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Leseprobe

 

 

 

 

 

HANS DOMINIK

 

Atlantis

 

 

 

 

Roman

 

Apex Science-Fiction-Klassiker, Band 11

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

ATLANTIS 

1. 

2. 

3. 

4. 

 

Das Buch

 

Man schreibt das Jahr 2000; die politische Lage ist gespannt: Das vereinigte Europa steht amerikanischen und afrikanischen Machtblöcken gegenüber, ein kühnes Projekt soll durchgeführt werden, um einen breiten Seeweg zwischen dem Atlantischen und dem Pazifischen Ozean zu schaffen. Namhafte Gelehrte warnen, befürchten, dass der Golfstrom sich verlagern könnten, was für Europa eine neue Eiszeit bedeuten würde, befürchten, dass die dünne Erdkruste derart tiefgreifende geologische Veränderungen nicht unbeschadet überstehen wird. Doch die Sprengung wird durchgeführt. »Feurig rot flammte es einen Moment auf der ganzen Linie aus den wogende, steigenden Wäldern. Das Land schien Land in den Äther zu speien...« Da geschieht das Unfaßbare. – Die Azoren beginnen sich zu heben, und aus dem Atlantik taucht der vor 13000 Jahren versunkene Kontinent Atlantis. 

 

Atlantis, erstmals im Jahre 1925 veröffentlicht, ist – nach Die Macht der Drei (1921), als dessen Fortsetzung er mitunter bezeichnet wird, und Die Spur des Dschinghis-Khan (1923) - der  dritte Science-Fiction-Roman des deutschen Schriftstellers Hans Dominik (* 1872 in Zwickau - + 1945 in Berlin). Atlantis gilt zu Recht als Klassiker des utopisch-technischen Romans, geht jedoch mit seinen mystischen Elementen weit über die Grenzen des Genres hinaus. 

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neu-Ausgabe des Romans in seiner Reihe APEX SF-KLASSIKER.

ATLANTIS

 

 

  

  1.

 

  Das Kohlenschiff ›Christian Harlessen‹ lag fünf Kilometer südlich von Black Island vor Anker. Fünftausend Pferde Maschinenkraft, viertausend Tonnen Wasserverdrängung. Heimathafen Hamburg, Reeder Jacob Jeremias Uhlenkort & Söhne.

Fröstelnd schob sich der Wachtmann, die einzige lebendige Seele auf Deck, an der Reling entlang. Mechanisch ließ er den Blick bisweilen über das Meer gleiten, gelegentlich war Treibeis zu sehen. Noch verwehrte ein dünner Nebelschleier die Sicht.

Ein lichter Schimmer von Osten her kündete das aufsteigende Tagesgestirn. Schärfer blickten seine Augen. Von Minute zu Minute wurde die Luft sichtiger.

Am Vordersteven machte er halt. Sein Blick war nach Norden gerichtet, wo Black Island liegen musste.

Da... er stand... und stand. Langsam löste er seine Hände aus den Taschen und fuhr sich über die Augen. Dann packten seine Fäuste die Reling. Sie umklammerten sie, als ob sie das starke Stahlrohr zerquetschen wollten.

Black Island?... War das die Insel Black Island?

Land... Das war Land... ja, das war Land... was sich vor ihm ausbreitete.

Seine Lippen bewegten sich, als wollten sie schreien. Die weitgeöffneten Augen stierten geradeaus.

Doch! Da war Black Island... Da war es ja... aber... aber viel näher! Viel größer... und es wurde... immer größer... immer höher.

Die zerklüfteten Felsspitzen der Insel, im hellen Sonnenschein gegen die schwarzen Wolken im Hintergrund... schienen taumelnd in die Höhe zu streben. Das Vorland, nach allen Seiten wuchs es mit. In immer weiteren Kreisen dehnte sich der Strand, schien auf das Schiff hinzulaufen.

Da lösten sich seine Hände... Sie schlugen sich vor das Gesicht, das sich wie zur Flucht abwandte. Er stürzte fort.

Ein Schrei wie der eines Menschen aus tiefster, verzweifelter Not gellte über Deck.

»Land!... Land!... Land kommt! Land ahoi!«

Der Wachtmeister riss die Luke zum Quartier auf. »Land ahoi!« brüllte er in den Raum.

Die Gestalt des Ersten Steuermanns schob sich die Treppe hinauf. Bevor er die oberste Stufe erreichte, krallten sich zwei Hände in seine Schultern. Der Schrei gellte ihm in die Ohren.

»Land voraus... Land ahoi!... Land kommt über uns.«

Mit einem Ruck schüttelte der Steuermann ihn von sich.

»Was?... Was schreist du... Land?... Land ahoi?... Bist du verrückt geworden?«

Seine Augen folgten dem ausgestreckten Arm, der nach Norden zeigte.

»Land ahoi, Steuermann!«

Der Steuermann taumelte zurück.

»Land ahoi!«, schrie es von seinen Lippen. »Anker auf!... Anker auf!... Motoren klar!«

Die Deckleute stürzten nach oben.

»Anker auf!« brüllte der Steuermann und lief zur Brücke. Knatternd setzte sich die Motorwinde in Bewegung. Klirrend und rasselnd fuhr die Ankerkette durch die Klüse.

Der Maschinentelegraf klang schrillend. Die Schiffsmotoren sprangen an.

»He, Steuermann! Was ist?... Was soll's?«

Der Kapitän stand auf der Brücke und riss den Steuermann am Arm. Der fuhr herum.

»Land! Kapitän... Land kommt...«

»Land kommt?« murmelten die Lippen des Kapitäns. Sein tiefgebräuntes Gesicht war erblasst. Mit unruhigen Händen hob er das Glas. Sah, wie das Land da vor ihm wuchs – Black Island... in die Höhe... in die Breite... sah, wie es auf sie zukam... näher... und immer näher.

»Ruder backbord! Hart backbord! Volle Fahrt voraus!«

Der Steuermann schrie es.

»Volle Fahrt voraus!«, der Kapitän rief es nach.

Der Schiffsrumpf erzitterte, das Schiff kam in Bewegung. Es gehorchte dem Steuer und floh... floh vor dem wachsenden Land. Voll Grauen hingen die Blicke der Mannschaft an den steigenden Felsen, an dem Land, das sie zu verfolgen schien, das ihre Augen und Sinne verrückt machte.

Bis die Entfernung immer größer wurde, bis das Phantom im Nebel entschwand. Bis die Kehlen wieder frei wurden, die Lippen sich wieder zu bewegen vermochten... zu flüstern, zu sprechen über das Niegesehene... Nieerlebte.

»Volle Fahrt voraus!« so fuhren sie... und fuhren, bis sie an der Mole von Wibehafen festmachten.  

Der Hafenkommandeur sah die verstörten Gesichter und nahm die Mannschaften der Reihe nach vor. Die sahen mit Augen, die in die Ewigkeit blickten. Erzählten von dem gespenstischen Land, das vor ihren Augen aus der See wuchs... und wie sie vor dem flohen.

Da ließ er sie. Wandte sich ab und schickte das Regierungsschiff. Das fuhr und kam nach Black Island. Und sie sahen es daliegen. Wie ein Turm über dem Kirchdach lag die alte Insel auf einer neuen, viel größeren, die hier aus den Fluten gestiegen war.

In langsamer Fahrt, immer wieder lotend, umsteuerte das Schiff das neue Land. Tausend Quadratkilometer waren, wo vordem hundert Quadratkilometer aus der See ragten. Sie kamen nach Wibehafen zurück und berichteten, was sie gesehen hatten.

Und dann begannen Radiosender und Telegraf zu spielen und meldeten der Welt, was geschehen war.

*

Überraschend war das Bild, das sich den Augen Walter Uhlenkorts bot, als er in das Riesenrund des Zirkus trat. So überraschend, dass er stehenblieb, ohne den harrenden Logenschließer zu beachten.

Wohl war es in der Sache das gleiche, was er schon in so manchem anderen großen Zirkus der Welt gesehen hatte. In den Logen die beste Gesellschaft, stark durchsetzt mit Offizieren in glänzenden Uniformen. Im ersten Rang das bessere Bürgerpublikum, in den weiteren Reihen nach oben hin abstufend Mittelstand und schließlich die Galerie zum Brechen überladen...

Wären nur nicht die schwarzen Gesichter des Publikums gewesen. Eine vieltausendköpfige schwarze Menge, in der die wenigen Weißen fast völlig verschwanden.

