen Vorhängen hinter Raoul zu fixieren,

  »Hab' Erbarmen mit mir«, rief sie flehend. »Geh', geh' fort - und lass meiner armen Seele die ewige Ruhe!«

  Raoul wandte sich um. Für einen Augenblick schien es ihm. als ob eine verschwommene, halb durchsichtige Gestalt vor dem Vorhang schwebte. Deutlich glaubte er einen hohen kahlen Schädel über einem bleichen Gesicht mit glühenden schwarzen Augen zu erkennen.

  Dann verschwand die Erscheinung wieder.

  Der junge Arzt fuhr sich mit der Hand heftig über die Augen. Ich bin übermüdet, dachte er, in der letzten Nacht habe ich viel zu lange gelesen. Ich muss einen Wachtraum gehabt haben. Er wandte sich wieder der Kranken zu. Madame Raceine schaute ihn an. Ihre Augen glänzten fiebrig.

  »Sie haben ihn auch gesehen«, sagte sie. Es war eine Feststellung, keine Frage.

  Raoul schüttelte den Kopf. »Ich habe niemanden gesehen«, antwortete er.

  Sie lächelte spöttisch. »Er hat genickt, nicht wahr? Ich glaube, er wird warten, bis ich tot bin. Ihm liegt nichts an meinem Verderben. Aber Yvonne schwebt in tödlicher Gefahr.«

  Mechanisch fühlte Raoul ihr den Puls. Er war verwirrt und ärgerlich auf sich selbst. Meine Nerven haben mir einen Streich gespielt, dachte er. Wie war das möglich? Ich bin doch kein schreckhaftes altes Weib! 

  »Es ist niemand hier außer uns beiden«, sagte er ruhig.

  Madame Raceine nickte zu seinem Erstaunen. »Bitte geben Sie mir einen Schluck Wasser«, bat sie.

  Sie trank gierig. bis Raoul ihr das Glas wieder fortnahm.

  »Erlauben Sie, dass ich mir von Paulette einen Kaffee kochen lasse?«, fragte er dann.

  »Aber natürlich.« Madame Raceine drückte auf den Klingelknopf neben ihrem Nachttisch.

  Paulette kam ins Zimmer. Besorgt schaute sie die Kranke an. Madame Raceine nickte ihr beruhigend zu.

  »Es geht mir besser, Paulette«, sagte sie leise. »Bitte machen Sie einen Kaffee für Dr. Cardon. aber einen recht starken.«

  Paulette nickte. »Gern, Madame.«

  Als das Mädchen das Zimmer wieder verlassen hatte, griff die Kranke nach Raouls Hand. »Ich habe eine Bitte an Sie«, sagte sie. »Sie müssen mir helfen.«

  »Gern«, erwiderte der junge Arzt. »Ich will alles tun, was in meiner Macht steht.«

  »Ich fürchte, ich werde sterben, bevor Yvonne hier ist«, flüsterte Madame Raceine. »Bitte nehmen Sie das Amulett an sich, wenn ich tot bin. Und geben Sie es Yvonne sobald wie möglich. Ihr Leben hangt davon ab.«

  Raoul nickte. »Ich verspreche es Ihnen, Madame Raceine.«

  »Danke«, flüsterte die Kranke. »Und noch etwas...« Ihre Stimme versagte. Ein neuer Anfall kündigte sich an, aber Madame Raceine kämpfte verzweifelt darum. sich verständlich zu machen: »Das - blaue –Buch...«

  Sie bäumte sich ein letztes Mal auf, dann sank der leblose Körper zurück. Ihre Augäpfel waren verdreht. Raoul stand auf, um der Toten die Augenlider zuzudrücken. In diesem Augenblick ertönte ein lautes Krachen. Der schwere Wandspiegel fiel herunter und zersprang.

  Unmittelbar darauf riss Paulette die Tür auf. Die Kaffeetasse fiel ihr aus der Hand, der heiße Inhalt ergoss sich über den hellen Teppich. »Madame«, rief sie, »Madame!«

  Raoul ging auf sie zu und legte ihr den Arm um die Schultern. »Sie ist tot«, sagte er leise.

