Cover

Leseprobe

 

 

 

 

Alexander Besher

 

 

Virtual Tattoo

Zweiter Roman der RIM-Trilogie

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

VIRTUAL TATTOO 

 

Prolog 

ERSTER AKT 

Tattoo 

Monokel 

Der Graf 

Der Yaponchik 

Die Holorina 

Der Wolfshund 

Regine 

Mir 

Fabergé Surprise 

Trevor & Nelly 

Doswidanja 

Nelly & Trevor 

Regines Traum 

 

PAUSE 

Desir fou -  verrücktes Begehren! 

 

ZWEITER AKT 

Schlechter chai 

Im Brain Wash 

Alex Fortuna 

Hexagramm 

Große und Kleine Gefahr 

Büffelmagie 

Hakim 

Vom Licht geblendet 

Sindbad, das Tattoo 

Dreiecks-Blues 

Kugelfisch 

Animé 

Osmose 

Katzendreck-Kekse 

 

PAUSE 

Frank & Tara 

 

DRITTER AKT 

Burning Mind 

Anmut 

 

Epilog 

 

Das Buch

Das Jahr: 2036. Ein neuer Kalter Krieg ist ausgebrochen, allerdings tobt er dieses Mal im Internet. Die tückischste Waffe in diesem Krieg ist MIR 3.0 – ein intelligenter Virus, der aus Weltraumtiefen kommend die russische Raumstation MIR befiel und schließlich zur Erde gelangte. Die Online-Bewohner des Free Web sind in Gefahr, in einen geistigen Gulag zu geraten. Überträger sind virtuelle Tattoos, die von Hackern der Subkultur freigesetzt werden. Als Trevor Gobi feststellt, dass seine Freundin Nelly von einem solchen Tattoo befallen ist, beginnt eine dramatische Tour de Force durch das World Wide Web der Zukunft...

 

VIRTUAL TATTOO von Alexander Besher – die Fortsetzung von SATORI CITY 2.0 und zweiter Teil der RIM-Trilogie – ist ein spektakulärer Science-Fiction-Roman in der Tradition von Douglas Adams, William Gibson und Neal Stephenson.

"Hochoriginell, exzentrisch und brillant – ein einziges Vergnügen!" (Booklist) 

 

Der Autor

 

Alexander Besher, Jahrgang 1951.

Alexander Besher ist US-amerikanischer Schriftsteller, Journalist und Autor von Drehbüchern.

Geboren in China (als Sohn russischer Eltern) wuchs Besher in Japan auf, wo er zwanzig Jahre lang lebte. Er promovierte an der Canadian Academy-Highschool in Kobe sowie anschließend an der Sophia-University in Tokio.

Für den San Francisco Chronicle verfasste er sechs Jahre lang die Kolumne Pacific Rim, in welcher er Essays über technologische, kulturelle und marktwirtschaftliche Trends/Innovationen veröffentlichte; diese Essays erschienen im Jahre 1991 in zusammengefasster (Buch-)Form unter dem Titel The Pacific Rim Almanac. 

1994 veröffentliche Alexander Besher den - für den Philip K. Dick-Award nominierten - Roman Rim (dt. Satori City 2.0), einen komplexen Cyberpunk-Roman (und Auftakt der Rim-Trilogie), der im Japan der 2020er und 2030er Jahre spielt. Es folgten die Fortsetzungen Mir (dt. Virtual Tattoo, 1998) und Chi (dt. Cyber Blues, 1999). 

Seit 2002 veröffentlichte er mehrere Kabbalah-Noir-Erzählungen, darunter der Roman/das Drehbuch The Clinging und die Semi-Sequels The Night Of The Golem und The Unchosen. 

Im Apex-Verlag erscheinen die Romane der Rim-Trilogie als sowie Beshers neuester Roman The Manga Man als E-Books. 

 

Alexander Besher lebt und arbeitet in San Francisco, Californien, USA.

 

 

 

Für Shurinka

dafür, dass sie mir das Tor nach Russland 

öffnete - und für mehr.

 

Für Françoise

dafür, dass sie stets zur Stelle war. 

 

Für Pam

Danke für all die intelligenten

Tattoos und Piercings.

 

Für Nicky

dafür, dass sie an der Reise des 

Schriftstellers teilnahm.

 

Für Mama, Papa und die Family Everywhere,

im Gedenken an David Kidd –

und für Morimoto und alle Streuner auf der Welt...

 

Mir.

  

 

 

 

 

 

 

 

 

  

 

Danksagung

  Ich möchte gern Pamela Engebretson meinen aufrichtigen Dank für ihre Unterstützung und die Lyrics des Songs »Katzendreck-Kekse« sowie die Pathologie des Aryudashigda-B9-Virus aussprechen, desgleichen Manabu Ishikawa für das Heraufbeschwören des Tiers, François Bollerot für geduldiges Redigieren und hilfreiche Vorschläge und Alexandra Moari für all die russischen Geschichten und Anekdote? und insgesamt für ihren unersetzlichen Beitrag. Darüber hinaus möchte ich noch Geoff Leach, Serafina Clarke, Tim Holman, Sky Nonhoff, Joachim Burger und all den andern danken, die mir bei der Niederschrift des Romans beigestanden und mich ermutigt haben. Vielen Dank auch an Bob Mecoy, meinen Lektor bei Simon & Schuster, für sein Vertrauen in die Rim-Serie.

  Und vielen Dank dir, Dostojewski, und all den anderen gepeinigten russischen Schriftstellern, dass ihr mir den Weg geebnet habt.

VIRTUAL TATTOO

 

 

EXTROPISCHE KONGRESSBIBLIOTHEK: AKTE 10819 II GOBI-ARCHIVE; GOBI, TREVOR, GEBOREN AM 26. APRIL 2013 II SOHN VON GOBI, FRANK UND FREDERICK, MELISSA 11 AUS DEN GESAMMELTEN E-MAILS (»ALAYA-BRIEFE«), 2036-2048 // THEMA: »ERINNERUNGEN, MIR/ARYUDASHIGDA-B9-VIRUS (AYDDA B9)«.

 

Liebste Nelly,  

ich dachte mir; dass der Artikel von Sergej und Wladimir Kaminsky, in dem sie ausführlich die Pathologie des »Aryudashigda B9«-Virus beschreiben, Dich vielleicht interessieren könnte und Du ihn gern lesen möchtest. Ich habe ihn Dir zu Deinem Vergnügen beigelegt. [Anmerkung des Herausgebers: siehe Anhang AI Er ist gerade in der neuesten Ausgabe ihrer Enzyklopädie der Psychosynkretistischen Virologie erschienen. Ach, diese Russen! 

  Kannst Du Dir vorstellen, dass sie ihn als »Psyloviridae« klassifiziert haben - als psychologischen Virus, der auf psychoenergetische Weise übertragen wird? Nach all den Jahren haben sie ihm endlich einen wissenschaftlichen Namen gegeben. Da ist mir die alte Bezeichnung, die wir für ihn hatten, fast lieber: »Liebe«. 

  Natürlich gibt es alle möglichen Arten von Liebe - das ist ein weites Feld. Und es entwickelt sich ständig weiter; nicht wahr? Genau wie wir selbst. Die reinste Science Fiction des Herzens!

  Es kommt mir wie Ironie des Schicksals vor; dass wir jetzt gezwungen sind, alles aus einem viel weniger anthropozentrischen Blickwinkel zu betrachten - all unsere Gefühle, das Drama des Menschen, der ganze kosmische Kram. Wir sind nun offiziell eine »Illusion«. Wer hätte gedacht, dass wir Teil einer virtuellen Welt sind, die anderenorts von einer anderen Spezies generiert wird? Wir sind ihre VR... 

Das Leben - und die Liebe - gehen weiter, durch alle Verwandlungen hindurch, welche das auch immer sein mögen wohin auch immer sie uns bringen mögen.  

 

Mit vielen kosmischen Umarmungen & Küssen & stets in Liebe,  Dein Trevor. 

Big Sur - San Francisco, 22. Dezember 2046.

  Prolog

 

 

AIEF-Büro (SF)

Büro für Avatar-Immigration

& Einbürgerungsfragen

San Francisco, 26. April 2036 

23:42GMT

 

»Tut sich heute Nacht da draußen was, Burt?«, fragte die junge Rothaarige ihren Kollegen, als sie das Büro betrat. Sie ließ lässig ihre Tasche auf den Schreibtisch fallen und schüttelte sich die Feuchtigkeit aus dem Haar. Es war ein typischer San-Francisco-Abend. Der Nebel war so dicht wie die Wimperntusche beim Black & White-Ball der Avatare.