Gewiß... er konnte hier in Timbuktu, der Haupt- und Residenzstadt des schwarzen Kaisers Augustus Salvator von Zentralafrika, kaum ein anderes Publikum erwarten. Immerhin blieb ein Eindruck, der für sein Europäerauge ans Groteske grenzte. Diese Hypereleganz der nach neuesten amerikanischen Schnitt gekleideten Logenbesucher... die gold- und silberstrotzenden Uniformen der Offiziere... die kostbaren Abendtoiletten der ebenholzfarbenen Damen in den Logen... und dann mit zunehmender Sitzhöhe abnehmende Bekleidung, die schließlich auf der Galerie beim Lendenschurz endete... Das alles gab ein Bild, das gleichzeitig verblüffend und erheiternd auf ihn wirkte. Minuten verstrichen, bevor er sein Auge von dieser Szenerie lösen konnte.

Die plötzlich einsetzende Lichtflut des Pressedienstes gab seinen Augen eine andere Richtung. An der Decke über der mächtigen Arena erschienen in feurigen Buchstaben die neuesten Nachrichten aus aller Welt. Automatisch las er die leuchtenden Texte.

›Spitzbergen, den 18. März. Jubiläum des zwanzigjährigen Bestandes der Vereinigten Arktischen Kohlengruben. Seit der Eröffnung verzehnfachte Ausbeute. Förderung in der ersten Hälfte des März zum erstenmal fünfundzwanzig Millionen Tonnen...‹

›London, den 18. März, 6 Uhr abends. Aus Anlass der von Amerika beabsichtigten Großsprengung einer neuen Kanalroute in Panama ist es in mehreren schottischen Städten zu Demonstrationen gekommen...‹

›Tschadsee, den 18. März, abends 6 Uhr 20. Die Arbeiten am Kaiser-Augustus-Schacht sind in den letzten Tagen so gefördert worden, dass man am 20. März die bisher nie erreichte Tiefe von 6000 Meter anfahren wird.‹

Nachdrängendes Publikum nötigte Walter Uhlenkort, seine Blicke wieder dem Boden zuzuwenden. Er schritt den Rundgang weiter entlang zu seiner Loge. Ein Schließer überreichte ihm Theaterglas und Programm. Zwischen zwei schwarzen Gentlemen hindurch, welche die beiden hinteren Plätze der Loge einnahmen, trat er zu dem freien Platz vorn rechts, grüßte mit leichtem Kopfnicken den weißen Nachbarn zur Linken und vertiefte sich mit Interesse in das Programm...

Grand Circus Webster Brothers
Timbuktu den 18. März

Große Gala- und Eröffnungsvorstellung
Auftreten sämtlicher Künstler und Spezialitäten

Die berühmtesten Artisten der Welt! Erstklassiges Pferdematerial.
Großartige Raubtierdressuren in nie gesehener Vollendung...

 

Uhlenkorts Blick zuckte über die einzelnen Nummern des Programms und blieb bei der vierten haften:

›Miss Arabella Simson, die beste Schulreiterin der Welt, auf ihrem englischen Vollbluthengst Cohinor...‹

Er ließ das Blatt sinken und starrte sinnend in die leere Manege. Die rauschenden Klänge der eben einsetzenden Zirkusmusik rissen ihn aus seinem Nachdenken. Noch einmal wanderten seine Augen über das exotische Publikum des Zuschauerraums. Dann betrachtete er seinen Nachbarn zur Linken. Ein hageres, bartloses Gesicht, tief gebräunt von der afrikanischen Sonne.

Walter Uhlenkort schaute auf seine Uhr und warf einen Blick auf die leere Hofloge.

»Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige... aber hierzulande sind sie noch nicht soweit«, klang es leise in englischer Sprache aus dem Mund seines Nachbarn.

»Es scheint so«, gab Uhlenkort mit leisem Lächeln zurück.

»Wird aber wohl nicht mehr lange dauern, taxiere ich, die Diplomatenlogen beginnen sich zu füllen. Da drüben links... der Botschafter des Europäischen Staatenbundes... da tritt er eben ein... Seine Exzellenz Dührsen, wenn Sie's interessiert... oder kommen Sie nicht aus dem alten Europa?«

»Richtig geraten...«

Jäh brach die Musik ab, und ebenso jäh verstummte das lebhafte, schwatzende Publikum. Alle Blicke richten sich auf die Hofloge, in die soeben der Oberhofmarschall getreten war.

Dreimaliges Aufstoßen seines Stabes. Aufpeitschende Rhythmen der afrikanischen Nationalhymne...

Mit einem Ruck erhob sich das Publikum und stimmte in die Melodie ein.

Die Türen im Hintergrund der Hofloge flogen auf. Inmitten eines glänzenden militärischen Gefolges trat der Kaiser in die Loge. Schritt nach vorn, blieb an der Brüstung stehen und dankte mit leichtem Kopfneigen für die Ovationen des Publikums. Erst als die Nationalhymne verklungen war, ließ er sich nieder, und das Publikum folgte seinem Beispiel.

»Sankt Pauli is gor nix dagegen«, brummelte Uhlenkorts Nachbar beim Niedersetzen vor sich hin.

Diese Worte, die in unverfälschtem Hamburger Dialekt sein Ohr trafen, ließen Uhlenkort den Kopf wenden.

»Auch von Hamburg?«

»... auch?«

Der drehte sich nun voll um und sah Uhlenkort prüfend an.

»... auch Hamburg... freut sich riesig. Waterkant hatte ich ungefähr taxiert. Trifft man sich nicht am Jungfernsteg, dann sieht man sich in Timbuktu.«

Mit freudig blitzenden Augen reichte er Uhlenkort die Rechte, und vergnügt lachend schlug der ein.

»Das nenne ich Glück. Kommt Klaus Tredrup mit drei Tagen Urlaub von dem Höllenschacht am Tschadsee und trifft gleich am ersten Tag einen Landsmann.«

»Meine Freude ist nicht minder groß, einen Hamburger zu treffen, der hier Bescheid zu wissen scheint.«

»So etwas, Herr Nachbar...«

»Uhlenkort.«

»Uhlenkort? Jacob Jeremias Uhlenkort & Söhne? Ah...!«

Lebhafter Beifall unterbrach ihr Gespräch. Sie sahen noch eben eine blonde Panneaureiterin in den Sand springen und mit lächelndem Gesicht und Kusshänden für den Beifall danken.

»Schweinerei, verdammte! Man möchte am liebsten dem ganzen Dreck den Rücken kehren. Müssen die armen Luder hier ihr weißes Fleisch zur Schau stellen... und dann noch mit Kusshänden dafür danken, dass sie Gefallen gefunden haben in den Augen der...«

»Pst! Nicht so laut, Landsmann«, unterbrach ihn Uhlenkort.

Unwillkürlich zuckte Klaus Tredrup zusammen.

»Verdammt! Sie haben Recht! Die deutsche Sprache ist hier nicht so unbekannt, wie mancher denkt – und Spione gibt es mehr als genug.«

Ein paar Clowns kugelten in die Arena und entfesselten ein Freudengewieher der schwarzen Zuschauer.

»Noch ein Wort, Herr Uhlenkort. Bleiben Sie noch etwas in Timbuktu?«

Uhlenkort nickte.

»Heute Abend frei?«

Abermals ein zustimmendes Nicken.

»Ausgezeichnet! Verschieben wir unser Palaver bis nach Schluss der Vorstellung.«

»Meinetwegen schon nach der ersten Pause.«

»Recht so! Ich schlage vor beim Obermoser. Da gibt's ein Pschorr, gut gekühlt und frisch vom Fass.«

Die vierte Nummer des Programms war jetzt an der Reihe. Die Schulreiterin Miss Arabella Simson auf einem wundervollen Vollblut, das ein Stallmeister am Zügel in die Manege führte.

Klaus Tredrup schien von der Reitkunst dieser Dame nicht über die Maßen begeistert zu sein. Mit einer Bemerkung auf den Lippen wandte er sich an seinen Nachbarn und sah, dass dieser seine Brieftasche auf den Knien entfaltet hatte, dass seine Augen zwischen einer kleinen Fotografie und der Schulreiterin hin und her gingen. Er unterdrückte, was er sagen wollte und wartete.  

Mit jähem Ruck schob Uhlenkort das Bild in die Brieftasche zurück.