  Paulette schrie auf. Sie klammerte sich an seinem Arm fest und schluchzte so verzweifelt, als habe sie die eigene Mutter verloren.

 

 

 

  

  2.

 

 

  Yvonne ertappte sich dabei, dass sie wie gebannt nur noch auf die Rücklichter des Wagens vor sich starrte, ohne die Schilder am Straßenrand wahrzunehmen. Die stundenlange Fahrt durch die Nacht hinter dem Lenkrad hatte sie völlig ausgelaugt. Sie kurbelte das Seitenfenster herunter und atmete in tiefen Zügen die kühle Nachtluft ein. Beim nächsten Rasthaus mache ich eine Pause, dachte sie, ich muss mich unbedingt etwas ausruhen und eine Kleinigkeit essen.

  Schon zehn Minuten später tauchte vor ihr aus dem Dunkel die Leuchtreklame einer Raststätte auf. Yvonne atmete erleichtert auf. Geschickt zog sie den Wagen in eine Parklücke und stieg aus. Sie reckte sich und ging langsam quer über den Parkplatz zum Restaurant hinüber.

  Nur wenige Gäste saßen in dem hellerleuchteten Raum. Yvonne nahm an einem kleinen Tisch neben einem Fenster Platz und zündete sich eine Zigarette an.

  Ein mürrischer alter Kellner schlurfte heran. Sie bestellte Kaffee und ein Schinken-Sandwich.

  Sie musste lange warten. Ungeduldig ruckte sie auf dem schmierigen Tischtuch die Zuckerdose, Salz- und Pfefferstreuer und den Aschenbecher hin und her, um wenigstens die ärgsten Flecke zu verdecken. Aber es nutzte nicht viel. Anstelle der alten Ketchup-, Kaffee- und Fettspritzer kamen nur neue zum Vorschein.

  Wo bleibt nur der Kellner, dachte sie und schaute hoch. Ihr Blick fiel auf einen Mann am Nebentisch, der sie unverwandt anschaute. Er war sehr groß und hager. hatte ein blasses Gesicht mit schwarzen, seltsam glühenden Augen und einen kahlen, hohen Schädel.

  Yvonne erschrak. Etwas Unheimliches schien von dem Fremden auszugehen. Sie wusste genau. dass sie ihm noch nie begegnet war, trotzdem kam er ihr bekannt vor.

  Er starrt mich an, als ob er mich hypnotisieren wollte, dachte sie. Was für ein unsympathischer, aufdringlicher Bursche! Franzose ist er auf keinen Fall. Wahrscheinlich kommt er aus einem Land, in dem alleinreisende Frauen Freiwild sind. Sie wandte sich ab und schaute demonstrativ aus dem Fenster. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie versuchen könnte, noch einmal zu Hause anzurufen. Sie schaute auf die Armbanduhr. Es war zehn Minuten nach Vier. Hoffentlich reiße ich Mama nicht aus dem Schlaf, dachte sie. Aber wenn sie schwerkrank ist, wird doch sicher jemand bei ihr wachen, diese Paulette vielleicht oder eine Schwester.

  Kurzentschlossen stand sie auf und ging zur Telefonzelle neben der Theke. Sie spürte, dass der Fremde jeden ihrer Schritte beobachtete. Es dauerte eine Weile, bis der schläfrige Kellner sich bereiterklärte. die Verbindung mit Paris herstellen zu lassen. Anscheinend fürchtete er, sie würde versuchen. sich um die Bezahlung der Gebühren zu drücken.

  Endlich war es soweit. Yvonne hielt den Hörer in der Hand und lauschte angespannt. Immer wieder ertönte das Freizeichen. Es scheint niemand daheim zu sein, dachte sie traurig. Vielleicht ist Mama in ein Krankenhaus gebracht worden.

  Schon wollte sie die Verbindung trennen, da hörte sie, wie am anderen Ende der Leitung jemand den Hörer aufnahm.

  »Mama, bist du es?«, fragte sie aufgeregt. »Hier ist Yvonne.«

  Aber niemand antwortete ihr,

  »Hallo. wer ist denn da? Ich möchte Madame Raceine sprechen!«

  Aus Furcht, man könnte sie in Paris nicht verstehen, hatte Yvonne so laut gesprochen, dass die Gäste im Restaurant sich belustigt anschauten. Nur der seltsame Fremde mit dem kahlen Schädel rührte sich nicht. Er hatte den Blick fest auf die Telefonzelle gerichtet. Hinter der staubigen Scheibe war Yvonnes Profil undeutlich zu erkennen.