Burt war ein kräftiger Dispatcher Anfang Zwanzig. Er arbeitete schon für das AIEF, seit er an der Cal Neuro in Pasadena seinen Abschluss gemacht hatte. »Nö, nich' viel«, erwiderte er und biss von dem Take-away-Burrito ab, den er gerade aß. »Die üblichen Blips im TijuanaNet... und der übliche Haufen Russen, der uns von Kremlinsoft aus um politisches Asyl anfleht.« Er wandte sich im Sessel halb um und winkte ihr mit der freien Hand zu.

»Hi, Alex, wie geht's denn so?«

»Ich klinke mich ein.« Sie warf einen Blick auf den Beobachtungsmonitor. »Wer ist da draußen in Vektor 6? Lena? Das ist doch meine Patrouille. Sollte sie nicht längst zurück sein? Sie ist spät dran.«

»Lena trödelt ständig herum.« Burt zuckte mit den Achseln. »Du kennst sie doch, einem Schnäppchen konnte sie noch nie widerstehen. Sie hat diese Sammlung digitaler Bonsai-Bootlegs und alter Anzeigen für Calvin-Klein-Unterwäsche. Ihre Vorliebe für Kitsch ist unersättlich.«

Burt zog eine Grimasse, als er das Flussdiagramm für die Belegschaftskontrolle auf dem Monitor musterte. Der optische Scan zeigte das Gittermuster einer Anzahl Lagerhausreihen und eines Teils des Digibank-Komplexes, in dem unablässig die eingebürgerten Avatarn-Identitäten verarbeitet wurden. Er schnippte gegen den Bildschirm, doch nichts tat sich.

»Du kannst jetzt wieder heimkommen, Lena«, sagte er ins Mikro. »Die Friedhofsschicht ist eingetroffen. Lena? Hörst du mich? Melde dich, Baby.«

Alex warf einen flüchtigen Blick auf Burt, der vor seinem Schirm kauerte. Seltsam, wie diesen Spinnern immer die Hose über den Hintern rutschte. Es war fast so etwas ein Sinnbild ihres Glaubens. Nicht, dass es sie störte, doch offenbar bildeten sie sich auf ihr verwahrlostes Äußeres sogar noch etwas ein.

Sie runzelte die Stirn, als sie Berichte las, die mit von Langley ausgesuchten allgemeinen Infotexten aus dem Hauptquartier in Washington, D.C., hereingekommen waren.

»Sie treiben im ReichNetz wieder jüdische Avatare zusammen und stecken sie zur Umerziehung nach nationalistischen Idealen in Konzentrationslager. Klingt das nicht alles schrecklich vertraut?«

»Ich schätze, die Geschichte klont sich selber... Aber hast du schon gehört, was ihr Propamedienminister Josef Großmeister jetzt behauptet? Dass das nicht schlimmer sei als die Art und Weise, wie wir mit unseren Ausländerproblemen umgingen - unseren eigenen Zigeunern südlich der Grenze...«

»Ja, aber wenigstens rufen wir nicht das Neue Volkstum aus - die Herrenrasse der Avatare... das ist doch echt krank.«

Burt schaute sie voller Mitgefühl an. Alex war Jüdin. »Ja, das ist wirklich krank... Scheiße, Alex!«, rief er, als der Bildschirm wie wild zu flackern und zu flirren anfing. »Ich glaub's nicht...! Das ist Kode 1! Roter Alarm! Was zum Teufel geht hier vor?«

»Officer Lyubowitsch.« Burt schaltete den alternativen optischen Kanal ein. »Geben Sie Meldung über ihren derzeitigen Status...« Hektisch hantierte er am AV-Comp herum. »Lena, um Himmels willen! Wenn du in Schwierigkeiten steckst, sieh zu, dass du dich sofort absetzt!«

Burt warf Alex einen todernsten Blick zu. Sein Gesicht war so weiß wie die Maischips, die auf seiner Papierablage verstreut waren. »Wenn sie nicht bald da raus kommt, driftet sie uns noch weg. Schau, ihre Gehirnwellen spielen schon verrückt. Verdammt! Hol sie besser zurück, Alex!«

Alex war schon zur Eincheckkammer unterwegs.

 

Sie betrat die Kammer und machte rasch Officer Lyubowitschs Treckkapsel ausfindig. Lena war eine schlanke Brünette Mitte Zwanzig, stets voller Pep und Elan. Sie trug noch ihre Straßenkleidung, einen blauen Kaschmirsweater und Jeans. Ihre Schuhe standen ordentlich nebeneinander auf dem Boden.

Doch Alex entging nicht, dass die Frau an heftigen Krämpfen litt. Ihre Troden lösten sich, ihre Haut war blassgelb und das weiche braune Haar klebte nass an ihrem Kopf. Sie biss vor Schmerzen die Zähne zusammen.

Alex starrte auf den Monitor für die VR-Lebenserhaltung. Lenas Werte waren in hellem Aufruhr, und mehrere spitze Ausschläge ließen darauf schließen, dass ein Synapsenversagen kurz bevorstand. Während Alex hilflos hinsah, blähten sich Lenas Nasenflügel, und zwei rote Blutstrahlen schossen hervor.

»Ich geh rein, Burt!«, rief sie dem Dispatcher draußen zu. Alex rannte zu ihrem Spind, der sich in einer Ecke des großen, mit Halogenlampen beleuchteten Raums gleich neben dem von Lena befand. Sie zerrte ihren gewohnten Trodenanzug heraus und stieg hinein, dann zog sie den Reißverschluss bis zum Hals zu. Sie schnappte sich den Omnivisor vom Haken und beeilte sich, in den Bänken der AIEF-Stationen eine leere Rutsche zu finden.

Die Hälfte war heute Abend schon besetzt - Alfonso tourte in der Karibik, Patrice im Free French Canada, Hanako im Ostasiennetz, und Emily überwachte den Neutral Omnispace. Sie alle taten ihren Job, ohne sich der Notlage ihrer Nachbarin in Kapsel 8 bewusst zu sein.

Alex ließ sich in Kapsel 7 gleiten und klappte die Rutsche über ihr zu. »Countdown 10, 9, 8...« Sie bewegte sich automatisch. Sie hatte den Durchgang schon tausendmal in ihrer Laufbahn vorgenommen, und immer war es Routine gewesen. Doch diesmal war es anders. »Halt durch, Lena!«, rief sie durch das Glas ihrer stumpf dreinblickenden Nachbarin in der nächsten Kapsel zu. »Ich bin gleich bei dir... 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1, 0...«

 

»Burt, bring mich zu den genauen Koordinaten«, setzte sie sich mit dem Dispatch-Jockey in Verbindung.

»Roger, gebongt, du bist schon so gut wie da...«, hörte sie die Antwort wie aus einer Million Lichtjahre Entfernung. Eine Sekunde später stürzte sie durch die Spiegelmatrix und erhob sich wieder, passte sich an den Boden von Vektor 6 an.

Der erste Schritt war immer etwas wackelig, doch Alex hatte damit Erfahrung. Sie befand sich in einem dunklen Lagerhaus von Digibank 22 in Vektor 6. Hier wurden die registrierten Identitäten der legalen Avas aufbewahrt, jener, die vom Büro für Immigration und Einbürgerung gutgeheißen und registriert worden waren. Etwas war entschieden nicht in Ordnung. Normalerweise war es hier grabesstill, obwohl diese Räume millionenfaches Leben im Nanokosmos beherbergten - die Quellkodes der ausländischen Avatare, denen es erlaubt war, im amerikanischen Omnispace zu arbeiten, zu reisen und zu wohnen.

Ein Zischen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das gegenüberliegende Ende des Lagerhauses.

»Lena?«, rief Alex vorsichtig und leuchtete mit dem Handstrahler in Richtung des Geräuschs.

»Alex, bist du okay? Was ist los? Hast du Lena gefunden? Beeil dich, sie driftet ab...«

Abdrift war das erste Stadium des virtuellen Absturzes, bei dem das 3D-Holoskelett sich an den Verbindungsstellen zusammenzuziehen begann, bis die Abbild-Entität in ihre eigene Bauchhöhle kollabierte. Was folgte, war so schrecklich, dass man lieber nicht daran dachte - mentale Spaltung, die einen in die Echtwelt zurückverfolgte. Vor ihr gab es kein Entrinnen. In der Fleischdimension nannte man das »Tod«.