»All right, mir soll es recht sein!«

*

Gerade als die beiden Hamburger sich von ihren Plätzen erhoben, trat ein anderes weißes Paar in eine schräg gegenüberliegende Loge ein. Ein Herr und eine Dame, beide in großer Abendtoilette. Der Herr, Ende der Dreißiger, eine hochgewachsene Gestalt, groß und mager, mit einem schmalen, langen Gesicht. Die dünnen, rotblonden Augenbrauen wölbten sich über hellgrauen Augen. Ein nervöses Blinzeln ließ die Augen sich häufig schließen. Um die schmalen, dünnen Lippen lag ein leises Lächeln.

An den Börsen von New York und Chicago kannte man dieses stete Lächeln, und man fürchtete es. Auch Klaus Tredrup wäre nicht so seelenruhig, wie er es jetzt tat, aus dem Zirkus geschritten, wenn er diese Züge noch erkannt, seinen alten Widersacher und Rivalen Guy Rouse hier gesehen hätte.

Aber Guy Rouse sah den Hamburger, drehte sich blitzschnell um und flüsterte dem Logendiener ein Wort zu. Dann eilte er zu seiner Dame, die, unbeirrt von den vielen Gläsern und Blicken, die sich auf sie richteten, an der Brüstung stand, und half ihr aus dem Abendcape.

Das Aufsehen, das sie erregte, war wohl berechtigt. Juanita Alameda war in der Tat eine blendende, eine vollkommene Schönheit. Die tadellose Figur mit höchster Eleganz gekleidet.

Als Guy Rouse sich eben setzen wollte, trat ein schwarzer Gentleman in unauffälliger Kleidung an ihn heran. Ein paar geflüsterte Worte von Seiten des Amerikaners, ein kurzes Nicken des Schwarzen, der sich daraufhin sofort wieder entfernte.

Guy Rouse ließ sich nieder und nahm das Opernglas vor die Augen. Er richtete es auf die Vorgänge in der Manege. Aber hinter den Okularen des Glases wandten sich seine Augen scharf zur Seite zu seiner Nachbarin hin. Die schien interessiert den Jockey-Künsten dort unten zu folgen.

»Findest du nicht auch, Juanita, dass der Besuch hier außerordentlich lohnt? Man sieht doch recht Interessantes!«

»Wie meinst du das?«

»Nun! Ist denn nicht der Anblick des Zuschauerraums allein den Besuch wert? Sieh nur die Loge des Kultusministers mit Familie. Die Dame neben dem Minister... der tiefe Rückenausschnitt der hellroten Seidenrobe kontrastiert doch recht eigenartig mit der schwarzen Haut... Das Girl vor ihr, ihre Tochter, hat wenigstens zwei Töpfe Pomade aufgewandt, um ihr Kraushaar zu dieser Glätte zu zwingen; ihr Schmuck genügt übrigens, um zehn Amerikanerinnen aus der Fünften Avenue reichlich zu versorgen... Der junge Gent an ihrer Seite, dem der weiße Kragen die Ohrläppchen wundscheuert, wird demnächst Legationssekretär in Washington; ist ihr Bräutigam. Du wirst Gelegenheit haben, das junge Paar wiederzusehen. Übrigens trotz seiner Jugend ein kolossal gewandter Bursche. Er hat drüben bei uns in New Orleans seine Studien absolviert. Beherrscht ein halbes Dutzend Sprachen. Findest du nicht auch, dass...«

»Wie meintest du eben? Sagtest du etwas, Guy?«

Er biss sich auf die Lippen, und ein unbestimmter Ausdruck trat in seine Züge.

»Oh!... Ich sagte dir etwas von dem Spaß, den ich hatte, als ich hier eintrat.«

Jetzt wandte sie sich ganz zu ihm hin und sah ihn forschend an.

»Du amüsierst dich?«

Er nickte.

»Gewiß, ich habe mich gefreut!«

»... gefreut?«

»Aber ja! Es macht doch Freude, wenn man einen alten Bekannten wiedersieht.«

»... einen alten Bekannten?«

»Wozu noch die Fragen? Lassen wir das Spiel. Ich bewundere dich. Ich gratuliere dir zu deiner Selbstbeherrschung. Sie war meisterhaft! Nur wer dich so kennt wie ich... so in deinen Augen lesen kann wie ich, konnte bemerken, dass du ihn auch gesehen hast.«

»Wen meinst du?« kam es schwach, fast tonlos von Juanitas Lippen.

»Well! Unseren gemeinsamen Freund, deinen speziellen Jugendfreund... Mr. Tredrup.«

Juanita zerknitterte nervös das Programm. Minutenlang starrte sie geradeaus.

»Was hast du mit ihm vor?«

»Ich? Mit ihm? Ich glaube, du überschätzt mein Interesse an Mr. Tredrup.« Er lächelte müde und grausam zugleich.

»Ja!... Ich schätze, dass dein Interesse an Tredrup... Du weißt... wie du mich kennst, kenne ich dich auch... Wer war der Mann, der hier vorhin zu dir in die Loge trat?«

»Ein Kriminalbeamter! Das letzte Zusammentreffen mit Mr. Tredrup war, wie du weißt, nicht ganz ohne Gefahr für mich. Gefahr gehe ich, wenn es sich machen lässt, aus dem Wege. Ein nochmaliges Zusammentreffen mit ihm könnte wieder gewisse Gefahren mit sich bringen. Für mich... vielleicht auch für ihn. Wir bleiben noch einige Tage hier. Der Herr von der Polizei wird mir Nachricht geben, wie es um Mister Tredrup hier steht.«

»Guy!« Fast flehend hatte es geklungen.

»Bitte, Juanita!«

»Guy!... Ich bitte dich!«

»Du bittest, Juanita? Um was?«

»Schone ihn! Schone sein Leben!«

Er sah geradeaus an ihr vorbei. Das stete Lächeln um seine Lippen war geschwunden.

»Guy!« kam es nochmals dringend, »schone ihn um der Liebe willen...«

... die du einst für Mr. Tredrup empfandest und vielleicht heute noch...«

»Guy!«

»Oder meinst du die Liebe... unsere Liebe?«

Das alte, harte und lüsterne Lächeln spielte wieder um seinen Mund.

»Oder meinst du unsere Liebe?«

»Guy! Ich weiß, ich gehöre dir... du verfügst über mich, wie es dir gefällt. Du weißt, wie oft ich dir nützlich war... und noch sein werde. Du weißt auch, dass das glänzende Leben, das ich an deiner Seite führe, dass das nicht... aber...«

»Aber? Juanita! Du beliebtest soeben ›aber‹ zu sagen?«

»Ja! Aber... es gibt Grenzen! Grenzen, wo mein Herz...«

»Dein Herz? Gehört dein Herz nicht mir, Juanita?«

»Guy, hüte dich!«

»Du scherzest, Juanita!«

In diesem Augenblick kam der Kriminalbeamte wieder zurück, trat zu Guy Rouse in die Loge, übergab ihm einen Zettel mit der gewünschten Adresse und flüsterte ihm einige Worte zu.

Sorgfältig barg Rouse den Zettel in seiner Brieftasche.

Dann klatschte er mechanisch Beifall, denn soeben erschienen die Mitglieder der Anaconda-Tauchertruppe wieder über der Wasseroberfläche, nachdem sie allerlei Wasserkunststücke gezeigt hatten.  

»Köstlich! Köstlich, diese schwarzen Stielaugen, wie sie die weißen Wasserweiblein beinah verschlingen! Allerdings, wunderbare Körper haben diese Taucherinnen! Na, sie werden hier sicherlich hoch bezahlt werden.«

Die Vorführungen der Tauchergruppe waren beendet. In der nun folgenden Pause flammten neue Nachrichten des Pressedienstes an der Decke auf.

›Panama, den 18. März, abends 6 Uhr 45 Min. Ortszeit. Die Minen von Kilometer 60 bis 70 sind geladen. Die Bohrlöcher der Schlussstrecke von Kilometer 70 bis 73 sind mit Erreichung einer Tiefe von 1,5 Kilometer vollendet. Die Ausmeißelung der Sprengkammern auf diesem letzten Teil der Strecke hat begonnen. Die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten ist durchaus für die gleichzeitige Sprengung sämtlicher Minen.‹

›Oslo, den 17. März, abends 6 Uhr 30 Min. Ortszeit. Die aus allen Teilen des Landes gesammelten Resolutionen sind soeben an die europäische Zentralregierung in Bern abgegangen. Norwegen verlangt von Bern nochmals energischen Protest gegen gleichzeitige Sprengung aller Panamaminen.‹

›Timbuktu, den 18. März, abends 7 Uhr 30 Min. Die Kaiserliche Regierung hat beschlossen, die Anfahrung des sechsten Kilometers im Kaiser-Augustus-Schacht durch einen feierlichen Akt zu begehen. Seine Majestät allerhöchst wird selbst geruhen, an der bedeutungsvollen Feier teilzunehmen.‹

Als die letzte Nachricht erschien, durchbrauste mächtiger Applaus den ganzen großen Zirkus. Aller Blicke richteten sich auf die Hofloge. Es lebe der Kaiser!

Als die spontane Kundgebung verrauscht war, begannen die Reihen sich langsam zu leeren. Die große Pause hatte begonnen und lockte einen erheblichen Teil des Publikums in das Foyer.

Guy Rouse wandte sich an Juanita.

»Ich verlasse dich für einen Moment. Ich habe ein paar dringende Fragen an unseren Botschafter zu richten.«

Als Guy Rouse gegangen war, verließ auch Juanita die Loge und trat in den Rundgang, um sich in das Foyer zu begeben. Da erblickte sie den Kriminalbeamten, der vor kurzem die Adresse Rouse gegeben hatte. Im Augenblick zog sie einen goldenen Bleistift aus der Tasche, schrieb in aller Eile auf die Rückseite des Programms ein paar Worte und winkte dem Beamten gleichzeitig mit den Augen. Dann drehte sie sich zur Loge zurück und ließ dabei wie unabsichtlich den Fächer fallen.  

Der Kriminalbeamte verstand im Augenblick, sprang hinzu und überreichte ihr den verlorenen Fächer.

Während sie ihn entgegennahm, reichte sie dem Beamten das zusammengefaltete Programm.

»Von Mr. Rouse für Mr. Tredrup.«

Kaum hatte der Beamte sie verlassen, als Rouse zurückkam.

Als er Juanita außerhalb der Loge traf, warf er einen misstrauischen Blick um sich.

»Wo wolltest du hin, Juanita?«

»Ich wollte ins Foyer. Die Luft hier ist entsetzlich... aber das unverschämte und zudringliche Anstarren da draußen ist mir noch mehr zuwider. Ich möchte nach Hause. Mein Kopf schmerzt.«

»Ich habe soeben von unserem Botschafter erfahren, dass der Kaiser den Zirkus verlässt und mich um 9 Uhr 30 im Schloß erwartet. Wir kehren sofort ins Hotel zurück.«

*

Sie saßen beim Obermoser und waren nicht mehr beim ersten Glas.

»Wie ist's, Herr Uhlenkort, wollen wir die Kalebassen noch einmal vollaufen lassen?«

Klaus Tredrup, der alte Wittweidaer Studiker, schwenkte seinen leeren Krug nach dem Büfett hin.

»Meine drei Tage sind bald rum. An dem Teufelsloch am Tschadsee gibt's solchen Stoff nicht!«

Ohne die Antwort abzuwarten, hob er seinen Krug hoch.

»Noch zwei Volle, Herr Obermoser aus Minka!«

Walter Uhlenkort nickte belustigt.

»Der Stoff ist tadellos. Der könnte sich am Stachus in München sehen lassen. Die verwöhnteste Zunge kann damit zufrieden sein.«

Der dicke Obermoser kam und setzte zwei schäumende Krüge vor die beiden hin.

»Wohl bekomm's! Dös is eaner a Bier! Dös haben's net glaubt, dos dös in Timbuktu finden täten, Herr Uhlenkort!«

»Na, wie mundet denn das den Schwarzen, Herr Obermoser?«, fragte Uhlenkort. »Ich habe da im Vorbeigehen Ihren schwarzen Stammtisch nebenan bewundert.«

»Ja, Herr Uhlenkort«, schmunzelte der dicke Wirt, »das hätt' ich selber zu Anfang net geglaubt, dass sich die schwarzen Brüder so an den Stoff gewöhnen würden. Ich hatte nur weiße Gäste erwartet. Aber jetzt habe ich hier einen schwarzen Stamm, der ist auf den Geschmack gekommen. Es sind Leutchen dabei, die ihre zehn Maß hintereinander auslecken, und zwar Exportbier, Herr Uhlenkort... Wollen die Herren die neusten Nachrichten lesen?... Na, das mit dem Teufelsschacht, das wissen Sie ja schon, Herr Tredrup.«

»Was denn?«

»Na, die große Einweihungsfeier.«

»Nein, davon wissen wir ja noch gar nichts! Her mit den Nachrichten.«

Obermoser lief, so schnell es seine Rundlichkeit erlaubte, in den Nebenraum.

Durch die offene Tür hörte man das polternde Treiben am schwarzen Stammtisch.

»Wie im Münchner Brauhauskeller«, lachte Uhlenkort.

Der Wirt kam zurück und legte die letzte Abendausgabe des Zentralafrikanischen Reichs- und Staatsanzeigers auf den Tisch.

»Da unten, da können Sie's lesen«, sagte er.

Tredrup überflog das Blatt und las die Notiz, dass Seine Majestät entschlossen wären, selbst zur Einweihungsfeier des sechsten Kilometers des Tschadsee-Schachtes nach Minneapolis zu kommen.

»Donnerwetter noch mal! Das ist ja eine nette Überraschung. Dieser Entschluss muss sehr plötzlich gefasst worden sein. Unser Oberbonze in Minneapolis wusste noch nichts davon, als ich abfuhr. Da mag es ja da unten munter zugehen. Alle Wetter, da werde ich wohl schon morgen telegrafisch zurückgerufen werden.«

Er setzte seinen Krug an und tat einen gewaltigen Zug.

»Dann ist das hier sicherlich nicht mein letzter Krug heute gewesen. Jetzt ist Tied, Tredrup... Obermoser, noch einen... Herr Obermoser!«

»Halt mal! Herr Uhlenkort, jetzt böte sich auch für Sie vielleicht Gelegenheit, an den Schacht zu kommen. Sicherlich werden die europäischen Diplomaten eingeladen werden. Ich sagte Ihnen vorhin, dass man kaum einen Schwarzen, geschweige denn einen Weißen, der nicht direkt mit den Bauten zu tun hat, in die Baustelle einschmuggeln kann. Es heißt hier wie im alten Europa: Das Betreten der Baustelle ist Unbefugten strengstens verboten. Aber wenn Sie in Begleitung Ihres Botschafters hinkommen, ließe sich die Sache am Ende machen.«

»Der Gedanke ist gut, Herr Tredrup. Ich werde mich morgen früh bei unserem Botschafter melden lassen und hoffe bestimmt, auf diese Weise den Bau zu sehen. Wir sind doch in Europa recht neugierig. Sie wissen ja, dass solche Projekte auch bei uns aufgetaucht sind... besonders als sich die Erdölvorkommen dem riesig angestiegenen Bedarf nicht mehr gewachsen zeigten und man zur Ausbeutung der mächtigen Kohlenlager Spitzbergens überging... Aber alle diese Projekte sind ihrer Sinnlosigkeit wegen immer wieder verworfen worden.

Das letzte Mal hatte der amerikanische Ingenieur Grimmaud dafür Propaganda gemacht. In Europa hat er kein Glück gehabt, aber Augustus Salvator ist seiner Beredsamkeit unterlegen... wie es scheint... oder sollte er doch mal wieder schlauer gewesen sein als alle anderen?«

»Wie meinen Sie das, Herr Uhlenkort?«

Dabei betrachtete er Uhlenkort mit aufmerksamen Blicken. Der zuckte die Achseln.

»Nun, ich denke mir, dass der Plan, einen tausend Meter weiten Schacht so tief in die Erde einzubringen, dass man die Erdwärme technisch im größten Stile ausnutzen und viele hunderttausend Pferdestärken... nein, Millionen von Pferdestärken damit gewinnen kann, ein Plan, der von den Fachleuten der ganzen Welt als töricht und unmöglich und nicht lohnend verlacht wird – dass ein solcher Plan kaum geeignet ist, einen Mann wie den Kaiser Augustus, einen genialen, scharfsinnigen, überlegenen Mann, zu veranlassen, Staatsgelder im Betrage vieler Milliarden hineinzustecken, um sich schließlich zum Gespött der Welt zu machen.«

»Hallo, Herr Uhlenkort! Wie kommen Sie darauf? Was meinen Sie?«

Uhlenkort schaute prüfend in das Gesicht seines Gegenübers und lächelte leicht.

»Nun, mein lieber Herr Tredrup, ich denke vielleicht genau dasselbe, was Sie auch denken.«

»Deubel noch mal! Können Sie Gedanken lesen? Woher wissen Sie, ob ich denke und was ich denke?«

»Herr Tredrup, zum Diplomaten sind Sie nicht geboren, die verschiedenen Krüge Pschorr nicht zu vergessen. Ihr Gesicht sagt mir, dass Sie was denken, und ich glaube auch zu wissen, was Sie sich denken.«

Einen Augenblick saß Tredrup stumm. Dann tat er einen tiefen Atemzug und rief:

»Prost, Herr Uhlenkort! Dass ich nicht zum Diplomaten geboren bin... große Schmeichelei... diese Bande ist mir alles andere als sympathisch... Hol's der Teufel... aber trotz der verschiedenen Krüge halte ich Sie doch für einen der schlauesten... Burschen, die unter Gottes Sonne herumlaufen. Denn... was ich vermute, will ich gar nicht sagen. Sie scheinen's ja zu wissen. Wird es aber Wahrheit, dann hat der Kaiser Augustus, dieser schwarze Augustus, einen Erfolg, der ihm eine Handvoll starker Trümpfe gibt. Aber zur Sache! Woher kommt Ihnen dieses Wissen? Oder vielmehr, was wissen Sie denn eigentlich? Wozu wollen wir unter uns Hamburgern noch weiter Versteck spielen?«

Statt Antwort zu geben, benetzte Uhlenkort seinen Zeigefinger in dem Untersatz seines Glases und malte auf die Eichenplatte des Tisches die chemische Formel CaC2 und wischte sie sofort wieder weg, sobald Tredrup einen Blick darauf geworfen hatte.

»Karbid! Damn me! God bless your nose! Ihr Riecher ist nicht schlecht!«

»Ich sagte Ihnen bereits, dass Sie zum Diplomaten keine besonderen Talente haben. Wände haben Ohren!... Überall in der Welt. Sie schreien ein Wort in die Landschaft, Herr Tredrup, das heute vielleicht noch bedeutungslos, morgen, aus Ihrem Mund gesprochen, Verletzung eines Staatsgeheimnisses ist.«

Tredrup schlug sich mit der Hand auf den Mund.

»Die vielen Biere! Sonst hält Klaus Tredrup besser dicht. Sie werden die Bedeutung vielleicht noch höher einschätzen als ich. Sie haben recht, die Sache ist nicht ganz ungefährlich. Aber heut' Abend wollen wir nicht mehr davon sprechen. Nein! Lieber irgendwo anders, in Gottes freier Natur, wo keine Wände und keine Ohren zu fürchten sind. Auf alle Fälle werde ich Ihnen vor meiner Abreise noch Nachricht geben. Eine Aussprache über diese Frage ist unbedingt notwendig. Auch darüber, wie man den Schwarzen diesen Trumpf aus der Hand nehmen könnte.«

»Wie? Wie meinen Sie das!«, rief Uhlenkort erregt.

Tredrup warf einen Blick in die Runde und drückte den Finger auf den Mund.

»Nun, Herr Obermoser«, wandte er sich an den eintretenden Wirt, »wollen Sie frischen Anstich melden?«

»Nein, Herr Tredrup«, sagte der Wirt, »es ist jemand draußen, der Sie sprechen möchte.«

Bei diesen Worten machte er ein kaum merkliches Zeichen... Polizei.

Tredrup stutzte einen Augenblick, dann ging er mit dem Wirt zur Tür.

Durch die geöffnete Tür trat jener schwarze Gentleman, der mit Guy Rouse und dann später mit Juanita gesprochen hatte. Er murmelte ein paar undeutliche Worte und fragte dann: »Sind Sie Herr Klaus Tredrup?«

»Klaus Tredrup! Sie wünschen?«

»Ich bin beauftragt, Ihnen dieses zu überreichen.«

Mit einer leichten Verneigung verließ der Beamte den Raum.

Verwundert betrachtete Tredrup den zusammengefalteten Zettel. Ein Zirkusprogramm? Er trat unter die Lampe, entfaltete das Papier und begann zu lesen, was auf der Rückseite geschrieben stand. Es war eine kurze Notiz, in spanischer Sprache geschrieben.

Tredrup wendete das Blatt hin und her. Es zitterte in seiner Hand. Er besah es von allen Seiten, und seine Augen kehrten zu den wenigen Zeilen zurück. Wieder glitten seine Blicke über den Text. Dann ließ er das Blatt sinken und stand starr, wie geistesabwesend.

Bilder schienen an ihm vorüberzuziehen. Der Kanal... der Kanal von Panama... das kleine Montegna... Juanita... und da war Guy Rouse... Guy Rouse...

Seine Rechte ballte sich zur Faust. Ein tiefes Atemholen, dann gab er sich einen Ruck. Mit langsamen Schritten kehrte er an seinen Platz zurück.

Uhlenkort hatte mit Staunen und Teilnahme die kurze Szene beobachtet.

»Bekamen Sie eine unangenehme Nachricht, Herr Tredrup?«

Tredrup schob ihm das Blatt zu.

Die wenigen auf der Rückseite des Programms gekritzelten Worte lauteten:

›Hüte dich! Denke an Montegna!‹ Ein einfaches J war die Unterschrift.

»Ihnen droht eine Gefahr, Herr Tredrup. Kann ich Ihnen nützlich sein? Soweit es in meinen Kräften steht, stelle ich mich Ihnen zur Verfügung.«

Tredrup richtete sich auf, wie aus einem schweren Traum erwachend.

»Eine kurze Geschichte... wie sie in der Welt tausendmal passiert. Ich war bei den Arbeiten am Panamakanal tätig. Ich war wie hier Ingenieur... Mineningenieur bei den großen Bohrungen.«

Uhlenkort merkte auf und sah ihn mit gesteigertem Interesse an.

»Sie waren auch bei den großen Bohrungen am Panamakanal mit tätig?«

Tredrup nickte.  

»Zwei Jahre war ich da unten und wäre heute noch da, wenn nicht eben diese kleine Geschichte seinerzeit passiert wäre.«

Er schob seinen Krug beiseite und rückte näher an den Tisch heran.

»Ja, da war ich... und da war ein alter Mann, ein Mexikaner... ein Bohrmeister aus meiner Abteilung, und da war dessen Tochter... Juanita. Auch außerhalb der Arbeitsstunden kam ich häufig mit dem alten Alameda zusammen. Kam auch in sein Häuschen, das ein paar Kilometer von der Kanalstrecke landeinwärts lag und das er mit seiner Tochter Juanita zusammen bewohnte.

Juanita war damals achtzehn Jahre... Was soll ich Ihnen weiter sagen... Schön und rein wie der junge Morgen. Wir liebten uns!... Ja, wir liebten uns...«

Ein kurzes ironisches Lachen verzerrte seinen Mund.

»Liebten uns, bis er kam... er... dieser Rouse. Der große Rouse!... Sie kennen ihn...«

»Mr. Guy Rouse!« Walter Uhlenkort beugte sich weit vornüber... »Rouse, der Präsident der neuen Kanalgesellschaft?«

»Derselbe... Seine Leidenschaft beschränkt sich nicht auf seine Milliarden allein. Sie kennen ihn?... Seine faszinierende Person! Seine Gabe, sich jedes Wesen gefügig zu machen, das er irgendwie zu gebrauchen gedenkt, versagte auch hier nicht. Wie er es fertigbrachte...?

Er brachte es fertig... Eines Tages war Juanita verschwunden, ohne ein Lebenszeichen zu hinterlassen. Alle, die sie kannten, waren ratlos. Ihr Vater, der alte Pedro Alameda, war verzweifelt. Man dachte an einen Unglücksfall. Es bot sich damals in den Sprengfeldern des Kanalgebietes mehr als eine Gelegenheit dazu.

Ich allein ahnte sofort, was geschehen war! Die Nachforschungen, die ich im geheimen anstellte, bestätigten es. Sie war ein Opfer von Guy Rouse geworden.

Ich versuchte zu ihm vorzudringen. Es gelang nicht. Ich stellte ihn auf der Straße, als er in seinen Kraftwagen steigen wollte. Ich sagte ihm die Wahrheit ins Gesicht. Er leugnete... lächelnd.

Dies Lächeln brachte mich zur Raserei. Ich schlug zu, mitten in das Lächeln hinein. Er taumelte.

Ich floh!... Nicht aus Furcht... Juanita wollte ich suchen... Ich fand sie bald, er hatte sie nicht versteckt, wie ich glaubte... nein! Ich fand sie an seiner Seite als große Weltdame. Seine Geldmacht genügte auch hier, um alle Mäuler verstummen zu lassen. Ich sah sie als seine Begleiterin bei Festen, umschwärmt von einer Schar von Verehrern aus den besten Kreisen... lachend und froh...

Ich gab sie auf... Weg von allem, was an Juanita erinnern konnte... Am Tschadsee konnte man Leute wie mich gebrauchen, und mir kam es gelegen. Ich war der Welt reichlich müde. Die Enttäuschung war zu niederschmetternd gewesen.

Seit drei Jahren sitze ich nun an dem verteufelten Schacht, komme selten mal weg von da, nach Timbuktu meistenteils... glaubte vergessen zu haben, glaubte auch mich vergessen... und jetzt. Da!«

Er schlug auf das Blatt.

Uhlenkort antwortete: »Wenn ich richtig vermute, sind Juanita und Guy Rouse hier in Timbuktu. Sie haben Sie gesehen. Die Warnung kommt von Juanita. Was werden Sie tun?«

»Ich werde... Ich weiß noch nicht!... Erst klaren Kopf... den werde ich morgen früh haben... Gehen wir jetzt?«

»Ich bin bereit! Ich wohne im Hotel Astoria. Und Sie?«

»Nicht weit davon... In dem Miller'schen Boardinghouse. Wir haben denselben Weg.«

Draußen empfing sie die Kühle der Nacht. Tredrup zog seinen Hut und strich sich durch das volle Blondhaar.

Ihr Weg führte über die breite Esplanade, die sich vom kaiserlichen Schloß nach dem Augustus-Park hinzog.

Neue Nachrichten des Pressedienstes. Die Riesenfront des Astoria-Hotels schien in Flammen zu stehen. In allen wichtigen Weltsprachen flackerten die Nachrichten in Leuchtschrift über die Fassade.

›Paris, den 18. März, 8 Uhr abends. Krawalle vor der amerikanischen Botschaft. Polizei vermochte nur mit Mühe die erregte Menge am Eindringen zu verhindern. Deputierte aus der Normandie und der Bretagne halten aufreizende Reden an die Massen. Verlangen Übersendung scharfer Protestnote an die USA wegen der geplanten Sprengungen.‹

›Bern, den 18. März, 8 Uhr 25 Min. abends. Die Sitzung des europäischen Parlaments beginnt morgen Vormittag um 11 Uhr.‹

›New York, 2 Uhr 30 Min. amerikanischer Zeit. Die Aktien der New Canal Cy. fielen an der Nachtbörse um zehn Punkte.‹

Das Licht erlosch.

»Na, allerhand Neues.«

»Aber wenig Schönes.«

»Jedenfalls nichts vom Augustus-Schacht. Vielleicht war es eine Ente mit der Feier des sechsten Kilometers. Gute Nacht, Herr Uhlenkort. Es bleibt bei unserer Verabredung.«

»Jawohl, hier oder in Minneapolis!«

*

Im Arbeitskabinett des Kaisers saßen der amerikanische Botschafter Mr. Bowden und Guy Rouse am Teetisch. Augustus Salvator stand am Schreibtisch, über eine Karte gebeugt, einen kleinen Zirkel in der Hand.

»Der Plan Ihrer Admiralität wäre nicht übel, wenn nicht...«

Bei diesen Worten richtete er sich auf und ging auf die beiden Amerikaner zu.

»... wenn nicht ein Faktor außer Acht gelassen wäre, den ich allein und der Chef meines Stabes kennen... immerhin ist der Plan der Beachtung wert. Auch liegt mir an dem guten Willen, den Ihre Regierung meinen Absichten entgegenbringt. Der Krieg mit Südafrika ist unvermeidlich, wird unvermeidlich, meine Herren, wenn – beachten Sie, ich sage wenn, denn – ich werde ihn zu vermeiden suchen. Wenn die Südafrikanische Union mir in der Eingeborenenfrage jedoch nicht nachgibt, ich will sagen, nicht entgegenkommt... Die Unterstützung Ihrerseits durch Kaper-U-Boote ist zweifellos nicht bedeutungslos. Die wenigen und leider noch wenig bewehrten Seehäfen meines Landes werden durch euro... feindliche...«

Mit leichtem Hüsteln unterbrach er die Rede »... Blockade lahmgelegt.«

Sein Blick flog über den Botschafter hinweg und blieb auf Guy Rouse ruhen.

Der Amerikaner lag halb zurückgelehnt im Sessel. Jetzt richtete er sich aus seiner nachlässigen Stellung empor.

»Europäische Blockade, Sire? Sollte Europa sich offen an die Seite Südafrikas stellen?«

Der Kaiser nickte mit einer energischen Kopfbewegung.

»Der Friede von Bern war kein Friede. Er beendete nur die offenen Feindseligkeiten. Durch den engen Anschluss Südafrikas an Europa ist der Kriegszustand nur latent geworden. Die Unterstützung seitens Amerikas allein durch Kaper-U-Boote genügt mir nicht. Die von mir bei amerikanischen Werften bestellten U-Kreuzer kommen viel zu langsam zur Ablieferung. Auch die Personalfrage ist nicht einfach. Ich habe in meinem Land nicht genügend technisch ausgebildete Leute. Von meiner Admiralität laufen fortwährend Beschwerden ein, dass unter den angeworbenen Amerikanern viel schlechtes Material ist. Besonders heikel ist die Kommandantenfrage. Bei dem Überfluss, den Sie drüben an solchen Männern haben, müsste eine energische Einwirkung Ihrerseits besseren Erfolg zeitigen.«

Mr. Rouse zog es vor, nicht zu sagen, was er dachte.

Der Kaiser fuhr fort: »... Können Sie mir da nicht zweckmäßige Vorschläge machen?«

Sein Blick ruhte auf Mr. Bowden. Der richtete sich mit verlegenem Räuspern auf.

»Hm!... Bei der allgemeinen Volksstimmung, Majestät...«

»Volksstimmung!... Was heißt Volksstimmung? Ist Ihre Regierung abhängig von der Volksstimmung?«

Der Botschafter wiegte verlegen den Kopf.

»Was sagen Sie, Mr. Rouse?«

»Sire! Die Regierung trifft ihre Maßnahmen völlig unabhängig von der Volksstimmung. Aber wir haben keinen Einfluss auf die Gesinnung unseres Seeoffizierskorps.«

»Gestatten, Euer Majestät, dass ich mich ganz offen ausspreche. Das Offizierskorps im Ganzen steht einer Unterstützung des schwarzen Afrika gegen das weiße Europa nicht sympathisch gegenüber...«

Augustus Salvator zog die Brauen zusammen.

»Hm! So, so! Was ist da zu tun?«

Guy Rouse lächelte. »Nur ein Mittel gibt's! Das Allheilmittel Geld! Sire, verdoppeln... verdreifachen Sie die Gage, und Sie werden haben, was Sie brauchen.«

»Glauben Sie?« Der Kaiser schaute den Amerikaner prüfend an.

Guy Rouse machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Irgendwer prägte mal im Altertum den Satz, dass ein goldbeladener Esel über die höchsten Mauern kommt. Ich persönlich habe bis jetzt jedes Vorurteil, auch das der Ehrlichkeit, die doch schließlich auch nur ein Vorurteil ist, durch Gold überwunden.«

Der Kaiser lachte.

»Gut, Mr. Rouse! Die nötigen Offiziere und Mannschaften hätte ich sonach. Fehlen jetzt nur noch die Boote! Hilft uns Ihr Mittel auch da?«

»Auch da, Majestät!«, erwiderte Guy Rouse mit kalter Miene. »Es bedarf nur der gehörigen Dosis.«

»Daran soll es nicht fehlen! Wem ist das Mittel beizubringen? Welche Wirkung wird es haben?«  

Mr. Rouse überlegte mehrere Sekunden. Dann sprach er langsam, sorgfältig jedes Wort abwägend:

»Bei den täglichen großen Fortschritten im U-Boot-Bau dürfte ein großer Teil unserer Staatsflotte veraltet sein. Es liegt im Interesse der Nation« – hier warf er einen kurzen Blick zu dem Botschafter hin –, »das veraltete Material durch neues zu ersetzen. Im Interesse der Staatsfinanzen liegt es, das auszurangierende Material nicht einfach abzuwracken, sondern vorteilhaft zu verwerten. Interessenten, die diese Boote für Handelszwecke umbauen, werden sich wohl finden, aber nicht viel bieten. Euer Majestät würden als Interessent voraussichtlich das Höchstgebot abgeben.«

»Wahrscheinlich!« Der Kaiser nickte. »Was sagen Sie zu dem Vorschlag, Herr Botschafter?«

Mr. Bowden wand sich hin und her.

»Ich kann es nicht unterlassen, Euer Majestät nochmals auf die allgemeine Volksstimmung bei uns aufmerksam zu machen, auch auf die voraussichtlich unvermeidbaren außenpolitischen Schwierigkeiten...«

Guy Rouse und Augustus Salvator wechselten einen Blick.

Der Amerikaner drehte spielerisch einen kleinen goldenen Schreibstift in den Fingern.

»Die Bedenken Mr. Bowdens sind leicht zu zerstreuen. Die New Canal Cy. wird zweifellos in Zukunft auch das Reedereigeschäft betreiben und würde versuchsweise große U-Kreuzer kaufen... Sollte sich das Geschäft nicht als nutzbringend erweisen, würde die Company die Hände wieder herausziehen.«

Die Blicke des Kaisers hafteten an der lächelnden Miene des Amerikaners.

»Sie würden die Boote dann vielleicht sogar mit Aufschlag verkaufen?«

»Majestät! Ich habe die Interessen meiner Gesellschaft zu wahren. Ich bin sicher, dass sich sehr kapitalkräftige Interessenten finden werden, die einen Aufschlag von hundert Prozent nicht scheuen würden!«

»Gut, Mr. Rouse! Sie sind ein kluger Geschäftsmann. Die Stellung als Finanzminister bei mir bleibt Ihnen jederzeit vorbehalten.«

»Ich danke Euer Majestät für diese Anerkennung. Ließen mich meine Interessen in den Staaten frei, würde es mir eine Ehre sein... Als vorsichtiger Geschäftsmann möchte ich nicht unterlassen, auf den anderen Weg hinzuweisen, auf dem unsere gegenseitigen Handelsbeziehungen sich zeitweise abspielen. Ich meine die Eisenbahnlinien durch die arabischen Nordstaaten.«

»Vorläufig, Mr. Rouse, geht das. Im Kriegsfall würde das Loch bei Gibraltar sehr eng werden. Die Verbindungen über den Atlas sind zu spärlich. Die Verhandlung mit Südafrika über die vollständige Gleichberechtigung der schwarzen und weißen Rasse schleppen sich ungebührlich lange hin. Sie würden schneller gehen und zu einem guten Abschluss kommen, wenn Ihre Vorschläge, Mr. Rouse, realisiert sein werden. Könnte die Angelegenheit nicht noch beschleunigt werden?«

Mr. Rouse schien zu überlegen, an den Fingern zu rechnen, zu überschlagen.

»Ich denke, Majestät, in vier Monaten bei hundert Prozent, in drei Monaten bei zweihundert Prozent.«

»Sagen wir lieber in zwei Monaten bei zweihundert Prozent!«

Mr. Rouse schien in Gedanken eine neue Berechnung aufzustellen.

»Well! Das Geschäft ist gemacht...«

»Well!«, echote der Kaiser. »Sie sind ein guter, ein außerordentlich guter Geschäftsmann. Die Zeche wird für meine Gegner immer höher.«

Mr. Rouse zuckte die Achseln.

»Business is business, Majestät!«

Augustus Salvator erhob sich, ein Zeichen, dass die Unterredung beendet sei. Er ging auf den Botschafter zu und drückte ihm die Hand. Während dieser der Tür zuschritt, verabschiedete sich der Kaiser von Guy Rouse und fügte mit erhobener Stimme hinzu:

»Ich will hoffen, Mr. Rouse, dass Sie mit der Sprengung am Kanal guten Erfolg haben werden...«

Der Amerikaner beugte sich tief über die gebotene Hand.

»Mr. Bowden ist das Klima hier wohl nicht sehr zuträglich«, flüsterte der Kaiser.

»Den Eindruck gewann ich schon zu Beginn der Audienz, Majestät! Ein Wechsel des Klimas würde ihm unbedingt zuträglich sein...«

*

Der Kaiser war allein. Langsam ließ er sich an seinem Schreibtisch nieder. Seine Lippen bewegten sich wie im Selbstgespräch. »Ein Schuft! Schuft erster Klasse... aber nein... Schuft! Das Wort in der gewöhnlichen Bedeutung passt nicht auf ihn... Er ist der Vertreter des Kapitalismus in Reinkultur, des Kapitalismus, den die Welt zu überwinden begonnen hat. Sein Streben ist darauf gerichtet, die Nation und ihre Seele zu beherrschen, Volk und Regierung zu seinen Werkzeugen zu machen. Unsichtbar für die Massen, unbeeinflusst durch höhere sittliche Gesichtspunkte, versucht er die Geschicke des eigenen Staates, ja anderer Völker rücksichtslos, mitleidslos nur im eigenen egoistischen Interesse zu lenken.

Seine Kontore sind Generalstabszimmer geworden. Seine Wirtschaftsschlachten sind opferreicher als die blutigsten Kämpfe vergangener Zeiten, wenn auch keine amtliche Verlustliste die Zahl der Opfer meldet.

Aber er ist blind! Er sieht nicht die Grenzen, die jeder Macht gezogen sind. Der Rückschlag muss kommen... der Zeitpunkt ist nicht fern.

Neues Geld durch Macht! Größere Macht durch Geld! Das ist seine Devise. Ebenso falsch und schädlich wie jene andere: Krieg durch Macht! Neue Macht durch Krieg...

Meine Feinde nennen mich den ›Schwarzen Napoleon‹, den gefürchteten und gehassten. Wie wenige sind es, die mir gerecht werden!

Was war sein Ziel? Was ist meins?

In unersättlicher Machtgier verschlang Napoleon ein Land nach dem anderen, bis er an Russland erstickte. Was tat ich? Ich kämpfte den Kampf meines Volkes gegen die weißen Beherrscher. Den Kampf um die Freiheit nach jahrhundertelanger Bedrückung. Das war die erste Tat!

Die befreiten Länder habe ich zu einem Reich zusammengerafft, denn nur ein geeintes Volk kann sich behaupten. Das war die zweite Tat!

Die dritte... Gleichberechtigt in der ganzen Welt sollen die Schwarzen mit den Weißen sein! Das, das allein veranlasst den Konflikt mit Südafrika. Die Weißen aus Südafrika vertreiben? Es meinem Reich angliedern? Ich denke nicht daran. Aber die Gleichberechtigung will ich... gutwillig... oder mit Gewalt.

Das ist mein letztes Ziel. Mit ihm stehe oder falle ich. Meine Feinde mögen mich verleumden, wenn nur die Geschichte mir eines Tages gerecht wird.«

Er drückte auf einen Knopf. Der Adjutant erschien.

»Den Kriegsminister!«  

Am Morgen des folgenden Tages saß Uhlenkort in seinem Hotelzimmer beim Lunch und überflog die ersten Ausgaben der Lokalblätter. Den größten Teil der Spalten beanspruchten die Nachrichten über die bevorstehende Feier am Tschadsee. Jetzt blieb sein Auge auf einer kurzen, gesperrt gedruckten Notiz am Schluss des Blattes hängen:

Spitzbergen, den 18.März. Amtlich wird bekanntgegeben: Die Insel Black Island, auf 77 Grad 14 Minuten nördlicher Breite, 12 Grad 23 Minuten östlicher Länge, ist am 17.März, morgens gegen 5 Uhr, in aufsteigende Bewegung geraten. In der folgenden Stunde hat sich das Eiland um das Zehnfache vergrößert. Ein in geringer Entfernung vorüberfahrendes Schiff hat den Vorgang zum größten Teil beobachten können. Vulkanausbrüche und Seebeben wurden nicht bemerkt. Die Regierung beabsichtigt, eine Gelehrtenkommission zur Ergründung der rätselhaften Vorgänge dorthin zu entsenden.