  Noch immer bekam sie keine Antwort,

  »Hallo«, rief sie verzweifelt, »können Sie mich verstehen? Hier ist Yvonne. die Tochter von...«

  In diesem Augenblick wurde am anderen Ende der Hörer aufgelegt. Deutlich hörte sie das Klicken in der Leitung.

  Wie betäubt starrte Yvonne auf den Apparat. In hilflosem Zorn schüttelte sie den Hörer in der Hand.

 

  Raoul hatte dafür gesorgt, dass Madame Raceines Leiche kurz nach dem Tode seiner Patientin aus dem Haus gebracht wurde. Das Amulett hatte er an sich genommen. Es schien sich tatsächlich um eine altägyptische Arbeit zu handeln, eine kreisrunde Scheibe von fast zehn Zentimeter Durchmesser. In der Mitte befand sich ein großer dunkler Amethyst, um den kreisförmig seltsame Schriftzeichen angeordnet waren. Raoul vermutete, dass es sich um ägyptische Hieroglyphen handelte.

  Der äußere Rand war dicht mit kleinen Amethysten und Perlen besetzt.

  Obwohl Raoul ihr angeboten hatte, sie für die Nacht in einem Schwesternheim unterzubringen, hatte Paulette darauf bestanden, im Haus zu bleiben. Sie hatte den ersten Schrecken bald überwunden und Raoul umsichtig bei den Vorbereitungen fur die Überführung der Toten geholfen, Dann hatten sie noch Kaffee miteinander getrunken, und anschließend begleitete Paulette den jungen Arzt zur Haustür.

  »Machen Sie sich keine Sorgen um mich«, sagte sie zum Abschied. »Die arme Madame Raceine war immer gut zu mir. Sie wird mich auch nach ihrem Tode nicht ängstigen wollen.«

  Raoul versprach ihr, am nächsten Morgen vorbeizukommen und nach ihr zu sehen.

  Paulettes Zimmer lag im Obergeschoss. Sie liebte diesen kleinen, hübsch eingerichteten Raum, der ihr ganz allein gehörte. Traurig dachte sie beim Auskleiden daran, dass sie wohl nicht mehr oft hier schlafen durfte. Wer konnte wissen, was Mademoiselle Yvonne vorhatte? Wahrscheinlich wurde sie das Haus an fremde Leute verkaufen oder vermieten, und Paulette wurde nichts anderes übrigbleiben. als ihre Sachen zu packen und sich eine neue Stellung zu suchen. So gut wie bei Madame Raceine wurde sie es wohl kaum ein zweites Mal antreffen.

  Paulette seufzte. Sie legte sich ins Bett, löschte das Licht und zog die Decke bis über die Ohren. Erst jetzt spürte sie, wie erschöpft sie war. Schon fünf Minuten später war das Mädchen eingeschlafen.

  Nach ein paar Stunden weckte sie ein anhaltendes Klingeln aus dem Erdgeschoss. Paulette richtete sich auf und wischte sich den Schlaf aus den Augen. Sie war noch so benommen, dass es ein paar Sekunden dauerte, bis sie begriff, dass das Telefon unten im Flur läutete. Dann aber sprang sie schnell aus dem Bett und zog ihren Morgenmantel über. Barfuß lief sie in den Flur hinaus.

  Noch immer klingelte das Telefon. Paulette tastete nach dem Lichtschalter, Endlich flammte die Treppenbeleuchtung auf. Sie rannte die Treppe hinunter. Aber

plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Das Läuten hatte aufgehört. Von ihrem Platz aus konnte sie bereits den Telefonapparat sehen.

  Der Hörer schwebte frei in der Luft.

  Paulette hielt sich am Treppengeländer fest. Sie kniff die Augen fest zusammen und riss sie schnell wieder auf. Aber sie

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Gisela Elisabeth Bulla/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2017
ISBN: 978-3-7438-4194-9

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /