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Leseprobe

 

 

 

JACK WOMACK

 

 

AMBIENT

DRYCO-ZYKLUS 1

 

 

Ein Cyberpunk-Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

AMBIENT 

Das Buch

AMBIENT ist ein Gleichnis, das den Zerfall der westlichen Zivilisation in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts am Beispiel eines kaputten, verkommenen, von Gewalt und Anarchie zerrissenen New York vor Augen führt.

AMBIENT erzählt die Geschichte von Seamus O'Malley, eines Leibwächters und Vertrauten des Multimilliardärs Thatcher Dryden und von Stella, der ständigen Begleiterin und persönlichen Lieblingshure seines Brötchengebers.

Was jedoch als einfacher Fall von erwiderter, aber verhinderter Liebe beginnt, entwickelt sich rasch zu einem lebensgefährlichen Balance-Akt zwischen Pflichterfüllung, Geschäftsintrigen, mörderischen Familienrivalitäten, perversen Praktiken eines zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung unfähigen Militärs und dem furchtbaren Geheimnis eines skrupellosen alten Mannes.

Hinter alledem lauern – abgesondert von der Gesellschaft – die Ambients, die wahren Kinder dieses chaotischen, moralisch heruntergekommenen Universums, die eine Subkultur mit eigenen Ritualen und eigener Religion auf eigenem Territorium geschaffen haben...

 

Mit AMBIENT legte der US-amerikanische Autor Jack Womack im Jahr 1987 einen grandiosen Erstling vor, der zum Klassiker der Cyberpunk-Literatur wurde und nicht zu Unrecht bis heute mit CLOCKWORK ORANGE von Anthony Burgess verglichen wird.

Der Apex-Verlag veröffentlicht sämtliche Romane des DRYCO-Zyklus als z.T. neu übersetzte Neu-Ausgaben sowie den abschließenden Band GOING GOING GONE als deutsche Erstausgabe.

 

Der Autor

 

Jack Womack, Jahrgang 1956. 

Jack Womack ist ein  US-amerikanischer Schriftsteller, dessen literarisches Hauptwerk - die aus sechs Romanen bestehende Ambient- resp. Dryco-Serie - dem Cyberpunk zugeordnet wird. 

Zu den populärsten Romanen dieser Reihe zählen Ambient (1987; dt. Ambient, 1990), Terraplane (1988; dt. Terraplane, 1991) und Heathern (1990; dt. Heidern, 1993). 

Darüber hinaus veröffentlichte er den Roman Let's Put The Future Behind Us (1996) sowie in erster Linie Kurzgeschichten und Erzählung wie z.B. Out Of Sight, Out Of Mind (1990), Lifeblood (1991), Audience (1997) und The Man Who Saved The 20th Century (2012). 

Jack Womack lebt und arbeitet in New York City.

AMBIENT

 

 

 

 

 

Für Kabi,

meinen Liebling:

12. 5. 85

 

 

 

 

  

  1

 

 

  »Wir reden später darüber, O'Malley«, vertraute mir Mister Dryden an, als er am Morgen in den Wagen stieg; ich saß als bewaffneter Begleitschutz neben Jimmy, dem Fahrer. »Ich habe einen Plan.«

  Jimmy liebte die Fifth Avenue, denn sie war die sicherste Route in Richtung Stadtzentrum. Wir fuhren einen Castrolite, sieben Meter lang, zweivierzig breit, durchaus manövrierfähig, sofern man nicht im Stau steckte. Wir waren einigermaßen sicher und hatten uns daran gewöhnt. Vater sagte immer, man könne sich an alles gewöhnen, was einen nicht umbringt. Er war tot.

  »Na los!«, sagte Mister Dryden,

  Der Bordcomputer machte Jimmy auf innere Störungen aufmerksam, und er ermahnte ihn freundlich, wenn es schlechte Nachricht gab. Das Chassis war gepanzert. Darunter verlief rundum eine Drahtschürze; kein Spaßvogel würde einen Brandsatz unter den Wagen rollen können. Auf Knopfdruck wurde eine Elektroabschirmung hoher Voltspannung eingeschaltet und verbrannte Bösewichtern, die Verdrießlichkeiten anbringen wollten, die Finger. Im Bedarfsfall standen weniger passive Möglichkeiten zu Gebote. Wenn alles andere versagte, beschirmten meine Hände; es gab keine sichereren Hände als meine.

  »Wo?«, fragte Jimmy.

  Mister Dryden liebte E, wie schon sein Vater. Don't Be Cruel drang aus dem CD-Player, als wir dahinrollten. Er hatte alles, was er brauchte, im Fond des Wagens: eine Bar, einen Fernseher, ein bis oben vollgestopftes Drogenfach, einen Kurzwellensender der Heimatarmee, zwei Telefone, einen IBM XL 9ooo, ein Kopiergerät und ein Bidet. Das Bidet war für Avalon; Avalon war für Mister Dryden.

  »Buchhandlung«, sagte er.

  Avalon liebte wenig; sie saß neben Mister Dryden. Der Fernseher auf ihrer Seite war wie immer auf Vidiac eingestellt. Ich konnte den Bildschirm nicht sehen; konnte nur (wenn ich gut hinhörte, denn Mister Drydens Musik spielte immer mit voller Lautstärke) technische Geräusche ausmachen, kühl und fern. Moderne Musik - alles Klangfarbe und Modulation und Furze und Rülpser und Schluchzer - konnte mich nie anziehen, und die schrille Losgelassenheit der Ambientgruppen - deren Musik im Fernsehen niemals zu hören war – geht mir übermäßig auf den Geist. Ich bevorzuge die Musik jener, die bereits seit langer Zeit tot sind.

  »Rapido«, fügte er hinzu.

  Ich liebte Avalon; ich sah ihr beim Ankleiden zu. Ihr Haar war kurzgeschnitten, keine drei Zentimeter auf dem Scheitel; sie zog eine schulterlange blonde Lockenperücke über. In diesem Augenblick trug sie nur ihre Perücke; ihre Nacktheit war freilich nie völlig zusagend, solange sie nicht ihr Gebiss angebracht hatte. Proxies wie Avalon waren gesetzlich verpflichtet, sich die Zähne vom Gesundheitsdienst ziehen zu lassen, so dass sie ihrer Frustration nicht in unzuträglicher Weise Luft machen konnten. Sie hatte sich bei Mister Dryden eingehängt, nachdem sie die übliche Zeit als Animiermädchen gedient hatte; sie war zwanzig und seit zwei Jahren bei uns. Ich war seit zwölf Jahren sein erster Leibwächter und inoffizieller Geschäftsberater; sie war mit ihrem Job so zufrieden wie ich mit meinem.

  »Ta raas«, seufzte Jimmy.

  Avalon lächelte mir zu und spreizte die Beine, als wolle sie die Sonne einlassen. Der Anblick ihres Gesichts ließ das trübe Licht des grauen Himmels freundlicher erscheinen. Dieser Morgen war bedeckt; so war es meistens.

  »Wie geht's bei dir, O'Malley?«, fragte sie.

  »Leidlich«, antwortete ich.

  Wir hielten an der Ampel 86. Straße. Nicht nur ich war entbrannt; fünf rohe Jugendliche hatten bei der Mauer des Parks einen Penner angezündet und sahen zu, wie er nussbraun getoastet wurde. Jungs der Heimatarmee hielten im Umkreis des Parks ständig Wache und sicherten die Betonfläche um die Met; brusthohe Rollen aus Nato-Stacheldraht verstärkten diese Umwallung zusätzlich. Gleichwohl standen schon früh am Morgen ungezählte Bourgeois am Eingang zur Met im Schatten von Panzerkanonen Schlange und warteten, dass man ihnen wegen Überfüllung den Zutritt zur großen Ausstellung der Kunst der Naturvölker verwehren würde, über die sie später dann quaken konnten, als ob sie sie wirklich gesehen hätten.

  Straßenrowdys und Jungen der Heimatarmee - keiner älter als sechzehn - starrten unseren Wagen an. Avalon beugte sich zum Fenster und drückte ihre Brüste gegen die Scheibe. Sie wusste, dass man sie durch das Einwegglas nicht sehen konnte, aber das machte ihr nichts aus - auch Mister Dryden nicht, der sie ignorierte.

  »Jah!«, rief Jimmy und wich aus. Ein Taxi – TRARI TRARA UND EX in den Kofferraumdeckel gekratzt - wechselte die Fahrspur und stieß an unseren Wagen. Der Fahrer schrie Jimmy an und fuhr auf unserer Spur weiter. Jimmy gab Gas. rammte das Taxi mit der Frontplatte, die den Kühlergrill unseres Wagens schützte, bevor wir die 79. Straße erreichten, und stieß es auf die Bordsteinkante. Die Tür flog auf, der Taxifahrer fiel heraus in den Rinnstein. Jimmy drückte einen der Abwehrknöpfe und dünstete ihn im Vorbeifahren roh. Der Mann schnellte herum wie ein frischgefangener Fisch.

  »Matschi wird uns nicht mehr nerven«, sagte Jimmy und schüttelte den Schreck mit einem Lachen ab.

  Kleine Jungs sprangen über die Umfassungsmauer und klopften den Taxifahrer mürbe. Einer schlug die Scheiben des Taxis ein; damit noch nicht zufrieden, zerschlug er die Scheiben anderer vorbeifahrender Wagen. Die Jungs der Heimatarmee lachten; angeregt, stets für Unterhaltung und Abwechslung zu haben, feuerten sie in vorbeikriechende Busse. Fahrgäste sprangen hoch, ließen sich von Trittbrettern und Seiten fallen.

  Avalon legte ihre Einkaufskluft an: ein anliegendes Kleid aus schwarzem Leder, vorn und hinten von oben bis unten offen und durch eine Verschnürung zusammengehalten. Die Schnüre waren in Höhe der Gabelung verknotet. Über dem Knoten war eine Tätowierung winziger männlicher Artillerie, mit einem blutigen Messer anstelle des Friedensstifters. Sie zog die Reißverschlüsse ihrer hüfthohen schwarzen Stiefel zu; setzte die SS-Offiziersmütze mit dem Totenkopf schneidig auf ein Ohr.

  »Wie seh' ich aus?«, fragte sie Mister Dryden, der Avalons Kleidung für Auftritte in der Öffentlichkeit auswählte; sein modischer Geschmack hatte ziemlich stilisierte Formen angenommen.

  »Lecker«, murmelte er bei der Durchsicht seiner Post, ohne den Blick vom Monitor zu wenden. Er bediente die Knöpfe mit einer Hand; mit der anderen kratzte er sich ständig, zog und bohrte und befühlte seine Haut, versuchte die Maden zu fangen, deren Kriechen er darunter wahrzunehmen glaubte.

  »Ist das alles?«, fragte sie; es war. Sie sah zu mir her und rollte mit den Augen. Sie war ein Traum, programmiert und abgerufen; die Frau, die man nach Haus zu Mutter brachte, wenn Mutter zu Haus war. Meine war tot. So nah und doch so fern zu sein, spannte meine Gefühle aufs äußerste an; wäre ich eine Motte gewesen, ich wäre bereitwillig in ihrem Licht verbrannt.

  Zwei Hubschrauber knatterten in zweihundertfünfzig Metern Höhe über der Stadtmitte, kurvten zwischen den Hochhäusern. Junge Piloten der Heimatarmee knallten sich mit Drogen voll und starteten dann ihre Maschinen, um zwischen den Wolkenkratzern Fangen zu spielen. Jedes Jahr wurden Dutzende abgeschossen, um den Schaden zu begrenzen.

  Die Einfahrt zur Kontrollzone Stadtmitte befand sich auf Höhe der 59. Straße. Am Gehsteig waren Spuren einer unlängst erfolgten Explosion zu sehen: die Sperrmauer war rot bespritzt, und es herrschte größere Unordnung als durch übermäßige Benutzung erklärt werden konnte. An der Wand stand in Schablonenschrift die am leichtesten durchzusetzende Antiterrorvorschrift der Armee:

 

ENGLISCH SPRECHEN

ODER SCHNAUZE HALTEN!

 

  Man konnte wochenlang durch jede beliebige Zone Manhattans wandern, ohne englische Worte zu hören.

  Da wir 1A-Nummernschilder hatten, brausten wir auf unserer Fahrspur entlang, während die Lastwagen, Taxis und Busse auf den regulären Fahrspuren angehalten, durchsucht und umgeleitet wurden; die Stoßzeit war vorbei, und der Stau hatte eine Länge von nur vierzig Blocks. Von der Fassade des Vollzugshauptquartiers Stadtmitte der Heimatarmee, dem alten Plaza Hotel, das seit langem im stumpfen Olivgrün der Armee gespritzt war, hingen Flaggen. Auf dem Dach waren Maschinengewehre und Granatwerfer postiert, die auf den Park gerichtet waren. Ein Springbrunnen vor dem Gebäude spritzte scharlachrot gefärbtes Wasser in die Luft, um die unaufhörlichen Gießbäche der Schlachtfelder in Übersee zu symbolisieren. Vor dem Anwerbebüro in der 58. Straße standen Jungs Schlange, in Wagenladungen herangekarrt, um sich freiwillig zu melden; die Armee bevorzugte das Blut der Frischen und Unverdorbenen. Armeejungs hielten die Wartenden bei Laune, indem sie Tauben von Dächern schossen; wer andere Unterhaltung wünschte, verfolgte das über die Straßenmonitore verbreitete Fernsehprogramm. Bei Schwartz, auf der anderen Straßenseite, mästeten sich die Kinder der Besitzenden, begleitet von Hauslehrern und Kindermädchen, an der Fülle ihres eigenen Marktes. Wir passierten das Bergdorf-Turmhaus in der 57., Gucci's World in der 53., Cartico in der 52., Saint Paddy's Condoplex in der 5o., Saks-Mart in der 49.

  »Parkplatz?«, fragte ich. Fahrzeuge säumten die Straßenseiten.

  »Früh genug, Mann«, sagte Jimmy. »Früh genug«

  Vor der Buchhandlung parkte ein Lieferwagen der Post; selbst der Fahrer schien rnit Graffiti bedeckt. In Kontrollzonen wurde die Post einmal täglich zugestellt; in anderen Zonen einmal wöchentlich, wenn überhaupt. Als wir hinter dem Lieferwagen hielten, schlingerte dieser davon, ehe wir uns belustigen konnten. In der eigentlichen Zone gab es wie immer nur wenige Wagen; ausschließlich Limousinen, einige Taxis und Lieferfahrzeuge, die zu ihren täglichen Touren eingelassen wurden. Busse durften die Kontrollzonen nicht befahren, denn sie konnten allzu leicht die Unmanierlichen hereinbringen. Der Wind pfiff um die Gebäude wie durch einen Friedhof. Ich öffnete langsam meine Tür und stieg aus; früher in der Woche hatte ich mir die Schulter verletzt. Ein blauweißer Streifenwagen jagte mit heulender Sirene vorüber.

  »Aufführungszeit«, sagte Jimmy.

  Sie waren langsam; ein Stück weiter die Fifth hinunter nieste eine Ladenfront Feuer.

  »Wieder Nipponbank«, sagte Mister Dryden aufblickend und schüttelte den Kopf. »Bleib, Jimmy.«

  In der Stadtmitte gab es ständig Bombenanschläge. In die Verantwortlichkeit teilten sich die Dreds, Mariel, die Nation von Aztlan, der Orden der Schwarzen Flagge, Blut und Kohle, Kanonenschlag, die Schwarzen Kraftfrauen, die Söhne der Pioniere und die anderen, kleineren und mehr vergänglichen Gruppen, die sich allesamt jeden Tag mit ihren Destabilisierungsarbeiten abmühten. Die Befehlshaber hatten Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Jedes in einer Kontrollzone parkende Fahrzeug musste immer eine Person in unmittelbarer Nähe haben, andernfalls wurde es gesprengt. Fahrzeugdurchsuchungen erwiesen sich als wirksam; Fußgänger wurden an den Kontrollstellen durchsucht, wie es in Museen schon lange der Fall war (zu diesem Zweck hatte die Armee sinnreiches Gerät entwickelt - ein Junge der Heimatarmee zeigte mir einmal seinen Inspektionshandschuh, der an den eines Falkners erinnerte, mit Dachschindelstruktur). Manche Terroristengruppen verfügten über Anhänger in den Zonen, andere bevorzugten Kamikaze. Eine der einfallsreicheren Gruppen hatte einen Sprengstoff entwickelt, der ohne Schaden für die Gesundheit verschluckt werden konnte; erst nach längerer Zeit erzeugte die Magensäure ein letztes Sodbrennen. Die Explosion wurde durch Röntgenstrahlen ausgelöst. Alle Mitspieler hatten ihre Methoden und Gründe.

  Armeelastwagen rasten die Avenue hinunter. »Wie die sausen!« Jimmy lachte, und seine Goldkronen glänzten, als hätte er sie mit Leder poliert. »Die werden sie jetzt nicht mal mit einem Sieb finden.«

  Jimmy behauptete, sein voller Name sei Man Jimmy Too Bad; er war ein Dred gewesen, bis Mister Dryden ihn zu seinem Chauffeur ernannt hatte. Jimmy bekannte sich noch immer zu Ras Tafari, hatte ein Bild von Selassie über dem Armaturenbrett und das heilige Piby-Amulett in der Tasche. Eine Schublade unter der Steuersäule enthielt seine Tonpfeife und sein Weisheitskraut. Er war ein ausgezeichneter Fahrer; wir hatten noch nie einen Unfall gehabt, den er nicht geplant hatte.

  »Fertig?«

  Diesen Morgen schien Mister Dryden besonders unausgeschlafen, und vielleicht zeigte sich meine Sorge allzu deutlich; er sah mich scharf an, als ob ich seinen Schlaf gestört hätte, und ich nahm schnell einen unbekümmerten Ausdruck an. Seine Hand zitterte, als er ungeschickt nach der Wagentür fühlte, sie zu schließen.

Ich war Mister Dryden begegnet, als ich zum letzten Mal New York verlassen hatte; nachdem ich die Wirtschaftshochschule in der Bronx absolviert hatte, beschaffte mir ein Freund meines Vaters einen Job als Sicherheitsbeauftragter an der Yale-Universität. Mister Dryden, der dort studierte, stellte mich als Leibwächter ein, und seither arbeitete ich für ihn, froh und dankbar für die Chance. Diese Vertrauensstellung bei einem Besitzer - insbesondere bei einem wie Dryden A - befreite mich vom Militärdienst. Es schien, dass ich ein gemachter Mann war, solange ich daran festhielt, und es war jedenfalls eine sichere Sache. Die Hälfte meiner Kommilitonen war in die Wirtschaft gegangen, die andere Hälfte zur Armee, Vermutlich war ich inzwischen der einzige Überlebende.

  Es gab niemanden, für den ich lieber gearbeitet hätte als für Mister Dryden. Dann veränderte sich sein Ausdruck, er verdüsterte seinen Blick und schloss die Jalousien seines Geistes.

  »Wir machen es kurz«, sagte er und marschierte forschen Schrittes auf die Buchhandlung zu, als wäre sie etwas, was nur er zu sehen der Mühe wert fand. Wenn er sich so bewegte, handelte er nach dem nervösen Impuls des Augenblickes und der Aufwallung seines Jähzorns. Das Gebäude, in dem die Buchhandlung sich

befand, war mindestens hundert Jahre alt. Das Innere des Ladens hatte eine hohe Gewölbedecke, eine verglaste Schaufensterfront, eine Galerie mit schmiedeeisernem Geländer, die über Wendeltreppen zugänglich war, und im Hintergrund eine prachtvolle marmorne Treppe mit glänzenden Messinglaternen, die zum Obergeschoss führte. Das Betreten des Ladens verführte selbst den durchschnittlichen Besitzer zu der Einbildung, dass auch er lesen könne. Avalon ging mir voraus; beim Gehen spannten und entspannten sich die Muskeln ihrer Beine und Hüften. Das Dryco-Siegel, eine grinsende Visage (in früherer Inkarnation, wie man mir sagte, als ein glückliches Gesicht bekannt), war auf ihre rechte Gesichtshälfte tätowiert; es schien mich in hämischer Schadenfreude anzugrinsen. Der Geschäftsführer der Buchhandlung kam pflichtschuldig herbeigeeilt, als der Türsteher das Stahlgitter aufsperrte.

  »Mister Dryden«, sagte er, »wie schön, Sie nach so langer Zeit zu wiederzusehen.«

  Vorige Woche waren wir zuletzt dagewesen. Mister Dryden kaufte im Monat ungefähr sechzig Bücher. Er blätterte sie durch und warf sie weg, nachdem er sie in den Datenspeicher - wie er es auszudrücken pflegte, wobei er sich an die Stirn tippte - eingegeben hatte. Ich bezweifelte inzwischen, dass er überhaupt aufnahm, was er in dieser Weise las.

  »Suchen Sie etwas Besonderes?«, fragte der Geschäftsführer.

  »Nein«, sagte Mister Dryden und suchte die umlaufende Galerie des Ladens nach versteckten Attentätern ab; ich hatte mich bereits vergewissert. »Bedienung her.«

  »Jawohl, Sir«, sagte der Geschäftsführer, klatschte in die Hände und wandte sich zu seinem Assistenten. »Bedienung, bitte!«

  »Bedienung!«, rief der Assistent. Ein Bursche mit Brille kam und stand vor uns. Ich war eineinhalb Köpfe größer und vierzig Jahre jünger.

  »Bedienung hier«, sagte er.

  »Neu?«

  »Ich bin seit sechzehn Jahren hier, Sir.«

  Mister Dryden legte dem Angestellten die Hände auf die Schultern und spuckte ihm ins Gesicht. Seine Stimmung war in letzter Zeit unausgeglichen.

  »Dann hopp!«

  »Jawohl, Sir.«

  Wir gingen zu den Ausstellungsregalen. Während Mister Dryden durch die Gassen schlenderte, wählte er seine Bücher aus und warf sie dem Angestellten zu, der sie mit der Leichtigkeit angeborenen Talents auffing. Ich wanderte voraus.

  Mister Dryden machte kehrt - unbeabsichtigt, nehme ich an - und stieß auf eine ältere Dame, die einen Hut mit Gesichtsschleier trug. Er hüstelte mehrere Male, als müsse er sich räuspern. Weder sie noch ihr Leibwächter rührten sich von der Stelle. Er nickte mir zu. Ich ging hinüber und nahm vor den beiden Aufstellung.

  »Du wünschst Verdruss?«, fragte ihr Leibwächter, der mit verschränkten Armen an der Regalwand lehnte, hinter sich Biographien von Proust und Reagan. »Tu concedes, chocho?« 

  Ich bin trotz allem eine friedfertige Seele, und dies kam mir sofort wie ein Bluff vor, lang in der Theorie und kurz in der Praxis. Ich blickte zu Mister Dryden und wartete auf ein weiteres Kopfnicken. Der Leibwächter kratzte sich am Kinn und betrachtete mich abschätzend, wie eine Pflaume, die es zu pflücken gilt; ich war darauf vorbereitet, gepflückt zu werden. Um die Voreiligen und Unfähigen zu verlocken, trage ich Ohrringe – schwarze Kruzifixe aus Onyx an goldenen Ringen. Wenn er mich bei einem Ohr packte, würde er herausfinden, dass meine Kunststoffohren angeklebt waren. Der Gesundheitsdienst hatte meine Originale vor Jahren entfernt, als Enid - meine Schwester, eine Ambient - dieses Verfahren vorgeschlagen hatte, Es ist die Art eines Ambient, zu bluffen - und dann, falls erforderlich, ein Ende zu machen. Darin war sie meiner Verfahrensweise ähnlich, obwohl ich zu der Zeit überzeugt war, dass das Leben der Ambients nichts für mich sein konnte.

  Mister Dryden, der wie immer in Gedanken schien, schüttelte den Kopf. Der Leibwächter und ich verbeugten uns leicht voreinander und gingen auseinander. Mister Dryden und Avalon steuerten die Kunstabteilung an, und ich folgte.

  Niemand sonst war im Laden; ich konnte meinen Zugriff lockern und die Drucke an der Wand beäugen. Da gab es prachtvolle Reproduktionen von Francis Bacons schreienden Päpsten; viele von Goyas Los Caprichos in Hologramm; einige Paneele von Chester Gould in Basrelief. Schönbergs Pierrot Lunaire erfüllte die Luft. Avalon blätterte in einem Buch mit Schwarzweißaufnahmen nackter weiblicher Musterexemplare der Körperkulturistik in ausgewählten Haltungen - im Schlamm versinkend und ertrinkend, von rohen Wilden vergewaltigt, wie die Märtyrer von Smithfield angezündet, aufs Rad geflochten wie die heilige Katharina, lebendig gehäutet wie der heilige Bartholomäus, von Pfeilen durchbohrt wie der heilige Sebastian - der Einfallsreichtum des Fotografen schien keine Grenzen zu kennen. Mister Dryden warf einen Band von Arbus hinüber; der Angestellte fing ihn ächzend auf. Das Morgenlicht, blass und grau, fiel auf Avalons Gesicht, als sie die Fotos mit dunkelglänzenden Augen betrachtete; ich dachte, wie gebräunt und weich sie aussah, wo sie nicht schwarz und lederig war. Ich wünschte, wir könnten uns umarmen, bis wir einander die Knochen gebrochen hätten. Sie trainierte auch Gewichtheben; genug, um sich für Konferenzen in Form zu halten.

  Sie schob sich näher und rollte die Zunge über die Lippen, als suche sie nach Blasen, um mir einen Druck aus einem anderen Buch zu zeigen, der mit den Worten Tödlicher Autounfall 17 untertitelt war; der Künstler besaß ein starkes Farbempfinden, aber keinen Blick für Form. Sie grinste und warf es auf den Boden. Ihr Leder bewegte sich mit ihr; ich hätte sie liebend gern gehäutet

  »Jungchen sollte sich lieber beeilen«, flüsterte sie mir zu und nahm mich beim Arm. »Meine Füße bringen mich um in diesen verdammten Stöckelschuhen.«

  Ich sagte nichts. Ich lächelte; ihre Augen funkelten wie Glassplitter, und in ihnen sah ich, was sie noch nicht sagen mochte. Sie drehte die Hüften hin und her, um der Beengung durch ihre Kleidung entgegenzuwirken, und dabei rutschte das Kleid höher hinauf. Ich wusste, dass Avalon mit der Zeit den Geschmack an Mister Drydens Zärtlichkeiten - soweit man davon sprechen konnte - verloren hatte, aber sie kannte ihn nicht so lange wie ich und war darum auch nicht so gut auf seine Launen eingestimmt, die während des vergangenen Jahres unberechenbarer geworden waren.

  »Neuer Anzug, Shameless?«, fragte sie mich. Ich trug einen zweiteiligen dunkelblauen Nadelstreifanzug, nicht unähnlich dem meines Brotgebers. Während er in Avalons Kleidung auf einen gewissen Elan Wert legte, achtete er wenig auf meine Kleidung, solange sie passte und schützte.

  »Letzte Woche gekauft«, sagte ich. Ich hatte seit meiner Bestellung vier Wochen warten müssen; hätte ich nicht für Dryco gearbeitet, wären es zehn Monate geworden, und dann hätte ich wahrscheinlich zugesandt bekommen, was gerade vorhanden war, ungeachtet der Größe, der Farbe oder des Materials - nicht immer wegen der Knappheit, sondern aus allgemeiner Gleichgültigkeit. Es war angebracht, zu nehmen, was einem gegeben wurde, wenn man überhaupt etwas bekommen wollte.

  »Du siehst gut genug aus, um ihn zu übertreffen«, sagte sie mit einem Zwinkern. Als sie mich streifte, wurde mir warm, als würde ich langsam gekocht. »War er teuer?«

  »Fünfzehn Dollar«, sagte ich.

  »Du machst deine Anzüge nie blutig, nicht?« Sie rieb die Aufschläge zwischen Daumen und Zeigefinger. Ihr Knie berührte meines in absichtsvoller Liebkosung.

  Ich schüttelte den Kopf und versuchte zu denken. Jede Logik schwand aus meinem Denken, wenn sie mir nahe kam; ihre Berührung stürzte meine Gedanken ins Chaos.

  »Das Kennzeichen des Amateurs«, sagte ich.

  »Ich würde gern Blut an seinem Anzug sehen.«

  »Meinst du, dass er bald fertig ist?«

  »Kann nicht sein«, sagte sie. »Der Verkäufer lebt noch.«

  Aber er war fertig und gab uns das Zeichen, zu gehen. Wir erreichten den Ladentisch mit der Kasse; der Geschäftsführer eilte herbei, als erwartete er, mit einem Leckerbissen gefüttert zu werden.

  »Hatten wir alles, was Sie benötigten, Sir?«

  »Nein«, sagte Mister Dryden.

  »Wünschen Sie irgendwelche speziellen Titel?«

  »Keine Zeit«, sagte er und schlug mit der Hand auf den Ladentisch, als gelte es, seine Existenz zu bekräftigen. »Ich kaufe ein, ich erwarte Erfüllung meiner Wünsche. Ich werde etwas anderes tun, wenn Sie meine Wünsche missachten.«

  »Sir...«

  Avalon und ich warteten gähnend, während die beiden nach Kräften weitermachten. Wir wussten, dass er auch in Zukunft hier einkaufen würde: Es kam dem Geschäftsführer zu, von einem Besitzer geschmäht und beschimpft zu werden; und es kam einem Besitzer zu, andere zu schmähen und zu beschimpfen. Man gewöhnte sich daran wie an den Sonnenaufgang. Die Arme des Verkäufers zitterten unter der Last seiner Bücher.

  »...Idiot«, schloss Mister Dryden. Ich konnte nicht umhin zu bemerken, wie sein Hals dunkel anlief, während er sprach; sein Jähzorn war von einer Art, dass ich überzeugt war, das ihm zu Kopf schießende Blut würde den Schädel zum Bersten bringen und in einer schäumenden Welle herausspritzen, wenn er seine Rede noch

länger fortsetzte.

  »Rechnung an Ihr Haus oder Kreditkarte, Sir?«

  »Rechnung.«

  »Sehr gut. Bedienung!« Der Geschäftsführer klatschte in die Hände. Mister Dryden hatte einen enormen Stapel von Büchern eingekauft; ich schätzte ihren Wert auf dreißig Dollar. Der Verkäufer hob sie auf die Theke.

  »Aufgepasst...«, sagte der Assistent des Geschäftsführers, doch zu spät. Ein Buch fiel zu Boden; den Rest des Stapels konnte der Verkäufer festhalten. Das zu Boden gefallene Buch war eine ledergebundene Ausgabe von Letzte Ausfahrt Brooklyn. Ein Geschenk, mutmaßte ich, obwohl ich nicht sicher war, für wen; sein Sohn, dessen Geburtstag in zwei Tagen gefeiert wurde, hatte mit linearem Druck nicht viel im Sinn.

  »Trottel!«, rief der Geschäftsführer; sein Assistent versetzte dem Verkäufer mehrere Ohrfeigen, als wollte er ihn aufwecken.

  »Überprüfen wir«, sagte Mister Dryden, scheinbar wieder ruhig - es war ungemein schwierig, seine Wut auszumachen, bevor sie zum Ausbruch kam. Ich reichte ihm das Buch; er betrachtete es eingehend, als entziffere er einen subtilen Code. Er sah einen Moment aus dem Fenster, hob den Blick zum ungerechten Himmel und der Gottheit darin. Er funkelte den Geschäftsführer an, stieß ihm das Buch vor die Brust, aufs Herz gezielt.

  »Verkratzt«, sagte Mister Dryden. Ich hoffte, er würde diese Sache nicht zu weit treiben, argwöhnte jedoch, dass er es tun würde.

  Der Geschäftsführer beäugte das Buch, tat endlich so, als habe er einen angemessenen Mangel erspäht. »Lassen Sie mich nachsehen, ob wir ein zweites Exemplar haben.«

  »Trottel«, sagte Mister Dryden und schlug dem Geschäftsführer ein anderes Buch über den Kopf; der Rücken der Broschüre platzte auf und verbog sich, »Danken Sie mir.«

  »Danke sehr, Sir.«

  Mister Dryden schlug ihn abermals mit dem Buch, Das war kein professionelles Benehmen, dachte ich, und - zugegeben - plötzlich war es mir peinlich, überhaupt mit ihm in Verbindung gebracht zu werden; und es war mir zuwider, so von ihm denken zu müssen,

  Aber Amateure jeglicher Art erregen meinen Zorn, und er benahm sich nicht besser als irgendein Amateur,

  »Dessen ungeachtet«, sagte er, »werde ich es verschmähen, wenn ich so bedient werde.« Er hörte sich beinahe so an, als ob es sein Ernst wäre.

  »Bitte, Sir...«

  »Ich habe entschieden.«

  »Wenigstens«, sagte der Geschäftsführer und hielt sich dabei den Kopf, als wollte er unauffällig den Schmerz wegreiben, »sollte ich Ihnen anheimstellen, mit dem Verantwortlichen zu verfahren, wie Sie es für richtig halten.«

  Mister Dryden war anscheinend so verdutzt wie ich selbst; das war eine neue Wendung. Wenn sich derartige Szenen abspielten, war es üblich, dass die Geschäftsführer ihre Angestellten selbst schlugen, bevor sie sie hinauswarfen. Wenn dieses Verfahren erzwungen wurde, gab es nur eines zu tun.

  »In Ordnung«, sagte Mister Dryden und starrte den Verkäufer an.

  Avalon wandte sich ab. »Ich bin im Wagen«, sagte sie. Am liebsten wäre ich mit ihr hinausgelaufen, um dem Unvermeidlichen zu entgehen.

  »Warte«, sagte Mister Dryden, während er sich die Arme kratzte; sie blieb stehen. »Sicherheit zuerst. Nicht allein auf die Straße.« Er sah mich an und nickte.

  »Aus welchem Grund?«, hörte ich mich fragen.

  »Er hat gestört, O'Malley«, sagte er, wieder in ruhigem Ton. »Zeigen Sie's ihm!«

  »Hat keinen Sinn, zu tun, was keinen Zweck hat«, sagte ich; dem hätte er einmal zugestimmt. »Lassen Sie uns...«

  »O'Malley.« 

  Er und ich, wir wussten, dass es dies war oder die Gosse, Treibgut im Strom der Millionen Chancenlosen, allein in der Menge.

  »Ich bin nicht der Meinung, dass dies Teil meines Jobs ist.«

  »Er hat gestört. Rächen Sie mich!«

  Die Freiheit läutet, aber niemand öffnet; es war schwierig, immer optimistisch zu bleiben. Ich seufzte, wandte mich wie im Traum dem Verkäufer zu. Arbeit ist Arbeit, und ich tue meine Arbeit; schließlich machte die protestantische Arbeitsethik Amerika zu dem, was es ist, und ich fand immer meinen Stolz in ehrlicher Arbeit. Mein Vater erzählte mir, jeder könne nach oben kommen; er war leicht zu verleiten und dadurch immer wieder ein Opfer fremder Schliche: zu den lieblichsten Lügen wächst die tiefste Zuneigung. An diesem Tag fürchtete ich, dass ich nicht höher hinaufkommen würde, wenn ich keinen anderen Weg fand, irgendeinen Weg; ich war wie ein Junge, dem man erlaubt, in dem großen Schaufenster mit den Süßwaren Staub zu wischen.

  »O'Malley.« 

  Seht euch im Spiegel an und werdet verrückt, sagen die Ambients, und ich wusste, wovon gesprochen wurde. Mit ihm sank auch ich, und ich wusste, dass ich nicht tiefer sinken konnte. An diesem Morgen ging in meinem Denken eine Veränderung vor sich und machte mich bereit, nach anderem Ausschau zu halten – aber es gab nichts anderes, noch schien es möglich, dass es je etwas geben würde. Nimm das Gegebene oder verliere alles; das war die Realität. Da stand ich, ohne Ohren, ohne Liebe, ohne Seele; teils Besitzer, teils Ambient, beides zusammen weniger als jedes für sich.

  »O'Malley!« 

  Ich überlegte, welches Zubehör aus meinem Anzug am geeignetsten wäre: der Batog, die Schlagringe, die Kette oder der Gummiknüppel. Ich entschied, dass mein

Batog - zwei scharfe Stecken, mit dickem Draht fest umwickelt - ausreichen würde. Wozu mit Kanonen auf Spatzen schießen? Wieder hielt ich inne; aber Mister Dryden hatte die Grenzen seiner Geduld erreicht.

  »Sollst nicht gucken, Muchacho«, sagte er und zitterte dabei, als hätte man ihn unter Strom gesetzt, »sondern tun!«

  Ich tat.

 

 

 

  2

 

 

  Während Avalon durch einen Strohhalm aus einer Literflasche Glenlivet trank, spielte die Stereoanlage Blue Moon of Kentucky. An Konferenztagen trank sie schwer, da sie dann von einem Monat auf den anderen zu vergessen hoffte, wie es gewesen war.

  »Hat er für dein Gefühl genug geblutet?«, fragte sie, als sie die Schirmmütze ablegte und die Verschnürung ihrer Ledertracht löste.

  Mister Dryden sagte nichts; er sah auch nicht hin, als sie ihr Kleid abwarf. Er nahm den Hörer vom Telefon, rief die Buchhandlung an und verlangte, dass ihm die Bücher binnen einer Stunde ins Büro geliefert würden. Die Bücher seien wieder in die Regale gestellt worden, wurde ihm gesagt. Er antwortete, dass er keinen Grund sehe, warum seine Wünsche nicht wie verlangt erfüllt werden sollten, und legte auf; damit brüskierte er jeden, ausgenommen seinen Vater. Er nahm LSD und Benzis aus seinem Schubfach und spülte sie mit Absinth hinunter. Dazu eine Prise Koks reingezogen, und er saß befriedigt da. Bis vor einem Jahr, als seine Mutter gestorben war, hatte Mister Dryden nicht viel mit den Drogen zu tun gehabt, die er durch seine Organisation so erfolgreich importierte. Jetzt war er immer kräftig angetörnt. Drogennebel hüllte ihn so dicht ein, dass es den Anschein hatte, er sei - verletzt und schutzsuchend - darauf verfallen, sich so fest mit Bandagen zu umwickeln, dass er leicht daran ersticken konnte, bevor sich Heilung einstellte.

  Wir fuhren zu seinem Büro im Rockefeller Center, dem Dryco-Gebäude. Auf der Fifth Avenue marschierten Truppen in aufgelöster Ordnung. Die grinsenden Plakettengesichter an ihren Heimen hüpften im Schritt auf und nieder.

  »Gelbjacken«, höhnte Jimmy und nickte zu ihren Sonnenblumen-Reklamejacken. »Bilden sich ein, sie brennen wie Feuer.«

  Avalon legte ihre Konferenzausrüstung an, ein schweres Stahl-Korselett mit orangefarbenem Besatz. Aus den Brustplatten ragten scharfe Dolchspitzen. Sie streifte ihre ledernen, mit Stahlspitzen besetzten Stachelarmbänder über, die Knieschützer, die Ellbogenschützer, ihre dicken wollenen Beinlinge und ihren ledernen Tanga. Zuletzt schnallte sie ihre Rollschuhe an und zog die engen ledernen Fäustlinge über.

  »Du polsterst dich?«, fragte Mister Dryden stirnrunzelnd.

  »Ja.« Sie ölte die Räder mit Nähmaschinenöl.

  Wir parkten vor dem Haus, in der schmalen Straße bei der Plaza. Beim Aussteigen rieb ich mir Ruß aus den Augen; vom bloßen Aufenthalt an der Luft fühlten sich meine Hände schmutzig an. In der Ferne heulten Sirenen. Mehrere Düsenmaschinen zogen über uns hinweg ostwärts, nach Long Island.

  »Wir machen's kurz, Jimmy«, sagte Mister Dryden.

  »In Ordnung«, sagte Jimmy und nahm neben dem Wagen eine bequeme Haltung ein. Er trug einen dunkelblauen Marine-Brückenmantel, der dreißig Pfund wiegen musste; zu warm für das Wetter, dachte ich, aber er trug ihn immer. Aus ästhetischen Gründen hatte er Kragenspiegel der Waffen-SS mit Totenkopf und gekreuzten Knochen auf die Schultern genäht, und auf den Rücken einen Flicken mit dem Löwen von Juda, dem Herrschersymbol der äthiopischen Könige. Sein in dicke Schnüre geflochtenes Haar fiel ihm bis auf den Kragen. An der linken Hand trug er einen Schlagring mit Rasiermesserklingen. Neben ihm zu stehen, war entnervend. Ich bin groß, aber Jimmy war prachtvoll; ich reichte ihm bis ans Kinn. Es war gut zu wissen, dass Jimmy in der Theorie mit uns und nicht gegen uns arbeitete; trotzdem konnte man sich nur auf sich selbst verlassen. Jeder Wurm kann sich umwenden und zustoßen, und ich hatte das Gefühl, dass Jimmy nur auf den rechten Augenblick wartete, um zuzuschlagen.

  Am Eingang zum Gebäude rief Mister Dryden einem gerade eintreffenden Herrn einen Gruß zu. Es war ein unvertrautes Gesicht, wahrscheinlich ein Ersatzmann für irgendwen. Er hatte eine Leibwache bei sich, die ihn auf Tuchfühlung umringte; die Männer trugen graue Anzüge. Dies bedeutete, dass er bloß ein bourgeoiser Mittelsmann war und mühelos ersetzt werden konnte, wenn der Tag es verlangte. Nur Besitzer und ihre unmittelbaren Untergebenen trugen dunkelblaue Nadelstreifen; es war anderen nicht verboten, doch hätte man es bestenfalls als unmanierlich empfunden.

  »Tom«, sagte Mister Dryden. »Geht's gut, Junge?«

  »Sehr gut, Sir«

  Tom sah dreißig Jahre älter aus als Mister Dryden.

  »Konferenzbereit?«

  »Ja, Sir.«

  Wir betraten die Eingangshalle. Avalon rollte voraus, sauste um die Topfpflanzen und Schauvitrinen mit Erzeugnissen der Dryco: elektronische Geräte, Sportartikel, Künstlerbedarf, Kassetten, Telefonsysteme, Militärwaffen, landwirtschaftliche Geräte, optische Erzeugnisse, Krafttahrzeugteile, Lasergeräte, Industrieroboter und Kunststoffstatuen von E. Dryco beherrschte direkt oder indirekt etwa vierzig Prozent der amerikanischen Produktion und war an weiteren dreißig Prozent beteiligt.

  Ein seidenes Banner hing von der Decke und wallte sanft im Luftzug der Klimaanlage. Es verkündete in großen Druckbuchstaben die dryconische Ethik:

 

NICHT SORGEN, NICHT WUNDERN.

 

  Wir hielten am Zeitungsstand. Der Inhaber, ein alter Mann mit krummen Beinen und wacklig von Rachitis, blätterte in El Newsweek. Ich nahm die zwei Tageszeitungen - die New York Times und USA People – vom Stapel und ließ die zwei Cents in seine Hand fallen. In einem bewachten Winkel wartete Mister Drydens Aufzug,

  »Auf«, sagte er und drückte die flache Hand gegen den abdruckcodierten Monitor; die Tür ging auf. Wir traten ein und wurden zum fünfundsechzigsten Stockwerk emporgehoben. Die meisten Aufzüge hatten Vidiac-Übertragungsgeräte, aber nicht Mister Drydens; wir hatten nichts als einander anzuschauen.

  »Normales Vormittagstreffen, OM«, sagte Mister Dryden. Er schwankte ein wenig im Stehen, als ob die zunehmende Höhe seinen Gleichgewichtssinn beeinträchtigte. »Sie können sich davonmachen. Drei Verträge und ein Intrapersonal. Nichts Besonderes.«

  »Kein Problem«, sagte ich. An den meisten wichtigen Geschäftsbesprechungen nahm ich mit Mister Dryden teil, um ihn zu beraten und Mordanschläge zu Verhüten. Auf den meisten Gebieten wusste ich über die inneren Zusammenhänge und die Arbeitsweise des Konzerns ebenso viel wie er - auf den meisten, aber nicht allen. Ein Gebiet blieb ein Rätsel, und ich ahnte damals schon, dass es dies immer bleiben würde. Es war etwas, was die Familie für sich behielt, wie der in der Dachstube eingesperrte verrückte Onkel - doch was es auch war, es musste sehr viel nützlicher als dieser sein.

  »Wen triffst du?«, fragte Avalon, machte Geräusche mit ihrem Strohhalm und kicherte; die Flasche hatte sie in die Armbeuge gesteckt. Je mehr sie trank, desto stärker wurde ihr Akzent. Sie war in Washington Heights geboren. Ihre Eltern waren Engländer, mit dem Umweg über Barbados - oder vielleicht umgekehrt. Ihr eigentlicher Name war Judy - Judy Soundso; sie nannte ihren Familiennamen nie. Die meisten Proxies verlieren während der Zeit, die sie auf dem Strich verbringen, den Kontakt zu ihren Familien. Avalon hatte ihre Angehörigen seit ihrem elften Jahr nicht gesehen; einmal hatte sie ihnen eine Weihnachtskarte geschickt.

  »Partner«, sagte Mister Dryden, nagte an der Unterlippe und klopfte mit den Fingern an die Wände, als versuchte er der Geisterwelt Botschaften zu übermitteln. »La Rue von StanBrand, Jameson von XBB Timmerman von Gorky-Detroit. Sie melden mir Vorprogramm.«

  »Klingt aufregend. Wer ist der vierte?«

  »Lope.«

  »Der ist ein netter alter Mann«, sagte sie. »Die Alten geben immer mehr Kohle als die Jungen.«

  »Arbeitet er noch mit Intel?«, fragte ich; Lope war seit Monaten nicht dagewesen - arbeitete mit Waffengeschäften in Sibirien, glaubte ich.«

  »Mit diesem arbeitet er für seine alten Kompagnons. Er steht für Marielize Atlantic City.«

  »Warum?«

  »Wir nicht«

  Das System war einfach und funktionierte des Öfteren, anders als die meisten Systeme. Mister Dryden steuerte das Geschäft; die Computer und Mittelsmänner führten es; und sein Vater besaß es. Sein Vater besaß vieles. Dryco hatte die Finger in jedem größeren Land und steckte mit beiden Händen tief in Amerika. Mister Drydens Vater - der Alte Mann, wie wir ihn nannten - war der erfolgreichste unter denen, welche die Ebbe überstanden hatten.

  »Wie lange wird es dauern?«, fragte Avalon. »Ich frier mir den Arsch ab.«

  »Stunde, etwa. Nehme an, dass Lope heute verhandeln will.«

  »Ich dachte, er mag keine Gewalt«, sagte ich.

  Mister Dryden lachte und drückte mehrmals auf den Auf-Knopf. »Fragen Sie Vater«, sagte er.

In den halcyonischen Tagen, in jenen längst vergangenen schimmernden Jahren, hatten der Alte Mann und seine Frau - Susie D - das einträglichste Freizeit- und Drogen-Netzwerk beider Amerikas beherrscht. Mitvertrauten Assistenten wie Lope und freundlichen Konkurrenten - denjenigen, die sie nicht erst hatten aufkaufen müssen -, hatten sie andere vielversprechende Unternehmen in einem ähnlich produktiven Ausmaß beherrscht: Müllabfuhr und -entsorgung, Bordelle und Spielhallen, häusliche Sicherheit und internationale Antiterrorhilfe, sowie Import-Export im weitesten Sinne. Schon damals war die Familie reich gewesen, wenngleich von vorstellbarem Reichtum.

  »Notieren Sie, OM«, sagte Mister Dryden. »Rufen Sie Wartungsdienst.«

  Die Drydens hatten ihre Gewinne jahrelang reinvestiert und ihre Stellung immer mehr ausgebaut. War ihr Einfluss vorher schon groß gewesen, so war er inzwischen allumfassend. Die Regierung jener Tage erlitt, nachdem sie die Nation lange Zeit vorsätzlich mit einnehmenden Lügen betrogen hatte, eine Reihe unerwarteter Rückschläge, die sich freilich schon lange angekündigt hatten und schließlich zum Durchbruch gekommen waren. Panik brach aus; niemand verstand gut genug, was vorging, um rechtzeitig eine glaubhafte Täuschung zusammenzubasteln, und so brach einstweilen alles zusammen. Der Alte Mann und Susie D wussten, wann sie handeln und wann sie stillhalten mussten, und als alles einzustürzen begann, rafften sie zusammen und brachten in Sicherheit, was sie konnten, um sich dann abzusetzen. Ihr Plan gelang A für sie und ihre Freunde. Es war, als ob das ganze Land in einem Theater gewesen wäre, wo plötzlich Feuer! gerufen wurde; als alle in Panik zu den Ausgängen stürzten, entdeckten sie, dass die Drydens die Türen hinter sich verschlossen hatten und nun von allen eine Fluchtgebühr erhoben.

  »Wartungsdienst?«, fragte ich. »Warum?«

  »Geschwindigkeit zu lahm«, murmelte er und drückte wieder den Knopf.

  »Du fliegst ja schon«, sagte Avalon.

  Nach dem Long Island-Zwischenfall und der Entstehung der Ambients; nach der Enthüllung der Q-Dokumente und dem daraus resultierenden Verlust von Geistigkeit; nach der wirtschaftlichen Notlage und der daraus folgenden Geldentwertung, sowie der unausweichlichen Umgruppierung der Strukturen, wie sie von einigen genannt wurde, kamen die zwölf Monate, die damals schon von den Ambients und heute von den meisten Leuten als das Koboldjahr genannt wurde, Alles zusammen machte die Ebbe aus - im Sprachgebrauch der Ambients jedoch die Aufwallung. Ich war damals zwölf, ahnungslos von meinen künftigen Brotgebern und ihrem Erfindungsreichtum; wie alle anderen in Ungewissheit dessen, was uns an Zukunft bleiben mochte. Meine Mutter war während eines Aufruhrs Für das Leben umgekommen. Mein Vater, einst ein wohlhabender Landmakler, konnte nur einen Besitz halten, das Gebäude an der Avenue C, wo Enid und ich gewohnt hatten und immer noch wohnten, Vater war nach wenigen

Wochen verschwunden; Enid erzog mich, nachdem sie sich selbst erzogen hatte.

  »Ich sprach vom Aufzug«, sagte er.

  Sie nickte. »Ach so. Natürlich.«

  »Ich werde sehen, was zu machen ist«, sagte ich, obgleich mir klar war, dass nichts zu machen war; der Aufzug war in Ordnung.

  »Guter Mann«, sagte Mister Dryden.

  Seit jener Zeit hatten sich alle angepasst – einige mehr als andere. Es war ganz einfach. Die Regierung diente denjenigen, welche den Kurs des Staatsschiffes überwachten; die Regierung kontrollierte die Wirtschaft, die die Regierung kontrollierte. Kompliziert in der Theorie, war es in der Praxis unfehlbar. Ich vermute, dass die neuen Besitzer sich von den alten nicht sehr unterschieden; Altboss, Neuboss, wie Enid es ausdrückte. Leben und leben lassen, war die Devise; so wurde gedacht, so wurde gehandelt. Von einigen nützlichen Ausnahmen abgesehen, regelten sich die Dinge von selbst; dass dies nicht immer zum Allgemeinwohl ausschlug, erregte unter den Regierungs-Apparatschiks keine Besorgnis, erbrachte keine Interpretation, rief kein Bedauern hervor und führte zu keiner Entschuldigung. Die Herrschenden vollführten ihre Taschenspieler-Kunststücke wann und wie sie es wollten. Es war die Art der Natur.

  »Endlich«, sagte Mister Dryden, als der Aufzug verlangsamte.

  Der amerikanischen Gesellschaft blieben mithin drei Arenen, in denen sich alle tummeln konnten: die der Besitzer und ihrer Diener; die der alten Bourgeois; die der Überflüssigen, wie sie von der Regierung etikettiert wurden. Die letzteren zahlten wie die Besitzer keine Steuern; anders als jene verdienten sie nach vorherrschender Einschätzung jedoch keinen Schutz gegen die Wechselfälle des Lebens. Wenn sie nicht in die Armee eintraten (durch Einberufung oder, im Falle der Frauen, freiwillig), waren die Überflüssigen unterbeschäftigt. Manche waren der Industrie nützlich; die Alten waren der Forschung nützlich. Alle machten Geschäfte auf Kosten derer, die unter ihnen waren; viele kamen zurecht. In Amerika gab es keine Entschuldigung dafür, arm zu sein; es war viel leichter, tot zu sein.

  »Ola, Renaldo«, sagte Mister Dryden.

  Aber deswegen bin ich kein Zyniker; für mich gab es nie ein Land wie Amerika, um darin zu leben. Mister Drydens Wartezimmer war eindrucksvoll: in Holzton getäfelt, gegen die öffentliche Vorhalle durch dreizölliges Panzerglas abgeschirmt; die Tür zu dieser Eingangshalle konnte nur vom Empfangsschalter geöffnet werden. Hinter und über diesem hing eine Neonplakette mit dem grinsenden Gesicht. Renaldo war der Empfangschef. Früher einmal war er Mitglied der Sociedad Mariel gewesen, die ursprünglich gegründet worden war, um ihren Mitgliedern zu Arbeit und Brot zu verhelfen; eine Selbsthilfeorganisation, wie sie von der Regierung immer propagiert worden war. Wie in Jimmys Fall hatte sich die Verlockung Drycos als unwiderstehlich erwiesen. Madre war in seine Unterlippe tätowiert; ihr Ebenbild verunzierte seine Handrücken. Er rasierte sich den Schädel, trug einen buschigen Schnurrbart und kleine Ohrringe. Die Metallplatte in seinem Schädel spiegelte das Licht der Deckenlampe; aus manchen Winkeln gesehen, glich sein Kopf einem kostspieligen Küchengerät.

  »Renaldo«, sagte Mister Dryden, »drücken Sie 37H, 26B, 29C, ZT. Empfangen Sie sie! Lassen Sie keinen anderen ein!«

  »Toderecho«, sagte Renaldo.

  Kameras waren auf den Durchgang von der öffentlichen Eingangshalle gerichtet. Auf seinen Monitoren konnte Mister Dryden sehen, wer eintrat, konnte auch durch stillen Alarm Signale geben. Renaldo verwahrte eine Axt unter seinem Tresen, die für ungebetene Ankömmlinge bereitlag.

  Avalon und ich setzten uns auf die dem Aufzug nächste Couch. Ich verlagerte mein Gewicht so, dass es meinem Hüftgelenk keine Schmerzen verursachte. Wir blätterten in unseren Zeitungen: Ich hatte USA People, und sie las die Times. Die ersten drei Besucher trafen ein und verschwanden hinter der Bürotür. Ich las meine Zeitung. VERBRECHENSRATE SINKT VON WOCHE ZU WOCHE, lautete die Schlagzeile; darunter stand in kleinerer Schrift: Fortschritt in Großstädten langsamer. Der einundzwanzigste Jahrestag des Ausbruchs des Russisch-Amerikanischen Krieges sollte dieses Jahr in den Hauptstädten beider Länder vom 4. Juli bis zum 7. November gefeiert werden. Im vergangenen Vierteljahr hatten beide Seiten enorme Gewinne erzielt. Zusätzliche Militärberater sollten dieses Jahr von beiden Seiten nach Pakistan, Nigeria und Costa Rica entsandt werden, um bei der Modernisierung der Armeen dieser Länder zu helfen, Polen stand wieder zur Disposition; in Indonesien wurde eine für drei Jahre befristete Regelung getroffen. Der Segen des Russisch-Amerikanischen Krieges - und indirekt der Pax Atomica - war, dass die beiden Länder einander niemals direkt bekämpfen mussten; das wäre weder emotional produktiv noch finanziell klug gewesen.

  Es gab noch andere Nachrichten. England war in guter Verfassung; unter der Führung von König Charles - der sich gegenwärtig mit dem Einkauf von Rennpferden in Kentucky beschäftigte - und der Nationalen Front war die Arbeitslosigkeit auf achtzig Prozent gesunken. In Deutschland verkündete Kanzler Streicher einen politischen Richtungswechsel in der Frage der ansässigen Türken. Schwedische Zerstörer beschossen Oslo im Zuge der eskalierenden Streitigkeiten um Fischereirechte. Lucy, das letzte Rhinozeros, starb im Zoo von Cincinnati an Altersschwäche. Warum sie ihre Zeitung USA People nannten, blieb mir schleierhaft; es kamen kaum welche darin vor.

  Ein weiterer Herr wurde in das Büro eingelassen, ein beleibter alter Knabe mit säuberlich gebürstetem weißem Haar.

  »Hi, Lope«, sagte Avalon aufblickend.

  »Guten Morgen, meine Liebe«, sagte er. »Guten Morgen, Mr. O'Malley.«

  Ich nickte. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Avalon zu.

  »So gut siehst du heute Morgen aus«, sagte er zu ihr.