»Bleib dran -« Sie bog um die Ecke des Metroarchivs und erstarrte für einen Moment. Unwillkürlich fuhr ihre Hand zur Ava-Schutzvorrichtung, die an ihrem Gürtel festgeklemmt war. Wenn sie welche zerstrahlen musste, würde sie es tun. Doch sie zögerte, weil sie fürchtete, stattdessen vielleicht Lena zu treffen.

»Alex - was ist los!? Wie ich sehe, bist du direkt vor Ort. Was geht da vor, um Himmels willen-« Burts Stimme drang wie von weither an ihre Ohren.

Sie krochen überall auf Lenas Avatar herum wie eine giftige Woge gefräßiger Tausendfüßler, verschwanden in sämtlichen Körperöffnungen. Einer krabbelte aus ihrem offenen Mund heraus, ein anderer duckte sich unter eines ihrer Augenlider.

Alex stürmte vor, feuerte dabei in alle Richtungen und bemühte sich, auch nur eine flüchtige Berührung mit Lenas Holokörper zu vermeiden. Es waren Tausende! Sie flitzten unter den Regalen dahin, huschten in Spalten, verschwanden in Sekundenbruchteilen. Wovon ernährten sie sich hier? Sie erschauderte, als sie die ausgetrockneten Biofraktale sah, die neben einem Regal mit Akten auf dem Boden verstreut lagen. Lena musste sie dabei überrascht haben, wie sie über die Quellidentitäten der Avas mit Aufenthaltsgenehmigung herfielen...

Alex kniete neben ihrer Freundin nieder und drehte sie herum.

Sie fühlte ihren virtuellen Puls.

Negativ.

Lenas Augen waren als Projektion ebenso stumpf, wie sie es daheim in der Basis in der Kapsel der Eincheckkammer gewesen waren.

»Scheiße!« Alex schrie auf, als einer der Tausendfüßler über ihr Handgelenk huschte. Sie wischte ihn mit dem Griff des Strahlers herunter. Doch er hinterließ trotzdem eine Spur, wie ein zartes Font auf ihrer Haut. Nun richtete Alex das Licht geradewegs auf Lenas Gesicht und versuchte zu begreifen, was es mit dem Mal auf sich hatte, das sich vor ihren Augen spiralig zu einem purpurnen Spinnwebmuster entfaltete. Alex hatte so etwas schon gesehen - sie blinzelte, als sie sich erinnerte. Sie hatte es in einem der Tattoopaläste der Haight Street in einem Musterbuch gesehen. Es war das »Rad des Lebens«, ein tibetisches Muster, bei dem das Innere nach außen gekehrt war.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  ERSTER AKT

 

 

 

»Ein Revolutionär ist ein dem Untergang geweihter Mensch.«

 

  • Bakunin

 

 

 

 

  Tattoo

 

 

Cagnes-sur-Mer,

französische Riviera,

13. Juli 2036

 

 

»Ich wünschte, ich hätte mich nie tätowieren lassen«, sagte der rothaarige junge Mann mit den Sommersprossen mürrisch zu seinem Begleiter.

Er trug einen knappen blauen Badeanzug und ein »Bakunin«-T-Shirt mit einem Slogan in russischen kyrillischen Buchstaben, der lautete: EINE SALVE FÜR DEN TOTEN RUSSISCHEN ANARCHO IN UNS ALLEN. Er war redaktioneller Mitarbeiter des samizdat und auf unbegrenztem Urlaub von der Heimat, in der er auf der kurzen Liste gewalttätiger Revolutionäre stand, die von der Geheimpolizei des Zaren gesucht wurden.

»Tja nun, da kann man wohl nichts mehr dran ändern, Alyoscha«, erwiderte der Begleiter des jungen Mannes, der Boris hieß. Er hatte einen dunklen Teint und trug einen georgischen Bart, der ihm wie ein umgedrehter Kandelaber von der Unterlippe hing. »Was geschehen ist, ist nun mal geschehen.«

Sie saßen gemeinsam am Strand dieses kleinen französischen Küstenorts zwischen Nizza und Cannes und schauten auf das flache blaue Mittelmeer hinaus. Nicht eine Welle weit und breit. Kein Wölkchen am spiegelglatten blauen Himmel. Die galets am Strand versengten ihm den Hintern, und immer wieder setzte er sich auf und streckte unbehaglich die Glieder aus. Er schnippte die Asche seiner Gauloise in Richtung einer einbeinigen Seemöwe, die auf ihrem verkrüppelten Stängel zwischen den Steinen umherhüpfte.

Alyoscha brütete vor sich hin, fühlte sich diesem traurigen Vogel seelenverwandt.

 

Ein Franzosenjunge von etwa acht Jahren schlich sich mit einer Wurfschleuder an den Vogel heran. Seine Eltern strahlten ihn von ihren klappbaren Strandstühlen aus an und hießen das offenbar gut. Ein Radio spielte nordafrikanische Popmusik der heißesten Band des Sommers, der Nasty Chiracs. Überall um sie herum lagen Körper, Körper und nochmals Körper, darunter die übliche Sommerernte barbusiger Frauen, jung, alt und irgendwo dazwischen, die an Wasserflaschen nippten und sich ihr bronzefarbenes Fleisch mit Evian-Dunst einsprühten.

Weit entfernt auf der anderen Seite der Bucht konnten die beiden Russen, die sanft und leise miteinander sprachen, die eleganten weißen Yachten der Superreichen sehen, die in Antibes vor Anker lagen, farbenprächtig mit französischen Flaggen geschmückt. Es war später Nachmittag am Jahrestag des Sturms auf die Bastille, kurz vor sechs Uhr, und noch immer brannte die Sonne herab, ohne dass auch nur eine leichte Brise Linderung von der Hitze gebracht hätte.

Schon begann auf der Stadtpromenade das Feuerwerk. Plopp! Plopp! Plopp! Eine Anzahl Chinakracher gab Geräusche von sich wie knackende Fingerknöchel.

Sie hörten das Swuuusch einer schlecht gezielten Rakete, die jemand dicht über ihren Köpfen abgefeuert hatte, und beide duckten sich instinktiv. Boris warf sich auf die heißen Steine, sehr zur Erheiterung der Eltern des Achtjährigen. Der Junge hörte auf, seine Schleuder zu schwingen, weil die Seemöwe jetzt davongeflogen war.

Er deutete auf die beiden Männer. »Schau, maman, der Fremde gräbt mit seiner großen Nase den Strand um!«

Der Junge riss erstaunt den Mund auf, als er sah, dass der Rothaarige etwas, das einer Waffe ähnelte, aus dem Rucksack zog. Ihre Blicke trafen sich. Der Junge schrumpfte unter dem kalten Starren des Russen, als bedrohe ihn ein gefährliches Spielzeug.

Die Waffe verschwand ebenso rasch wieder im Rucksack des Mannes, wie sie  auf getaucht war.

Der Franzosenjunge blinzelte, dann platzte es aus ihm heraus: »Papa, der Mann hat eine Waffe!«

»Schluss jetzt mit deinen Possen, Marcel!« Sein Vater, ein großgewachsener, schlaksiger Buchhalter aus Paris, der mit seiner Familie hier Urlaub machte, gab dem Kind einen Klaps an den Hinterkopf. Seine Nase und seine Schultern waren rot, alles Übrige an ihm war teigig weiß. Sie waren erst heute Morgen angekommen.

»Also wirklich, wie konntest du nur den Vogel verfehlen, als du die Chance hattest! Geschieht dir ganz Recht!« Der Vater drohte dem Kind mit dem Finger und zog es wieder mit sich zu ihrer Stelle am Strand. Als er an Alyoscha vorbeikam, warf der Franzose ihm einen argwöhnischen und verächtlichen Blick zu.

»Diese verdammten Russen glauben, ihnen gehört jetzt der ganze Süden Frankreichs, nur weil sie mit ihrem Mafiya-Geld alles aufkaufen...«, hörten sie ihn hasserfüllt zu seiner Frau sagen.

»Gehen wir, Boris«, sagte Alyoscha und sprang auf. »Es wird sowieso Zeit.«

 

»Scheiße, ich dachte schon, du fängst zu ballern an. Deine Nerven, Alyoscha! Halt dich besser im Zaum. Dreh jetzt bloß nicht durch.«

»Du hast leicht reden«, murmelte Alyoscha, als sie sich einen Weg zwischen den ausgestreckt daliegenden Körpern hindurchbahnten.

»Hör mal, Alyoscha.« Kaum hatten sie die Treppe erreicht, die zur Straße hinaufführte, schob sein bärtiger Begleiter sein dunkelhäutiges Gesicht dicht an seines. Er packte ihn am T-Shirt. »Bau jetzt keinen Scheiß. Du weißt doch, was passiert, wenn du Scheiße baust, oder? Eine Menge Leute zählen auf dich. Kapiert?«

»Spokoyna, beruhig dich!« Alyoscha stieß seinen Freund zur Seite. »Ich bau' schon keinen Scheiß. Wenn hier jemand Scheiße baut, bist du das.«

»Durak, du Idiot!«, fuhr sein Kumpel ihn an. »Dieses Tattoo,  das du dir hast machen lassen, war nicht gerade ein Geniestreich. Wenn die französische Polizei es nicht schon getan hat - sie laden täglich alle Tattoos runter, die übertragen werden, alle vierundzwanzig Stunden, Alyoscha -, dann scannt die Azef es wohl gerade«, er spie den Namen der verhassten russischen Geheimpolizei regelrecht aus, »und vergleicht es mit den Dossiers aller russischen Subversiven, von denen bekannt ist, dass sie sich im Ausland aufhalten. Scheißfaschisten! Zum Teufel mit denen und dem Zar! Und zum Teufel mit dir, weil du in deiner Blödheit unsere Sicherheit aufs Spiel gesetzt hast.«

»Wie hätte ich das wissen sollen?« sagte Alyoscha, und ein Anflug von Panik klang in seiner Stimme mit, während er sich den Unterarm an der Stelle rieb, an der er sich vorige Nacht in der Altstadt von Nizza hatte tätowieren lassen.

»Wo ist es hin!?« Boris fluchte, als sie beide auf die leere Stelle an seinem Arm starrten. »Verdammt, dreh dich um!« Er zerrte seinem Kumpel hinten das T-Shirt hoch. »Da, es kriecht auf deinem Rücken herum.«

»Ehrlich, wie hätte ich das wissen sollen?« wiederholte Alyoscha und spähte über seine Schulter auf das spinnenartige Tattoo, das gerade unter seine Achsel huschte, um sich dort zu verstecken. Es war ein intelligentes Tattoo, ein neumodisches Ding, dem der persönliche Avatar-Kode seines Besitzers eingeprägt war. Im Grunde funktionierte es genauso wie diese schwammartigen Spielzeugtiere, die sich beim Baden zu voller Größe entfalteten. Doch seine intelligente Programmierung erlaubte es ihm, den Körper zu verlassen und online zu gehen, wobei ihm die vollen Avatar-Funktionen seines Herrn zur Verfügung standen. Man konnte Dateien in das Tattoo laden und ihnen dann im Netz freien Lauf lassen. Jedenfalls sollte es so funktionieren. Epidermis-Programmierung war noch ein brandneuer Bereich. Der Programmentwickler dieser speziellen Richtung neuartiger Tattoos war in den Untergrund gegangen, als sich die Klagen wegen Pfuscherei zu häufen begannen. Er war nicht mehr aufzutreiben, weil er seine Spuren verwischt hatte.

»Warum, um Himmels willen, hast du dich nur in der Nacht vor dem Unternehmen tätowieren lassen?«, sagte Boris und schüttelte fassungslos den Kopf.

»Und wo hast du gesteckt? Andenken eingekauft?«, entgegnete Alyoscha mürrisch. »Hast du etwa diese handgeschnitzte marokkanische Garrotte gefunden, nach der du gesucht hast? Du großer Kunstsammler, du! Außerdem ist das Ding verschlüsselt, jedenfalls hat der Typ das gesagt. Es ist sicher. Keiner wird die Fährte aufnehmen können.«

Boris blickte finster drein. »Zunächst einmal ist es gegen das Gesetz, Tattoos zu verschlüsseln. Sie müssen registriert werden. Zweitens macht es sehr viel mehr Arbeit, Tattoos wirklich zu verschlüsseln, deshalb kosten die auch mehr. Du warst dem Typ scheißegal - er wollte nur an dein Geld. Wenn es verschlüsselt wäre, dann würde es jetzt ruhen und wäre nicht lebendig und würde überall auf deinem Körper herumwuseln. Dein Tattoo ist aktiv. Aktiv. Begreifst du das denn nicht, Alyoscha? Du hältst dich immer für so verdammt clever! Wenn das hier vorbei ist, dann gehen du und ich getrennte Wege. Tut mir leid.«

Alyoscha starrte Boris an. »Soll mir Recht sein.«

»Los, heb' deinen Arm«, befahl Boris. »Werfen wir noch einen Blick darauf. Was hat es jetzt vor?«

Alyoscha hob gehorsam den Arm. Da saß es, verbarg sich wie eine in die Enge getriebene Schabe im Dickicht des krausen Achselhaars, und die Biofühler reagierten auf ihre prüfenden Blicke mit einem leichten Erbeben der Sensoren.

Boris' Gesicht lief rot an, und abermals ging er in die Luft. »Mein Gott, bist du total verblödet oder was? Wie konntest du dir nur dieses Muster aussuchen?!«

»Das kapiert doch keiner.« Alyoscha bleckte die Zähne. »Nicht mal Trotzki würde es kapieren, wenn er noch am Leben wäre. Schließlich is' das bloß 'ne Abkürzung. Sie könnte für alles Mögliche stehen. Für die Anfangsbuchstaben von Freundinnen. Komm schon, was stimmt daran nicht? M für Marie, M für Margot, M für Michelle... es muss keine besondere Bedeutung haben!«, betonte Alyoscha. Er klang längst nicht so selbstbewusst, wie er sich den Anschein gab.

Das verdammte Tattoo war eine Abkürzung für einen der Slogans ihrer revolutionären Terrorgruppe.

MMM. Das stand für »Meuchelt die Massenmedien«.

Beide Männer blinzelten zur gleichen Zeit. Das Tattoo nahm jetzt Reißaus, dann legte es sich über Alyoschas Herz auf den Rücken, so dass es eine interessante neue Stellung einnahm, die eine weitere geheime Bedeutung ihrer Organisation preisgab.

Da, es war unmissverständlich... WWW. Das umgedrehte Zeichen des Antichristen der Matrix - die 666 des World Wide Web.

Der Glockenturm auf der Promenade von Cagnes-sur-Mer begann sein volltönendes Sechs-Uhr-Geläut.

»Ich muss gehen. Ich will nicht zu spät kommen. Wir treffen uns um Punkt halb sieben an der Ecke Rue Le Pen. Sei da«, sagte Alyoscha gebieterisch, während er eine Windjacke über sein Bakunin-T-Shirt streifte. Er wollte seine Erniedrigung wettmachen, indem er im Brustton der Überzeugung sprach.

»Klar«, sagte Boris. »Besorg' nur das Scheißding, damit wir uns hier vom Acker machen können.«

»Keine Sorge, das werde ich«, entgegnete Alyoscha und machte sich in Richtung Stadt auf den Weg.

»- und sei vorsichtig«, rief Boris hinter ihm her, doch Alyoscha drehte sich nicht mehr um. Er war schon in der Flut der Feiernden verschwunden, die sich auf den Tag der Bastille vorbereiteten. Auf den Straßen wimmelte es heute Nacht von ihnen, von glücklichen Urlaubergesichtern, die entschlossen waren, den französischen Nationalfeiertag zu genießen. Wenn sie wüssten, was für einen Feuerzauber es heute Nacht noch geben wird, dachte Boris. Dann wären sie vielleicht nicht mehr so glücklich.

 

 

 

 

 

  

  Monokel

 

 

Alyoscha verdrängte seinen Streit mit Boris rasch, als er anonym mit der wogenden Menge auf dem Markt verschmolz. Der Trubel auf dem Platz hatte eine eigenartig beruhigende Wirkung auf ihn.

Er ging zügig am geschäftigen Treiben der Läden vorbei, an den überquellenden Cafés, den Restaurants mit Außenbestuhlung und den farbenprächtigen Blumenständen mit ihren rubenshaften Buketts roter Rosen und mediterraner Pflanzen. Der warme süße Duft wohlriechender Lilien, Orangenblüten, Veilchen, Mimosen und von Jasmin wehte im goldenen Sonnenschein zu ihm heran.

Aromatherapie für Terroristen? Alyoscha lächelte bei dem Gedanken und fühlte sich wieder glücklich und frei wie ein Kind, dessen Eltern gesagt hatten, es sei schon in Ordnung, wenn er sich jetzt aufmache und die Fenster des Nachbarn einschlage. Wie dieses Kind, das am Strand die Seemöwe hatte steinigen wollen. Ein richtiger kleiner Bastard. Vielleicht würde er eines Tages als Erwachsener einem irren französischen Politiker Bomben aufs Dach werfen. Also, wer war hier der wahre Terrorist? Papa, Mama, Babuschka, Deduschka? Wie weit zurück reichte die Genealogie des Terrorismus? Bis zu Adam und Eva? Man brauchte sich nur einmal anzusehen, was sie im Garten Eden getan hatten - mehr Macht den ersten Menschen!

Im Grunde unseres Herzens sind wir doch alle Terroristen, dachte er. Aber nur wenige von uns haben das Format, echte Revolutionäre zu werden. Das war der eigentliche Unterschied. Er fühlte sich wieder ausgeglichen und zuversichtlich angesichts der bevorstehenden Tat.

Er lächelte den hübschen Mädchen zu, die Obst, Melonen, Datteln, Feigen, Oliven, haufenweise Pistazien und zu Pyramiden aufgestapelte Süßigkeiten und Gebäck verkauften. Mit ihrer olivfarbenen Haut, den dunklen italienischen Gesichtszügen, den langen braungebrannten Beinen und kleinen goldenen Kruzifixen, die sie zwischen den runden Hügelkuppen ihrer Brüste trugen, waren sie der Inbegriff mediterraner Schönheit.

»Eh, bien, m'sieur!«, bot eine von ihnen ihm lächelnd eine saftige Pfirsichhälfte an.

»Non, merci!«, antwortete er.

Seht, er konnte der Versuchung widerstehen. Ein weiterer positiver Zug an ihm.

Alyoscha ging an den Ständen mit glitzernden Fischen vorbei, die auf ihrem Bett aus gehacktem Eis ruhten, Seebarsch, Dorsch, Roter Knurrhahn, rascasse mit seinen dornigen Flossen, sogar Meersäue mit ihren stacheligen Schnauzen und giftigen Rückenflossen, Krebse, Langusten und ein Kindergarten aus kleinen Babytintenfischen, die hilflos ineinander verschlungen dalagen.

  Das Leben ist eine Bouillabaisse, dachte er düster. Ein Eintopf aus allem, was es fertig brachte, sich in seinem Netz fangen zu lassen. Man gebe ein wenig Olivenöl, Mayonnaise und geriebenen Knoblauch hinzu und esse es auf. Besser noch, man schlinge es hinunter... 

Mein eigenes Leben, sinnierte er, ist eher eine Art Borschtsch. Eine Frage des Geschmacks, nehme ich an. Mit reichlich Sahne, Kohl und Fleisch, das am Boden treibt, den meisten Einheimischen widerwärtig, die es vorziehen, ihren Kannibalismus mit mehr Kultur anzureichern. 

Plötzlich nahm Alyoscha den schwachen Duft von Gewürzen wahr, von Pfeffer, Safran, Thymian, Lorbeerblättern, Salbei, Fenchel und Orangenschalen. Seine Nase kribbelte, und er merkte, dass er gleich niesen musste. Doch ehe es dazu kam, fing er einen stechenderen Geruch auf, der von einem Tisch mit französischem Käse herbeiwehte.

Puuh! Er schniefte. Kein Wunder, dass Picasso seine Gesichter mit mehr als einer Nase malte! Um in dieser Umgebung atmen zu können, muss man ja praktisch Kubist sein! Das war etwas, woran er sich nie richtig gewöhnen konnte, diese stinkenden fromages, die wie alte Socken mit schlechtem Gewissen rochen...

Die Franzosen verstanden sich darauf, einen durch die Sinne anzugreifen, eine viel bessere Verteidigung als die Neue Maginotlinie, die virtuelle Front, die sie als Wall gegen das Eindringen des ReichNetzes entlang der französisch-belgischen Grenze errichtet hatten.

Alyoscha eilte an dem Käse vorbei und hielt sich dabei die Nase zu. Er betrat eine Seitenstraße mit Kopfsteinpflaster. Hier hatten die Häuser rosa und ockerfarbene Mauern, überhängende rote Ziegeldächer und mit Glyzinen und Kletterpflanzen bewachsene Balkone. Wäsche in allen Farben hing draußen zum Trocknen. Aus dem Kopf eines Steinlöwen ergoss sich ein dünnes Rinnsal Wasser in ein verwittertes Becken. In einem zurückgesetzt liegenden Hof, den Platanen vor der Sonne schützten, spielten Jung und Alt gleichermaßen boules, nahmen Eisenkugeln zur Hand und warfen sie. Pock! 

Sein Schritt verlangsamte sich, als er sich dem Bistro du Chat Noir am anderen Ende der Straße näherte. Ganz ruhig. Vergewissere dich erst, ob die Luft hüben wie drüben rein ist.

Er zündete sich eine Gauloise an, indem er die Hände um die Flamme wölbte, und nahm mit schmalen Augen die Situation in sich auf. Kellner trugen Tabletts mit Aperitifs und stellten sie auf Tischen ab. Er hörte perlendes Gelächter. Leute bissen von Pizzastücken ab, tranken Rotwein, aßen Ravioli, tunkten ihr Brot in Schälchen mit pürierten Anchovis und schwarzen Oliven.

Alyoscha stand einige Minuten lang einfach nur da, um sicherzugehen. Er sah eine neapolitanisch wirkende Kellnerin aus der Küche kommen, die ihre breiten Hüften schwang; auf der linken Gesäßhälfte ihres engen schwarzen Kleids zeichnete sich der Mehlabdruck einer Hand ab.

Sie kehrte in die Küche zurück und kam wieder heraus. Jetzt waren es zwei Abdrücke. Vive le chef.

Nu dawai, dachte Alyoscha. Auf denn. Ziehen wir's durch. Er warf die Zigarette in den Rinnstein und spürte das beruhigende Gewicht seiner Pistole in seinem Rucksack, als er zu dem Bistro hinüberging.

Er setzte sich an einen Tisch neben einen kahlköpfigen Russen, der ein Exemplar der gestrigen Ausgabe von Le Figaro las. Der Mann trug ein kurzärmliges weißes Hemd, eine graue Hose und altmodische Ledersandalen mit Socken, als stelle er sich so die Kleidung des Proletariats vor.

Ein Jammer, dass sein Monokel ihn verrät. Scheißaristokrat.

Nach einer Weile faltete der Mann die Zeitung auf dem Schoß zusammen. »Sieht so aus, als gewinnt Olympique de Marseilles die Meisterschaft.«

»Tut mir leid, Fußball interessiert mich nicht.«

 »Machen Sie hier Urlaub?« Seine hellen Augen musterten Alyoscha argwöhnisch. Der Austausch von Passwörtern begann.

»Ja, ich will mir hier das Jazzfestival ansehen.« »Ach ja, Jazz, mögen Sie Chet Baker?«

»Charlie Parker ist mir lieber.«

»Und Mingus?«

»Khachaturian ist eher nach meinem Geschmack.«

»Khachaturian? Ist der nicht ein Klassiker?«

»Das Khachaturian-Quartett. Sie eröffnen das Festival.«

»Der Rest ist tot, oder?«

»Virtuell. Es ist ein Festival de Jazz Virtuel. Lauter neue Kompositionen von jenseits des Grabs, durch Kryosynthesizer übermittelt.«

Der Glatzkopf hielt inne. »Ich habe eine CD, die Sie vielleicht interessiert.«

»Von welcher Gruppe?«

»Die Monokel. Außerhalb gewisser Kreise Russlands sind sie noch unbekannt.«

»Die würde ich mir gern mal anhören.«

So weit so gut. Alle Worte waren in der richtigen Reihenfolge gefallen. Der Mann wurde eine Winzigkeit lockerer, doch die Spannung wich nicht von ihm; sie suchte nach einem Ventil. »Sie müssen verstehen«, warf der Aristo plötzlich alle Vorsichtsmaßnahmen über Bord, und Sorgenfalten bildeten sich auf der Stirn seines Kahlkopfes. »Ich bin Patriot. Ich mache das nicht freiwillig. Ihr habt mir keine andere Wahl gelassen.«

   »Spokoyna! Nicht so laut!«, wies Alyoscha ihn schroff zurecht und blickte in die Runde, um festzustellen, ob jemand in Hörweite war. Dieser Trottel würde noch seine ganze Lebensgeschichte ausplaudern. Mit allen erbärmlichen Rechtfertigungen, nicht um sie Alyoscha mitzuteilen, sondern um sich selbst zu beruhigen.

Es ist nie einfach, sein Land zu verraten, erst Recht nicht, wenn die eigenen Eier auf dem Hackklotz liegen und das Beil jeden Moment zuschlagen kann, dachte Alyoscha.

Das Gesicht des Mannes wurde aschfahl. »Also gut, das ist allein meine Sache. Ich entschuldige mich«, sagte er demütig. »Doch vielleicht erlauben Sie mir ein warnendes Wort, was die Handhabung der - äh - gefährlichen Substanz angeht... Das ist das wenigste, was ich tun kann, um die damit verbundene potentielle Gefahr so gering wie möglich zu halten. Sonst könnten viele Unschuldige verletzt werden.«

Alyoscha starrte ihn an. Hört ihn euch an, diesen elenden Heuchler! Er hörte durchaus hin, doch in seinem Hinterkopf nahm etwas Gestalt an.

Eine Erinnerung, die ihm zu Bewusstsein kam, weil er dazu ausgebildet worden war, doch er hätte sich nie träumen lassen, dass es ausgerechnet so geschehen würde.

An einem Nachmittag wie diesem. In einem Café wie diesem. Mit Menschen, die Gesichter hatten wie diese Gesichter, die schon in Kürze fassungslos dreinschauen würden, wenn er das Chaos auf sie herabrief...

Ein junger Amerikaner saß mit seiner Freundin einige Tische entfernt, und sie turtelten verliebt. Ein anderes Paar, Franzosen mittleren Alters, tat so, als bekäme es nichts davon mit, was um sie herum vorging, rauchte und tauschte Belanglosigkeiten aus.

Die Kellnerin mit den Handabdrücken auf dem Gesäß näherte sich ihnen jetzt wie in Zeitlupe und hielt ein Tablett, auf dem unter einem Tuch etwas verborgen lag.

So schnell kann die Wahrnehmung sich ändern. Männer in einem Citroen fuhren unendlich langsam die Straße hinab, zwei hinten, zwei vorn, mit der üblichen Sonnenbrille von La Picine. Die französische Gegenspionage.

Lügen! Auf einmal kochte Alyoscha vor Wut. Er saß in der Falle und wusste es, doch er hatte sein Geschäft mit dem Mann noch nicht abgeschlossen. Er musste es unbedingt durchziehen, und das Ende war nicht mehr fern.

»Haben Sie's dabei?«, schnaubte er. »Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.« Vielleicht gab es noch eine Möglichkeit, aus der Falle zu entkommen, bevor sie endgültig zuschnappte. Jeder Augenblick zählte. Mach schon, du Trottel! 

Der Glatzkopf nahm sein Monokel ab und hielt es in der Handfläche. »Hier«, sagte er und bot ihm das Augenglas an.

»Was soll das?« Alyoscha starrte misstrauisch darauf.

»Das ist der Transportbehälter«, erklärte der Mann. »Man öffnet ihn so -« Er drückte auf ein Scharnier, und das Monokel klappte wie eine Auster auf, zwei Glashälften mit darin verborgener Ampulle. Alyoscha sah in der Ampulle etwas treiben, das wie eine Kontaktlinse aussah.

»Sie ist von einer basischen Chlorhexedin-Salzlösung umgeben. Seien Sie vorsichtig, wenn Sie die Kontaktlinse ins Auge einsetzen. Es handelt sich um einen okular-sensitiven Flüssigkeitsalgorithmus, der bei Absorption durch den Sehnerv aktiviert wird. Sie werden anfangs ein wenig orientierungslos sein, müssten den Kode aber problemlos lesen können.«

Alyoscha hörte nicht mehr auf die Instruktionen des Mannes. Zu spät. Er schnappte sich das Monokel und sprang vom Tisch auf, wobei er seine blaue stupsnasige Handfeuerwaffe Kaliber 22 aus dem zwanzigsten Jahrhundert zog, mit Sprengkapseln geladen, die ein Loch in die Mauer des Kreml hätten reißen können.

»Was hat das zu be...?« Doch bevor der Glatzkopf den Satz beenden konnte, brach schon die Hölle los, weil es nämlich keinen Himmel gab, der das hätte verhindern können. Der Lichtblitz war so grell, dass Alyoscha zu keinem anderen Gedanken mehr fähig war als: »Mein Tattoo... hätt ich es mir nur nicht machen lassen...« 

Doch das Tattoo schaute nicht zurück und sagte auch nicht Lebewohl. Nicht einmal au revoir...

 

 

 

 

 

 

 

  Der Graf

 

 

Früher...

Monte Carlo, Fürstentum Monaco

 

 

Graf Viktor Trobolski war eine eindrucksvolle Erscheinung. Mit seinem rasierten Schädel und dem Monokel, das permanent in seine Augenhöhle implantiert war, bei einer Größe von ein Meter neunzig und einem Gewicht von hundertzehn Kilo hatte er eine Ausstrahlung wie ein großer Konzertflügel, der für die Bühnen der Welt gebaut war. Hervorragend gestimmt und mit einem tiefen Verständnis für die wahre Partitur des Lebens. Er hatte ein intuitives Gespür für alle pianissimos und fortes der öffentlichen Belange.

Nominell war er der Senioradlatus des russischen Innenministers Sergej Woronow. Nominell. Seine eigentliche Position war die des Direktors für Sonderprojekte im Cyber Intelligence Department (SPCID). Die Einheit war so geheim, dass ihre Existenz nicht einmal Zar Nikolaus III. oder anderen hohen Beamten in der Regierung bekannt war. Das SPCID war aus der Abteilung für Psychologische Kriegsführung des alten KGB hervorgegangen. Seine Spezialität war die Gedankenkontrolle im Netz.

Der Graf machte mit seiner französischen Geliebten Regine de Pompignac in Monte Carlo Urlaub. So fing alles an.

Nach außen hin hielt er sich zur Entspannung dort auf, um im Kasino Roulette zu spielen und sich unter den russischen Adel zu mischen, der scharenweise an diesen berühmten Ort strömte, wie schon früher einmal in der guten alten Zeit des neunzehnten Jahrhunderts, als sich die Romanows auf dem Gipfel ihrer Macht befanden. Das hier war die neue gute alte Zeit.

Irgendwie hing es mit der Farbe des Lichtes zusammen, das so hell und gleißend war, dass einem die Pastelltöne in den Augen brannten. Und natürlich lag es auch an der gesunden Ausgelassenheit, die vom Einatmen der salzigen Seeluft herrührte, die vom Mittelmeer heranwehte. Die Russen waren ganz versessen darauf.

Darauf und auf das joie de vivre, das das Wissen in ihnen hervorrief, wieder einmal der drückenden Feuchtigkeit eines schwülen russischen Sommers in Sankt Petersburg entronnen zu sein.

Hier war er nun, Graf Viktor Mikhailowitsch Trobolski, und plauderte pflichtschuldig mit Ölmogulen des Schwarzen Meeres und Softwarebonzen vom Balkan, nahm in endloser Abfolge an einem Brunch und einer Dinnerparty nach der anderen teil, während er seine trägen Nachmittage damit verbrachte, im türkisfarbenen Wasser des Larvotto zu baden; nur unterbrochen von Bootsfahrten, Tennis und harmlosen Stelldicheins voll amour.

Es war alles Recht rauschhaft - wie in einem von Tschechows unbeschwerteren Stücken.

Tage verstrichen auf diese Weise wie das lichte Geplauder, das sich zur Teezeit um Samoware auf Silbertabletts erhob, wenn die Russen sich auf schattigen Terrassen wieder zu Gruppen zusammenfanden, um petits fours und mit Pudding gefüllte Napoleon-Törtchen zu essen, zu schwatzen, zu sinnieren und das Schicksal von Nationen und Liebesaffären einzelner vorherzusagen.

Es war die perfekte Tarnung für das, was Graf Trobolski plante. Das alles zu verraten. Dabei fände seine Seele nicht gerade Erlösung, das war ihm klar. Doch vielleicht konnte er in einem fernen Winkel einen zeitlichen Aufschub für seine Verdammnis erwirken. Die Alternative war - nun ja, die Alternative war schlimmer als die Verbannung nach Sibirien in der Zeit, bevor Sibirien eine brutale Freizeit-und-Konsumgüter-Provinz wurde, die man 2029 an Neu-Nippon verpachtete.

Nein, die Strafe für Verrat bestand heutzutage in biochemischer Gulagisation.

Trobolski wusste, was das bedeutete, weil er das Programm selbst auf die Beine gestellt hatte.

Man - der Verbrecher - bekam den Gulag-Virus injiziert. Jeder Augenblick wurde zu einem entsetzlichen Schmerzerlebnis mit programmierten Flashbacks der Qual und Hoffnungslosigkeit, gegen die Dostojewskis Totenhaus wie ein Paradies wirkte, zu dem nur Mitglieder Zutritt haben. Die Schönheit dieser Form staatlicher Kontrolle bestand darin, dass der Gulag zu einem permanenten Zustand des persönlichen Bewusstseins wurde. Es war kein physischer Ort mehr. Es war eine psychische Strafkolonie. 

Ganz gleich, wohin man im täglichen Leben auch ging, der Gulag begleitete einen wie ein Schatten. Er befand sich im eigenen Kopf. Die Einsparungen in Bezug auf Unterhalt und Aufrechterhaltung eines wirklichen Arbeitslagers waren enorm. Man war sein eigener Gefängniswärter, sein eigener Folterknecht. Es gab kein Entrinnen. Gefangenen, die sich gut führten, erlaubte man, ein Gesuch auf Euthanasie zu stellen, doch das war ein seltenes Vorkommnis. Man musste seine Zeit absitzen. 

 

Alles lief beinahe wie am Schnürchen. Die Kontaktpersonen des Grafen reagierten mit ermutigenden Geboten. Eine lautlose Auktion fand statt, während er in Monte Carlo Roulette spielte. Die Amerikaner waren skeptisch, doch was konnte man von ihnen anderes erwarten? Die Amerikaner waren immer die ersten, die es rochen, wenn etwas faul war, doch die letzten, die etwas an Land zogen. In Libyen gab es eine Gruppe, die bisher das höchste Gebot gemacht hatte, doch ihr Geld war nichts wert. Dafür hatte schon der Virtuelle Sicherheitsrat der Neuen UN gesorgt. Wann immer libysches Geld im Netz transferiert wurde, zerstörte es sich selbst. Die Serben setzten alles daran, den Zuschlag zu bekommen, doch weiter, als sie eine Hirngranate werfen' konnten, durfte man ihnen nicht trauen.

Milosevic war Ende Neunzig und litt an Kevorkischer Ängstlichkeit. Mr. Kriegsverbrecher persönlich war zum tibetischen Buddhismus übergetreten, man stelle sich das vor. Viel Glück in der nächsten Welt. Es gibt nur so viele Engel, wie man mit dem Katheter niederknüppeln kann.

Es kam also offenbar ganz auf die Deutschen an. Der Kanzler des Vierten Reichs, Rudolf Wessel, war beeindruckt davon gewesen, wie das Neuro-Gulag-Programm in Russland erfolgreich sozialen Widerstand und Unruhen niederrang. Er war ein Scientologe der Alten Welt und hatte deshalb ein Gespür für die metaphysischen Implikationen der Technologie. Und natürlich auch für ihre Grenzen.

Sein Propamedienminister Josef Großmeister litt wie sein historischer Vorgänger Goebbels an einem Klumpfuß - und war sehr stolz darauf, meiner Treu, er hatte ihn sich herbeioperieren lassen -, doch er begriff schneller als dieser. Es dauerte nicht lange, bis er die Berliner Mauer im ReichNetz wieder aufgebaut hatte.

Wenn Deutsche, Russen und Amerikaner nicht endlose Debatten über die Vormachtstellung in der Matrix geführt hätten, wäre der Neue Kalte Krieg vielleicht nur ein Blip auf dem Radarschirm der Geschichte gewesen. Selbst die Japaner hatten sich mit ihrem Genossenschaftlichen Großostasien-Wohlstandsnetz der Herausforderung gestellt.

Anscheinend mussten im Kollektiven Unbewussten, das sich jetzt als Globales Gehirn darstellte, noch einige alte Archetypen ausradiert werden. (»Sag einfach nein zur Noosphäre«, lautete der vereinte Aufschrei der Luddisten, die jegliche Technologie hassten. Der Slogan hatte einen hohen Stellenwert auf ihrer Website.)

Arier in grauen Wehrmachtsuniformen, die im Paradeschritt durch den Omnispace marschierten, waren kein humoristisches Thema von Zeitungskarikaturisten mehr. Seit das ReichNetz das PolskayaNet annektiert hatte, handelte es sich um schmerzliche Realität, und jetzt richtete es sein Augenmerk auf den Rest Europas. Es war ein Blitzkrieg der Herrenprogrammierung gewesen. Die Pixel gehen an den Sieger. Sorry, aber es war wieder dieselbe alte Geschichte. 

Der Graf musste bei seinen Verhandlungen jedoch unglaublich vorsichtig vorgehen. Er hatte sich bei der Durchführung auf die Avatare einer dritten Gruppe verlassen. Wenn auch nur die geringste Spur zu einem seiner Netzpromis führte, würden sie sich selbst zerstören und eine Flutwelle toxischer Knotenstarre herbeiführen, die schnell ein ganzes Netzwerk außer Gefecht setzen konnte.

In mancher Hinsicht war der Netztod weitaus wirkungsvoller als sein biologischer Vorläufer. Wiedergeborene Mainframes waren das eine, doch die Überreste psychischer Schäden wurden für immer im echten Kollektiven Unbewussten der Welt archiviert, dem einige japanische Zenmeister den Namen »Vernetzte Akaschi-Aufzeichnungen« gegeben hatten.

Nur zu wahr, die mentale Sphäre, die mittlerweile den gesamten Planeten umgab, bildete ein unauslöschliches Gedächtnis. Die Informationen waren vielleicht nicht immer zugänglich, doch ihr Imprint in der kollektiven Psyche war permanent. Der einzelne war vielleicht nicht in der Lage, spezifische Details herunterzuladen, um vertikal in der Zeit zu reflektieren, doch solange das System funktionierte, war eine totale Amnesie unmöglich. 

Trotzdem hielt der Graf seinen Plan für absolut narrensicher. Es kann nichts schiefgehen, beruhigte er sich. Ich habe alles vorausgesehen. Nicht einmal der Geist von Berija, Stalins teuflischem Scharfrichter, könnte mir jetzt noch gefährlich werden. 

 

 

 

 

 

 

  

  Der Yaponchik

 

 

Deshalb erlitt Graf Trobolskis Nervenkostüm an jenem Morgen auch einen gewaltigen Schock, als er selbstbewusst den Lift des Hotels Prinz Albert betrat. Er bewohnte mit seiner Geliebten, der unersättlichen Madame Regine de Pompignac, die Prinzessin-Gracia-Suite im obersten Stockwerk.

Er war Recht guter Dinge gewesen, stark und von Energie nur so strotzend. Er hatte vor dem Frühstück gleich zweimal Sex gehabt, obwohl er seine Essenz zurückhielt, wie sein Tantralehrer Mantiak Tschaikowski es ihm als Teil seiner sexuellen Yogaübungen beigebracht hatte.

Bevor die Lifttüren sich ganz schließen konnten, hielt eine grobe Hand sie fest und zwang sie wieder auf. Ein kleiner, untersetzter russischer Gangster trat ein, gefolgt von zwei hünenhaften Kosaken.

Graf Trobolski erkannte ihn mühelos als den russisch-japanischen Mafioso, der das sibirische Ginseng-Syndikat leitete, dessen Hauptquartier in Nowo-Yokohama lag, dem früheren Wladiwostok an der Ostküste Sibiriens.

Das hier war niemand anderer als der »Yaponchik« - alias der Japaner. Er war der Sohn des berühmten japanischen Sushi-Küchenchefs von Nakhodka und einer notorischen russischen Auftragsmörderin namens »Zahnstocher«, die so genannt wurde, weil sie zur Vorbereitung auf ihre Anschläge eine ebenso tödliche wie raffinierte Mischung von Giften aus der Leber des Grönlandhais (Somnius microcephalus) und dem halluzinogenen Fischgift aus der südpazifischen Meerbarbe verwendete. Ihr typischer Hinrichtungsstil bestand darin, ihre Opfer mit einem einfachen Zahnstocher aus Holz zu stechen, der mit dieser tödlichen Mixtur bestrichen war. Tatsächlich fanden viele ihrer »Anschläge« in der Sushi-Bar ihres Ehemanns statt. Die Opfer wurden mit dem Versprechen auf ein gutes japanisches Essen und Sake dorthin gelockt, um »gesellschaftliche Angelegenheiten« zu besprechen...

Unvermeidlich folgte eine längere Phase entsetzlicher Halluzinationen, begleitet von einem Gefühl des Brennens um Mund und Lippen und auf der Zunge. Dieses quälende Feuer breitete sich allmählich über Gesicht, Kopfhaut und Nacken aus, bis es schließlich die Fingerspitzen und Zehen erreichte.

Das Aussetzen der Atmung muss eine segensreiche Erleichterung gewesen sein, bestätigte der Leichenbeschauer vor Gericht. Nachdem er das Todesurteil verkündet hatte, fragte der Richter Zahnstocher, ob sie Reue darüber empfände, diese grauenhaften Verbrechen begangen zu haben. Ihre Antwort jagte den Zuschauern im überfüllten Gerichtssaal einen gewaltigen Schauer über den Rücken. Die Bemerkung zog weite Kreise in der Presse und fand einen unsterblichen Platz in den bunten Annalen von Russlands »Roaring Twenties« (2023-2029). »Ich habe sie nicht getötet«, sagte Zahnstocher achselzuckend und ohne eine Spur von Gefühl auf dem pfannkuchenflachen Gesicht. »Was dann? Wie würden Sie diese Taten sonst nennen?«, hakte der Richter nach. Sie schien ernsthaft darüber nachzudenken, bevor sie ihm mit listigem Blick antwortete. »Also«, sagte sie ausdruckslos, »ich würde sagen, sie haben »Sushizid« begangen... Der Fisch stimmte nicht mit ihnen überein, das ist alles.« Sie kam an den Galgen.

Und der Yaponchik, der Japaner, trat seinen schnellen Aufstieg in die obersten Reihen der sibirischen Unterwelt an. Er war wie sein Vater voll ausgebildeter Sushi-Küchenchef, doch das fehlende Glied des kleinen Fingers an seiner linken Hand zeugte von höheren Karrierezielen, die er in der Bruderschaft der russischjapanischen Yakuza auch unbarmherzig verfolgte.

Im Lift blickte der Yaponchik mit seinen schmalen, eiskalten blauen Augen zu Trobolski hoch, während er einen imaginären Fussel von Graf Valentinos Spieler-Smokingjacke strich.

»Guten Morgen, Exzellenz, ein schöner Tag, nicht wahr?« Graf Trobolski nickte, blieb sonst aber stumm, während sein Körper wie ein geplatzter Feuerhydrant Adrenalin ausschüttete.

Nicht gut. Gar nicht gut.

Er war stets darauf bedacht gewesen, sich von der russischen Mafiya fernzuhalten, die wie andere nouveaux riches auch scharenweise in den Süden von Frankreich strömten. Diese Leute flogen gern in ihren Privatjets von den Steuerparadiesen vor der Küste im Kaspischen Meer ein.

Das überwältigende Parfüm Eau de Fugu des Yaponchiks verwandelte den kleinen Lift in eine drückend enge Streichholzschachtel. Die beiden Kosakenleibwächter standen mit starrer Miene und verschränkten Armen da und bedrängten den Graf noch weiter. Lange hielt er das nicht mehr aus, doch der Lift bewegte sich nicht. Da fiel ihm auf, dass einer der Kosaken den Arrêt-Knopf gedrückt hatte.

Der Graf begann zu schwitzen. Er saß in der Falle.

»Wenn es etwas gibt, das ich für Sie tun kann, Exzellenz, so zögern Sie nicht, mich darum zu bitten«, sagte der Yaponchik mit einem beinahe verächtlichen Zusammenschlagen seiner Hacken. »Hier ist meine Karte. Bitte haben Sie die Güte, sie anzunehmen.«

Doch der Graf war wie erstarrt. Mit einem breiten Grinsen, das seine kleinen weißen Zähne zeigte, schob der Yaponchik ihm seine Karte in die Brusttasche.

»Danik«, nickte der Mafioso einem seiner Leute zu. Der Gauner drückte erneut auf den Halt-Knopf, und der Lift fuhr unter ständigem Knirschen allmählich abwärts.

Vielleicht war es nur die wildgewordene Phantasie des Grafen, doch er hatte den Eindruck, als könnte jeden Moment das Liftkabel durch die Decke peitschen und ihn nach oben in die schwarze Unendlichkeit des Schachts reißen wie einen Gehängten, der im falschen Stock aussteigt...

Er empfand ein Beben der Erleichterung - die Knie wurden ihm sogar weich-, als er im Parterre ankam und die Tür sich zu einer Marmorvorhalle öffnete, die mit einer dichten Menschenmenge gefüllt war. Er wusste, wie sehr es auf der Kippe gestanden hatte. Er strich sich mit einem Taschentuch über die Stirn.

»Denken Sie daran, Graf«, hörte er hinter sich die Stimme des Yaponchiks, ein entnervendes Falsett mit semiotischem Lispeln. »Wir könnten miteinander ins Geschäft kommen. Haben Sie keine Angst, mich anzurufen.«

Gott sei Dank war Regine nicht bei ihm, dachte der Graf und gewann in der Sicherheit der Eingangshalle des Hotels mit seinen hellerleuchteten Kristalllüstern, einigen weniger bedeutenden Gemälden von Matisse und Renoir in reich verzierten vergoldeten Rahmen und den flämischen Wandteppichen aus dem sechzehnten Jahrhundert, die an dunkelgrünen Wänden hingen, seine Fassung zurück.

Das scharf sinnige Radar von Regines sechstem Sinn - eine Eigenschaft der de Pompignacs, die der angesehenen Familie, die jedoch seit dem Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts in chronischer Armut lebte, das Überleben gesichert hatte - hätte sofort gespürt, dass hinter diesem Wortwechsel mehr steckte, als der Yaponchik mit seinem oberflächlichen sozialen Gehabe glauben machen wollte.

Der Graf steckte das mit seinem Monogramm versehene Taschentuch  seufzend wieder in die Brusttasche und begab sich zum Lunch, wobei er so tat, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Doch er zitterte noch immer.

 

 

 

 

 

  

  Die Holorina

 

 

Als er auf der zwanzig Meter langen Yacht Ein Kurs der Wunder, die Baronin von Kreutzberg gehörte und im atemberaubend schönen Hafen Fontvielle des Fürstentums ankerte, eintraf, war Graf Trobolski wieder ein Muster von Sankt Petersburger Charme, Witz und Unbefangenheit.

Auf dem glänzenden Deck der Yacht der Baronin reichten Kellner mit weißen Handschuhen, die in blaugestreifte russischfranzösische matrosse-Wolljacken und gestärkte weiße Shorts gekleidet waren, den Gästen Champagner und Kaviar von den Tabletts, während sie sich auf bloßen Füßen über das polierte Mahagonideck bewegten.

»Ah, Maria Andrejewna«, sagte der Graf herzlich, als er seine Gastgeberin begrüßte, und beugte sich vor, um die feingliedrige Hand zu küssen, die sie ihm hinstreckte. Baronin von Kreutzberg war eine würdevolle alte Dame von achtzig Jahren mit kastanienbraunem Haar, engelsgleichem Gesicht und strahlendem Blick.

Sie sah keinen Tag älter als vierzig aus, dank der Dienste ihres Leibgerontologen Dr. Juri Scheremenko, der angeblich auch ihr Geliebter war. Natürlich alles im Rahmen seiner Pflichterfüllung.

Scheremenko stand fürsorglich neben ihr, ein schwermütiger kleiner Mann, der einen goldenen pince-nez in der Nase und einen zweireihigen weißen Panamaanzug trug, bereit, seinem Schützling beim geringsten Anzeichen einer Runzel auf der Braue, die, spasi Bogu, Gott sei Dank, noch so glatt wie ein nackter Kinderpopo war, eine Injektion mit Gerovital-9 zu verabreichen.

Er ist zweiundvierzig, sieht aber wie fünfundfünfzig aus, dachte Graf Trobolski, als er Scheremenko freundlich zunickte. Langlebigkeit ist offenbar schlecht für die Gesundheit, besonders, wenn der eigene Beruf verlangt, sie anderen zu garantieren. 

Baronin von Kreutzbergs Salon war der berühmteste in der Sankt Petersburger Gesellschaft. Die Einladung, an einer der wöchentlichen Soireen in ihrem Palast am Newski-Prospekt teilzunehmen, wurde hoch geschätzt.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Alexander Besher/Apex-Verlag/Published by arrangement with Waterside Productions Inc., Cardiff-By-The-Sea, CA 92007 USA/Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Michael Nagula (OT: Mir).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2017
ISBN: 978-3-7438-2775-2

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