Uhlenkort ließ die Zeitung sinken. Seine Gedanken wanderten. Er wusste wohl, dass Black Island nur fünfzig Kilometer westlich von Spitzbergen lag. Er sah das kleine, unbedeutende Eiland. Er sah ein neues, viel größeres aus den Eingeweiden der Erde nach oben getrieben werden...

Seine Gedanken liefen weiter. Er sah Spitzbergen. Er sah die großen Kohlengruben. Er sah die Schächte wie Nadelstiche, wie Kapillarröhren in den Leib der Erde eindringen, sah sie zerdrückt zusammenbrechen. Alles verschüttend, was Menschenhand in zwei Jahrzehnten dort geschaffen hatte.

Er sprang auf und durchmaß mit großen Schritten das Zimmer.

Seine Gedanken hetzten sich. Bald glaubte er sich durch die Worte »ohne vulkanische Ausbrüche und Seebeben« über die Sorgen hinwegtäuschen zu können. Bald wieder sah er im Geiste die schlimmsten Dinge. Konnte sich nicht, was bei Black Island geschehen, in jeder Stunde mit Spitzbergen wiederholen? Katastrophen von kaum auszudenkender, unbeschreiblicher Größe malten sich vor seinen Augen. Das Gefühl, den kommenden Dingen ohnmächtig gegenüberstehen zu müssen, drückte ihn zu Boden.

Wie hatte die Nachricht in Spitzbergen gewirkt? Wie sah es dort aus? War der Minenbetrieb eingestellt?

Er nahm die Zeitung wieder auf und las noch einmal die Zeitangabe dieser Nachricht. Also vor sechsunddreißig Stunden war das. Noch keine direkte persönliche Nachricht von der Grubenleitung.  

Keine Nachricht von ihm? Ich verstehe nicht. Bleibt nur die Erklärung, dass es gut steht.

Er trat zum Tisch und ergriff das Telefon.

»Keine Post für mich?«

»Soeben, Herr Uhlenkort, zwei Telegramme.«

Noch bevor er den Hörer ablegte, warf das pneumatische Rohr zwei Telegramme auf den Schreibtisch.

Er riss das erste auf, warf es zur Seite.

»Nichts!«

Er öffnete das zweite:

›Spitzbergen, den 18. 3. Uhlenkort, Timbuktu. Keine Gefahr. 89.‹

Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ er sich in den Schreibtischsessel fallen.

Von ihm selbst. Von J. H.! Gott sei Dank!

Er ließ das Telegramm fallen und griff nach dem anderen:

›New York, den 17. 3., Zentralbüro Pinkerton. Erste Auskunft überholt. Angefragte nicht Timbuktu, sondern Kapstadt, Zirkus Briggs.‹

Er faltete das Telegramm zusammen und zog seine Brieftasche. Dabei fiel sein Auge auf zwei Schriftstücke, die ebenfalls den Kopf ›Pinkerton‹ trugen.

Ein Telegramm: ›Angefragte mit Zirkus Webster, Timbuktu.‹

Er ließ es fallen. Das zweite Schreiben in engster Typenschrift:

›Angefragt Miss Christie Harlessen kam von Colon am Kanal mittellos nach Milwaukee. Verwandte mütterlicherseits, die sie dort aufsuchen wollte, waren gestorben. Traf dort einen Reiter des Zirkus Webster, der früher auf der Hazienda ihres Vaters am Kanal Cowboy war. Rat- und mittellos, nahm sie dessen Vorschlag an und trat in das Ensemble von Zirkus Webster ein. Ihre außerordentliche Reitkunst, auf der Hazienda des Vaters von Jugend auf erworben, bot die geeignete Grundlage für ihren neuen Beruf. Ihre großartigen Leistungen machten sie in kurzer Zeit zu einer ersten Attraktion des Zirkus. Zirkus Webster ging von Milwaukee nach Philadelphia. Weiter nach Boston. Hat die Absicht, nach Afrika überzusetzen.‹

Walter Uhlenkort öffnete ein anderes Fach seiner Brieftasche und entnahm ihm eine kleine Fotografie. Mit einer Miene des Bedauerns und der Teilnahme betrachtete er das Bild.

Ein junges und doch ausdrucksvolles Gesicht.  

Echter Harlessen-Typ. Dem Bild der Urahne Harlessen, der schönen Christiane, wie aus dem Gesicht geschnitten.

Armes Mädel! Schlimmes Schicksal für eine Harlessen... Zirkusreiterin! Eine Tochter des Hauses Harlessen, dessen Chef zurzeit europäischer Staatspräsident ist.

Wie konnte das geschehen? Alte Erinnerungen, alte Familiengeschichten gingen Walter Uhlenkort durch den Kopf.

Mit einer Handbewegung verjagte er die Gedanken.

Wir werden sehen. Sie ist in Kapstadt. Dort werde ich sie sehen und sprechen, in Kapstadt... aber erst – er warf einen Blick auf die Wanduhr –, erst die Feier in Minneapolis. Es ist Zeit, zu unserem Gesandten zu gehen.

*

Bern hatte einen großen Tag. Außer den Mitgliedern des europäischen Parlaments und einer Unzahl von Journalisten waren zahlreiche Deputationen aus den nordischen Ländern Europas eingetroffen und überfüllten die Stadt.

Seit elf Uhr vormittags drängte sich eine immer noch wachsende Menge um den Parlamentspalast. Seit gestern Nachmittag war das amerikanische Botschaftsgebäude von einem starken Polizeikordon umgeben. Der große Sitzungssaal war vollzählig besetzt, die Tribünen überfüllt. Unter allgemeiner Unaufmerksamkeit der Deputierten und wachsender Ungeduld der Tribünen waren die reichlich gleichgültigen ersten drei Punkte der Tagesordnung erledigt worden.

Die Pause war vorüber, und die Deputierten strömten wieder in den Saal.

Unter lautloser Stille und gewaltiger Spannung aller Besucher verkündete der Präsident des Parlaments die Beratung des vierten Punktes der Tagesordnung. Der Sprecher des Parlaments erhielt danach das Wort.

»Meine Herren! Es liegt folgender Antrag der skandinavischen Staaten und der großbritannischen Inseln vor. Der Antrag wird von allen europäischen Staaten unterstützt.

Die unterzeichneten Staaten erheben einmütigen Protest gegen die Art und Weise, in der die New Canal Cy. die Landenge von Panama zu sprengen beabsichtigt. Die Unterzeichneten verlangen, dass die europäische Zentralregierung bei der Regierung der Vereinigten Staaten von Nordamerika unter Hinweis auf die durch eine gleichzeitige Sprengung aller Minen drohenden Gefahren energisch vorstellig werde. Die europäische Zentralregierung möge dafür Sorge tragen, dass die Sprengung etappenweise erfolgt, wobei die Länge einer Etappe sieben Kilometer nicht überschreiten darf.«

Minutenlang musste der Sprecher warten, bis der lärmende Beifall abgeebbt war. Dann sprach der Parlamentspräsident.

»Meine Herren, ich erteile dem großbritannischen Deputierten Mr. Bertie das Wort zur Begründung des Antrags.«

Mr. Bertie, ein Schotte aus der Gegend des Clyde, schon ergraut in Haar und Bart, bestieg die Rednertribüne.

»Meine Herren, ich bin genötigt, Ihnen eine kurze Vorgeschichte der Ereignisse zu geben, die zu der heutigen Sitzung geführt haben. Der Panamakanal in seiner jetzigen Form als Schleusenkanal wurde im Jahre 1910 vollendet. Schon während des Baues verriet sich die unruhige Natur des Bodens durch zahlreiche Bergrutsche. In manchen Abschnitten – ich denke besonders an den Culebra-Abschnitt – zwangen immer wiederkehrende Felsstürze von wahrhaft gigantischen Ausmaßen zu immer größeren Arbeiten. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wurden die Verhältnisse schlimmer, und in letzter Zeit musste der Kanal monatelang außer Betrieb gesetzt werden. Die

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Der Roman ATLANTIS von HANS DOMINIK ist gemeinfrei.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2017
ISBN: 978-3-7438-4128-4

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