  »Neue Ausstattung?«

  »Es ist für die Konferenz«

  Er seufzte. »Sei vorsichtig, liebes Kind.« Die ersten drei Herren gingen wieder, und Lope betrat das Büro. Lope und seine zwei Brüder hatten schon vor langer Zeit angefangen, mit dem Alten Mann zu arbeiten, als sie noch in Kolumbien gelebt hatten. Sie halfen dem Alten Mann bei Aufbau und Sicherung seiner Handelswege nach dem Tod seiner ursprünglichen Partner. Im Laufe der Jahre war Lope den Drydens in jeder Weise sehr behilflich gewesen und so zu seinem eigenen Vermögen gekommen. Seine Brüder hatten sich nicht so tüchtig gezeigt, jedenfalls nicht übermäßig effizient, und hatten es nie so weit gebracht.

  »Willst du meine haben, Shameless?«

  »Gib her!«, sagte ich; wir tauschten die Zeitungen. Die Schlagzeile der Times lautete: MUTTER TÖTET UND ISST BABY; die Überreste waren auf Seite zwei abgebildet. Psychische Sex-Geheimnisse der Senatoren, lautete die zweite Überschrift. Die Lokalnachrichten enthielten nichts Neues. In den Türmen des Trade Centers waren zwei Bomben explodiert; die von Dryco benutzten Etagen hatten keinen Schaden davongetragen. Der Arm der Freiheitsstatue war abgesprengt worden; eine Aufnahme zeigte die Amputierte, die nun einer Ambient ähnelte. Der Dow Jones-Index war auf 5oo gefallen. Das Militär schätzte die Bevölkerungszahl von New York City - womit im Grunde die Insel Manhattan gemeint war - auf annähernd vier Millionen; nach der letzten Nationalen Volkszählung vor drei Jahren, die auch heute noch Gültigkeit besaß, betrug die Zahl 450.000. Der Harlem River stand in Flammen. Der Bauchaufschlitzer von Hackensack hatte seine eintausendste Gräueltat verübt. Ein krebskranker junger Bengali war von der First Lady mit der Präsidentenmaschine nach New York gebracht worden. Die Errungenschaften neuzeitlicher Medizin wurden rund um die Uhr eingesetzt, das Kind zu retten, das nach der Heilung in seine Heimat zurückgeflogen würde, um dort zu verhungern.

  Es gab auch Inlandsnachrichten. Videofilme, die in Washington vom FBI veröffentlicht werden sollten, zeigten den Präsidenten angeblich bei einer zweifelhaften, aber nicht näher spezifizierten Handlung; der Pressesekretär des Weißen Hauses erklärte dazu, dass der Präsident nicht mit Belanglosigkeiten behelligt werden könne, wenn die komplexe Vielfalt der äußeren Beziehungen seine volle Aufmerksamkeit verlange. SOWJETS SCHIESSEN AUF FREUNDLICHE WELTRAUMBESUCHER? wunderte sich ein Leitartikel. Und

E, den viele - unter ihnen auch der Alte Mann – den wahren König dieser Welt nennen, wurde Gerüchten zufolge in Cleveland gesichtet, wiederauferstanden, bleich aber standhaft. So sollte er unsicher die Euclid Avenue hinabgewandert sein. Seine Anhänger eilten nach Cleveland.

  Eine Gestalt, die ein großes Paket trug, näherte sich dem Warteraum von der öffentlichen Eingangshalle und drückte auf den Summer. Renaldo verständigte Mister Dryden.

  »Bekannt?«, fragte er.

  »Si«, sagte Mister Dryden. »Abiert, porfav. Momento.« 

  Renaldo öffnete die Tür von seinem Platz aus. Der Geschäftsführer der Buchhandlung lächelte, erschöpft unter dem Gewicht seiner Last. Ich stand auf und ging hinüber, um die Sendung anzunehmen. Avalon erhob sich gleichzeitig und rollte zum Informationsstand, wo sie nach anderem Lesestoff Ausschau hielt. Mister Dryden trat aus seinem Büro, gefolgt von Lupe.

  »Jetzt liefern oder nie«, sagte Mister Dryden. »Andere Arbeit wichtiger?«

  »Unsere Angestellten sind schrecklich langsam, Sir...«

  Ich streckte die Hände nach dem Paket aus, als ich die angerissene Ecke bemerkte. Ein blaues Kabelende sah hervor.

  »Deckung!«, schrie ich, stieß den Buchhändler in die Eingangshalle hinaus und warf das Paket hinterher.

  »Die Tür!«

  Renaldo drückte die Fernbedienung und verschwand hinter seinem Tresen. Mister Dryden und Lupe sprangen zurück und warfen sich hinter den Schreibtisch. Ich warf mich auf Avalon; sie umschlang mich mit den Beinen, als wollte sie meine untere Hälfte schützen. Ihre Dolchspitzen stachen mich; es machte mir nichts aus, da sie die Krylarweste, die ich unter meinem Hemd trug, nicht durchbohren würden. Der Sprengsatz detonierte, als die Metalltür sich schloss.

  Die Glaswand um die Tür hielt Dank dem eingegossenen Drahtgeflecht, aber der Luftdruck beulte sie einwärts; wie ein Spinnennetz durchzogen feine Sprünge das Glas. Aufblickend, sah ich draußen ein gähnendes Loch im Fußboden; die Wände der Eingangshalle qualmten und warfen Blasen. Renaldo öffnete die Tür und bekämpfte den entstehenden Brand mit einem Feuerlöscher.

  »War das der Kerl aus dem Buchladen?«, fragte Avalon und drückte mich an sich. Ich hatte kein Verlangen, aufzustehen und ihre Umklammerung mit dem Risiko einer weiteren Explosion zu vertauschen, aber ich wusste, dass mir nichts anderes übrig blieb,

  »Er war es«, sagte ich.

  »Verdammt«, sagte Mister Dryden. Er stand vorsichtig auf und spähte umher, als könne noch mehr nachkommen. »Gute Arbeit, OM. Hätten Sie nicht erkannt, wären wir hops gegangen«

  »Bloß, was zu erwarten war«, sagte ich. Diese kleineren Zwischenfälle ereigneten sich ungefähr einmal im Monat, und so war es immer gewesen. Man hätte denken können, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis sie uns erwischten, aber dieses Gefühl hatte ich nie - es war einfach Teil des Jobs. Nichtsdestoweniger ließ es uns alle, denke ich, ein wenig überempfindlich auf unsere Umgebung reagieren, und vielleicht erzeugte diese immerwährende Wachsamkeit und Anspannung eine Ungewissheit, auf die wir gern verzichtet hätten.

  »Sie bekommen eine Prämie, zum Wochenende. Lope, sind Sie intakt?«

  Lope erhob sich - vorsichtig - hinter dem Schreibtisch.

  »Ich glaube«, sagte er und zog sich an der Deckplatte hoch, als gelte es, sich auf einem Rettungsfloß zu bergen. »Wenn Sie jemanden am öffentlichen Aufzug postieren würden, um die Aussteigenden zu überprüfen, würde niemand so weit kommen.«

  »Festungsleben ist nichts für mich«, sagte Mister Dryden.

  »Wenn Sie es herausfordern, Thatch, werden Sie es kriegen. Bitte beherzigen Sie meinen Rat. In diesem Punkt, wenn schon in keinem anderen...«

  »Unnötig. Die Unwissenheit war auf seiner Seite, denke ich.« Er sah ärgerlich aus, und nicht weil er gerade einem Bombenanschlag entgangen war. »Avalon, du? Alles klar?«

  Avalon stand auf und nickte. »Shameless, sie sind verbogen«, sagte sie zu mir und wies auf die Dolchspitzen. »Sei so gut und richte sie wieder gerade.«

  »Also wer steckt dahinter?«, fragte Mister Dryden und blickte in die Eingangshalle hinaus. »Dreds?«

  »Zu weiß«, sagte ich. »Nicht die Gegend.« Ihre Dolchspitzen kratzten meine Finger, als ich sie geradebog.

  Avalon nahm die Schultern zurück und hob die Brüste, um mir die Arbeit zu erleichtern.

»Ein loco?«

  »Der

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jack Womack/Apex-Verlag. Published by arrangement with Ware Literary Agency, New York 10017, USA.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Christian Dörge (OT: Ambient).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 18.08.2017
ISBN: 978-3-7438-2884-1

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